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Der erfolgreiche Immobilienverwalter Joachim Sander wird als vermisst gemeldet. Die Suche verläuft ergebnislos, bis Katja Greve von der Kripo Schleswig beim Motorradausflug mit ihrer Hündin Luzie eine grauenvolle Entdeckung macht: Am Pflug des Traktors vor ihr hängt ein menschlicher Unterschenkel! Und tatsächlich - Sander wurde offenbar ermordet und auf einem Feld vergraben.
Doch wer könnte ein Interesse am Tod des anscheinend beliebten und sozial engagierten Geschäftsmannes haben? Katja und ihr Kollege Daniel Kowalski ermitteln und stoßen bald auf Risse in der perfekten Fassade ...
Sehr norddeutsch und hochspannend - die neue Küstenkrimi-Reihe von Eva Jensen!
Die Kommissare Katja Greve und Daniel Kowalski ermitteln an der Schlei: Daniel ist Katjas neuer Partner bei der Kripo Schleswig - korrekt, ruhig und methodisch, nicht ohne Humor, dafür aber mit Rosenkranz am Rückspiegel. Katja hingegen ist impulsiv, unkonventionell, energiegeladen - und hätte am liebsten ihren alten Partner behalten. Doch klar ist: Ihre Fälle können sie nur lösen, wenn sie zusammenarbeiten. Denn auch an der idyllischen Ostküste Schleswig-Holsteins wirft das Verbrechen dunkle Schatten ...
Küstenmord - alle Titel in der richtigen Reihenfolge:
1. Das letzte Lied
2. Kein Wort zu viel
3. Einsames Begräbnis
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
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Seitenzahl: 342
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Zitat
Prolog
Mittwoch, 20. Juli
Teil 1
Donnerstag, 1. September
Freitag, 2. September
1
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7
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9
10
Samstag, 3. September
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Sonntag, 4. September
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Teil 2
Montag, 5. September
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Teil 3
Dienstag, 6. September
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Sonntag, 11. September
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Leseprobe
Impressum
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Der erfolgreiche Immobilienverwalter Joachim Sander wird als vermisst gemeldet. Die Suche verläuft ergebnislos, bis Katja Greve von der Kripo Schleswig beim Motorradausflug mit ihrer Hündin Luzie eine grauenvolle Entdeckung macht: Am Pflug des Traktors vor ihr hängt ein menschlicher Unterschenkel! Und tatsächlich – Sander wurde offenbar ermordet und auf einem Feld vergraben.
Doch wer könnte ein Interesse am Tod des anscheinend beliebten und sozial engagierten Geschäftsmannes haben? Katja und ihr Kollege Daniel Kowalski ermitteln und stoßen bald auf Risse in der perfekten Fassade ...
Eva Jensen
Küstenmord
Einsames Begräbnis
Krimialroman
Für E. K.und alle anderen, die unbemerkt im Alltag ertrinken
»Die Menschen sind nicht immer, was sie scheinen, aber selten etwas Besseres.«
Gotthold Ephraim Lessing
Am Heizungsrohr hing ein Mann.
Bäuchlings, in halb liegender Position und nur mit Unterwäsche bekleidet, als hätte er gleich nach dem Aufstehen Liegestütze machen wollen. Doch um seinen Hals lag ein zur Schlinge umfunktionierter Ledergürtel. Auf den ersten Blick sah es nach Selbstmord aus, ein Verdacht, der sich in über neunzig Prozent der Fälle bestätigte. Dafür, den Rest herauszufiltern, bei dem ein Tötungsdelikt als Suizid getarnt wurde, war die Polizei zuständig und der gesamte dazugehörige Apparat: die Rechtsmediziner, das Team der Spurensicherung, seine Kollegin Katja Greve. Und er: Daniel Kowalski, dreiundvierzig, Kriminalkommissar mit Leib und Seele, gläubiger Katholik und in einer glücklichen, wenn auch heimlichen Beziehung, weil er sich bisher nicht getraut hatte, seiner Familie seine große Liebe vorzustellen – Benjamin.
Was hatte er doch für ein unverschämtes Glück in seinem Leben!
Die Kollegen der Spurensicherung machten um ihn herum in ihren weißen Anzügen ihre Arbeit, bepuderten leer getrunkene Bierflaschen, abgestoßene Schränke und zerkratzte Türgriffe.
Katja schaute sich im Bad um, und Daniel stand gemeinsam mit der Rechtsmedizinerin auf einer der wenigen bereits freigegebenen Flächen; neben der Tür, die den winzigen, mit Leergut und Altpapier zugemüllten Flur von dem Zimmer trennte, in dem sich das Leben des Toten zuletzt abgespielt haben musste.
Während sie darauf warteten, den Raum betreten zu dürfen, nahm Daniel jedes Detail so genau wie möglich wahr: den Wandkalender – offenbar das Werbegeschenk einer Apotheke, auf dem immer noch April und das Jahr 2020 war – die Wollmäuse in den Zimmerecken, die überquellenden Aschenbecher, den alten Fernseher und die welligen Werbeprospekte. Und überall dazwischen hockte die Trostlosigkeit und grinste ihn an in ihrer bleichen Abscheulichkeit.
Die wenigen Möbel – ein Schrank, ein Sessel, ein Tisch und zwei Stühle – waren schäbig und passten nicht zueinander, wie zusammengeschenkt oder aus dem Sperrmüll geborgen. Die Schlafcouch war ausgeklappt, Bettlaken und Bettwäsche rochen, als wären sie schon seit Monaten nicht mehr gewechselt worden. Braune Ränder auf dem Laken deuteten an, dass der Mann es wohl nicht immer rechtzeitig ins Bad geschafft hatte.
Vielleicht hat er es auch gar nicht mehr bemerkt, dachte Daniel. Betrunken eingeschlafen und einfach unter sich gelassen. Was für ein Leben ...
Eine Algenschicht bedeckte die beiden Dachfenster wie auf Glas gepinselte Farbe. Mühsam kämpften sich die Sonnenstrahlen in den Raum und hinterließen das grünlich schummrige Licht eines tropischen Dschungels.
Dazu passte auch die Temperatur. An diesem Juliabend waren es da draußen immer noch fünfundzwanzig Grad. In der kleinen Dachwohnung waren es mindestens vierzig. Und es war feucht. Das Furnier der billigen Türblätter sprang an den unteren Ecken hoch, als hätte sich das Sperrholz in einer Pfütze vollgesogen.
Auf der sich von Wänden und Decke ablösenden Tapete flossen braune Wasserränder zu interessanten Mustern zusammen.
Schlecht isoliert, undichtes Dach, alte Wasserleitungen und leckende Heizungsrohre, vermutete Daniel.
