13,99 €
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 13,99 €
Krimis von der Küste: norddeutsch und mörderisch spannend. Die ersten drei Fälle für die Ostsee-Kommissare Katja Greve und Daniel Kowalski in einem 3in1-Sammelband.
DAS LETZTE LIED
In einer luxuriösen Seniorenresidenz bei Schleswig wird ein Toter gefunden. Alle Indizien sprechen für Mord. Doch wer hat ein Interesse an dem vorzeitigen Ableben eines 94-jährigen Opernsängers? Geht es ums Erbe? Oder ist gar ein Todesengel am Werk?
Je länger Kommissarin Katja Greve und ihr neuer Kollege Daniel Kowalski ermitteln, umso zahlreicher werden die Motive. Schon bald offenbaren sich den beiden mehr menschliche Abgründe und Tragödien, als ihnen lieb ist ...
KEIN WORT ZUVIEL
Eine Leiche in der Klärgrube! Der Arbeiter der Stadtreinigung ist schockiert, als er die die tote Frau entdeckt. Katja Greve und Daniel Kowalski von der Kriminalpolizei Schleswig ermitteln: Der Fundort liegt unweit einer dubiosen Firma, die Reinigungskräfte aus Osteuropa unter unwürdigen Bedingungen beschäftigt. Bald wird klar, dass die Tote dort arbeitete. Und: Katja und Daniel kannten die junge Frau aus Belarus - sie hatte in einem früheren Fall als Zeugin ausgesagt. Doch warum musste sie sterben?
EINSAMES BEGRÄBNIS
Der erfolgreiche Immobilienverwalter Joachim Sander wird als vermisst gemeldet. Die Suche verläuft ergebnislos, bis Katja Greve von der Kripo Schleswig beim Motorradausflug mit ihrer Hündin Luzie eine grauenvolle Entdeckung macht: Am Pflug des Traktors vor ihr hängt ein menschlicher Unterschenkel! Und tatsächlich - Sander wurde offenbar ermordet und auf einem Feld vergraben.
Doch wer könnte ein Interesse am Tod des anscheinend beliebten und sozial engagierten Geschäftsmannes haben? Katja und ihr Kollege Daniel Kowalski ermitteln und stoßen bald auf Risse in der perfekten Fassade ...
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1015
Veröffentlichungsjahr: 2025
Digitale Erstausgabe - Sammelband
beThrilled in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2025 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 - 20, 51063 Köln, Deutschland
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien- oder -Systeme ist untersagt.
ISBN 978-3-7517-7642-4
Eva Jensen ist gebürtige Hamburgerin und hat in einem Dorf in der Nähe von Schleswig eine zweite Heimat gefunden. Dort genießt sie Landschaft und Natur an der Schlei und den Charme der Norddeutschen. Wenn es dort regnet, und das tut es sehr oft, schreibt sie. Eva Jensen ist ein Pseudonym der Autorin Yvonne Wüstel.
Krimis von der Küste: norddeutsch und mörderisch spannend. Die ersten drei Fälle für die Ostsee-Kommissare Katja Greve und Daniel Kowalski in einem 3in1-Sammelband.
DAS LETZTE LIED
In einer luxuriösen Seniorenresidenz bei Schleswig wird ein Toter gefunden. Alle Indizien sprechen für Mord. Doch wer hat ein Interesse an dem vorzeitigen Ableben eines 94-jährigen Opernsängers? Geht es ums Erbe? Oder ist gar ein Todesengel am Werk?
Je länger Kommissarin Katja Greve und ihr neuer Kollege Daniel Kowalski ermitteln, umso zahlreicher werden die Motive. Schon bald offenbaren sich den beiden mehr menschliche Abgründe und Tragödien, als ihnen lieb ist ...
KEIN WORT ZUVIEL
Eine Leiche in der Klärgrube! Der Arbeiter der Stadtreinigung ist schockiert, als er die die tote Frau entdeckt. Katja Greve und Daniel Kowalski von der Kriminalpolizei Schleswig ermitteln: Der Fundort liegt unweit einer dubiosen Firma, die Reinigungskräfte aus Osteuropa unter unwürdigen Bedingungen beschäftigt. Bald wird klar, dass die Tote dort arbeitete. Und: Katja und Daniel kannten die junge Frau aus Belarus - sie hatte in einem früheren Fall als Zeugin ausgesagt. Doch warum musste sie sterben?
EINSAMES BEGRÄBNIS
Der erfolgreiche Immobilienverwalter Joachim Sander wird als vermisst gemeldet. Die Suche verläuft ergebnislos, bis Katja Greve von der Kripo Schleswig beim Motorradausflug mit ihrer Hündin Luzie eine grauenvolle Entdeckung macht: Am Pflug des Traktors vor ihr hängt ein menschlicher Unterschenkel! Und tatsächlich - Sander wurde offenbar ermordet und auf einem Feld vergraben.
Doch wer könnte ein Interesse am Tod des anscheinend beliebten und sozial engagierten Geschäftsmannes haben? Katja und ihr Kollege Daniel Kowalski ermitteln und stoßen bald auf Risse in der perfekten Fassade ...
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
Cover
Titel
Impressum
ÜBER DIE AUTORIN
Über das Buch
Inhalt
Küstenmord
Cover
Grußwort des Verlags
Titel
Widmung
Prolog
Teil 1
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
Teil 2
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
Teil 3
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Teil 4
1
Epilog
Weitere Titel der Autorin
Impressum
Küstenmord
Cover
Grußwort des Verlags
Titel
Zitat
Prolog
Teil 1
1
2
3
4
5
6
Teil 2
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
Teil 3
1
2
3
4
5
6
Teil 4
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Epilog
1
2
Weitere Titel der Autorin
Impressum
Küstenmord
Cover
Grußwort des Verlags
Titel
Widmung
Zitat
Prolog
Mittwoch, 20. Juli
Teil 1
Donnerstag, 1. September
Freitag, 2. September
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Samstag, 3. September
1
2
3
4
5
Sonntag, 4. September
1
2
3
4
5
6
Teil 2
Montag, 5. September
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Teil 3
Dienstag, 6. September
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Sonntag, 11. September
Weitere Titel der Autorin
Impressum
Start Reading
Contents
Liebe Leserin, lieber Leser,
vielen Dank, dass du dich für ein Buch von beTHRILLED entschieden hast. Damit du mit jedem unserer Krimis und Thriller spannende Lesestunden genießen kannst, haben wir die Bücher in unserem Programm sorgfältig ausgewählt und lektoriert.
Wir freuen uns, wenn du Teil der beTHRILLED-Community werden und dich mit uns und anderen Krimi-Fans austauschen möchtest. Du findest uns unter be-thrilled.de oder auf Instagram und Facebook.
Du möchtest nie wieder neue Bücher aus unserem Programm, Gewinnspiele und Preis-Aktionen verpassen? Dann melde dich auf be-thrilled.de/newsletter für unseren kostenlosen Newsletter an.
Spannende Lesestunden und viel Spaß beim Miträtseln!
Dein beTHRILLED-Team
Eva Jensen
Küstenmord
Das letzte Lied
Krimialroman
Wenn alles still ist, geschieht am meisten.
Søren Kierkegaard
Stenka Rasin vorn als Erster,
selig in der Trunkenheit,
hält im Arme die Prinzessin,
die er eben erst befreit.
(Aus Stenka Rasin , 2. Strophe)
Sie beobachten ihn. Auch wenn sie es sehr geschickt verbergen. Er hat Erfahrung damit. Nur noch ein letzter Test, dann hat er Gewissheit.
Das Zimmer hinter dem Glaskasten ist hell erleuchtet. An diesem Abend sitzen dort zwei Aufseher: eine dunkelhaarige, etwas pummelige Frau und ein großer blonder Mann. Sie kommt ihm bekannt vor, ihn hat er noch nie zuvor gesehen. Das kommt oft vor, sie wechseln das Personal häufig aus. Wahrscheinlich als Vorsichtsmaßnahme, damit zwischen Insassen und Aufsehern keine Freundschaften entstehen.
Es ist Zeit für den Test. Er stellt sich in die offene Tür und beginnt zu singen. Die beiden wenden sich ihm zu.
»Herr Mironow. Was machen Sie denn hier? Möchten Sie nicht mehr fernsehen?« Die Frau lächelt ihn an. Doch ihr Lächeln kommt ihm falsch vor. Wie einstudiert.
Statt einer Antwort singt er weiter. Er muss wissen, wie die beiden auf das Lied reagieren. Kennen sie es? Gehören sie tatsächlich zu denen? Er singt lauter, und für einen kurzen Moment taucht eine Erinnerung aus dem Nebel auf, der ihn seit einiger Zeit umgibt. Eine Erinnerung an den Blick auf einen großen Saal mit vergoldetem Stuck, schweren Vorhängen und Polstern aus rotem Samt. Hunderte Gesichter schauen zu ihm auf und lauschen dem Lied Stenka Rasin. Seinem Lied. Ist die pummelige Frau eine von ihnen? Kennt er sie daher?
»So, Herr Mironow, jetzt müssen Sie aber aufhören mit dem Singen. Die anderen Bewohner beschweren sich schon.«
Natürlich achtet er nicht darauf, was die Frau sagt. Er muss endlich wissen, auf welcher Seite sie stehen.
Und da hat er auch schon seine Bestätigung: Der Blick, den sie einander zuwerfen, verrät sie. Sie gehören zu denen. Alle beide. Er muss vorsichtig sein. Vorsichtig wie ein Mäuschen, wenn die Katze zu Hause ist.
