Landluft für Anfänger - Frühlingsgefühle - Nora Lämmermann - E-Book

Landluft für Anfänger - Frühlingsgefühle E-Book

Nora Lämmermann

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Beschreibung

Digitaler Serienroman in 12 Folgen. Dieser Sammelband enthält die Folgen 5 bis 8.

Mia (33), ein quirliger, in den Tag hineinlebender, leicht chaotischer Hipster aus Berlin Prenzlauer Berg, und Iris (44), ein wandelndes Erfolgsrezept samt Ehemann, Kind und Karriere, haben nichts gemeinsam - außer ihrem Vater und einem Hof im Spreewald, den beide überraschend von ihrer Großmutter erben. Doch darüber freuen sich die Frauen nur kurz. Denn das Erbe ist an eine Bedingung geknüpft - und die hat weitreichende Konsequenzen ...

Neben dem E-Book gibt es "Landluft für Anfänger" auch als Audio-Download (ungekürztes Hörbuch).

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 532

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Sammlungen



Inhalt

Cover

Was ist »Landluft für Anfänger«?

Die Autorinnen

Titel

Impressum

Folge 05

Folge 06

Folge 07

Folge 08

Im nächsten Band

Was ist »Landluft für Anfänger«?

»Landluft für Anfänger« ist ein zwölfteiliger Serienroman, der ein Jahr lang jeden Monat über zwei unterschiedliche Schwestern und ihr Leben auf einem geerbten Hof im Spreewald berichtet. Die Serie gibt es sowohl als eBook als auch als Audio-Download (ungekürztes Hörbuch).

Die Autorinnen

Simone Höft, geboren 1968, und Nora Lämmermann, geboren 1978, trennen – wie die Protagonistinnen ihrer Romanreihe – zehn Jahre Lebenserfahrung, ein Kind und 475 Kilometer Luftlinie zwischen Köln und München. Gemeinsam sind ihnen ein abgeschlossenes Germanistikstudium, die langjährige Arbeit für Film und Fernsehen sowie eine mal mehr mal weniger gut funktionierende WLAN-Verbindung.

»Landluft für Anfänger« ist ihre erste, gemeinsame Romanreihe.

Nora LämmermannSimone Höft

Sammelband 2

beHEARTBEAT

Digitale Originalausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anne Fröhlich

Projektmanagement: Sarah Pelekies | Michelle Zongo

Titelillustration: © Marina Boda; © shutterstock: Eric Isselee

Titelgestaltung: Sandra Taufer, München

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4159-1

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Nora LämmermannSimone Höft

Folge 05

»Über Mütter und Babys«

www.fruchtbare-tage.com

Ermitteln Sie Ihre fruchtbaren Tage und Ihren Eisprung.

Erster Tag der letzten Periode:  --- 

Wenn ich das nur wüsste. Mensch, Mia Mann!

Samstag, 1. Februar

17:30. Marthas Küche

»Mia, ab und zu abschäumen. Und etwas weniger Hitze, sonst wird das Fleisch ganz faserig.« Aye, aye, Sir. Ich stehe in Marthas DDR-Küchenreich, das Fenster ist von Wasserdampf beschlagen, und koche das erste Rindfleisch meines Lebens. Als Martha mir den Brocken blutigen Fleischs und vier martialische Knochen hingeknallt hat, wollte ich schon auf dem Absatz kehrtmachen. (Es spricht zwar keiner mehr vom Rinderwahn, aber sogar ich, für die Nudeln mit Lachs-Sahnesoße schon ein gehobenes Gericht ist, weiß, dass ausgekochter Knochen zu frühzeitigem Matschhirn führt …)

»Die Brühe soll ja nach was schmecken. Und die Rinder kenne ich quasi persönlich«, so die lakonische Antwort der alten Frau auf meine hypochondrischen Einwände. Nun gut. Habe die Knochen also ausgekocht und dann mit dem Fleisch und dem klein geschnippelten Suppengrün in Marthas riesigem Kochtopf aufgesetzt. An sich nicht so schwer, hätte sich Martha das Was-ist-was-Gemüse-Quiz verkniffen. Oder vielmehr: mich aufgeklärt. Petersilie, Karotten und Lauch konnte ich noch ohne Mühe erkennen. Doch dann waren da diese weiß-gelblichen, mal runden, mal länglichen Knollen. Die eine oder andere glaubte ich schon mal gesehen zu haben, als Suppengrün abgepackt aus dem Supermarkt, wenn Matti mir gegen Erkältung eine Suppe machte. Aber was das jetzt genau war?! Martha schien meinen fragenden Blick nicht zu bemerken. Da ich mir keine Blöße geben wollte, nahm ich die erstbeste Knolle und wollte mit dem Schälen beginnen, konnte ja nicht verkehrt sein. Doch da kam schon der Schrei: »Den Meerrettich brauchen wir erst für die Soße! Der wird geraspelt.« Aha. Dann wäre der schon mal identifiziert. Und die anderen? Martha seufzte: »Knollensellerie, Petersilienwurzel, Steckrübe. Wie der Meerrettich Wurzelgemüse aus dem eigenen Garten. Sehr aromatisch.« Da musste ich ihr Recht geben, die Brühe, in der das Fleisch vor sich hin köchelt, duftet bereits verführerisch.

»Sahne und Eigelb sind verquirlt?«, fragt Martha, als ich den Schaumlöffel (bis eben hatte ich keine Ahnung, dass es so etwas gibt) in die Spüle gleiten lasse. Ich nicke. Martha öffnet das Fenster, von draußen kommt kalter Wind herein. »Dann wird jetzt die Beißwurz gerieben.« Okay, aber muss man dabei erfrieren? Und wieso jetzt Beißwurz? Wieder prallt mein fragender Blick an Martha ab, denn ihr eigener Blick hängt an dem erleuchteten Fenster gegenüber, hinter dem der Neuberger-Familienrat wegen Fabiennes Schwangerschaft tagt. Fabienne kauert, umzingelt von ihren Erzeugern, mit angezogenen Beinen auf dem Stuhl am Kamin. Während von Iris nur der Rücken zu sehen ist, ist Iris’ Mann von hier aus gut zu erkennen. Mit energischen Gesten redet der groß gewachsene Typ im dunkelblauen Hemd auf seine Tochter ein. »Männer sollten sich beim Kinderkriegen raushalten.« Mit diesen Worten landet der Meerrettich auf dem Brettchen vor mir.