Er wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, bereute seinen Leichtsinn und presste es sich sofort wieder vor die Nase.
Die Luft stand still in der Wohnung und stank – nach schimmligen Essensresten, Urin, eingetrocknetem Bier, kaltem Zigarettenrauch, verstopften Abflüssen. Das alles wurde aber noch getoppt von etwas anderem. Einem Geruch, den man nie wieder vergaß, wenn man ihn erst einmal in der Nase gehabt hatte: Verwesung.
Daniel atmete durch den Mund gegen das Taschentuch, aber auch das half nicht. Fliegen krabbelten auf einer nackten Glühbirne herum, ein paar weitere suchten vergeblich die Freiheit und scheiterten an den grünen Fensterscheiben. Ihr Summen und das gelegentliche »Plong«, mit dem sie gegen die Scheiben flogen, schienen das Team der Spurensicherung bei der Arbeit zu begleiten wie das Metronom den Musiker.
Im Bad hörte er Katja mit einem der Kollegen sprechen, dann stöhnte sie laut auf.
»So, bitte sehr. Sie dürfen.« Der Kollege von der Spurensicherung nickte der Rechtsmedizinerin zu. Laura Rohloff. Sie war offenbar neu im Team in Kiel, zumindest war Daniel ihr noch nicht begegnet. Was nichts heißen musste. Seit er vor fast einem Jahr von Kiel nach Schleswig gewechselt war, hatte er deutlich weniger mit der Rechtsmedizin zu tun. In Schleswig ging es eben etwas beschaulicher zu als in der Landeshauptstadt.
Laura Rohloff sah aus, als hätte sie erst vor Kurzem ihr Abitur bestanden. Und doch war sie keine Praktikantin mehr, sondern approbierte Assistenzärztin der Rechtsmedizin. Sie nahm ihren Koffer und eilte zu dem Leichnam. Daniel schaute ihr zu und fühlte sich alt und grau. Oder war es die Atmosphäre dieser Wohnung, die ihn so deprimierte?
Der Kollege der Spurensicherung packte seine Sachen und nickte Daniel zu. »Ihr Feld, Herr Kowalski«, sagte er. »Viel Vergnügen. Die Küche ist jetzt auch freigegeben.«
Bad und Küche.
Daniel verzog das Gesicht. Von seiner Position aus konnte er einen Teil der Arbeitsfläche sehen und hätte liebend gern auf einen näheren Kontakt verzichtet.
»Wie kann man nur so leben?«, fragte der Kollege und ließ die Verschlüsse seines Metallkoffers einrasten.
»Offenbar kann man nicht«, sagte Daniel nachdenklich. »Sonst würde er wohl nicht am Heizungsrohr hängen.«
»Auch wieder wahr.« Der Kollege klopfte ihm kurz auf die Schulter. In seiner Kieler Zeit hatten sie öfter mal in der Kantine zusammen gegessen oder nach Feierabend ein Bier getrunken. Ein netter Typ mit Ehefrau, zwei kleinen Kindern und Häuschen in einem Dorf in der Nähe von Kiel. Noch einer mit Glück im Leben. »Ihr hört von uns.«
Die junge Rechtsmedizinerin hatte ihren Koffer auf dem Boden neben der Schlafcouch abgestellt und packte Gerätschaften aus.
Daniel ging an ihr vorbei in das Zimmer. Der mit Flecken übersäte Teppich schlug Wogen, Krümel unterschiedlichster Herkunft und Asche taten, als wären sie Schaumkronen. Offenbar war schon längere Zeit nicht mehr gesaugt worden. Die ursprüngliche Holzfarbe des Tisches war unter Bierrändern, Brandflecken, Asche und verkrusteten Essensresten nicht einmal mehr zu erahnen. Daniel zog sich Handschuhe über und hob einen Stapel ungeöffneter Briefe vom Boden auf.
Es waren vier, den Poststempeln nach zu urteilen, alle älter als eine Woche. Zwei der Umschläge trugen das Logo eines Stromversorgungsunternehmens, einer war eine dieser unpersönlichen Werbesendungen, adressiert an die Mieter des Hauses XY, die ein Hörgerät brauchen. Der letzte Brief stammte von einer Firma, die sich »Immobilienverwaltung Sander« nannte. Das war der Vermieter, wie Daniel bereits wusste. Daneben lag das Handy des Toten, ein schlichtes Tastentelefon, eingetütet in einen Beutel der Spurensicherung, der mit Namen, Datum und der Beschreibung des exakten Fundortes beschrieben war: Boden, Fußende Schlafcouch links.
Daniel nahm das Gerät und versuchte, es anzuschalten.
»Hast du etwas gefunden?«
Er wandte sich Katja zu.
»Abgesehen von Schmutz und den kläglichen Überresten eines traurigen Lebens ...« Er zuckte mit den Schultern. »Wie sieht es im Bad aus?«
»Schlimm.« Sie schüttelte den Kopf. »Wie das eben so ist, wenn man im Suff nicht einmal mehr in der Lage ist, die Klospülung zu finden oder die Toilettenschüssel zu treffen.«
»Danke, das reicht. Jetzt habe ich noch ein Bild, das ich wieder loswerden muss.«
»Was ist mit dem Handy?«
»Nichts. Der Akku ist leer.«
»Das deckt sich mit dem, was uns die Schwester erzählt hat.«
Melanie Bartels, eine Mittfünfzigerin mit mahagonifarbenen Haaren und bunten, künstlichen Fingernägeln, hatte mehrfach versucht, ihren Bruder anzurufen, ihn nicht erreicht und sich schließlich Sorgen gemacht. Deshalb war sie zu ihm gefahren.
Sie hatte die Wohnung mit einem Ersatzschlüssel geöffnet, ihren Bruder am Heizungsrohr hängend gefunden und den Notarzt gerufen. Doch die Hilfe kam schätzungsweise mindestens vierundzwanzig Stunden zu spät. Arzt und Sanitäter hatten die Polizei verständigt und statt Edgar Ziegler schließlich seine Schwester mitgenommen – ein am ganzen Körper zitterndes und wimmerndes Nervenbündel.
»Möchtest du dir die Küche vornehmen?«, fragte Daniel.
»Nein, danke. Ich hatte schon das Vergnügen mit dem Bad. Jetzt lasse ich gerne dir den Vortritt.«
»Schade, ich hatte Hoffnung. Aber einen Versuch war es wert.«
Während Katja eine Schublade aufzog, ging Daniel in die winzige Küche und öffnete den Kühlschrank. Saurer Gestank schlug ihm entgegen und direkt auf den Magen. Die Ursache war eine angebrochene Packung H-Milch, deren Haltbarkeitsdatum bereits seit zwei Wochen überschritten war. Abgesehen davon war der Kühlschrank leer. Edgar Ziegler hatte sich offensichtlich ausschließlich flüssig ernährt. Auf dem Küchentisch standen und lagen leere Bierdosen und einige Flaschen Korn. Es war die billige Sorte aus dem Discounter für weniger als fünf Euro.