»Herr Mironow, ich bringe Sie jetzt in Ihr Zimmer.« Die pummelige Frau fasst ihn am Arm – scheinbar behutsam, aber er spürt deutlich, dass sie kräftiger zupacken wird, falls er sich wehren sollte. Sie lächelt mit dem Mund, doch ihre Augen bleiben kalt. »Sie sind bestimmt schon müde.«
Sie führt ihn den Flur entlang. Die Leute hier haben sich Mühe gegeben, das muss er ihnen lassen. Der Raum, in den die Aufseherin ihn bringt, ist recht behaglich eingerichtet und hat keine Ähnlichkeit mit einer Zelle. Sie haben sogar einen Sessel aufgetrieben, der seinem Lesesessel zu Hause auf verblüffende Weise ähnelt, und einige der Bilder und Fotos an den Wänden kommen ihm bekannt vor. Selbst die Wolldecke und sein Lieblingskissen, das er sich gern in den Rücken legt, stimmen. Das Kissen hat noch seine Mutter bestickt, damals in ...
Er reibt sich die Stirn. Wie hieß der Ort? Der Name will ihm nicht einfallen.
»Sie ziehen jetzt Ihren Schlafanzug an und legen sich ins Bett, Herr Mironow. Ich helfe Ihnen dabei. Jan bringt Ihnen gleich Ihren kleinen Wodka, dann können Sie besser schlafen.«
Er singt und nickt. Es ist besser, den Aufsehern zuzustimmen, das lernt man schnell. Wenn sie nämlich ärgerlich werden, kann es schlecht ausgehen, dann wird man mit den Füßen voran aus dem Zimmer geschoben. Das hat er schon oft gesehen.
Als der blonde Aufseher zurückkommt, trägt Stenka, wie ihn seine Mutter immer liebevoll genannt hat, bereits seinen Schlafanzug. Anders als man erwarten würde, ist der Stoff warm und weich und trägt ein hübsches Muster aus hellblauen Karos. Doch Stenka ist zu klug für sie, er durchschaut auch dieses Täuschungsmanöver: Sie wollen den Insassen einreden, dass dies hier kein Gulag ist.
Lügner.
Der Blonde stellt einen Becher auf dem Nachtschrank ab. Er ist aus Pappe und kleiner als ein Wodkaglas. Dann helfen ihm die Aufseher, sich in das Bett zu legen. Eigentlich will er noch nicht schlafen, aber er kann es den beiden nicht sagen. Sie dulden hier keinen Widerspruch. Nie.
»Jetzt müssen Sie nur noch Ihren Wodka trinken.« Sie werfen einander einen verräterischen Blick zu.
Der Blonde hält ihm den Becher an die Lippen. Stenka nimmt die Flüssigkeit in den Mund und versucht, nicht zu schlucken. Die Medikamente, die sie ihm hier jeden Tag geben, betäuben ihn. Sie sind der Grund für den Nebel in seinem Kopf, der Grund, weshalb er sich nicht erinnern kann. Nicht einmal an den Namen seiner Mutter. Doch diesmal wollen sie ihn nicht nur betäuben. Er kennt den Geschmack von Wodka. Das hier ist etwas anderes. Gift. Und er hat Angst. Er will nicht sterben.
»Gute Nacht, Herr Mironow.«
Beim Verlassen des Zimmers schalten die beiden Aufseher das Licht aus. Zurück bleibt nur die schummrige Notbeleuchtung.
Er tastet nach dem großen Stofftaschentuch unter seinem Kopfkissen und spuckt die Reste des Gifts hinein. Allerdings hat er wohl doch etwas von dem Zeug geschluckt – er wird müde. Sehr müde. Eine Weile singt er noch, dann fallen ihm die Augen zu.
Als er wieder aufwacht, fällt ein Streifen Licht durch die geöffnete Tür, dann ist es wieder dunkel. Und still. Doch er kann es hören. Atmen, leise Schritte. Er ist nicht mehr allein im Raum.
Er will sich aufsetzen, das Licht anknipsen, etwas sagen ...
Doch etwas Schweres, Weiches wird auf sein Gesicht gedrückt. So fest, dass er keine Luft mehr bekommt. Sein Schrei wird durch Lagen von dickem, samtigem Stoff erstickt. Er wehrt sich, rudert mit den Armen – aber er hat nicht viel Kraft, und die geschluckten Tropfen machen ihn langsam. Sie haben es sich gut ausgedacht, alles wohlüberlegt. Er ist hilflos. Wehrlos. Ihnen ausgeliefert.
Sein Herz galoppiert davon, die Luft wird ihm knapp. Sein Brustkorb droht zu platzen, sein Kopf scheint anzuschwellen. Er denkt an sein Lied. In seiner Verzweiflung versucht er, den Brustkorb mit Luft zu füllen, um zu singen. Sein Lied!
Und dann verstummt er. Für immer.
Donnerstag, 11. November
Plötzlich tönt ein dumpf Gemurre.
Er verrät uns um ein Weib,
all der Seinen Glück vergisst er
um geringen Zeitvertreib.
(Aus Stenka Rasin , 3. Strophe)
Benjamin Franke schloss die Tür zum Geschäft auf. Von den Mitarbeitern war noch keiner da. Um sieben Uhr morgens erwartete er das aber auch nicht von ihnen. Bei ihm war es etwas anderes. Er war schließlich der Chef. Und er liebte seinen Job.
Leise pfeifend ging er in sein Büro und hängte den Mantel an die Garderobe. Dann brühte er sich in der kleinen Teeküche einen Kaffee auf. Der Kaffeevollautomat war eine professionelle Maschine aus Italien, die gleiche, die er auch zu Hause stehen hatte. Sündhaft teuer, das gute Stück. Doch seit Benjamin einen Barista-Kurs in Florenz besucht hatte, gab er sich nicht mit weniger zufrieden. Diese Investition hatte er noch keinen einzigen Tag bereut und sowohl seine Mitarbeiter als auch die Kunden dankten es ihm.
Der Automat fauchte dezent und ließ die dunkle Flüssigkeit in die Tasse rinnen. Stark war der Kaffee, schwarz und so aromatisch, dass sich die Teeküche augenblicklich mit seinem Duft füllte. Benjamin senkte den Blick auf die Tasse, betrachtete die perfekte Crema und war rundum zufrieden: Er lebte dort, wo er immer hatte leben wollen. Sein Beruf machte ihn glücklich. Sein Haus lag nur wenige Gehminuten vom Geschäft entfernt direkt an der Schlei, mit einem privaten Steg, an dem sein Boot vertäut war, und einer Garage, in der ein schwarzer Triumph Spitfire stand, Baujahr 1965. Und immer, wenn ihm danach war, konnte er den besten Kaffee östlich von Schleswig genießen. Was wollte er mehr?
Benjamin öffnete die Tür zum Vorbereitungsraum. Am vergangenen Tag hatten sie einen neuen Leichnam abgeholt, um den er sich jetzt kümmern musste. Persönlich und so schnell wie möglich, so hatte es die Tochter verlangt. Selbstverständlich hielt er sich an seine Zusage.
Er öffnete die Tür der Kühlkammer und zog die Bahre heraus. Stepan Mironow war vierundneunzig Jahre alt geworden. Für diese Information musste Benjamin den Totenschein nicht bemühen. Seit er denken konnte, kannte er die Lebensdaten dieses Mannes ebenso wie seinen Namen und seine Stimme. Der russische Tenor war ein Ausnahmekünstler gewesen, höchstens mit anderen Größen wie Luciano Pavarotti oder Enrico Caruso zu vergleichen. Selbst in den Zeiten des Kalten Krieges war er auf allen Bühnen der Welt zu Hause gewesen.
Benjamins Vater hatte Mironow sehr geschätzt und einen ganzen Stapel Schallplatten von ihm besessen – berühmte Arien, Opern, Weihnachtslieder, russische Volkslieder. Und Benjamin hatte nicht nur die Sammlung seines Vaters geerbt. Es gab Tage und Stimmungen, in denen nichts so gut passte wie ein Lied von Mironow, egal, ob zu Hause, im Büro oder bei der Arbeit im Vorbereitungsraum. Und oft empfahl er unschlüssigen Angehörigen eine Arie von Mironow zur Trauerfeier. Seine Stimme konnte Balsam sein und Wunder vollbringen.
Jetzt lag er hier vor ihm und wartete in der stillen Art der Toten darauf, für sein Begräbnis hergerichtet zu werden. Ein Jammer.
Eine Weile betrachtete Benjamin das Gesicht, das er von so vielen Platten- und CD-Covern her kannte und das im Alter schmal und faltig geworden war. Nun hatte die Haut einen unschönen, bläulichen Unterton, vor allem an den Lippen. Falls sich die Mironowa doch für eine offene Aufbahrung entschied, konnte man die Gesichtsfarbe natürlich mit ein bisschen Puder überdecken. Dann runzelte Benjamin die Stirn, blinzelte, schaute genauer hin und beugte sich schließlich vor.
Was war das zwischen Mironows Lippen? Und das in seinem rechten Nasenloch?
Es sah aus wie Fäden. Fein und golden wie der Draht, der um die alten Christbaumkugeln seiner Eltern gewickelt war. Was hatte das zu bedeuten?
Vorsichtig hob er eines der Lider des Toten. Das ehemals klare blaue Auge blickte trübe und starr ins Leere. Benjamin beugte sich noch weiter vor. Er spürte die Kälte der Kühlkammer, die von dem Leichnam ausging. Und dann sah er es: kleine violette Punkte in der blassen Haut des Unterlids.