Zur selben Zeit. Im Haus der Schwestern. Küche

»Michael, bitte!« Ich werfe dem Mann, der mit verschränkten Armen auf der anderen Seite unseres Küchentisches sitzt, einen beschwörenden Blick zu. Es ist mein Mann. Vielmehr mein … Nein, für irgendeine Vogel-Strauß-Instanz in meinem Kopf steht das Wort »Exmann« immer noch auf der Liste der Wörter, die man nicht denken, geschweige denn sagen darf. Dabei wirkt Michael, mit dem ich immerhin seit langer Zeit verheiratet bin, im Augenblick wie ein völlig Fremder auf mich. Das liegt nicht nur daran, dass wir uns seit fast drei Monaten nicht mehr gesehen haben. Es ist auch, weil Michael in unserer Küche wirkt wie ein Schauspieler, der sich in die falsche Kulisse verirrt hat: Während die Küche die Ausstrahlung einer in die Jahre gekommenen Frau hat, die ihre Falten und Altersflecken entspannt belächelt, anstatt sie verzweifelt zu retuschieren, gehört Michael zu den Männern, bei denen nicht einmal die Hemden es wagen, Falten zu bekommen. Selbst wenn er in ihnen schläft, sehen sie noch aus wie frisch gebügelt. Auch seine Gesichtszüge verrutschen ihm nie. Nicht einmal, wenn er sich aufregt, weil unsere Tochter seit einer Stunde die Antwort auf die Frage, wer sie zu einer minderjährigen Schwangeren gemacht hat, verweigert. Je mehr er insistiert, desto mehr macht Fabienne dicht. Inzwischen hat sie sich an ihrem Tischende hinter dicke Mauern zurückgezogen, und ich bin froh, dass Michael meinen Blick anscheinend verstanden hat und sie nicht noch mehr in die Enge treibt. Stattdessen sitzt er jetzt mit mahlenden Kieferknochen da und schweigt. Seine Ungeduld ist verständlich angesichts der wenigen Zeit, die uns bleibt. Nicht, weil Michael morgen wieder nach Frankfurt zurückkehrt, sondern weil Fabienne in der elften Woche ist. Michael begreift nicht, dass sie immer noch zögert, sich zu dem Schritt durchzuringen, den er alternativlos für den richtigen hält. Zugegeben, auch mir fällt es schwer, mir meine sechzehnjährige Tochter als Mutter vorzustellen. Ich kann – und möchte (lalala) – sie mir nicht mal beim Sex vorstellen. Im Gegensatz zu Michael möchte ich vor allem lieber nicht wissen, welcher grenzdebile Hornochse dabei nicht verhütet hat (das war gelogen, ich möchte es natürlich unbedingt wissen, damit meine Fantasie aufhört, aberwitzige Früchte zu treiben). Kurz: Auch ich mache mir Sorgen und halte eine Abtreibung für sinnvoll. Aber ich kann Fabienne nicht zu etwas zwingen, was sie vielleicht ihr Leben lang bereuen wird. Schließlich geht es hier nicht darum, einen lästigen Damenbart entfernen zu lassen. Deshalb sage ich, um die angespannte Situation aufzulösen:

»Morgen fahren wir erstmal nach Cottbus, und du hörst dir an, was sie dir in der Beratungsstelle zu sagen haben. Und dann sehen wir weiter. Okay?« Keine Reaktion. Fabienne versucht noch ein bisschen mehr in sich hineinzukriechen, und Michael ist drauf und dran, aus der Haut zu fahren. Das gnädige Summen seines Smartphones hält ihn davon ab.

17:50. Marthas Küche

Mein Handy klingelt. Ich ziehe es unter mahnenden Blicken von Martha hervor. Laura.

»Hallo Füchschen«, schniefe ich ins Telefon und rühre hektisch, das Telefon zwischen Wange und Schulter geklemmt, in dem Butter-Mehl-Gemisch, aus dem laut Martha eine ›gelbe Einbrenne‹ entstehen soll.

»Weinst du?«, fragt eine ähnlich schniefende Stimme aus dem Hörer.

»Nein, ich habe Meerrettich gerieben.« (Und das aus diesem Grund geöffnete Fenster wieder zugemacht. Tränende Augen scheinen mir verglichen mit dem sonst drohenden Erfrierungstod das kleinere Übel zu sein. Allerdings weiß ich jetzt, warum Meerrettich auch Beißwurz heißt.)

»Du kochst?«

»Ja, nicht zu fassen, oder?«

Statt einer Antwort kommt ein Schniefen.

»Ist bei dir alles okay, Laura?« Aus dem Schniefen wird Blubbern. »Hast du dich mit Andreas gestritten? Ist was mit dem Baby?« Das Blubbern wird stärker. Ich vergesse zu rühren. »Laurinalein, was ist denn passiert?«

»Wir wollten spazieren gehen!«, presst meine beste Freundin von Weinanfällen geschüttelt hervor.

»Spazieren. Das ist doch gut.«

»Ich hab die Überdecke nicht gefunden, und … und … dann dachte ich, wenn ich das Kirschkernkissen warmmache … ich wollte sie doch nicht verbrennen!«

»Kirschkernkissen?«

»Damit es Matilda warm hat.« Geblubber. »Ich mache alles falsch.«

»Was machst du falsch?«

»Alles. Das Stillen, das Wickeln, das Waschen, nicht mal halten kann ich das Baby richtig.«

»Sagt wer?«

»Andreas’ Mutter.«

»Warum ist die denn schon wieder da?« Was fuchtelt Martha denn so neben mir herum? Mist, die Mehlschwitze ist schon ziemlich dunkel.

»Sie sind Rentner. Und wollen uns unterstützen. Vielleicht komme ich ja alleine wirklich nicht klar … Beim Waschen wäre sie mir vor ein paar Tagen um ein Haar in die Wanne gerutscht … Und Andreas’ Mutter meint, dass sie so oft schreit, das liegt an mir, weil ich so nervös …«

»Laura, Andreas’ Mutter ist eine Besserwisserin vor dem Herrn. Wie lange hat sie Andreas’ Unterhosen gekauft?«

»Sie hat eben ein paar neue mitgebracht.«

»Siehste.« Endlich höre ich meine Freundin lachen.

Schnell schöpfe ich etwas von der Brühe aus dem Topf ab und gieße sie zu dem braunen Brei. Es zischt laut. Und klumpt. »Scheiße.«

»Alles in Ordnung?«, kommt es sofort besorgt vom anderen Ende der Leitung.

»Ja, schätze nur, ich habe das mit dem Einbrennen etwas wörtlich genommen …« Martha unterbricht das Eindecken des Tisches, wirft einen Blick auf das, was die Grundlage der Meerrettichsoße werden sollte – und kippt meine Bemühungen der letzten zehn Minuten mit Schwung in den Ausguss. Na super.

»Laura!« Andreas’ Stimme tönt dumpf aus dem Hintergrund. »Mama hat die Decke gefunden. Kommst du? – Was machst du denn so lange auf der Toilette?«

»Jetzt stress’ sie doch nicht«, fällt Andreas’ Mutter ihm ins Wort und ruft säuselnd durch die Tür: »Lauraschatz, wenn du dich ausruhen willst, wir können auch alleine eine Runde gehen. Dann habt ihr beide ein wenig Ruhe voreinander.«

»Nein, ich komme! – Mia, ich muss Schluss machen.«

»Laura.« Meine Stimme klingt streng.

»Ja?«

»Es ist dein Baby. Sie ist nur die Oma. Sag ihr, dass ihr ohne sie klarkommt.«

Jetzt schnieft Laura nur noch ein bisschen. »Nach dem Wochenende wollen sie sowieso nach Hause. Sie bekommen eine neue Couch.«

»Sonst kommst du eben hierher. Wir schaukeln das schon.«

»Ist gut. Tschüs, mein Reh.« Laura legt auf.