Ein zaghaftes Klopfen am Türrahmen lenkte Daniel ab.
»Ich bin hier fertig.« Laura Rohloff zog sich die Maske vom Gesicht und wischte sich über die Stirn. Sie hatte ein hübsches Gesicht, offen, freundlich, sympathisch.
»Und? Was ist Ihr erster Eindruck?«
»Sowohl Auffindesituation als auch Aussehen der Leiche stimmen mit einem Suizid überein.« Sie räusperte sich. »Er hat aus einem Ledergürtel eine Schlinge gemacht und sich an das Heizungsrohr gehängt. Der durch das Körpergewicht auf die Halsschlagadern ausgeübte Druck hat wahrscheinlich innerhalb weniger Sekunden zur Bewusstlosigkeit geführt und damit jede Abwehrreaktion verhindert. Todeszeitpunkt vor mindestens vierundzwanzig, höchstens zweiundsiebzig Stunden. Wenn wir ihn auf dem Tisch haben, wissen wir mehr.«
»Danke.«
Sie verschwand.
»Ich glaube, das hier ist ein Tagebuch.« Katja hielt ein einfaches, abgestoßenes Notizbuch hoch. »Nehmen wir das mit?«
»Ja. Vorsichtshalber.«
Sie reichte es einem Kollegen der Spurensicherung, der das Buch in einen der Plastikbeutel steckte.
Gleich darauf tauchten die Männer vom Bestattungsunternehmen auf. Es war schwierig, den Zinksarg in der winzigen Wohnung zu manövrieren, aber sie schafften es. Es waren gute Leute. Benjamin hatte jedenfalls großen Respekt vor ihnen, wie er Daniel schon ein paarmal erzählt hatte. Und er musste es wissen, schließlich führte er sein eigenes Bestattungsunternehmen.
Daniel sah zu, wie der silberfarbene Sarg an der Küchentür vorbeigetragen wurde und im Treppenhaus verschwand.
Das war es also, das Ende eines Lebens. Noch ein flüchtiger Ruhm – eine eigene Akte bei der Kriminalpolizei, vielleicht ein knapper Artikel in einer Lokalzeitung, ein Begräbnis. Und bereits kurz danach würde sich kaum noch jemand daran erinnern, dass Edgar Ziegler gelebt hatte, geschweige denn, wer er gewesen war. Was er gemocht hatte und was nicht. Worüber er gelacht und wie er dabei ausgesehen hatte.
Warum hatte er sich umgebracht?
Daniel schaute sich in der Küche um, sah Verwahrlosung, Einsamkeit und Resignation und meinte, die Antwort zu kennen.
»Nein. Das ist nicht mehr normal.« Die Worte klangen lauter, heftiger, als sie beabsichtigt hatte, doch Julius schien es nicht zu stören.
Er saß neben ihr in dem kleinen Haus auf dem Steg, in dem man sowohl sitzen als auch die Badesachen verstauen konnte. Es war hübsch, einem Badehaus aus dem neunzehnten Jahrhundert nachempfunden. Tatsächlich aber war es erst zwei Jahre alt. Er hatte es gespendet. Joachim, ihr Mann. Um den Badeaufenthalt für Campinggäste und Ausflügler angenehmer und attraktiver zu gestalten. Eines seiner zahlreichen Projekte in der Region.
»Nein«, wiederholte sie leiser. »Das ist nicht normal. Ganz und gar nicht.«
Julius fuhr sich nervös durch das dunkle Haar und warf einen vorsichtigen Blick zum Strand, aber da war niemand mehr. Die Badegäste waren verschwunden – nach Hause oder in ihre Wohnwagen und Wohnmobile auf dem nahe gelegenen Campingplatz.
Die Bude, an der man tagsüber Pommes frites, Grillwurst und Eis kaufen konnte, hatte schon die Rollläden hinuntergelassen.
Lediglich zwei Spaziergänger gingen in unterschiedliche Richtungen auf dem schmalen Uferweg entlang und kümmerten sich nur um sich und ihre Hunde.
Über der Schlei wurde es allmählich dunkel. Sacht schlugen die Wellen gegen den Steg, der Wind war beinahe eingeschlafen.
Die blaue Stunde, dachte sie und fand den Begriff für dieses kurze Schweben zwischen Tag und Nacht passender denn je. Alles war blau: das Licht, der Sand, das Badehaus, die Polster aus strapazierfähigem, wasserabweisendem Kunststoff, der Himmel, die Schlei. Und ihre Stimmung. Blue dispair. Helle Verzweiflung.
»Mach dir keine Sorgen, hörst du? Es ist doch nicht das erste Mal, dass er länger unterwegs ist, als er geplant oder vorher gesagt hat. Das muss gar nichts heißen. Also mach dir keine Sorgen.«
»Aber ...«
Julius nahm ihre Hand und drückte sie behutsam.
»Glaube mir. Während du dir jetzt hier den Kopf zerbrichst und ans Schlimmste denkst, sitzt er irgendwo in einem Restaurant, genießt seine Grillhaxe und freut sich seines Lebens.«
»Meinst du?«
»Ja. Unbedingt.« Sie konnte das aufmunternde Lächeln in seiner Stimme hören. Julius war immer so besorgt um sie, so liebevoll! »Und du solltest das auch tun. Schalte die Sorgen ab und genieße das Leben.«
»Wenn es denn so einfach wäre ...« Sie schaute einer Fledermaus hinterher, die über dem ufernahen Schilf Insekten jagte. »In Ordnung. Wenn ich aber bis morgen Mittag nichts von ihm gehört habe, gehe ich zur Polizei.«
»Ich denke zwar, dass das Quatsch ist und am Ende für alle Seiten peinlich, aber ...« Er drückte ihre Hand ein wenig fester, gerade eben so, dass es noch nicht schmerzhaft war, und ließ sie dann los. »Tu, was du für richtig hältst. Abhalten kann ich dich ja nicht.«
»Das ist wahr«, sagte sie und fragte sich, ob Julius recht hatte. Und während über der immer dunkler werdenden Schlei die ersten Sterne zu sehen waren, kam ihr der Gedanke, sich an die Polizei zu wenden, ebenfalls dumm vor.