Er richtete sich auf und rieb sich das Kinn. Benjamin wusste, was er da sah, und er wusste auch, welchen Schluss seine Beobachtung letztlich bedeutete. Schon vor Jahren hatte er sich ein Lehrbuch der Rechtsmedizin besorgt, und er beschäftigte sich regelmäßig damit. Ärzte waren auch nur Menschen, und oft standen sie unter Zeitdruck. Sie konnten Fehler machen, Kleinigkeiten übersehen. Kleinigkeiten, die ihm selbst auffallen konnten, weil er sich Zeit für die Toten nahm.
Und er hatte recht gehabt damit.
Seine Tochter wird nicht glücklich sein, dachte Benjamin.
Olga Mironowa war tags zuvor bei der Besprechung schon ganz hysterisch geworden, als er angedeutet hatte, dass es mit der Beisetzung bis zu zehn Tagen dauern könnte. Jetzt, im Herbst, begann für Bestatter die Hochsaison. Sie jedoch wollte es schnell hinter sich bringen. So schnell wie möglich.
So schnell wie möglich. Benjamin seufzte. Daraus wird jetzt wohl nichts mehr.
Er schob die Bahre in die Kühlkammer zurück. Im Büro ließ er sich auf seinen Bürostuhl fallen und nahm den Totenschein zur Hand. Neben Alter, Namen und letzter Anschrift war es vor allem eins, was die Behörden normalerweise interessierte: der Vermerk der Todesart. Bei Mironow war natürlicher Tod angekreuzt und daneben stand: Hirntod infolge Kreislaufversagen bei altersbedingter Myokardinsuffizienz. Ein alter Mensch mit schwachem Herzen. Natürlicher Tod.
Benjamin griff zum Telefon und wählte. Zweimal erklang das Freizeichen im Hörer, dann wurde abgenommen.
»Polizeidienststelle Schleswig.«
»Moin, Benjamin Franke vom Bestattungsunternehmen Franke in Missunde. Ich habe an einem Toten etwas gefunden, was Sie sich ansehen sollten. Möglicherweise hat der Arzt einen ungeklärten Todesfall übersehen.«
Oder einen Mord.
»Hör mal zu, Bjarne. Das ist mir herzlich egal.« Katja Greve schlug ihren Jackenkragen hoch, so gut es eben ging, wenn man mit einer Hand das Smartphone ans Ohr hielt. Sie wohnte kaum mehr als fünfzehn Minuten Fußweg von ihrem Arbeitsplatz, dem Kommissariat Schleswig, entfernt. Für diese Strecke hätte es sich nicht einmal gelohnt, das Fahrrad aus dem Keller zu holen – wenn sie denn eines gehabt hätte. »Ich weiß, dass dir die Messe in Alicante wichtig ist. Fortbildung, kreativer Input, Austausch mit Kollegen und so weiter. Logisch. Aber was mir nicht in den Kopf will: Wieso hast du mir nichts davon erzählt?«
»Katja.« Sie konnte schon an seiner Stimme hören, wie er die Augen verdrehte und die Lippen nach außen stülpte, als wollte er etwas einsaugen. »Katja, hör mal. Ich weiß doch, wie schwierig es für dich ist, so kurzfristig Urlaub zu nehmen.«
»Kurzfristig? Wenn ich deine Mutter gestern richtig verstanden habe, weißt du davon seit mindestens drei Monaten!«
»Hast du nicht mal gesagt, dass ihr immer möglichst ein Jahr im Voraus euren Urlaub eintragen müsst? Außerdem wollte ich dich nicht unter Druck setzen. Ich ...«
»Ich bin erwachsen, Bjarne. Ich kann schon selbst entscheiden, was ich möchte und was nicht. Und ich kann Nein sagen, wenn mir etwas nicht passt. So einfach ist das.«
»Aber du sagst doch immer, dass du ein schlechtes Gewissen hast, wenn deine Kollegen ...«
»Herrgott, Bjarne! Darum geht es jetzt doch gar nicht. Du hast ja nicht einmal in Erwägung gezogen, dass ich mit dir fahren will oder könnte. Du hast mich weder gefragt noch ...«
»Warum sollte ich dich denn fragen, wenn du sowieso Nein sagst?«
»Erstens: Bist du ein Hellseher, dass du meine Gedanken im Voraus kennst? Und zweitens: Du hast ganz offensichtlich immer noch nicht begriffen, worum es mir geht. Fahr nach Alicante, nach Rio oder zehn Wochen nach Los Angeles, um dort ein Praktikum bei einem berühmten Tätowierer abzuleisten – ich habe damit kein Problem und gönne es dir von Herzen. Aber rede mit mir! Ich will es nicht zwischen Apfelkuchen und Kaffee von deiner Mutter erfahren!«
Einen Moment war es still am anderen Ende. Als er wieder zu sprechen begann, hatte sich seine Stimme verändert. Sie klang etwas tiefer, war betont ruhig und sanft. Es war dieser für Bjarne so typische Tonfall. Als spräche ein gütiger Opa mit seiner bockigen Enkelin. Katja kam sich dann immer vor wie ein trotziges Kindergartenkind oder ein Hund, der den Turnschuh seines Herrchens zerkaut hatte. Und wäre sie nicht schon seit gestern Abend wütend auf Bjarne gewesen, spätestens jetzt hätte er sie mit diesem Getue auf die Palme gebracht.
»Katja. So kommen wir doch nicht weiter.« Er schnurrte fast ins Telefon, und in ihr brodelte es. »Ich liebe dich. Ich werde das ganze Wochenende über an dich denken und dich schrecklich vermissen.«
Das glaube ich dir sofort, dachte Katja und zeigte dem Smartphone in ihrer Hand den Mittelfinger.
»Und statt jetzt fahren wir eben im Sommer gemeinsam nach Spanien – zwei oder drei Wochen. Eine ganze Tour. Nur du und ich auf unseren Motorrädern. Barcelona, Valencia, Alicante, die Sierra Nevada. Wir campen in menschenleeren Gegenden ...«
»Klar. Im Sommer sind natürlich überhaupt keine Touristen in Alicante.«
»... und schlafen im Freien in unserem eigenen Tausend-Sterne-Hotel. Wie klingt das?«
»Wie eine billige Ausrede.« Noch dazu war sie geklaut. Das »Tausend-Sterne-Hotel« war eine Formulierung aus einem Katalog für Motorrad- und Outdoor-Equipment, der seit dem Frühjahr in Bjarnes Wohnzimmer herumlag.
»Katja, verdammt noch mal! Warum bist du so spießig?«
»Ich weiß ja nicht, auf welchem Planeten du aufgewachsen bist. Aber da, wo ich herkomme, ist es kein Zeichen von Spießigkeit, ehrlich zu sein. Und wenn du ein Problem mit der Ehrlichkeit hast, sollten wir uns ernsthaft überlegen ...«
»Du, ich habe gerade echt keine Zeit für so einen Scheiß. Unser Flug wurde gerade aufgerufen, ich muss zum Gate. Und diesen Stress jetzt mit dir muss ich mir sowieso nicht antun.«
»Das brauchst du auch nicht. Du kannst dich ja bei Tanja ausweinen und dich mit ihr in Alicante entspannen. Hasta luego. « Bevor Bjarne noch etwas erwidern konnte, hatte Katja schon den roten Hörer auf ihrem Smartphone angetippt, dann schaltete sie es stumm. Sie hatte keine Lust auf Entschuldigungsanrufe. Weder jetzt noch im Laufe des Tages. Das musste erst einmal sacken.
Sie stopfte das Gerät in ihre Jackentasche und ging mit langen, eiligen Schritten am Gebäude des Amtsgerichts vorbei. Die Bäume in dem kleinen Park hatten schon den Großteil ihrer Blätter abgeworfen, und der Regen tropfte ihr von den Ästen direkt auf den Kopf und in den Nacken. Unangenehm war das, kalt. Sie konnte sogar ihren Atem sehen. In Alicante war jetzt bestimmt besseres Wetter.
Bjarne fuhr also zu dieser Tattoo-Messe und ließ sich von einer Tätowiererin aus seinem Studio begleiten. Beides war natürlich nicht verwerflich, sie selbst war ja auch immer wieder mit Kollegen zu Fortbildungen vom LKA aus unterwegs. Aber Bjarne – ihr Freund oder Lebensgefährte oder wie auch immer man es nennen wollte, wenn zwei Erwachsene sich regelmäßig küssten, ihre Wohnungen teilten und bei Gelegenheit miteinander schliefen – hatte sie nicht einmal gefragt , ob sie Lust hätte mitzufliegen. Es war ihm nicht eine Sekunde in den Sinn gekommen. Wenn sie nicht zufällig am vergangenen Tag bei einem gemeinsamen Besuch bei seinen Eltern erfahren hätte, dass seine Hündin Ava bis Montag bei ihnen blieb, weil Bjarne nach Alicante fuhr, hätte sie nicht einmal von diesem Trip nach Spanien erfahren.
Mistkerl.
Wie lange waren sie jetzt zusammen? Seit etwas über einem Jahr. Vielleicht war die gemeinsame Basis doch nicht so stark, wie sie bisher gedacht hatte. In gewissen Fragen schienen sie jedenfalls unterschiedliche Vorstellungen zu haben.
Katja bog auf das Gelände der Polizeidienststelle Schleswig ein. Im Gebäude waren die meisten Fenster bereits erleuchtet. Rudi Steinhaus war offenbar schon da, wie sie an dem alten Opel mit dem Irmscher-Spoiler erkannte, und der Neue, Daniel Kowalski. Sein silbergrauer Volvo parkte direkt unter einer der Laternen. Der Regen perlte in perfekten Tropfen vom Lack, als hätte Kowalski ihn erst gestern gewachst. Im Schein der Laterne sah sie, was an seinem Rückspiegel baumelte: kein Duftbäumchen, wie sie in vielen Autos hingen – zum Beispiel auch in Steinhaus' kanariengelbem Manta. Nein. Es war ein Rosenkranz. Tatsächlich und wahrhaftig. Ein Rosenkranz.