»Ist es das erste Baby?« Das war Martha. Belauscht die etwa meine Gespräche?

»Ja. Und?«

»Jungen Müttern muss man Vertrauen in ihre Instinkte geben.« Was hat die denn heute? Seit wann ist Martha, die Kinderlose, Expertin in Mutterfragen? Mir bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn ehe ich mich versehe, landet ein neuer Topf auf dem Herd.

»Niemals warme Flüssigkeit auf eine Mehlschwitze gießen, das gibt Klumpen. Entweder die Brühe abkühlen lassen. Oder die kalte Milch zuerst, und dann die warme Brühe drauf. – Noch mal von vorne.«

18:30. Marthas Küche

»Wer will noch mal, wer hat noch nicht?«, trällere ich betont fröhlich mit der Kartoffelschüssel in den Händen über den Tisch, und könnte mich im selben Augenblick für mein Kleinmädchengepiepse selbst gegen das Schienbein treten. Mensch, Mia Mann, hör auf, dich zum Obst zu machen, nur um die angespannte Stimmung aufzulockern. Die Runde hat sich vor fünf Minuten um Marthas akkurat gedeckten Tisch versammelt und verbreitet seitdem eisiges Schweigen. Fabienne stiert auf ihren Teller, und Iris wirkt irgendwie verkrampft neben ihrem Ex. Der sieht mich wegen meiner bemühten Fröhlichkeit ganz befremdet an, hält mir aber dann seinen Teller hin, damit ich ihm Kartoffeln auftue. Nach der dritten winkt er ab. Achtet der auf seine Linie, oder traut er meiner Kochkunst nicht? Eigentlich sieht er ganz nett aus. Gut aussehend ist er auf jeden Fall, wenn auch etwas übergepflegt für meinen Geschmack. Laut Fabienne lebt er schon in der Wohnung seiner neuen Freundin. Ob Iris noch hofft, dass er zu ihr zurückkommt? So lange sind sie ja noch nicht getrennt. Oder hat sie sich schon damit abgefunden, geext worden zu sein? Jetzt bemüht er sich um Konversation. Gott sei Dank, wenigstens einer. »Sehr lecker, Frau Dubizak.« Martha nickt. »Kannst Martha zu mir sagen. Und das Lob gebührt der Köchin.« Sie weist mit dem Kinn auf mich. Jetzt starren mich alle an, sogar Fabienne hebt kurz den Blick. »Mia?« Iris wirkt ehrlich beeindruckt. Innerlich wachse ich um drei Zentimeter vor Stolz, aber nach außen übe ich mich in Bescheidenheit: »Na ja, aber ohne Martha hätte ich das nie … Also eigentlich war sie der Kopf, ich hab nur ihre Anweisungen ausgeführt.«

»Trotzdem«, sagt Iris. Und zu Michael: »Du musst wissen, dass Mia bis vor kurzem gerade mal ein Päckchen Spaghetti in kochendes Wasser werfen konnte. Aber neuerdings besucht sie Marthas Kochschule.«

»Anscheinend lernt sie schnell. Diese Rinderbrust ist sehr gut«, sagt Michael. »Und was machst du sonst, wenn du nicht kochst? Beruflich?«, fragt er höflich. Bäng. Das kam jetzt unerwartet. Prompt gerate ich ins Stottern und wünsche mir, augenblicklich in eine der Ritzen zwischen den Bodendielen gesogen zu werden. In den Augen eines vor Erfolg und Selbstsicherheit nur so strotzenden Mannes wie Iris’ Ex muss ich aussehen wie ein asoziales Element am Rand der Gesellschaft, weil ich mit vierunddreißig immer noch … Ich reiße mich zusammen, denke an Frau BN und sage so cool wie möglich: »Ich mache mich gerade selbständig. Als Illustratorin.« Michael runzelt erstaunt die Stirn. »Hier?« Das klingt, als würde er Feulenitz für den letzten Winkel Alaskas halten. »Sie kann fantastisch zeichnen«, springt Iris mir zu meinem Erstaunen bei. »Na ja, aber kann man davon gut leben? Ich meine …«, hakt Michael nach. »Man kann davon leben«, sage ich und versuche, so überzeugt wie möglich zu klingen, indem ich nicht darüber nachdenke, dass ich noch keinen Auftrag habe, aber auch kein ALG mehr bekomme, seit ich den Antrag auf Gründungszuschuss Ende Januar abgegeben habe. »Noch Fleisch?«

21:00. Vor dem Haus

Die nasskalte Luft ist mir sofort unter den Pullover gekrochen, als ich Michael vor die Tür gefolgt bin. Ohne Jacke. Im Februar. Als wären wir ein verliebtes Pärchen und ich auf heimlich getauschte Abschiedsküsse aus. Meine fröstelnd verschränkten Arme und Michaels wenig glutvoller Blick sprechen eine andere Sprache. Und es klingt auch nicht gerade nach heißem Liebesgeflüster, als mein Mann ernst sagt: »Ich verstehe dich nicht, Iris. Wieso machst du Fabiennes Verwirrung noch größer, indem du so tust, als gäbe es Optionen?«

»Weil es Optionen gibt, Michael«, antworte ich ruhig (meinen vor Kälte zum Klappern neigenden Unterkiefer mühsam bezwingend), was Michael mit einem kurzen, trockenen Lacher quittiert, der gar nicht fröhlich klingt. »Dass unsere Tochter sich ihre Zukunft verbaut, ist also eine Option?! Das meinst du nicht im Ernst.« Plötzlich sieht er mich komisch an. »Was ist nur mit dir … So hättest du früher niemals … Ach, egal.« Es entsteht eine angespannte Pause. Kindischerweise freue ich mich heimlich, weil ich es geschafft habe, Michael zu irritieren. Er hat mich einen Augenblick lang angesehen wie einen fremden Menschen und nicht wie eine abgelegte, in jeder Hinsicht abgefrühstückte Ehefrau. Er macht eine ungeduldige Handbewegung. »Wie stellst du dir das vor, Iris? Fabienne kann nicht mal für sich selbst Verantwortung übernehmen. Willst du das Kind vielleicht großziehen? Willst du deshalb in der Firma kürzertreten?« Ich fühle mich ertappt, denn ich habe Michael gestern gesagt, dass ich noch nicht bereit bin, nach Frankfurt zurückzukehren. Ich habe meine anhaltenden Burn-out-Symptome und eine dringende ärztliche Empfehlung vorgeschoben. Tatsächlich meldet sich mein kleiner Freund Tinnitus bei der geringsten Aufregung, aber er ist nicht der eigentliche Grund für mein Zögern, das alte Leben wieder aufzunehmen. Natürlich ist der Grund auch nicht mein heimlicher Wunsch, fortan ein Leben als alleinerziehende Oma zu fristen. Die Wahrheit ist, dass ich gerade nicht weiß, was ich will, aber das sage ich Michael natürlich nicht. Ich sage: »Michael, es ist keine Lappalie, ein Kind wegmachen zu lassen.« – »Eins großzuziehen aber wohl auch nicht, oder?« Und dann: »Ich habe dich immer für eine vernünftige Frau gehalten, Iris. Ich hoffe, du weißt, was morgen nach diesem Beratungstermin schnellstens zu tun ist.« Er wartet meine Antwort nicht ab, sondern berührt mit den Worten »Du solltest reingehen, es ist kalt« etwas unentschlossen meinen Oberarm. Eine für mich schmerzhafte, von ihm hilflos ausgeführte Geste des Abschieds, weil neue Rituale, die die gebotene Distanz zwischen getrennten Eheleuten ausdrücken, noch nicht eingeübt sind. Dazu nickt er kurz. Dann dreht er sich um und geht auf das Fließ zu. Am anderen Ufer steht sein Wagen, der ihn in sein Hotel und morgen zurück nach Frankfurt zu Alice bringen wird. Während ich unsere Tochter zur Schwangerenkonfliktberatungsstelle (was für ein Ungetüm von Wort) fahren werde.