Die Mittagspause war beendet, und Daniel hastete in die Polizeiinspektion zurück. Er war zu spät. Normalerweise dehnte er seine Pausen selten über eine halbe Stunde hinaus aus. Das hätte er als unfair den Kollegen gegenüber empfunden, die ihn während dieser Zeit vertreten mussten. Deshalb blieb er meistens einfach an seinem Platz oder auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude und aß seine mitgebrachten Salate und Sandwiches.
Doch heute hatte er sich einen Spaziergang gegönnt: Er hatte das Gelände verlassen und war bis zur Schleipromenade geschlendert. Die Sonne schien, es waren knapp über dreiundzwanzig Grad. Im September wurde allmählich jeder Sonnentag zu einer Kostbarkeit, die man so ausgiebig nutzen sollte wie möglich. Der Herbst rückte schnell näher und damit auch Wind, Regen, Kälte. Gerade hier im Norden konnte es oft wirklich eklig werden. Und dann trauerte man jedem Sonnenstrahl hinterher.
Daniel stieß die Glastür zur Polizeiinspektion Schleswig auf und nickte Nils Brenner zu, der heute am Empfang Dienst tat. Er registrierte die Frau, die auf einem der Plastikstühle im Wartebereich saß, und stieg in den ersten Stock hoch – immer zwei Stufen auf einmal nehmend, das Hemd zwei Knöpfe offen.
Er hatte das Büro der Kriminalpolizei kaum betreten, als Carsten Vollmer ihm auf seinem Bürostuhl direkt vor die Füße rollte.
»Gut, dass du kommst. Hast du mal eine Sekunde?« Der Kollege hatte sein Smartphone in der Hand und wirkte ein bisschen blass um die Nase.
»Was gibt es?«
»Meine Frau ruft gerade an. Unserer Kleinen geht es nicht gut. Sie hat seit zwei Tagen einen schlimmen Husten, seit heute auch noch hohes Fieber. Der Arzt sagt, sie solle mit ihr ins Krankenhaus. Und ich ...« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ich möchte am liebsten sofort los, um bei Sandra und der Kleinen zu sein. Aber da kommt gleich eine Frau, die eine Vermisstenanzeige aufgeben möchte, und der Rudi ...« Er zuckte mit den Schultern. »Weißt ja selber, wie er ist: einfühlsam wie ein Wagenheber. Außerdem hängt er gerade an den Autodiebstählen dran, da stört man ihn besser nicht. Kannst du die Vermisstenanzeige übernehmen?«
»Warum machen die das nicht unten?«
»Hoffnungslos unterbesetzt. Wie immer.«
Daniel hängte seine Jacke auf einen Bügel an der Garderobe und ließ den Blick durch das Büro schweifen. Katja Greve war im Urlaub, Annika Flemming auf einer Fortbildung, und die Chefin hatte sich wegen einer Familienfeier in Flensburg einen Tag Urlaub genommen. Also wegen Überfüllung mussten sie heute auch keinen Kollegen nach Hause schicken.
»Kannst du die Anzeige aufnehmen, Daniel? Bitte!«
»Klar, da brauchst du nicht zu fragen. Ist doch selbstverständlich. Los, mach dich auf die Socken.« Er legte Carsten die Hand auf die Schulter. »Gute Besserung deiner Kleinen! Ich werde für sie beten.«
»Danke.« Carsten griff seine Jacke, die Autoschlüssel und das Handy und stürmte aus dem Raum.
Daniel setzte sich an seinen Platz, stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte, faltete die Hände und bat im stillen Gott um Heilung für das Baby und um Schutz und Kraft für Carsten und seine Frau. »Amen«, murmelte er und bekreuzigte sich, dann griff er nach seinem Telefon und rief Nils Brenner an. »Moin, Nils. Carsten sagte mir eben, dass wir eine Vermisstenanzeige übernehmen sollen.«
»Ja, die Frau sitzt hier.«
»Seit wann?«
»Zehn Minuten? Viertelstunde?«
»Na, das geht ja noch.« Daniel fand es furchtbar, verängstigte Menschen, die einen Angehörigen vermissten, lange warten zu lassen. Auch wenn es sich oft um Missverständnisse handelte und viele, die plötzlich verschwanden, von selbst wieder auftauchten – meistens kerngesund und völlig überrascht, dass nach ihnen gesucht wurde. »Schick sie zu mir hoch, ich gehe ihr entgegen.«
»In Ordnung.«
Auf dem Weg zum Treppenhaus kam er an dem Aktenschrank vorbei, in dem die Formulare aufbewahrt wurden. Als er vor einem knappen Jahr bei der Kripo in Schleswig angefangen hatte, hatte in diesem Schrank das Chaos regiert. Die Formulare hatten kreuz und quer durcheinandergelegen, nichts war zu finden. Und wenn man dachte, endlich das richtige Formular in Händen zu halten, hatte man feststellen müssen, dass es seit Ende der Neunzigerjahre veraltet war.
Er hatte ganze Kartons voller Papiere sortiert, ungültige weggeworfen, die aktuellen nach Alphabet geordnet und die Regalbretter entsprechend beschriftet. Mittlerweile hatten sich die Kollegen so an die neue Ordnung gewöhnt, dass sie sogar eigenhändig die Unterlagen dorthin legten, wo sie hingehörten.
Na ja, meistens jedenfalls.
Er nahm das obere Formular vom Stapel der Vermisstenanzeigen und legte es auf den für Eigentumsdelikte, wo es hingehörte. Mit dem richtigen Formular in der Hand ging er ins Treppenhaus. Die eiligen, harten Schritte von Schuhen mit hohen Absätzen näherten sich.
Es war die Frau, die er im Wartebereich sitzen gesehen hatte. Sie war zierlich, Ende vierzig, Anfang fünfzig, mit sorgfältig frisierten, schulterlangen blondierten Haaren und einem gut sitzenden Leinenkostüm in einem dezenten Grünton.
Eine »Dame«, hätte Babcia Elka gesagt, und vermutlich hätte sie recht damit.
»Guten Tag. Daniel Kowalski, Kripo Schleswig.« Er streckte ihr die Hand entgegen, die sie rasch nahm, fast dankbar.
»Simone Sander.«
Ihr Händedruck war erstaunlich fest, und doch hatte Daniel den Eindruck, dass sie sich nur mühsam beherrschte. Die Frau vor ihm war mit den Nerven ganz offensichtlich am Ende.
»Kommen Sie bitte mit, im Sprechzimmer können wir uns setzen.«
Er durchquerte mit ihr das Büro, vorbei an seinem und Katjas Schreibtisch und den Plätzen der Kollegen, und öffnete die Tür des Besprechungsraums. Er rückte einen Stuhl für sie zurecht, wartete, bis sie Platz genommen hatte, dann setzte er sich so hin, dass ausreichend Raum blieb, um sie nicht zu bedrängen.