Mein lieber Bjarne, dachte sie, das nenne ich spießig.
Die Zeit schleppte sich dahin, als klebte ihr Kaugummi unter den Sohlen. Katja saß an ihrem Schreibtisch und wusste nichts mit sich anzufangen.
Seit drei Wochen herrschte Ruhe im Kommissariat: ein paar kleinere Diebstähle, eine Schlägerei in einer Dorfkneipe, der Verdacht der Veruntreuung von Spendengeldern in einem Sportverein, aus hektischeren Zeiten übrig gebliebener Papierkram. Sonst nichts. Als blieben die Kriminellen bei dem Schmuddelwetter da draußen lieber daheim auf ihrem Sofa sitzen und guckten Netflix-Serien.
Nicht allen Kollegen war das unangenehm. Rudi Steinhaus zum Beispiel nutzte die Zeit, um einen Kaffee nach dem anderen zu trinken und im Internet nach Ersatzteilen für seinen Oldtimer zu suchen. Und Daniel Kowalski hatte es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, sämtliche Formulare im Aktenschrank zu sortieren und alphabetisch zu ordnen.
Katja aber ging fast die Wände hoch.
Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, begann sie, mit dem Fuß zu wippen. Ihre Hände konnte sie kaum stillhalten. Schließlich stand sie auf und ging zum Fenster.
Gegen die Fensterlaibung gelehnt sah sie eine Weile zu, wie das Wasser in feinen Perlen an der Scheibe hinunterlief. Es war nicht auszumachen, ob da draußen Nieselregen oder Nebel herrschte. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Die Straße vor dem Gebäude lag nahezu verlassen da, die Streifenwagen der Kollegen der Schutzpolizei waren alle im Einsatz, vermutlich bei Verkehrsunfällen auf vom nassen Laub rutschigen Straßen. Selbst auf dem Parkplatz des Supermarktes schräg gegenüber standen nur wenige Autos.
Im Hintergrund dudelte das Radio Schlager und Popsongs der Siebziger- und Achtzigerjahre. Donnerstags war Steinhaus an der Reihe, den Sender auszusuchen, und er wählte immer diese furchtbare Musik, die zu seinem Manta passte. Zumindest war Rudi ein Prolet mit Methode – bis hin zu Goldkettchen und Pilotenbrille. Sie kannte ihn sogar noch mit Minipli à la Atze Schröder, die er zum Glück vor ein paar Jahren auf Anraten seines Friseurs und zur Schonung der schütter werdenden Haare aufgegeben hatte.
Ich glaube, ich drehe langsam durch.
Nicht zum ersten Mal kam ihr die Frage in den Sinn, ob sie nicht eine Versetzung in eine andere Stadt beantragen sollte. Hamburg zum Beispiel. Oder Kiel. Wieso hatte sich Kowalski eigentlich von Kiel nach Schleswig versetzen lassen? Ein Aufstieg war das nicht gerade. Na, egal. Flensburg wäre auch eine Möglichkeit. Die Stadt war mindestens dreimal so groß wie Schleswig. Jedenfalls wollte Katja irgendwohin, wo das Leben tobte. Anders als hier. Oder sollte sie doch wieder zur Schutzpolizei gehen? Die hatten wenigstens immer etwas zu tun: Verkehrskontrollen, Unfälle, verschwundene Haustiere und Fahrräder. Irgendwas. Selbst Verkehrserziehung und Sicherheitsberatungen waren spannender als der Anblick des Supermarkts gegenüber. Urlaub wäre auch schön. Irgendwo in der Wärme.
Natürlich tauchte bei diesem Gedanken Bjarne vor ihrem inneren Auge auf. Bjarne, der genau in diesem Moment im Flugzeug auf dem Weg nach Alicante saß und sich vermutlich gerade zu seiner Kollegin Tanja beugte, um ihr etwas ins mehrfach gepiercte Ohr zu flüstern.
Dich will ich jetzt nicht in meinem Kopf haben, dachte sie und stieß sich wütend von der Fensterlaibung ab. Das Starren auf das trostlose Grau da draußen machte sie trübsinnig und brachte sie auf blöde Gedanken. Mit irgendetwas musste sie sich beschäftigen. Sofort.
Kaffee, dachte sie. Kaffee hilft immer.
Sie ging zu der kleinen Küchenzeile, die sie sich in dem Büro eingerichtet hatten. Eigentlich war es nichts anderes als zwei alte, umfunktionierte Aktenschränke, auf denen ein Wasserkocher und eine alte Kaffeemaschine standen. »Behörden-Teeküche« hatte Peter das immer genannt.
»Oh!« Katja hob erstaunt die Glaskanne von der Wärmeplatte. »Wir haben doch nicht etwa nach zwanzig Jahren eine neue Kaffeemaschine angeschafft?«
»Nee.« Rudi hob den Kopf hinter dem Bildschirm und deutete mit dem Kinn zu Kowalski rüber. Er grinste. »Die ist nur sauber.«
Katja schüttelte den Kopf. Kaffeemaschinen putzen und Formulare sortieren. Entweder hatte der Mann keine Hobbys, oder er litt unter einer Zwangsstörung.
Oder auch ihm ist einfach nur langweilig.
Obwohl Katja zugeben musste, dass sie ihr Dasein noch lange nicht öde genug fand, um sich freiwillig ans Waschbecken zu stellen und die alte Kaffeemaschine sauber zu machen.
Sie schenkte sich Kaffee in einen Becher. Ohne die dunkle, eingebrannte Patina der Glaskanne duftete das Gebräu sogar ganz gut – eher nach Kaffee und nicht so scharf und sauer wie üblich.
Katja kehrte gerade zu ihrem Schreibtisch zurück, als die Tür aufgestoßen wurde. Ayumi Ichigawa-Herbst fegte in den Raum, in einer Hand hielt sie eine Bäckertüte, in der anderen einen Pappbecher.
»Morgenbesprechung bei mir. In zehn Minuten.«
Sie durchquerte das Büro mit langen Schritten, wobei der Riemen ihrer schwarzen Tasche ihr von der Schulter zu rutschen drohte.
Katja schaute ihr hinterher und sah noch, dass Ayumi ihre Tür mit einem Tritt zustieß. Sven Hansen, Saskia Schlüter und Annika Flemming, die erst vor Kurzem von der Schutz- zur Kriminalpolizei gewechselt hatten, verstummten in ihrem Gespräch über eine Serie, die alle drei kannten. Sie selbst suchte Steinhaus' Blick. Er hatte eine Augenbraue gehoben.
Oha, dachte sie. Die Chefin hat heute schlechte Laune.
Als Katja genau zehn Minuten später mit Steinhaus, Kowalski und den anderen im Schlepptau an die Bürotür klopfte und sie öffnete, saß Ayumi hinter ihrem Schreibtisch, starrte auf ihren Bildschirm und schlürfte ihren üblichen Tee aus dem Pappbecher. Der Drucker unter ihrem Schreibtisch summte.
»Guten Morgen«, sagte Ayumi und klang fast schon wieder wie sonst.
»Alles in Ordnung, Chefin?«, fragte Rudi.
Ayumi verzog das Gesicht und fegte Brötchenkrümel von ihrem schwarzen Rollkragenpullover.
»Kennt einer von euch jemanden, der einen Jungen und ein Mädchen haben will, vierzehn und sechzehn, stark pubertierend? Ich hätte zwei abzugeben.« Sie trank den letzten Schluck und warf den Becher in den Papierkorb unter dem Schreibtisch. Dann fuhr sie sich durch das kurz geschnittene, schwarze Haar und richtete sich in ihrem Schreibtischstuhl auf. »Wo ist denn Carsten?«
»Er ist diese Woche für die Fortbildung am kriminaltechnischen Institut freigestellt«, antwortete Steinhaus.
»Stimmt. Das hatte ich vergessen. Und was liegt an?«
»Das gleiche Programm wie die letzten Tage.« Katja verzog das Gesicht und lehnte sich gegen den Aktenschrank. »Nichts.«
»Nun, dann wird es dich ja freuen, dass ich ein paar Meldungen auf dem Bildschirm habe.« Ayumi lächelte. »Wieder ein gestohlener Pkw, diesmal am Domfriedhof. Damit sind es bereits drei seit Montag, dazu kommen noch die beiden aus der letzten Woche. Wir sollten uns alle verfügbaren Daten ansehen und sie miteinander vergleichen. Vielleicht gibt es da Gemeinsamkeiten, ein Muster. Eine Frau, wohnhaft Auf der Freiheit, fühlt sich von einem Stalker belästigt. Und dann ist da noch ein Bestattungsunternehmer in Missunde, der Unregelmäßigkeiten an einer Leiche meldet. Die Kollegen von der Schutzpolizei meinten, dass er recht hat. Also: Freiwillige vor.«
»Ich übernehme die Autosache.« Steinhaus winkte lässig. Das war genau sein Ding – bequem vom Bürostuhl aus die Arbeit erledigen. Außerdem ging es um Fahrzeuge. Niemand von ihnen kannte sich damit besser aus.
»In Ordnung, Rudi, du kümmerst dich um die Diebstähle. Saskia, Annika – wollt ihr euch mit der Frau befassen? Fahrt zu ihr, redet mit ihr.«
Katja wollte protestieren, doch Ayumi sprach schon weiter.
»Und ihr beide, Katja und Daniel, fahrt nach Missunde zu diesem Beerdigungsinstitut. Hier ist die Adresse.« Ayumi hielt einen Computerausdruck in die Luft, den Kowalski nach anfänglichem Zögern nahm. »Seht euch die Sache an. Wenn da wirklich etwas dran ist, wisst ihr ja, was ihr zu tun habt.«
Katja runzelte die Stirn. Ein Bestattungsunternehmer. Toll. Wie spannend.