21:10. Toilette im ersten Stock

Immer noch kein Blut. Ich hab das Datum meiner letzten Periode nicht aufgeschrieben, aber der einunddreißigste Tag war sicher schon … Das wär ja was, wenn ich jetzt auch noch … Ach, Quatsch, Mia, die verschiebt sich sicher nur mal wieder. Müsste ja auch ein Fall von Flugbesamung oder unbefleckter Empfängnis sein. Ich meine, von wem sollte ich schwanger sein?

21:12

Etwa von Davids Coitus interruptus an meinem Geburtstag?

Montag, 3. Februar

8:30. Im Auto auf dem Weg nach Cottbus

Seit wann Fabienne wohl Sex hat? Sie sieht so kindlich aus, wie sie da still und eingesunken auf dem Beifahrersitz hockt. Schmal, blass, mit ihren riesigen dunkel und lila geschminkten Augen und der wirren blauschwarzen Koboldfrisur, am Ansatz stiehlt sich jetzt das natürliche Rotbraun ihrer Haare hervor, das sie von mir geerbt hat. Ihre Hände liegen auf ihrem Schoß, die Finger verkrampft ineinander verschränkt. Ich fühle mich, als würde ich sie ihrem Henker entgegenführen. Dabei ist es nur ein Beratungstermin, der auf sie wartet. Der zudem, wenn sie sich auch dort in Schweigen hüllt, sehr schnell vorbei sein wird und zur reinen Pflichtveranstaltung verkommt, deren Ergebnis eine Bescheinigung ist, ohne die sie nicht abtreiben darf. Es ist schwer auszuhalten, dass ich ihr all das nicht ersparen kann.

9:25. Im Schafstall

Sparen. Ich sollte dringend sparen. Habe gestern Nacht, in einem Anflug von Panik, meinen Kontostand gecheckt. Die letzte Rate ALG vom Januar wurde von meinem Post-Geburtstags-Depressions-Online-Kaufwahn und den Druckkosten für meine Mappe mit Arbeitsproben fast vollständig aufgefressen. Letzter Stand: 185,45 Euro. Selbst wenn ich den Gründungszuschuss bekommen sollte, kommt das Geld sicher nicht vor Ende März. Ich brauche also unbedingt Aufträge. Hatte heute Nacht schon Alpträume. Großer Familienrat saß um unseren Küchentisch. Enttäuschte Gesichter von Elke und Bernd, der stolz auf Iris zeigte. Und tadelnd auf meinen prallen Bauch. »Deine Mutter war wenigstens so klug, mich dingfest zu machen. Aber du. Ein Kind, ohne Geld UND ohne Mann …« Dann sah ich draußen auf dem zugefrorenen Fließ David mit der Rothaarigen auf meiner Kommode poppen. Was das Gehirn im Traum für wüste Verbindungen herstellt. – Trotzdem. Seit gestern Nacht nagt ein kleiner Funken Panik wie ein gefräßiges Eichhörnchen an meinem hinteren Gehirnlappen: Was, wenn ich wirklich Opfer des Lusttropfens geworden sein sollte?? – Mia, das sind doch Hirngespinste. Lusttropfen, ich habe recherchiert, entstehen nur, wenn der Mann a) vorher schon mal ejakuliert hat und b) bis zum nächsten Geschlechtsverkehr nicht auf der Toilette war. Und ich meine … ist David in der Nacht nicht mal zum Pinkeln aufgestanden …? – Mia, du solltest dich auf deine real existierenden Probleme konzentrieren. Und das heißt: Bei den potentiellen Auftraggebern, die meine Mappe bekommen haben, nachhaken. Bei dem Gedanken werde ich auf einen Schlag unglaublich müde. Könnte mich zu Lovis legen, die als Einzige im Stall ist. Die anderen sind an die frische Luft geschossen, nachdem sie ihr Frühstück zermalmt hatten. Sogar Ronja hüpft eine Runde draußen herum.

Rrrring! Rrrring! Mein Handy! Ist das vielleicht ein potentieller Kunde? … Nein, Laura.

»Hallo Laura. Alles gut?« Als Antwort bekomme ich gellendes Babygeschrei.

9:30. Cottbus. Schwangerenkonfliktberatungsstelle

Jetzt ist meine Tochter schon seit einer halben Stunde dadrinnen. Die Dame, die sie in Empfang genommen hat, wirkte klar und freundlich. Sollte sie einen geheimen »Fabienne-öffne-dich«-Zauberspruch kennen?

9:40. Küche

»Sag mir einfach, wann du in Berlin ankommst. Und ich schicke dir die Anschlussdaten.« Gebetsmühlenartig musste ich die immer gleiche Anweisung wiederholen, da Lauras Versuche, zu erklären, warum um alles in der Welt sie mit ihrer Tochter im ICE saß, abwechselnd von einem Funkloch, den blechernen Lautsprecherdurchsagen zu kulinarischen Highlights der deutschen Bahn und dem gellenden Schreien ihres Nachwuchses unterbrochen wurde. Klar wurde nur: Sie ist auf dem Weg hierher.

SMS von MIA an LAURA

Umsteigen in Berlin auf Gleis 11. Abfahrt 15:34, Ankunft in VETSCHAU 16:45. Ich hole dich ab. Denke an dich und freue mich! Gute Fahrt, liebe Freundin. Mia

Was ist nur passiert? Ob sie ihre Schwiegermutter umgebracht hat? – Hoffentlich leiht Iris mir ihr Auto.