»Darf ich Ihnen einen Kaffee oder ein Glas Wasser anbieten?«
Simone Sander schüttelte den Kopf. »Nein, danke.« Sie saß auf der Stuhlkante, ihre Hände lagen ineinander verkrampft auf der Platte des Konferenztisches. Die Haut auf ihrem Handrücken hatte einen bläulichen Unterton, als wäre ihr kalt. Trotz dreiundzwanzig Grad und Sonnenschein draußen und einem nicht klimatisierten Büro.
»Es tut mir leid, dass Sie warten mussten.« Daniel legte das Formular vor sich auf den Tisch, den Kugelschreiber daneben.
»Sie möchten jemanden als vermisst melden, Frau Sander?«
»Ja.« Sie nickte. »Es geht um Joachim Sander. Meinen Mann.«
»Dann beginnen Sie mal bitte von vorne. Was ist passiert?«
Daniel sah die Frau aufmerksam an. Sie schaute auf ihre Hände. Sie waren ineinander verschlungen und umklammerten sich so fest, dass die Knöchel weiß durch die Haut schimmerten.
»Joachim ist am vergangenen Freitag zu einem Meeting nach Karlsruhe gefahren. Weil ich seitdem nichts von ihm gehört habe, habe ich heute im Hotel angerufen. Dort ist er aber nicht. Ich mache mir Sorgen. Große Sorgen!«
Daniel nickte bedächtig.
»Das verstehe ich, Frau Sander. Ich muss Ihnen jetzt einige Fragen stellen. Manche mögen Ihnen seltsam vorkommen, vielleicht sogar beleidigend. All das ist aber wichtig, damit wir Ihren Mann so schnell wie möglich finden. Ja?«
Sie nickte. Ihre Augen waren groß, die Pupillen so weit, dass sie die Iris fast ausfüllten.
»Was ist das für ein Meeting, zu dem Ihr Mann gefahren ist?«
»Joachim ist Mitglied in einem Club von Unternehmern, die sich um Kinder aus sozial schwachen Familien kümmern. Sie finanzieren Musikunterricht, Sporteinrichtungen, Ausflüge, Ferienreisen. So etwas. Ein Mal im Jahr treffen sie sich zu einer Mitgliederversammlung.«
»Dann war es also kein berufliches Meeting?«
»Nein, nicht in dem Sinne.«
»Sie sagten, in dem Club sind Unternehmer organisiert?«
»Ja. Mein Mann ist Inhaber einer Immobilienfirma. Er hat sie selbst aus dem Nichts aufgebaut. Mittlerweile haben wir siebzig Mitarbeiter, verteilt auf vier Standorte in Hamburg und Schleswig-Holstein.« Sie sagte das nicht ohne Stolz. »Aber der Erfolg ist ihm nicht zugeflogen. Er hat hart dafür gearbeitet. Zwölf, vierzehn, sechzehn Stunden am Tag, oft auch am Wochenende. Er kümmert sich um alles, ist für seine Mitarbeiter immer erreichbar. Deshalb habe ich mir erst mal auch nichts dabei gedacht, dass er sich aus Karlsruhe nicht gemeldet hat. Manchmal braucht er ein paar Tage seine Ruhe.«
»Okay. Dann ist das also nicht ungewöhnlich, dass Sie einige Tage nichts von ihm hören? Ich meine, Sie haben zuletzt vor einer Woche mit ihm gesprochen und haben trotzdem erst heute im Hotel nachgefragt?«
»Das kommt vor. Wenn er unterwegs ist, schaltet er oft sein Handy aus. ›Digital Detox‹ nennt er das. Außerdem hat er mir am vergangenen Freitag gesagt, dass er wieder ein bisschen Ruhe braucht, vielleicht ein paar Tage dranhängen möchte und wahrscheinlich sein Handy ausschalten wird. Er kündigt es jedes Mal an, damit ich mir keine unnötigen Sorgen mache.«
»Und warum haben Sie trotzdem begonnen, sich zu sorgen?«
»Wie schon erwähnt: Das kommt vor. Aber er war noch nie so lange weg, ohne sich zu melden. Normalerweise bleibt er zwei, höchstens drei Tage nicht erreichbar. Spätestens dann ruft er mich an. Schon allein, weil er das Unternehmen nicht so lange unbeaufsichtigt lassen möchte. Er hat zwar fähige Mitarbeiter, aber er ist nicht gut darin, Verantwortung abzugeben.«
»Wann genau haben Sie begonnen, sich Sorgen zu machen?«
Sie zog die Stirn kraus. »Am Mittwochabend wurde ich allmählich unruhig. Doch wirklich gesorgt habe ich mich da noch nicht. Gestern habe ich alle wichtigen Mitarbeiter angerufen, um zu hören, ob er sich bei ihnen gemeldet hat. Leider nein. Und heute habe ich es dann nicht mehr ausgehalten und im Hotel nachgefragt.«
»Wie ist Ihr Mann nach Karlsruhe gefahren? Mit dem eigenen Wagen? Mit der Bahn? Ist er geflogen, oder wurde er abgeholt?«
»Er ist selbst gefahren, mit seinem Auto.«
»Und der Wagen ist auch noch nicht wieder aufgetaucht?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Dann brauchen wir den Fahrzeugtyp und das Kennzeichen.«
»Es ist ein schwarzer Porsche Cayenne.« Sie nannte ihm ein Segeberger Kennzeichen, das Daniel gewissenhaft notierte.
»Frau Sander, entschuldigen Sie bitte, aber ich muss das fragen: Wie ist Ihre Ehe?«
Augenblicklich kam Leben in die Frau. Kerzengerade saß sie auf dem Stuhl und funkelte ihn aus blauen Augen kalt an.