»Hast du ein Problem, Katja?« Ayumis Stimme wurde scharf.
»Nein. Alles klar. Wir machen uns gleich auf den Weg.« Wenigstens kam sie mal vor die Tür und sah etwas anderes als den Supermarkt auf der anderen Straßenseite. Das war schon ein Fortschritt im Vergleich zu den letzten drei Tagen, die sie ausschließlich im Büro verbracht hatte. Und bei der Gelegenheit entkam sie sogar noch Songs wie Moskau und der Musik von Modern Talking.
»Haltet mich auf dem Laufenden.«
»Wird gemacht.«
Ayumi erwiderte Kowalskis Lächeln. Offenbar mochte die Chefin den Neuen.
»Komm, bringen wir das hinter uns.« Katja merkte selbst, wie barsch sie klang. Aber sie konnte nichts dagegen tun. Jedenfalls nicht heute. Sie öffnete die Tür.
»Einen Moment, Katja.« Ayumis Stimme hielt sie zurück. »Ich möchte noch kurz mit dir sprechen.«
»Ich warte unten.« Kowalski ging und schloss die Tür hinter sich.
»Was gibt es?«
»Das wollte ich dich gerade fragen.« Ayumis Blick auszuweichen war nahezu unmöglich. Sie schaffte es, einen festzunageln. »Du wirkst gereizt.«
»Ein bisschen privater Stress. Wie wir ihn wohl alle kennen.«
»Hör mal, Katja. Dass Peter den Herzinfarkt hatte und in den vorzeitigen Ruhestand gehen musste, ist ein schreckliches Unglück, das uns alle getroffen hat. Dieses Team hat dadurch einen großartigen Ermittler und wertvollen Kollegen verloren. Doch niemand trägt Schuld daran. Am wenigsten Daniel Kowalski.«
»Und was soll mir das sagen?«
»Mach mir nichts vor. Du behandelst ihn, als wäre er dafür verantwortlich, dass er Peters Platz eingenommen hat. Dabei solltest du froh sein, dass überhaupt ein erfahrener Kollege wie er nach Schleswig wollte. Du hättest auch einen Anfänger von der Polizeischule oder der Uni an die Seite gestellt bekommen können.«
Katja hatte eine spitze Antwort parat, doch sie schluckte sie herunter und schwieg. Ayumi war eine exzellente Chefin. Sie wollte keinen Ärger mit ihr haben, nur weil ihr Idiot von Freund gerade ohne sie nach Alicante flog.
»Du musst ihn nicht mögen. Doch ich erwarte gute, professionelle Arbeit von euch beiden.«
»Die bekommst du auch. Du weißt, dass ich niemals ...«
»Natürlich, Katja. Ich weiß, wie gut du bist. Und Daniel Kowalski hat ebenfalls exzellente Beurteilungen. Ihr beide könntet ein Spitzenteam bilden. Doch ich habe den Eindruck, dass du zurzeit am liebsten allein arbeiten würdest. Das funktioniert aber nicht. Es sei denn, du möchtest im Innendienst bleiben. Dann schicke ich Rudi an deiner Stelle raus.«
Katja stöhnte und verdrehte die Augen.
»Siehst du, habe ich mir doch gedacht. Also reiß dich zusammen. Ihr seid Partner, du und Daniel. Und so, wie ich es sehe, steht und fällt es derzeit mit dir. Haben wir uns verstanden?«
»Ja.«
»Gut.« Ayumi lächelte. »Das wollte ich nur klarstellen.«
Katja verließ das Büro, und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss – lauter, als nötig gewesen wäre.
Daniel Kowalski wartete vor dem Eingang. Hier draußen war es ungemütlich, feucht und kalt, seine Hände steckten tief in den Taschen seines Lodenmantels. Obwohl der Hintereingang zum Gebäude überdacht war, fühlte er sich schon nach kurzer Zeit, als hätte er sich in eine feuchte Decke gewickelt. Der feine Nieselregen schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Natürlich hätte er auch im Foyer auf Katja Greve warten können. Aber der Gedanke, dort herumzustehen, während der Diensthabende der Schutzpolizei hinter den Panzerglasscheiben saß und ihn beobachtete, verursachte ihm Unbehagen. Bisher hatte Daniel noch nie Schwierigkeiten gehabt, sich mit anderen Menschen zu unterhalten. Er fand immer gemeinsame Themen, war überhaupt nicht kontaktscheu. Warum das hier in Schleswig anders war, konnte er sich nicht erklären.
Selbst schuld, dachte er und zog fröstelnd die Schultern zusammen. Hast es ja so gewollt.
Die Tür flog auf, und Daniel konnte gerade noch rechtzeitig zur Seite springen, bevor sie ihn mit voller Wucht ins Kreuz traf. Katja stürmte aus dem Gebäude.
»Komm«, rief sie und winkte mit einem Autoschlüssel. »Ich fahre.«
Es war eine Feststellung, keine Frage.
Sie eilte auf das Dienstfahrzeug zu, eine unauffällige schwarze Limousine, und ohne zu widersprechen, ging er zur Beifahrertür. Normalerweise hätte er seiner Kollegin die Tür aufgehalten und gewartet, bis sie sich gesetzt hätte. Er half einer Frau auch in den Mantel, hielt einen Regenschirm über sie oder nahm ihr die Einkaufstüten ab. So hatten ihn seine Eltern erzogen, sein Vater hatte es ihm bis zu seinem Tod vorgelebt, und er selbst tat es gern. Daniel war davon überzeugt, dass Aufmerksamkeit, gegenseitiger Respekt und gutes Benehmen viele Probleme in der zwischenmenschlichen Kommunikation bereits im Keim ersticken konnten. Allerdings glaubte er nicht, dass ausgerechnet Katja Greve empfänglich für solche Höflichkeiten war. Und heute machte sie auf ihn einen gereizten Eindruck, ein Zustand, den das Gespräch mit der Chefin offenbar nicht verbessert hatte.
Daniel setzte sich auf den Beifahrersitz und zog die Tür zu. Sofort begannen die Fenster des Wagens von innen zu beschlagen.
»Wo müssen wir hin?«, fragte Katja und stellte den Rückspiegel ein.
»Einen Augenblick.« Daniel holte den Computerausdruck aus seiner Manteltasche. »Die Adresse lautet Bestattungsunternehmen Franke, Zur Fähre fünf. In Missunde.«
»Dann müssen wir mit der Fähre rüber auf die andere Seite.« Katja blies in ihre Hände und rieb sich die Finger.
»Ist das nicht zu umständlich mit der Fähre? Gibt es keinen anderen Weg?«
»Sicher gibt es den. Bei Schloss Gottorf auf die 76 und dann auf der anderen Seite der Schlei entlang. Ist ein Umweg und dauert locker fünfzehn Minuten länger.«
Daniel fühlte sich zu Unrecht zurechtgewiesen. Schließlich wohnte er erst seit wenigen Wochen in Schleswig. Doch er ersparte es sich, seine Kollegin darauf hinzuweisen. Er wollte keinen Streit vom Zaun brechen.
Sie startete den Motor und drehte die Lüftung auf. Dann schaltete sie das Radio ein und wechselte den Sender. Hämmerndes Schlagzeug und dröhnende Bässe drangen aus den Lautsprechern – offensichtlich noch nicht laut genug, denn sie drehte den Regler höher. Es war Highway to Hell von AC/DC, einer der bekannten Songs der Australier. Den kannte sogar Daniel.
»Ich hoffe, es stört Sie nicht.«
Wieder war es keine Frage.
»Nein, ist schon in Ordnung.« Seinen Musikgeschmack traf sie damit zwar nicht, aber die kurze Strecke würde er schon überstehen. Und schließlich war alles besser als die Schlager der Siebziger und Achtziger, die er seit dem frühen Morgen in der Dienststelle hatte hören müssen. »Wie lange werden wir denn brauchen?«
»Etwa eine halbe Stunde. Vielleicht weniger, wenn die Fähre zufällig gerade in Brodersby angelegt hat.«
»Brodersby? Aber ich dachte ...«
»Das Kaff bei der Fähre, nicht das Brodersby bei Kappeln, an das du jetzt vielleicht denkst.«
Sie fuhr los und bog in die Hauptstraße ein. Ihr Fahrstil entsprach völlig ihrem Charakter – zielgerichtet, rasant, selbstbewusst. Daniel klammerte sich an den Griff der Seitenverkleidung und sprach im Stillen ein Gebet.
»Was wissen wir bisher?«
»Wie bitte?« Er stellte das Radio leiser. Wenn sie schon während der Fahrt mit ihm reden wollte, sollten sie sich wenigstens dabei nicht anschreien müssen.
Sie schaute geradeaus auf die Landstraße, dennoch entging ihm ihr genervter Gesichtsausdruck nicht. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf dem Lenkrad herum.
»Was wissen wir? Über den Fall. Den Vorgang. Die Meldung.«
Er versuchte, sich nicht zu ärgern. Sie kannten sich noch nicht, sie waren noch nicht aufeinander eingespielt. Sie waren zwei sehr unterschiedliche Menschen. Außerdem war es erst wenige Wochen her, dass Katjas vorheriger Partner aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand gegangen war. Die beiden hatten zusammengearbeitet, seit Katja bei der Kripo Schleswig begonnen hatte, und das Verhältnis war wohl sehr eng gewesen. Wie Vater und Tochter, hatte die Chefin ihm in einem vertraulichen Gespräch erklärt. Er musste Geduld haben. Nichts weiter. Nur Geduld. Und davon hatte er jede Menge, wie ihm die Kollegen in Kiel immer wieder versichert hatten.