10:30. Im Auto auf der Landstraße nach Feulenitz

Sollte Fabienne ihre Austernschale während der einen Stunde geöffnet haben, die sie im Beratungszimmer verbracht hat, hat sie sie jedenfalls schnell wieder zugeklappt, nachdem sie mich gesehen hat. Wir haben Adressen von Ärzten bekommen, und Fabienne hat mir ausdruckslos gesagt, ich solle einen Termin für den Abbruch vereinbaren. Bis dahin, sagte die Dame in der Beratungsstelle, könne Fabienne sich ja noch immer Gedanken machen. Der Termin kann frühestens am Freitag stattfinden, denn zwischen Beratung und Eingriff müssen drei volle Kalendertage liegen. Wenn sie sich dagegen entscheide, müsse sie ja nicht hingehen, sagte die Dame und nickte ihr aufmunternd zu, woraufhin Fabienne wenig überzeugend tapfer lächelte. Draußen schlug ich ihr zur Aufmunterung ein ausgiebiges Frühstück in Cottbus oder einen Stadtbummel vor, aber sie wollte nach Hause. Jetzt sitzen wir wieder im Auto, Fabiennes zittriges Lächeln ist eben versiegt, und das ganze Mädchen ist unter die Fußmatte gerutscht, als ich vorsichtig gefragt habe, ob sie mir nicht doch erzählen wolle, mit wem sie geschla … »Mama!« Das beantwortet wohl meine Frage. Ich stelle das Radio an, wo eine Sturmwarnung für den Abend gemeldet wird, und drehe den Ton wieder leise. Ich muss bremsen, weil sich auf der Straße vor uns ein paar Menschen befinden und keine Anstalten machen, zu verschwinden. Fabienne schiebt sich auf ihrem Sitz wieder etwas nach oben, schaut nach vorne und dann zu mir. »Da ist, ähm, ein Bär auf der Straße«, sagt sie. Es schwingt ein nicht geringer Hauch Verachtung in ihrer Stimme mit, denn genau genommen handelt es sich bei dem Bären um einen groß gewachsenen Menschen in einem Fellkostüm. Er wird begleitet von zwei Matrosen, einem Mädchen mit Katzenohren und verwischter Schminke, einer Nonne, einer Mexikanerin und drei Gestalten in Blaumännern und zerzausten Perücken, die vor dem Grau in Grau der Landschaft schrill leuchten. Neben ihnen am Straßenrand steht ein kleines, bunt bemaltes Holzhäuschen mit der Aufschrift: »Straßenzoll«. Ach ja, denke ich. Irgendwo aus der Versenkung tauchen Bilder der Erinnerung auf. »Ich schätze mal, das sind Zamperer. Die wollen Geld.« – »Hä?« – Ich halte, weil ein Ausweichen nicht möglich ist, kurbele das Fenster runter und krame in meiner Handtasche nach dem Portemonnaie. Vor dem Fenster lässt der Bär ein paar erwartungsfrohe Münzen in einer Dose scheppern. »Schnaps, das war sein letztes Wort …«, singen die anderen laut und fröhlich, eine schlägt ein Tamburin, ein anderer trommelt auf das Zollhäuschen. Plötzlich schießt neben mir ein Kopf hoch und posaunt mir mit einer rosa Tröte ins Ohr. Fabienne zuckt zusammen. Kaum habe ich einen Euro in die Dose geworfen, verbeugt sich der Bär und drückt mir einen Feigling in die Hand. Wir dürfen weiterfahren. »Ist hier so Brauch«, erkläre ich Fabienne, die sich mit gerunzelter Stirn nach den jungen Leuten umschaut. »Fasching?« – »Nein, zampern heißt das. Ist eine alte sorbische Tradition, um den Winter zu vertreiben. Das gibt es hier in vielen Dörfern.« – »Aha. Und man sammelt Geld.« – »Ja, auch. Für die Feiern.« – »Aha.«

16:55. In Iris’ Mietwagen von Vetschau zurück nach Feulenitz

Die Schwiegermutter lebt. Leider immer noch bei Laura. So viel habe ich inzwischen herausgefunden. Laura sah aus wie eine wandelnde Leiche, als der Regionalexpress sie in unser Niemandsland spuckte. Ein freundlicher älterer Herr öffnete für sie die alte Regionalexpresstür, und das hochfrequentige Gebrüll des Säuglings zerriss die Stille des ausgestorbenen Bahnhofs. Der Mann schwankte sichtlich zwischen Mitleid und Erleichterung, als er ihr den Kinderwagen auf das Gleis stellte und schnell wieder im Zug verschwand. Als Laura mich sah, fing sie sofort an zu weinen. Ich habe sie dann erstmal in den Arm genommen. Jetzt sitzt sie auf der Rückbank neben ihrer immer noch lauthals schreienden Brut und starrt apathisch aus dem Fenster, hinter dem sich die Abenddämmerung über die mit Raureif bedeckten Wiesen legt und ein zunehmend harter Wind die noch blätterlosen Bäume in alle Richtungen biegt. Nach sieben Stunden Dauergebrüll hat Laura den Kampf aufgegeben. Mir platzt schon nach zehn Minuten das Trommelfell, angeblich bringt es so ein Baby beim Schreien auf 110 Dezibel. Presslufthammer, Kettensägen und Gewitterdonner liegen nur zehn Dezibel darüber, und schon ab 85 Dezibel kann es bei Dauerbelastung zu Hörschäden kommen. (Was man an depressiven Tagen doch alles so im Fernsehen lernt.) Wie also kann man so was sieben Stunden, geschweige denn mehrere Tage und Wochen aushalten? Ich spiele mit dem Gedanken, das Fenster zu öffnen, um dem Gebrüll weniger Schallraum zu bieten, ahne jedoch, dass die kalte Zugluft schlecht für das Baby wäre. Ich blicke erneut in den Rückspiegel, um einen genaueren Blick auf die junge Mutter zu erhaschen. Laura hat tiefe Augenringe, ihre Haare sind fettig, die Haut käsig. Tiefes Mitleid mit meiner sonst so fröhlichen Freundin ergreift mich. Ich fasse mir ein Herz. »Was ist denn passiert, liebes Füchschen?«

17:00. Küche

Vor einer Stunde kam eine zerzauste Fabienne nach einem Spaziergang zu mir (ich war froh, dass sie angesichts des inzwischen starken Winds endlich wieder zu Hause war) und fragte, ob ich schon beim Arzt angerufen hätte. Sie hörte sich an, was ich mit mulmigem Gefühl berichtete (Termin am Montagmorgen, Praxis in Cottbus, am Telefon sehr nett). Ich war mir nicht sicher, wie sie reagieren würde. Fabienne nickte. Dann sagte sie, sie habe noch mal nachgedacht, und das alles sei jetzt okay für sie. Sie wolle noch kein Kind und so. Es war, als habe der Wind ihr die Trübsal aus den Klamotten geblasen. Ich bin so erleichtert, dass ich jetzt beschwingt Apfel-Pfannkuchen backe, Fabiennes Lieblingsgericht, früher jedenfalls. Meins übrigens auch, bevor ich begann, meine Pfunde zu bekämpfen. Ich bin stolz darauf, dass ich immer noch den Dreh raushabe, meine Eierkuchen in der Luft zu wenden. Als Teenie habe ich das mit großer Verbissenheit geübt – da ich im Westen keine Freunde hatte, blieb mir genügend Zeit, um solche Kunststücke zu trainieren, wenn ich für Mama und mich kochte. »Wie machst du das mit dem Pfannkuchen-Salto?«, fragt Fabienne und steht plötzlich neben mir am Herd. »Ich zeig’s dir, wenn du willst«, sage ich verdattert, weil ich meine Tochter beeindrucken konnte, und sie nickt. »Okay, also, du brauchst die richtige Pfanne, der Rand darf weder zu steil noch abgerundet sein. Und dann ziehst du sie beim Hochwerfen – zack – nach hinten, damit der Pfannkuchen den richtigen Schwung bekommt. Guck, so.« Hepp, fliegt der halbgebackene Pfanneninhalt mit einer hübschen kleinen Drehung hoch und landet mit einem leise platschenden Geräusch wieder im Kochgeschirr. Dann drücke ich Fabienne die Pfanne in die Hand, damit sie es selbst versucht. Erst ziert sie sich, dann zögert sie beim Werfen, beim dritten Anlauf klappt es, als hätte sie drei Stunden lang geübt. Ein warmes, glückliches Gefühl steigt in mir auf, als ich das freudige Lächeln meiner Tochter sehe.