»Erklären Sie mir, was Sie damit meinen!«
»Kann es zum Beispiel sein, dass Ihr Mann die Ehe beenden will oder sich mit jemandem heimlich trifft – einer anderen Frau?«
Ihre Augen wurden schmal. Dann schüttelte sie heftig den Kopf. »Nein. Auf keinen Fall. Das ist eine Unverschämtheit, an so etwas überhaupt nur zu denken! Mein Mann ist ein Familienmensch, und unsere Ehe ist absolut glücklich. Wenn Sie ihn kennen würden, kämen Ihnen solche Ideen gar nicht erst in den Sinn!«
»Da liegt wahrscheinlich der Knackpunkt: Ich kenne Ihren Mann nicht. Ich weiß nur, was ich in meinem Beruf immer wieder erlebe: Es gibt Ehemänner, die ihre Frauen zugunsten einer neuen Liebe verlassen, ebenso wie Ehefrauen, die von heute auf morgen alle Brücken hinter sich abbrechen, um mit einem anderen Mann ein neues Leben zu beginnen. Das muss nicht zwangsläufig auch auf Ihren Mann zutreffen, Frau Sander. Aber ich bitte Sie, einmal genau darüber nachzudenken, ob es nicht vielleicht doch möglich ist.«
Als kein Protest kam, fuhr er fort. »Hat Ihr Mann in den letzten Wochen und Monaten überraschend viele Termine abgesagt oder ist oft später als geplant nach Hause gekommen? Hat irgendetwas darauf hingedeutet, dass es in seinem Leben doch noch jemand anders gibt?«
Sie wirkte besänftigt und runzelte die Stirn. Schließlich sagte sie energisch: »Nein. Nichts. Überhaupt nichts.«
»In Ordnung. Und wie sieht es mit seiner gesundheitlichen Verfassung aus? Ist er krank? Herzkrankheiten, Diabetes, Krampfanfälle? Etwas in der Richtung?«
Sie schluckte und wirkte eine Spur bleicher. »Sie meinen, dass ihm etwas zugestoßen ist?«
»Das können wir nicht ausschließen. Es ist gar nicht so selten, dass jemand auf einer Reise eine akute Notsituation erleidet und im Krankenhaus landet. Wenn die Identität nicht sofort festgestellt werden kann und der Patient nicht ansprechbar ist, kann es schon ein paar Tage dauern, bis die Angehörigen davon erfahren. Leidet Ihr Mann unter irgendwelchen Erkrankungen?«
»Sein Blutdruck ist etwas zu hoch, und er muss wegen seiner Blutfettwerte aufpassen, dass er nicht zu viel Fett und Schweinefleisch isst. Aber sonst ...«
»Danke.« Daniel machte sich Notizen. »Und wie sieht es mit seiner seelischen Gesundheit aus? Leidet er unter Depressionen? Nimmt er Psychopharmaka?«
»Nein. Joachim ist ein durch und durch optimistischer, tatkräftiger Mensch. Er hat außerdem gar keine Zeit, depressiv zu werden.«
»Alkohol?«
»Wenig«, antwortete sie, doch Daniel war ihr kurzes Zögern nicht entgangen. »Auf Feiern und bei besonderen Gelegenheiten vielleicht mal ein Glas Rotwein, einen Cognac oder Champagner. Sonst nichts.«
»Drogen?«
»Nein!« Es klang entrüstet.
»Ist Ihnen in der letzten Zeit an Ihrem Mann etwas aufgefallen? War er besonders nervös, verstört, nachdenklich, traurig, abwesend, fahrig, aufgeregt ...?«
»Nein. Definitiv nicht. Es war alles wie sonst.«
»Okay. Dann kommen wir zum beruflichen Umfeld. Wie steht es um die Geschäfte? Gibt es Schwierigkeiten?«
»Nein, sie laufen glänzend. Und bevor Sie auf den Gedanken kommen, mein Mann könnte mir eine drohende Pleite verheimlicht und sich deswegen auf irgendeinem Rastplatz das Leben genommen haben: Ich weiß das genau. Ich bin nämlich nicht nur seine trottelige Ehefrau, die zu Hause auf ihn wartet, wie Sie vielleicht vermuten. Ich habe ein abgeschlossenes Wirtschaftsstudium und leite die Buchhaltung der Firma. Wenn es da nicht zum Besten stünde, wäre es mir als Erster aufgefallen.«
»Das wäre in der Tat meine nächste Frage gewesen, Frau Sander.« Daniel lächelte leicht. »Und wie ist das Klima in der Firma? Gibt es Ärger? Sind die Mitarbeiter unzufrieden?«
»Nein. Überhaupt nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie kennen meinen Mann nicht. Er hat die Gabe, sich alle Mitarbeiter zu Freunden zu machen. Er interessiert sich für sie, für ihre Familien. Er kümmert sich um sie, wenn sie Sorgen haben, verhilft ihnen zu Häusern oder Wohnungen, organisiert Feste. Und gibt sogar zinslose Darlehen, wenn Not am Mann ist.«
»Das klingt nach einem Arbeitgeber, wie man ihn sich wünscht.«
»So ist es auch.« Ihre Stimme war jetzt wieder fest. »Ich glaube, ich kann voller Überzeugung sagen, dass alle unsere Mitarbeiter sehr gerne in unserer Firma arbeiten.«
»Und wie sieht es mit der Konkurrenz aus? Gibt es zwischen anderen Unternehmern und Ihrem Mann Spannungen?«
Sie zögerte, knetete die Finger. Ihr Blick huschte durch den Raum, als folgte er einer Fliege. »Ich weiß nicht ...«
»Sagen Sie ruhig alles, woran Sie denken. Jeder kleine Hinweis kann wichtig sein.«
»Nun, es gibt ein oder zwei Unternehmer, mit denen mein Mann immer mal wieder aneinandergerät, weil ihm ihre Geschäftspraktiken zuwider sind. Oder weil er ihnen ein Objekt vor der Nase weggeschnappt hat.«
»Fielen in diesem Zusammenhang auch mal Drohungen?«
Simone Sander runzelte die Stirn und schaute zum Fenster. Da draußen auf dem Parkplatz hinter der Polizeiinspektion gab es nicht viel zu sehen. Ein paar Bäume. Wolken. Und eine Möwe, die gelassen am Himmel kreiste. Versuchte Frau Sander, sich zu erinnern, ob jemand ihren Mann bedroht hatte? Oder wusste sie etwas und überlegte, ob sie ihm davon erzählen sollte oder nicht? Schließlich wandte sie ihm wieder den Blick zu.
»Nein«, sagte sie. »Nicht, dass ich wüsste.«
Schade.
»Müssen Sie noch etwas wissen?« Sie klang jetzt förmlich.
Sie will schnell wieder weg, dachte er. Offensichtlich ist da ein wunder Punkt ... »Eine Sache noch. Haben Sie ein Foto Ihres Mannes dabei?«
Simone Sander nickte und kramte in der Handtasche nach ihrem Handy, wischte ein paarmal über das Display und zeigte es ihm dann. Auf dem Bildschirm war ein lachender etwa sechzigjähriger Mann zu sehen. Braun gebrannt, weiße Zähne, sportlich, die grauen Haare voll. Ein sympathischer Typ. Und zweifelsohne ein Macher.
»Können Sie uns das Foto bitte an diese Adresse schicken?« Daniel reichte ihr seine Visitenkarte und deutete auf seine E-Mail-Adresse.