Daniel holte tief Luft und faltete den Computerausdruck auseinander.
»Benjamin Franke, Bestattungsunternehmer in Missunde, hat heute früh bei seiner Arbeit etwas Ungewöhnliches an einer Leiche bemerkt. Der genaue Wortlaut der Meldung: › Moin, Benjamin Franke vom Bestattungsunternehmen Franke in Missunde. Ich habe an einem Toten etwas gefunden, was Sie sich ansehen sollten. Möglicherweise hat der Arzt einen ungeklärten Todesfall übersehen.‹ « Er faltete den Zettel wieder zusammen und steckte ihn zurück in die Manteltasche. »Die Kollegen der Schutzpolizei sind hingefahren und waren der Meinung, wir sollten uns das anschauen. Wir wissen weder, was dem Bestatter aufgefallen ist, noch seit wann sich die Leiche bei ihm befindet. Wir kennen nicht einmal das Alter des angeblichen Opfers. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Mann.«
»Warum?«
»Laut der Gesprächsnotiz hat Herr Franke am Telefon von ›einem Toten‹ gesprochen. Ich nehme an, er hätte ›eine Tote‹ gesagt, wenn es sich um eine Frau handeln würde. Aber das ist nur meine Vermutung.«
Katja Greve hob eine Augenbraue.
Ein Lichtblick? Ein Zeichen ihrer Anerkennung? Vielleicht, er konnte es nur hoffen. Ein gutes Verhältnis zu den Kollegen war ihm sehr wichtig. In Kiel hatte es ausgezeichnet funktioniert. Wäre schade, wenn die Chemie hier in Schleswig so gar nicht stimmen würde. Vor Ablauf eines Jahres konnte er keinesfalls um eine erneute Versetzung bitten. Jedenfalls nicht ohne triftigen Grund. Und das Argument »Ich mag meine Partnerin ebenso wenig wie sie mich« würde die Personalabteilung bestimmt nicht akzeptieren.
»Warum bist du eigentlich nach Schleswig gekommen?«
»Warum?« Er war verblüfft. Die Frage traf ihn aus heiterem Himmel. Einen Moment überlegte er, ob ein Vorwurf darin mitschwang. Hätte er ihrer Meinung nach wegbleiben sollen?
»Ich meine, der Wechsel von Kiel nach Schleswig ist nicht gerade ein Karrieresprung, oder? Es sei denn, man übernimmt die Leitung. Was jedoch bei dir nicht der Fall ist.« Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Aber du musst nicht antworten, wenn es dir unangenehm ist.«
»Nein! Wieso sollte es mir denn unangenehm sein?« Glaubte sie etwa, dass er Schwierigkeiten in Kiel gehabt und die Reißleine gezogen hatte, bevor man ihn zwangsversetzt hätte? Daniel konnte nicht verhindern, dass er rot wurde. Er spürte es an der plötzlichen Wärme seiner Wangen. »Ich habe in Schleswig ein kleines Haus gekauft. Mitten im Holm. Es ist eine alte, reetgedeckte Fischerkate. Da steckt noch sehr viel Arbeit drin. Vieles mache ich nämlich selbst. Und da ist der Weg nach Kiel jeden Morgen doch etwas zu umständlich.« Das war der Grund, den er jedes Mal angab, wenn man ihn fragte.
»Du renovierst selbst?«
»Ja. Um genau zu sein, muss ich wohl eher von einer ›Sanierung‹ sprechen. Das Haus ist ziemlich vernachlässigt worden in den letzten Jahrzehnten. Doch ich arbeite gern mit den Händen. Wäre ich nicht bei der Kripo gelandet, wäre ich wohl Tischler geworden.«
»Aha.« Es klang, als interessierte es sie überhaupt nicht.
»Und was ist mit dir? Was wärst du geworden, wenn du nicht zur Polizei gegangen wärst?«
»Keine Ahnung.« Sie zuckte mit den Schultern. »Die Frage habe ich mir nie gestellt.«
Sie beschleunigte den Wagen. Schleswig lag mittlerweile hinter ihnen, und sie fuhren die Schleidörfer Straße entlang. Es war nicht viel Verkehr an diesem Donnerstagmorgen. Die Felder waren längst abgeerntet. Ein Traktor fuhr über einen Acker und pflügte Maisstängel unter die schwarze Erde, die sich in großen Brocken und geraden Reihen hinter ihm aufhäufte. Touristen, erkennbar an den Kennzeichen, waren kaum unterwegs. Ein Milchlaster kam ihnen entgegen, ein paar Autos, der Kleintransporter eines Dachdeckerbetriebs. Das war alles.
Daniel streckte die Beine aus und sah zu, wie Reetdachhäuser und Dreiseithöfe an ihm vorbeizogen. Schweigen breitete sich im Wagen aus. Im Radio spielten sie gerade eine Rockballade. Die Stimme des Sängers erinnerte Daniel an das Geräusch einer Kreissäge, sie drang durch ihn hindurch bis zum Knochen, und der Text ging ihm unter die Haut. Er handelte davon, dass jeder Zeit für sich brauchte, Zeit, um allein zu sein. Und doch brauchte man einen anderen an seiner Seite. Irgendjemanden.
Der Regen war stärker geworden. Der Scheibenwischer arbeitete schneller, und der Fahrtwind trieb die Tropfen in Rinnsalen über das Seitenfenster. Das ewige Spiel zwischen Nähe und Distanz.
Daniel fröstelte. Die Band mit ihrem Sänger traf seinen Nerv auf eine Art, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Echt. Schmerzvoll. Selbstzerstörerisch. Es kam ihm vor, als hätten die Musiker den Song extra für ihn geschrieben. Er schluckte mühsam.
Vielleicht sollte ich doch wieder nach Kiel zurück, dachte er. Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Vielleicht ...
Seine Kehle wurde eng.
In dem kleinen Ort Brodersby bog Katja von der Schleidörfer Straße ab und folgte dem Wegweiser zur Fähre. Sie hatten Glück: Als sie am Anleger ankamen, wartete das Schiff gerade auf ihrer Seite.
Auf der Fähre hatten höchstens acht Pkw Platz. Daniel konnte sich gut vorstellen, dass es im Sommer hier häufiger zu längeren Wartezeiten kam. Andererseits war der Weg über die Schlei nicht weit – das andere Ufer lag kaum mehr als hundert Meter entfernt.
Katja fuhr auf die Ladefläche und schaltete den Motor aus. Der Fährmann, ein junger Mann mit Mütze und dunkelblauem Parka, kassierte und gab ihr zwei Papierstreifen, die sie in die Tasche ihrer Lederjacke steckte.
»Akzeptiert die Fähre den Dienstausweis nicht?«, fragte Daniel.
»Doch. Aber meine Nichte und mein Neffe mögen die Fähre und haben sich in den Kopf gesetzt, alle möglichen Ticket-Kombinationen zu sammeln. Ich bin manchmal mit ihnen hier. Hast du Kinder?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin ja nicht einmal verheiratet.«
Katja hob eine Augenbraue. »Das eine hat doch nichts mit dem anderen zu tun.«
»Für die meisten wohl nicht. Für mich schon.«
»Ah, der Rosenkranz in deinem Wagen, ich verstehe. Bist du katholisch?«
»Ja.« Er hatte keine Lust, darüber zu reden. Seiner Erfahrung nach verliefen solche Gespräche nur in den seltensten Fällen positiv. Meistens endeten sie in Schimpftiraden über die Verfehlungen von Kirche und Papst oder sogar in persönlichen Beleidigungen.
Wieder schwiegen sie. Eine unbehagliche Stille breitete sich im Wagen aus, daran konnten auch die rockigen Klänge aus dem Radio nichts ändern. Katja trommelte mit den Fingern auf ihrem Oberschenkel herum, als wollte sie das Schlagzeug imitieren. Ihr linkes Bein wippte. Die Bewegungen passten zwar zum Takt, machten Daniel aber trotzdem nervös. Angestrengt schaute er deshalb aus dem Beifahrerfenster.
Zum Glück legte die Fähre ab. Die Überfahrt dauerte knapp zwei Minuten, dann waren sie am anderen Ufer angekommen. Katja startete den Wagen.
»Laut Navi sind wir gleich da«, sagte sie, und Daniel meinte, auch in ihrer Stimme ein gewisses Aufatmen zu hören.
Guter Gott, dachte er. Wie sollen wir das nur miteinander aushalten?
Die Kollegin bog in eine Straße ein, und dann sah Daniel auch schon das beleuchtete Schild des Bestattungsunternehmens.
Endlich.
Das Bestattungsunternehmen Franke befand sich in einer schmucken Jugendstilvilla. Eine weiße Stuckrosette im Giebel setzte sich von dem sandfarbenen Putz ab, die Jahreszahl darin wies das Jahr 1889 als Baujahr aus.
Katja lief die fünf Stufen zur Haustür hoch und klingelte zweimal. Während sie wartete, folgte Kowalski ihr deutlich langsamer die Treppe hinauf. Herrgott, noch mal! Der Kerl machte sie wahnsinnig! Sie hatte das Gefühl, dass er sich in Zeitlupe bewegte.
Wie soll ich das nur aushalten?, dachte sie und betrachtete die Schnitzereien in dem blank polierten Holz der Tür: eine Girlande aus Efeu und in der Mitte ein Kranz aus Lorbeerblättern. Gediegen, würdevoll. Passend für ein Bestattungsunternehmen.
Ich glaube, ich muss hier weg.