17:10. Im Auto

Es ist Leben in Laura gekommen. Das liegt auch daran, dass ich, im Versuch zu beschwichtigen, gerade Partei für die falsche Seite ergriffen habe. Partei für Andreas’ Mutter.

»Du bist wie Andreas. Das ist eben nicht nett. Das ist übergriffig! Mein Baby mit meiner Milch zu füttern. Ungefragt!« Lauras Stimme schrillt jetzt mit dem Organ ihres Kindes um die Wette. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich mich fühlen würde, wenn ich – vom Mutterinstinkt, den ein schreiendes Baby auslöst, getrieben – mitten in der Nacht senkrecht im Bett sitzen und am Bett meines Kindes eine andere Frau erblicken würde. Die böse Schwiegermutter im Seiden-Kimono, die das Kind aus seinem Bettchen hebt, an ihre Brust presst und mit den Worten »Schlaft ihr einfach weiter. Ich nehm’ sie. Hat doch auch sein Gutes, dass du nicht stillen kannst« entführt. Ja, wie würde ich mich fühlen? Schätzungsweise so, wie sich Laura gerade fühlt. Entmündigt. Gedemütigt. Im eigenen Muttersein für unfähig erklärt.

»Du hast Recht, Laura. Das ist nicht nett. Tut mir leid«, sage ich also und will mich umdrehen, um meiner Freundin versöhnlich die Hand auf das Knie zu legen. Ausgerechnet in dem Moment erfasst eine Windböe unser Auto und schiebt uns kurzerhand auf die andere Fahrbahn. »Ahhh!!«, schreien jetzt Laura, das Baby und ich im Chor. Das Licht der Scheinwerfer trifft auf vereinzelte Bäume am Straßenrand, auf ein Stück Wiese, dann wieder auf die Straße. Ich reiße schnell das Lenkrad herum und befördere uns wieder auf die richtige Seite. Wie gut, dass wir uns im Niemandsland befinden – keine Menschenseele weit und breit. Bisher muss uns wohl die Allee, durch die wir eben noch gefahren sind, geschützt haben. Denn jetzt zerrt der Wind an uns wie ein übermütiger Hund an seinem Spielzeug. Adrenalin pumpt durch meinen Körper, und Lauras Nervenkostüm scheint meine Aktion den Rest gegeben zu haben. Denn plötzlich lacht sie unter Tränen. »Was ist?«, frage ich besorgt, das Lenkrad im Klammergriff und den Blick starr auf die Straße geheftet. »Matilda. Sie guckt so verdutzt.« Jetzt erst merke ich es. Das Baby hat aufgehört zu schreien. Vor Schreck muss der Kleinen wohl die Luft weggeblieben sein. In meinem Kopf hört ein kleiner Hammer auf, gegen mein Hirn zu schlagen. Die plötzliche Weite in meinem Schädel fühlt sich wunderbar an. Für einen Moment genießen Laura und ich die Stille, in der nur der Wind um die Karosserie pfeift.

»Was ist denn da vorne?« Jetzt sehe ich es auch. Am Straßenrand steht ein verlassenes Zollhäuschen, mitten im Niemandsland.

17:15. Immer noch im Auto

»Heute früh hatte ich dann zum ersten Mal seit Tagen einen ruhigen Moment mit meiner Kleinen. Keiner da. Außer uns beiden. Ich lag im Bett und habe sie einfach nur angeguckt.« Zärtlich streicht Laura ihrer Tochter über den Kopf, die, als wollte sie es bestätigen, immer noch keinen Mucks von sich gibt. »Bis die Tür knallte. Und Andreas’ Mutter vor meinem Bett stand. Sie hatte eingekauft. Sie hätte beschlossen, sie werde hier dringender gebraucht, ihr Mann käme mit der Couch schon allein zurecht. Dann schnupperte sie an Matilda und meinte, die gehöre dringend gebadet. Genaugenommen sagte sie: ‚Na, mein Schatz, wollen wir dich mal baden? Mhh?’ Während Andreas’ Mutter die Babywanne ›temperierte‹, habe ich Matilda schnell die Jacke übergezogen und bin raus aus der Wohnung. Anfangs wollte ich nur ein paar Minuten mit meinem Kind alleine sein, spazieren gehen. Plötzlich saß ich dann im Zug.«

Deshalb hat Laura also keinen Koffer dabei, ich hatte mich schon gewundert. »Das heißt, du hast dich gar nicht abgemeldet?«, frage ich überrascht. Laura schüttelt den Kopf. »Aber sie wird doch sicher angerufen haben.« Meine Freundin zuckt mit den Schultern. »Wahrscheinlich.« -«Wie, ›wahrscheinlich‹?« – »Ich hab das Handy ausgemacht.« Lauras Blick aus dem Rückspiegel ist trotzig. Ich bin froh, etwas Kraft bei ihr zu spüren. Trotzdem. »Das geht nicht, Laura. Andreas dreht sicher schon durch vor Sorge. Du musst ihn anrufen. Wirklich.« Obwohl Laura nickt, dauert es noch einen Moment, bis sie das Handy einschaltet. Die nächsten zehn Minuten, bis wir zuhause ankommen, vibriert es in regelmäßigen Abständen.

17:25. Im Auto. Vor dem Fließ

»Matilda passt wirklich viel besser zu ihr«, flüstere ich. »Nicht wahr?« Laura und ich hängen über dem schlafenden Kind, ich vom Fahrersitz nach hinten gelehnt, Laura in bequemerer Position auf dem Rücksitz. Draußen pfeift der Wind – und hier drinnen steht die Zeit still. Zum ersten Mal sehe ich mir den Nachwuchs meiner Freundin richtig an. Matilda ist so zart, so zerbrechlich und hat doch, obwohl sie noch so klein ist, schon etwas sehr Eigenes, Nachdenkliches an sich. Ich könnte ewig hier sitzen und sie anschauen. »Ist das euer Haus?«, holt mich Laura aus meiner Versenkung. »Das da so malerisch erleuchtet im Dunkeln liegt?«

»Ja, und in dem kleinen daneben wohnt Martha, Oma Hedwigs alte Freundin.«

»Sieht total gemütlich aus. – Setzen wir jetzt mit dem Kahn über?« So, wie Laura das sagt, klingt es wildromantisch und nach Abenteuer. Ich spüre, dass meine Freundin die richtige Entscheidung getroffen hat, hierherzukommen. Plötzlich freue ich mich total und bin stolz, ihr alles zeigen zu können. Ich ziehe mich noch ein Stück weiter zwischen den Sitzen hindurch und küsse sie fest auf die Wange. »Es ist so schön dich zu sehen. Tut mir auch leid, dass ich bisher nicht in München war. Ich dachte, du wolltest etwas Ruhe.«

»Da dachtest du verdammt richtig.« Laura grinst. »Du müsstest mir Klamotten leihen. Und Matilda … für die habe ich auch nichts dabei …« Laura blickt schon wieder besorgt drein.