»Ja, natürlich.« Sie tippte. »Gerade geschehen. Was machen Sie mit dem Foto?«
»Wir geben es in die bundesweite Fahndung, damit die Kollegen die Augen offen halten. Wenn wir noch Fragen haben, melden wir uns bei Ihnen. Ihre Personalien haben wir. Und wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.« Er deutete wieder auf seine Visitenkarte. »Das da ist meine Handynummer. Darüber erreichen Sie mich rund um die Uhr.«
»Danke, Herr Kowalski.« Sie steckte die Karte in ihre Handtasche. »Was werden Sie jetzt unternehmen?«
»Abgesehen von dem Foto geben wir das Kennzeichen des Wagens Ihres Mannes an alle Dienststellen in Deutschland weiter; außerdem starten wir eine Anfrage in allen Krankenhäusern.« Von der Überprüfung aufgefundener Leichen erzählte er ihr erst einmal nichts, das kam noch früh genug. »Das wird ein, vielleicht auch zwei Tage dauern. In der Zwischenzeit werden alle Kollegen auf Streife die Augen nach Ihrem Mann offen halten.«
»Und wenn Sie nichts finden?«
»Dann werden wir die nächsten Schritte einleiten: Das heißt, dass wir mit den Mitarbeitern, Verwandten und Freunden Ihres Mannes sprechen, uns in Ihren Büros und bei Ihnen zu Hause umsehen. Vielleicht auch die Kollegen in den Nachbarländern einschalten, Flughäfen und Bahnhöfe überprüfen ...« Er lächelte aufmunternd. »Aber so weit ist es noch nicht. Ein Schritt nach dem anderen. Und sobald wir etwas wissen, erfahren Sie von uns.«
»Danke, Herr Kowalski.«
Sie verabschiedete sich, und Daniel drückte eine schmale, eisig kalte Hand. Nachdenklich sah er zu, wie Simone Sander das Büro verließ.
Er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Die meisten verschwundenen Ehemänner tauchten früher oder später wieder auf – dort, wo andere Urlaub machten und an der Seite einer im Minimum zwanzig Jahre jüngeren Schönheit. Das war ein Klischee, ja. Aber leider oft die Realität. Und er hatte keinen Grund zu glauben, dass es im Fall des vermissten Joachim Sander anders sein sollte.
Das Leben ist so geil!
Bei bestem Motorradwetter fuhr Katja Greve die Landstraße an der Schlei entlang. Es war trocken, der Wind ein angenehmer Begleiter; die Sonne schien von einem mit Wattebäuschen betupften Himmel und sorgte für schnuckelige zwanzig Grad. Katja hatte frei, bis acht Uhr geschlafen und ausgiebig gefrühstückt, so wie sie es mochte: Frisch gebrühter Kaffee und ein knuspriges Brötchen mit ihrem Lieblingskäse, ein spannendes Buch in der Hand und im Hintergrund lief Rockmusik.
Jetzt schnurrte der Motor der Harley unter ihr wie ein zufriedener Tiger in der Sonne, und die Vibrationen versetzten ihren ganzen Körper von den Fußsohlen bis zum Scheitel in diesen wunderbaren, nur schwer zu beschreibenden Zustand: eine Mischung aus Ekstase und Ruhe. Wie Fliegen, nur mit Bodenhaftung.
Auch Luzie gefiel es. Das Parson-Russell-Mädchen saß sicher und gut angeschnallt in ihrem Transportrucksack vor Katja auf dem Tank und streckte mit sichtlichem Vergnügen die Nase in den Fahrtwind.
Dass Luzie und sie sich gefunden hatten, empfand Katja immer noch als Glücksfall, der an ein Wunder grenzte. Seit einem halben Jahr teilten sie sich Wohnung, Leben ... und ihre Leidenschaft fürs Motorradfahren. Von Anfang an hatte Luzie keine Angst vor der Harley gehabt. Weder das Motorengeräusch hatte sie gestört noch der Geruch von Benzin. Und mit ihren acht Monaten saß sie mittlerweile so routiniert in ihrem Case, als wäre sie auf dem Sitz geboren worden. Wenn andere Hunde rauswollten, brachten sie Herrchen oder Frauchen ihre Leine.
Luzie schleppte ihre Pilotenbrille und den Hundehelm an.
Die Straße beschrieb eine Doppelkurve. Katja neigte sich mit der Maschine erst nach rechts, dann sofort nach links, ein Wiegen in den Hüften wie beim Tangotanzen. Sie fühlte den Wechsel zum Schatten, als sie zwei große Kastanien passierte. Der schwere, satte Duft frisch gepflügter Erde stieg ihr in die Nase. Luzie hob den Kopf und schien zu grinsen.
Sie näherten sich einem landwirtschaftlichen Fahrzeug, wenige Hundert Meter vor ihnen. Dicke Brocken feuchter Erde schleuderten aus den Profilen der breiten Reifen und verteilten sich auf der Straße – für Motorradfahrer nicht ganz ungefährlich.
Katja nahm Gas weg und beobachtete aufmerksam den Asphalt. Manche der Erdklumpen waren ziemlich groß, als befänden sich Steine oder Ziegel darin. Natürlich standen hier auch überall die Verkehrsschilder, die auf mögliche Fahrbahnverschmutzungen hinwiesen. Dass diese Schilder ihre Berechtigung hatten, zeigte sich heute. Vorsichtig steuerte sie die Harley wie in einem Slalom an den größten Erdklumpen vorbei. Der Abstand wurde immer geringer.
Es war ein Traktor. Katja war unweit von Schleswig auf dem Land aufgewachsen; in ihrer Familie wimmelte es von Landwirten und Förstern. Deshalb erkannte sie auch sofort, dass es sich bei dem Gerät mit den hochgestellten, sichelförmigen Schneiden um einen Pflug handelte, den der Traktor hinter sich herzog.
Sie näherte sich dem Fahrzeug bis auf zwanzig Meter.
Dann guckte sie.
Blinzelte.
Und guckte wieder.
»Scheiße.«
An einer der Pflugscharen, aufgespießt wie ein Stück Fleisch auf einer Gabel, hing ein Bein. Und so, wie es aussah, war es ausnahmsweise nicht das Körperteil eines Rehs.
Das da war ein Unterschenkel. Und er sah verdammt menschlich aus.
Katja gab Gas. Sie überholte den Traktor, scherte vor ihm wieder in die Spur und nahm Gas weg. Dann schaltete sie ihr Warnblinklicht an und gab Handzeichen. Sie hoffte, dass der Fahrer sie verstehen und rechts ranfahren würde. Doch es dauerte eine Weile. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Sie würde auch jedem, der sich auf der Straße plötzlich vor sie setzte und bei eingeschaltetem Warnblinker mit den Händen wedelte, zuerst einen Vogel zeigen und ihn dann überholen.