»Guten Tag. Kommen Sie doch herein. Haben Sie angerufen oder einen Termin?« Die junge Frau, die ihnen öffnete, trug einen schwarzen Hosenanzug und eine schlichte, weiße Bluse, ein unauffälliges Outfit und angemessen für ihren Arbeitsplatz. Doch ihr rot gefärbtes Haar, das dezente Nasenpiercing und das Tattoo, das hinter ihrem Ohr hervorblitzte – die Silhouette eines Raben auf einem blattlosen Zweig –, ließen vermuten, dass sie auch in der Freizeit gerne Schwarz trug. In ihrer Fantasie sah Katja sie in einer langen Robe aus schwarzem Samt mit Rüschen und Spitze an Ärmeln und Ausschnitt.
»Weder noch. Herr Franke hat uns angerufen.« Katja zog ihren Dienstausweis aus der Gesäßtasche. »Greve, Kripo Schleswig.«
»Kowalski. Und Sie sind ...«
»Oh.« Die junge Frau starrte sie einen Moment an, dann fasste sie sich wieder. »Lena Schmidt. Ben ... also ich meine, der Chef hat davon erzählt, aber ich dachte, er will mich auf den Arm nehmen. Nicht im Traum hätte ich geglaubt ... Ich meine ... Hier? Bei uns?«
»Können wir denn jetzt wohl mit Herrn Franke sprechen?«
»Ja, natürlich. Nehmen Sie doch bitte einen Moment Platz.« Sie deutete auf eine Gruppe Sessel und Stühle in einer Nische. »Ich sage ihm, dass Sie da sind.«
Sie verschwand um eine Ecke. Katja hörte ein Klopfen, dann gedämpfte Stimmen.
»Ein paar Minuten Geduld, Ben ... ich meine, Herr Franke, telefoniert gerade. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Wasser? Kaffee?«
»Für mich nichts«, antwortete Katja.
»Nein danke.« Kowalski lächelte der jungen Frau zu, und Katja dachte, dass er bei manchen Vernehmungen bestimmt gute Erfolge vorweisen konnte – bei schüchternen oder umständlichen, unsicheren Menschen. Jene, die ihre Zeugenaussage begannen mit »Meine Katze mag kein Dosenfutter mit Huhn. Sie frisst nur das mit Shrimps. Und dann auch nur das teure, das es ausschließlich beim Zoohändler gibt. Bei dem auf der Seite von Real, nicht dem auf der anderen Seite. Ich muss jede Woche extra mit dem Bus hinfahren, wissen Sie ...« Bei solchen Zeugen drohte Katja regelmäßig der Kragen zu platzen. Und diese Lena Schmidt schien dazuzugehören. Hoffentlich kümmerte sich Kowalski um die Befragung, wenn es nötig werden sollte.
Katja lehnte sich in dem bequemen Sessel zurück und versuchte, irgendwie die Wartezeit hinter sich zu bringen. Auf dem niedrigen Kaffeetisch lag eine Broschüre für eine Seniorenresidenz. Ohne großes Interesse blätterte sie in dem Hochglanzprospekt – Fotos eines weißen Herrenhauses, Fotos eines Speisesaals mit Stuckdecken und Kronleuchtern und von Menütellern, die einem Fünf-Sterne-Restaurant alle Ehre gemacht hätten, Porträtaufnahmen eines Arztes und einer dezent geschminkten Frau. Dazwischen ein paar Landschaftsbilder und Aufnahmen von Männern und Frauen in rosafarbener Kleidung. Und alle lächelten auf eine Art in die Kamera, als hätten sie dem Fotografen am liebsten in die Kehle gebissen.
Ich weiß nicht, ob ich da meine Oma unterbringen würde, dachte sie und sah sich die Titelseite an. Residenz Sonnenhof.
Peter fiel ihr ein. Wäre er noch ihr Partner, hätte sie ihm diese Broschüre gezeigt. »Du und deine Fantasie« , hätte er gesagt, und dann hätten sie gelacht und zusammen den Plot für einen Horrorfilm entworfen, in dem ein Altenheim eine zentrale Rolle spielte. Sie hatten sich verstanden, auf vielen Ebenen.
Ich sollte ihn und seine Frau mal wieder besuchen, dachte sie. Vielleicht gleich heute Abend, wenn er Zeit hat. Ich habe ja sonst nichts vor.
»Guten Morgen!« Ein schlanker Mann in Schwarz trat in den Empfangsbereich. »Schön, dass Sie so schnell kommen konnten. Benjamin Franke. Ich habe angerufen.«
Er reichte ihnen die Hand, und sie stellten sich vor. Sowohl sein Haar als auch der gepflegte Ziegenbart waren schwarz; die grauen Augen bildeten dazu einen lebhaften Kontrast. Am linken Ohrläppchen schimmerte ein kleiner silberner Ohrring, das schwarze Oberhemd saß wie maßgeschneidert, ebenso die schmale Stoffhose. Am auffälligsten aber waren die Schuhe. Es waren Lederstiefeletten mit silbernen Schnallen, die etwas spitzer waren, als bei Herrenschuhen gemeinhin üblich.
Noch ein Gothic-Anhänger, dachte Katja und kämpfte gegen ihre bisherige Vorstellung an, wie ein Bestattungsunternehmer auszusehen hatte. Denn eigentlich passte es ja auch zusammen – Gothic und Beerdigungen.
»Möchten Sie sich den Leichnam gleich ansehen?«
»Ja.«
»Kommen Sie. Hier geht es in den Vorbereitungsraum.« Er ging ihnen voraus einen hellen Flur entlang bis zu einer Doppelflügeltür, die aussah, als führte sie in einen Ballsaal, eine Bibliothek oder wenigstens ein gediegenes Herrenzimmer. Als Franke sie öffnete, stellte sich heraus, dass sie an der Rückseite aus Edelstahl bestand.
Der Raum dahinter war bis zur Decke gekachelt und unterschied sich in seiner Ausstattung nur marginal von den Sektionssälen der Rechtsmedizin in Kiel. Lediglich das Absperrband der Polizei vor einer weiteren Tür aus Edelstahl und der Stuck an der Decke fielen aus dem Rahmen. Vor allem der Stuck gab dem Ganzen eine ungewöhnlich ästhetische und damit auch morbide Note.
»Bei der Einrichtung war es ein Spagat zwischen Gegebenheiten und Charakter des Hauses auf der einen und den Hygienebestimmungen auf der anderen Seite, die wir als Bestatter nun mal erfüllen müssen«, erklärte Franke, der entweder Katjas Überraschung bemerkt hatte oder entsprechende Reaktionen gewohnt war. »Und ich bin ehrlich stolz auf das Ergebnis. Auch wenn es nicht leicht war, Handwerker zu finden, die nicht nur verstanden, was ich von ihnen wollte, sondern auch bereit und in der Lage waren, meine Vorstellungen umzusetzen.«
Er griff in ein Regal, zog drei grüne Kittel heraus und reichte zwei an sie weiter. »Leider sind wir heute nicht ganz ungestört«, fuhr er fort und deutete auf die drei im Raum verteilten Stahltische. Zwei waren mit weißen Laken bedeckt, unter denen sich die Konturen von Menschen abzeichneten. »Es ist November. Da haben wir immer viel zu tun.«
»Woran liegt das eigentlich«, fragte Kowalski. »Haben Sie dafür eine Erklärung?«
Franke zuckte mit den Schultern. Während Katja und Kowalski noch mit der gestärkten Baumwolle der Kittel zu kämpfen hatten, stand er bereits fertig angezogen vor ihnen. »Wenn das Wetter da draußen trübe und kalt ist und es den ganzen Tag nicht hell wird, fällt es der Seele möglicherweise leichter, diese Welt hinter sich zu lassen.« Er lächelte Kowalski zu, der sich gerade die Handschuhe überstreifte. »Aber das ist nur meine ganz persönliche Theorie, ohne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Ich hole dann mal Herrn Mironow aus der Kühlkammer.«
»Mironow?« Kowalski wirkte überrascht.
»Ja. Stepan Mironow. Der Tote, wegen dem Sie hier sind. Ihre Kollegen haben mir geraten, ihn in der Kühlkammer zu lagern, weil sich dort die Beweise besser halten. Darf ich die Versiegelung jetzt lösen?«
»Nur zu«, antwortete Katja.
Franke löste das Absperrband vom Rahmen, drehte den Griff der schweren Edelstahltür und zog sie auf. Augenblicklich kam eine Kältewelle auf sie zu. Katja fröstelte.
Der Bestatter schob eine Bahre in den Raum und ließ sie am Gestell des letzten freien Tisches einrasten. Dann schloss er die Tür der Kühlkammer sorgfältig. Doch Katja konnte noch einen flüchtigen Blick in den Raum dahinter werfen, in dem noch weitere Tote auf ihre Vorbereitung oder Beisetzung warteten. Sie zählte mindestens drei. Der Bestatter hatte nicht untertrieben – sein Unternehmen schien ausgelastet zu sein. Der Tod hatte offenbar Zukunft.
Franke zog das Laken zur Seite und gab den Blick auf einen alten Mann frei.
Katja trat näher. Das schmale, eingefallene Gesicht wirkte friedlich; nichts ließ an einen ungeklärten oder sogar gewaltsamen Tod denken. Ein alter Mann, der zu seiner Zeit gestorben war. Nur die Gesichtsfarbe war ungewöhnlich – weder grau noch gelblich, sondern eher blau.
Wie billige H-Milch, dachte sie.
»Großer Gott, es ist tatsächlich Mironow!« Kowalski wirkte erschüttert. Er schien den Mann zu kennen.