»Keine Sorge. Ich kenne hier schon ein paar Leute. Das kriegen wir hin.« Als ich die Tür aufstoße und mir der Wind entgegenfegt, denke ich: Solange wir drei nicht gleich hochkant ins Wasser fliegen!

17:30 Haus der Schwestern. Flur

Hinter uns schlägt die Haustür zu. Sofort schaue ich besorgt zu Laura, aber Matilda scheint in ihrer Babytragetasche zu schlafen.

Küche

Ich sehe Fabienne entgeistert zur Tür starren und ihre Hand samt Gabel und aufgespießtem Pfannkuchenfetzen in der Bewegung einfrieren. Ich drehe mich um. Da steht Mia. Und neben ihr eine junge Frau mit einer Babytragetasche. Einer Babytragetasche?! Jetzt, wo Fabienne sich endlich durchgerungen hat … Bevor ich fragen kann, was das soll, sprudelt Mia schon los: »Darf ich vorstellen, das sind meine beste Freundin Laura und ihre frisch geborene Tochter Matilda. Na ja, so frisch auch nicht mehr. Sie ist ja schon, äh …«, Mia kommt ins Stocken. »Morgen wird sie sechs Wochen«, ergänzt das Geschöpf hinter Mia, das ein wenig aussieht wie der Tod auf Latschen. »Jedenfalls werden die zwei ein bisschen bei uns bleiben«, vollendet Mia ihre Rede, und ihre Freundin hebt schüchtern die Hand. »Hallo.« Ich brauche einen Augenblick, um zu erfassen, dass die Babytragetasche also keine unangebrachte – günstig geschossene – Gabe für Fabienne ist, sondern das Vehikel, in dem offenbar unangebrachterweise ein leibhaftiges Baby liegt. Fabienne kann den Blick gar nicht abwenden. »Ich zeig Laura mal mein Zimmer. Und ich schlafe dann im Seminarraum auf dem Sofa, okay? Der steht ja sowieso bloß leer im Moment.« Bevor ich Piep sagen kann, fällt die Küchentür ins Schloss. Fabienne legt die Gabel zurück auf ihren Teller. »Hab keinen Hunger mehr.«

17:38. Mias Zimmer

»Willst du nicht erstmal was essen?« Etwas irritiert schaue ich auf die elektrische Milchpumpe, die Laura, kaum dass wir mein Zimmer betreten haben, aus Matildas Wickeltasche gekramt und routiniert angelegt hat. Zuerst dachte ich, sie hat ein Sauerstoffgerät dabei, aber die beiden überdimensionalen Saugknöpfe sind keine Beatmungsmasken, sondern Brusthauben (was für ein Wort!), die sich auf leere Milchfläschchen montieren lassen. Laura stellt die Pumpfrequenz höher und schüttelt den Kopf. »Ich bin schon eine halbe Stunde im Verzug. Kannst du mal die Uhrzeit notieren? Ich komm grad nicht an mein Stillheft.« Ich ziehe das nächstbeste Blatt von meinem Schreibtisch und halte ausgerechnet die Liste mit meinen potentiellen Kunden in der Hand. Mir fällt mein schrecklicher Nachmittag wieder ein. Telefonate mit immer der gleichen Antwort: ›Danke, interessant, aber unser Pool an Illustratoren ist gerade gut bestückt. Bei Bedarf melden wir uns.‹ Auf die Rückseite kritzle ich die Uhrzeit. 17:40. Dann sehe ich meine Freundin an, deren Brustwarzen rhythmisch von dem Gerät angesaugt werden und stoßweise Milchtropfen abgeben. »Fühlt sich das gut an?« Laura zuckt mit den Schultern. »Bisschen mechanisch. Komme mir vor wie eine Milchkuh, aber mit beiden auf einmal geht’s einfach schneller.« – »Siehst auch so aus«, sage ich lachend. Laura streckt mir die Zunge raus.

»Ist es wirklich okay, wenn ich dein Zimmer nehme? Wir können auch zusammen hier pennen, ich muss nur alle zwei Stunden raus, erst abpumpen, dann füttern, dann wickeln, dann abpumpen …« –«Das ist wirklich kein Problem, Laura.« Lauras Handy klingelt. Ich schaue auf das Display. »Andreas.« – »Ich ruf ihn gleich zurück. Hab ja keine Hand frei.« Lauras Grinsen fällt ein wenig schief aus.

18:00. Flur im Obergeschoss

Als ich die Treppe hochkomme, stoße ich auf dem Flur mit Mia zusammen, die eben aus ihrem Zimmer kommt. Ein Fläschchen mit weißlicher Flüssigkeit kullert vor meine Füße. Abgepumpte Muttermilch. Kurz durchzuckt mich die Erinnerung an längst vergangene Tage, als ich ganze Batterien von diesen Fläschchen abpumpte, damit meine Mutter Fabienne versorgen und ich ins Büro gehen konnte. Aus Mias Zimmer höre ich ihre Freundin leise reden, die Tür steht offen. Mia sieht mich fragend an. Ich mache eine Handbewegung in Richtung Mias Zimmers und zische: »Was soll das, Mia? Musste das sein?« Mia sieht verdutzt aus. »Wie jetzt? Was meinst du?« – »Musstest du dir ausgerechnet jetzt eine Freundin mit Baby einladen? Kannst du dir vorstellen, was das in dieser Situation bei Fabienne bewirkt?« – »Ich hab sie gar nicht eingeladen (jedenfalls nicht so konkret), und außerdem …«

»Du lässt mich doch die ganze Zeit allein, und es ist mir völlig egal, was deine bescheuerte Mutter denkt, Andreas!«, schreit diese Laura plötzlich ziemlich außer sich. Himmel, das klingt ziemlich eindeutig nach Eheproblemen und nimmt mir gerade etwas den Wind aus den Segeln. Meine Halbschwester schaut mich nur vielsagend an. Ich blitze wütend zurück. »Mia, kannst du deiner Freundin bitte sagen, dass es zur Zeit eher ungünstig …« – »Sag mal, spinnst du? Erstens kann ich sie jetzt schlecht nach Bayern zurückschicken, wo sie gerade erst angekommen ist, und zweitens geht es nicht immer nur um dich und darum, was dir gerade in den Kram passt, und drittens ist es ja vielleicht sogar gut, wenn Fabienne sieht, wie das so ist mit Baby. Mann!« Damit reißt Mia mir das Fläschchen aus der Hand und trampelt entschlossen die Treppe hinunter, schätzungsweise in Richtung Kühlschrank.