Endlich wurde der Traktor langsamer und blieb schließlich am Straßenrand in einer Haltebucht stehen.
Katja steuerte die Harley auf den schmalen Seitenstreifen und stellte den Motor ab. Im Absteigen nahm sie sich den Helm vom Kopf und zog ihren Dienstausweis aus der Tasche. »Moin!«, rief sie. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, weil der Mann so hoch über ihr saß, und streckte ihm ihren Ausweis entgegen. »Greve, Kripo Schleswig.«
»Moin.« Er nickte ihr zu. »Ich bin doch nicht zu schnell gefahren?«
Sie hörte, dass er in seinem Traktor eine Klappe öffnete – vielleicht um seine Papiere hervorzuholen. Doch Katja schüttelte den Kopf. »Nein, nein, keine Sorge. Aber Sie haben da etwas an ihrem Pflug hängen, das würde ich mir gern mit Ihnen zusammen ansehen. Schalten Sie mal Ihr Warnblinklicht ein?«
»Ja. Natürlich.« Er kam der Bitte nach und kletterte aus der Fahrerkabine. »Hoffentlich nicht schon wieder ein Reh. Ich hatte erst letzten Monat ein Kitz vor dem Mähdrescher. Nicht schön. So gar nicht.«
»Ich glaube nicht, dass es ein Reh ist. Wie heißen Sie?«
»Lindemann. Sören Lindemann.«
Er reichte ihr seine kräftige, raue Hand. Er war ein paar Jahre älter als sie. Erste graue Strähnen mischten sich in sein dunkles Haar, und er hatte die typische Sonnenbräune aller Menschen, die nahezu täglich im Freien arbeiten. Die Ärmel seines karierten Hemdes waren bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt und gaben den Blick auf seine sehnigen Unterarme frei.
Beinahe magisch wurde Katjas Aufmerksamkeit von dem Tattoo auf der Innenseite von Lindemanns linkem Unterarm angezogen. Ein kunstvolles, schwarz-weißes Mandala mit der Silbe Om in der Mitte. Nicht gerade das, was man auf der Haut eines schleswig-holsteinischen Landwirts erwarten würde. Aber vielleicht war er ja Öko-Bauer, lebte auf einem riesigen Hof mit zehn Gleichgesinnten zusammen, die alles miteinander teilten, sich selbst versorgten und sich jeden Morgen bei Sonnenaufgang zum Yoga trafen.
Und Vorurteile hast du ja gar nicht, dachte Katja. »Dann lassen Sie uns mal nachsehen.«
Sie gingen auf dem Seitenstreifen um den Traktor herum. Ein Blick und ein Atemzug reichten Katja, um sicher zu sein, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Da hing tatsächlich ein menschlicher Unterschenkel am Pflug.
»Das gibt's doch nicht!«, entfuhr es Lindemann. »Diese dämlichen Gören aus der Nachbarschaft! Dabei ist es für einen Halloween-Scherz doch noch viel zu früh!«
Er wollte nach vorne stürmen und das anfassen, was er offenbar für das Bein einer Puppe hielt, doch Katja packte ihn geistesgegenwärtig am Arm und zog ihn zurück.
»Halt!«, rief sie. »Nicht berühren! Das sieht nicht nach einem Scherz aus.«
Langsam wandte Lindemann ihr den Kopf zu, und sie konnte zusehen, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich und ihm jede Mimik entgleiste. Fast, als beobachtete sie ihn in Zeitlupe beim Verlieren seiner Beherrschung.
»Meinen Sie ...« Er schluckte hörbar. »Glauben Sie im Ernst ... Das Ding ist doch nicht etwa echt?«
»Ich fürchte, doch.«
»Aber ... Wie ist das an meinem Pflug gelandet?«
»Haben Sie heute schon gepflügt, oder sind Sie erst zum Feld unterwegs?«
»Nein, nein. Ich bin heute um acht raus und habe schon ...«
Lindemann riss die Augen auf, seine Wangen hatten mittlerweile die Farbe von Ziegenkäse. »Meinen Sie ...« Er schlug sich die Hände vor das Gesicht. »Meinen Sie, ich bin mit meinem Pflug über diesen Menschen drübergefahren? Glauben Sie, ich habe ihn ...«
»Dem Geruch nach ist er oder sie bereits längere Zeit tot, jedenfalls nicht erst seit heute Vormittag. Das werden die in der Rechtsmedizin in Kiel klären.«
»Aber was geschieht denn jetzt?« Lindemanns Stimme wurde kläglich. »Wir können das ... dieses ... Ding doch nicht so da hängen lassen. Wir müssen doch ...«
»Nein. Wir halten uns zurück und fassen nichts an. Wir wollen schließlich keine Spuren verwischen, oder? Da muss erst einmal die Spurensicherung ran; die kennen sich mit so was aus. Wo haben Sie denn gepflügt, Herr Lindemann?«
»Dahinten.« Er deutete vage in die Richtung, aus der sie beide gekommen waren. »Etwa einen Kilometer von hier entfernt ist eine Brachwiese, die mir gehört. Die habe ich heute für die Aussaat vorbereitet.«
»Okay. Ich schätze, den Acker werden wir uns auch ansehen müssen. Ich rufe die Kollegen an.«
»Ich bewundere Sie. Wie können Sie bei dem da ...« Lindemann deutete vage in Richtung Pflug, ohne hinzusehen. »Ich meine, Sie stehen da und machen trotzdem Ihren Job!«
»Routine, Herr Lindemann. Mit den Jahren wird man abgebrüht.« Sie zog ihr Smartphone aus der Innentasche ihrer Lederjacke und stellte überrascht fest, dass es nicht so ruhig wie sonst in ihrer Hand lag.
So viel also zur abgebrühten Kommissarin.
Im Büro war es ruhig. Carsten war immer noch nicht zurück, hatte aber in einer Nachricht mitgeteilt, dass es seiner kleinen Tochter gut ging. Rudi suchte auf mehreren Online-Verkaufsportalen nach drei gestohlenen Autos. Und auf Daniels Tisch lag die Akte »Edgar Ziegler«. Ein Ordner aus gelber Pappe mit einigen wenigen Blättern darin.
Zieglers Tod war eine klare Angelegenheit. Nichts ließ einen Zweifel daran, dass der Mann seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hatte. Der rechtsmedizinische Befund war da ebenso eindeutig wie der Bericht der Spurensicherung und die Aussage von Melanie Bartels, Zieglers Schwester.