»Genau, Stepan Mironow.«
Katja fiel die Veränderung in Frankes Stimme auf. Sie klang beinahe ehrfürchtig. Und sie fühlte sich ausgeschlossen von einem Wissen, dass die beiden Männer offensichtlich teilten. »Kann mich bitte jemand aufklären?«
»Mironow ist«, Kowalski verbesserte sich, »er war ein berühmter russischer Tenor.«
Benjamin Franke nickte bedächtig. »Ja. Einer der ganz Großen. Zu Hause auf allen Bühnen, die in der Welt Rang und Namen haben. Er hat sich natürlich schon vor etlichen Jahren aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Aber man sagte mir, dass seine Stimme immer noch großartig gewesen sein soll. Trotz seines Alters.« Er seufzte. »Ich habe ihn leider nie auf der Bühne sehen können.«
»Meine Oma hat ihn einmal erleben dürfen«, erwiderte Kowalski.
»Wirklich?« Frankes Augen begannen zu leuchten. »Wann und in welcher Rolle?«
»Das muss Anfang der Fünfzigerjahre gewesen sein, da lebten meine Großeltern noch in Polen. Sie hatten eine Auszeichnung von ihrer Kolchose erhalten und wurden nach Warschau in die Oper eingeladen. Mironow hat in Mozart und Salieri den Mozart gesungen. Es muss unvergesslich gewesen sein. Noch heute spricht sie davon.«
»Das glaube ich gern. Ich besitze viele Aufnahmen von ihm. Seine Stimme war einzigartig. Jetzt ist er für immer verstummt.« Franke machte eine Pause. »Nun, der Tod ist unbestechlich, nicht wahr? Weder ein schönes Gesicht noch eine wichtige Aufgabe oder eine großartige Stimme können ihn umstimmen.«
»Und was ist Ihnen an dem Toten aufgefallen?«, fragte Katja. Sie hatte nicht die Geduld, um dem Gespräch über Opern und Konzerthäuser länger zuzuhören.
»Ich glaube, ich ahne es«, sagte Kowalski, der sich über den Toten gebeugt hatte. »Schau mal, Katja. Was hältst du davon?«
Sie kniff die Augen zusammen. Im Mundwinkel des Toten steckte ein einzelner, kurzer goldener Faden. Weitere entdeckte sie im rechten Nasenloch.
»Fusseln?« Sie runzelte die Stirn und zog vorsichtig das Unterlid des Toten nach unten. »Und kleine Einblutungen an den Schleimhäuten. Tod durch Ersticken?«
»Sieht verdächtig danach aus.« Kowalski nickte. »Warten wir ab, was Professor Effenberger und sein Team herausfinden. Herr Franke, wir müssen einen Blick auf den Totenschein werfen.«
»Natürlich. Der liegt in meinem Büro.«
»Wann und wo ist Mironow denn gestorben?«, fragte Katja.
»In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch, die genaue Zeit habe ich jetzt nicht im Kopf. Er starb in der Residenz Sonnenhof. Dort hat er die letzten Jahre gelebt. Seine Tochter, Olga Mironowa, erzählte mir, dass er zunehmend dement war.«
»Olga Mironowa?«, fragte Kowalski. »Die Tänzerin?«
»Ja, genau die.«
»Ich wusste gar nicht, dass sie die Tochter von Mironow ist.« Kowalski nickte anerkennend und voller Ehrfurcht, wie es Katja schien. »Eine großartige Künstlerin. Eine Primaballerina wie aus dem Bilderbuch.«
»Ja. Sie ist wirklich ...«
»Ich unterbreche Ihre kulturellen Fachgespräche nur ungern«, fiel Katja Franke ins Wort, »aber können wir uns bitte auf das Wesentliche konzentrieren?«
»Natürlich.« Die Wangen des Bestatters nahmen eine dunklere Farbe an. »Tut mir leid.«
»Sie können nichts dafür, Sie sind schließlich kein Polizist.« Sie warf ihrem Kollegen einen wütenden Blick zu und zog sich den grünen Kittel aus. »Sie sollten uns alles erzählen, was Sie wissen. Wir haben nämlich ein ganzes Bündel Fragen an Sie.«
»Am besten gehen wir dafür in mein Büro.« Franke nahm ihnen die Kittel ab und stopfte sie in einen bereitstehenden Wäschesack. »Was ist mit Stepan Mironow? Soll ich ihn wieder in die Kühlkammer schieben?«
Katja wechselte mit Kowalski einen kurzen Blick.
»Ja. Die Kollegen werden ihn zwar bald abholen und in die Rechtsmedizin bringen, doch bis dahin ist er in der Kühlkammer besser aufgehoben. Ich rufe gleich in Kiel an.«
»Und ich werde die Chefin informieren«, sagte Katja, dann fiel ihr etwas ein. »Wie lange dauert es eigentlich, bis in einem Altenheim das Zimmer eines Verstorbenen geräumt wird?«
Kowalskis Gesicht verlor an Farbe. »Verflixt. Die sind immer ganz schnell dabei, weil die meisten Einrichtungen ellenlange Wartelisten haben. Wir müssen unbedingt ...«
»Dann rufe ich zuerst im Pflegeheim an, damit sie das Zimmer sperren.«
»Pflegeheim?« Franke lachte auf. »Nehmen Sie dieses Wort auf keinen Fall in den Mund, wenn Sie mit der Geschäftsleitung oder dem Personal dort sprechen. Der Sonnenhof ist ›eine Wohnresidenz für Senioren mit gehobenen Ansprüchen‹. « Franke spitzte den Mund bei diesen Worten. »Da wohnen nur bedeutende Leute aus Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit. Richter, Vorstandsvorsitzende großer Konzerne und bekannte Künstler.«
»Also ist der Sonnenhof ein Altenheim für Promis?«
»Genau. Wenn Sie dort anrufen oder hinfahren, sollten Sie sich wappnen. Die Geschäftsführerin ist ein Drachen. Wenn Sie ein einziges falsches Wort sagen oder Ihre Kompetenzen nur um einen halben Zentimeter überschreiten, hetzt sie Ihnen die Presse und ein ganzes Heer von Anwälten auf den Hals. Die haben das Geld, die Verbindungen. Und sie scheuen sich nicht, sie auch zu nutzen.«
Katja tauschte mit Kowalski erneut einen Blick.
»Danke für den Hinweis«, sagte er. »Ich rufe dann jetzt mal die Rechtsmedizin an, damit sie Stepan Mironow abholen.«
Das Gespräch mit der Geschäftsführerin der Seniorenresidenz verlief tatsächlich so unerfreulich, wie Franke angedeutet hatte. Die Frau am Telefon sträubte sich mit Zähnen und Klauen. Katja musste erst mit einem Verfahren wegen Behinderung einer Ermittlung drohen, bis sie sich endlich vernünftig zeigte und versprach, die Putzkolonne vom Zimmer abzuziehen und den Raum vorübergehend sperren zu lassen.
Danach rief Katja gleich Ayumi an und brachte sie auf den neuesten Stand. Nur mit der Entsendung eines Streifenwagens, um das Zimmer zu bewachen, zeigte sich die Chefin nicht einverstanden.
»Sag mal, hast du einen Vogel?«, fragte Ayumi ganz unverblümt. »Die Kollegen sind chronisch unterbesetzt. Ich bekomme keinen Streifenwagen ohne zwingenden Grund. Findet erst mal heraus, ob es sich tatsächlich um etwas anderes als einen tragischen Unglücksfall handeln könnte. Dann sehen wir weiter.«
Ayumi legte auf, und Katja war frustriert. Natürlich hatte die Chefin recht, sie hatten noch keinen Grund, vom Schlimmsten auszugehen. Dennoch wäre ihr wohler gewesen, wenn sie zwei Beamte vor der Zimmertür des Toten hätte postieren können. Sie hatte kein gutes Gefühl bei der Sache.
An der Bürotür stieß sie fast mit Lena Schmidt zusammen, die ein Tablett mit Kaffeetassen hereintrug.
Franke wirkte sehr blass. Er saß zusammengesunken in seinem Bürostuhl und rieb sich immer wieder die Stirn. »Danke, Lena«, sagte er und trank vorsichtig einen Schluck Kaffee.
»Die Kollegen sind etwa in einer halben Stunde vor Ort«, klärte Kowalski Katja auf. »Und was ist mit der Residenz?«
»Die werden das Zimmer abschließen, bis wir da sind. Aber es war ein zäher Kampf. Und wir sollten uns unbedingt beeilen.«
Katja setzte sich auf einen der Besucherstühle vor dem Schreibtisch. Franke trank einen weiteren Schluck. Dabei zitterte seine Hand so stark, dass er die Tasse mit beiden Händen festhalten musste.
Warum machte ihn diese Angelegenheit so fertig?
»Entschuldigen Sie, Sie müssen ja denken, dass ich meinen Beruf verfehlt habe.« Er lächelte gequält. »Der Tod ist ein natürlicher Bestandteil des Daseins, und der Umgang mit Toten macht mir nichts aus. Jedenfalls normalerweise. Doch ich stelle gerade fest, dass es ein Unterschied ist, einen Krimi zu lesen, und dann ...«
»Herr Franke, machen Sie sich keine Gedanken. Wir wissen ja noch gar nicht, ob es sich hier überhaupt um ein Verbrechen handelt. Vielleicht war es nur ein tragischer Unfall. Die Kollegen in der Rechtsmedizin in Kiel sind überaus gewissenhaft und gründlich. Sie werden herausfinden, was mit Herrn Mironow geschehen ist.«
»Und wenn es nun doch ...« Franke biss sich auf die Lippe. Der Blick, mit dem er Kowalski ansah, erinnerte an den eines kleinen Jungen, der von seinem großen Bruder hören wollte, dass sich unter dem Bett und im Schrank ganz sicher keine Monster verbargen.