Mitten in der Nacht. Iris’ Schlafzimmer

Das Lärmen des Windes weckt mich auf. Er hat sich, wie angesagt, in einen tosenden Sturm verwandelt. Als ich zu Bett gegangen bin, pfiff es unheimlich ums Haus, und die Bäume ächzten so bedrohlich, dass ich mich bei dem bangen Gedanken ertappte, dass einige der Bäume hier auf dem Grundstück nicht mehr die jüngsten sind. Ich erinnere mich, dass ich meine Ohropax im Badezimmerschrank verstaut habe, und ringe mit mir, ob ich aufstehen, durch den kalten Flur tappen und sie holen soll. Ohne kann ich jedenfalls bei der gruseligen Geräuschkulisse nicht wieder einschlafen. Gerade, als ich endlich mit den Zehenspitzen nach meinen Hausschuhen taste, fährt mir ein entsetzliches Krachen, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Knallen und Splittern, durch Mark und Bein. Instinktiv ziehe ich die Füße blitzschnell wieder unter die Decke, nur um im nächsten Augenblick ans Fenster zu stürzen. Steht das Haus noch?, schießt es mir durch den Kopf. Oder fliegt vielleicht gerade das Hühnerhaus samt Bewohnerinnen davon? Die Kulisse draußen ist wenig beruhigend. Eine fahle Mondsichel hängt spirrelig am Himmel wie ein abgebissener Fingernagel, der Sturm jagt Wolkenfetzen mit gespenstischem Tempo über den Himmel und zerrt wütend an den Baumkronen, dass sie sich krümmen und hin und her werfen wie eine gequälte Geisterschar. Sie lassen ihre kahlen Äste tanzen, als wären sie Hexenfinger, die die Luft nach einem unglücklichen Opfer durchkämmen. Plötzlich bleibt mein Herz stehen, weil ich draußen eine weiße Gestalt herumrennen sehe, und schelte mich im nächsten Augenblick dafür, denn es ist nur Martha. Im Nachthemd. Sie reißt den Mund auf, scheint etwas zu rufen, was im Heulen des Windes untergeht. Ich renne los.

Wenige Sekunden später. Untere Etage

Als ich verstört aus dem Seminarraum trete, werde ich um Haaresbreite von Iris niedergemäht. Sie schreit irgendetwas von »Sturm« und »Martha«, der panische Ausdruck in ihren Augen macht mir Angst. Was ist passiert?! Der Adrenalinstoß, der mich aufgeweckt hat, hängt mir noch flau im Magen, in meinem Traum bin ich ein nicht enden wollendes Treppenhaus hinuntergerannt, während über mir der Wolkenkratzer einstürzte und der dabei aufkommende Wind mir meine Arbeitsprobenmappe aus den Händen riss. Draußen höre ich den Sturm toben, hier jault er geisterhaft durch die Ritzen. Oben am Treppenabsatz sehe ich noch Fabienne wie ein kleines Gespenst stehen, als Iris mich auch schon mit nach draußen zerrt. Direkt vor der Tür stoßen wir mit Martha zusammen, dann erfasst uns ein Windstoß, und wir heben ab.

Drei Minuten später. Vor der Remise

Wir sind dann doch nicht abgehoben, hat sich nur so angefühlt. Dieser verf … Orkan zerrt und reißt an einem wie ein wildes Tier, das ausgehungert nach einem unverhofften Mitternachtssnack schnappt. Dabei könnte das Mistviech jetzt mal Ruhe geben, nachdem es bereits einen Baum in seine Einzelteile zerlegt und den größten Trumm auf Marthas Remise hat landen lassen. Ich kann noch gar nicht ganz fassen, was hier passiert ist. Das Dach hat ein Riesenloch! Iris fuchtelt mit den Armen. Ah, sie will, dass wir ins Haus gehen. Martha geht allerdings schnurstracks in die andere Richtung. Die will doch nicht etwa …

Zehn Minuten später. In der Küche

Das war ein Kraftakt, Martha davon abzuhalten, in die zerstörte Remise zu marschieren, um ihr Hab und Gut zu retten. Starrsinniger alter Besen! Was kann so wichtig sein, dass man dafür in Kauf nimmt, von einem herunterbrechenden Dachbalken erschlagen zu werden? Jetzt sitzt sie hier wie ein Häufchen Elend auf der Holzbank und verkneift sich mit Mühe die Tränen. Kenn ich. Ich mag auch nicht, wenn andere mich heulen sehen. Die Feuerwehr ist alarmiert. Jetzt warten wir. Am Tisch sitzt zitternd Mias Freundin mit dem Baby auf dem Schoß. Sie lächelt etwas schief und sagt: »Echt idyllisch habt ihr’s hier«, um dann gleich wieder sorgenvoll auf ihre Tochter zu blicken, die friedlich schläft, als würde draußen nicht gerade die Welt untergehen. Schlafende Babys haben etwas unvergleichlich Zartes. Sie sehen aus, als hätte sie ein Engel geküsst, und verursachen akute Hormonausschüttungen der angenehmsten Sorte. Fatal. Fabienne klebt am Ofen und beäugt Mutter und Kind von dort aus. Was wohl in ihr vorgeht angesichts des niedlichen kleinen Würmchens?

So wie Fabienne guckt, verstehe ich Iris’ Sorge. Lauras Besuch ist wirklich kein gutes Timing. Der Sturm allerdings auch nicht. Seit Iris die Feuerwehr verständigt hat, geht mir nur ein Gedanke durch den Kopf: Was, wenn Maik mit im Einsatzteam ist? Nach der Panik kam die Selbstkasteiung: Warum um alles in der Welt habe ich die letzten Wochen nicht genutzt, um mich bei ihm zu entschuldigen? Erklärung: Weil ich alles, was mir wichtig ist, auf die lange Bank schiebe. Für Maik muss das allerdings aussehen, als wäre es mir egal. Erneute Panik. Dann die leise Hoffnung: Vielleicht nehme ich mich mal wieder zu wichtig, und er hat die Sache längst vergessen? Weil er über so etwas steht? Blaulicht erhellt die peitschenden Bäume und beendet meine Spekulationen. Martha springt auf und stürmt, nur mit Iris’ Bademantel und ihren Gummistiefeln bekleidet, den Männern entgegen. Gleich weiß ich mehr. Mir ist schlecht.

Minuten später. Küche

Nein, Maik hat die Aktion an meinem Geburtstag ganz und gar nicht vergessen. In seiner mir bereits bestens bekannten Feuerwehruniform schiebt er Martha in die warme Küche zurück. Ich sehe, wie er sich ein Grinsen verkneift, als er uns fünf Frauen und ein Baby, wahlweise in wallendem Nachthemd (Martha), bordeauxfarbenem Satin-Schlafanzug (Iris) und T-Shirts mit albernen Aufdrucken über schlabberiger Jogginghose (Laura, Fabienne und ich), um den Küchentisch kauern und heißen Tee schlürfen sieht. Den Ort, an dem meine Freunde aus Berlin mit ihren blöden Sprüchen Maik beleidigt haben und ich nicht eingeschritten bin. Er würdigt mich keines Blickes, auch als ich einen Scherz (»Diesmal war es höhere Gewalt«) versuche. »Keiner verlässt das Haus, bis der Sturm vorbei ist«, gibt er den fachmännischen Krisenmanager. »Wir können keinen gebrauchen, der aus Gedankenlosigkeit vom Baum erschlagen wird.« Da war er doch, der Blick zu mir. Stichwort: Gedankenlosigkeit. Hab schon kapiert. Dann schlägt die Haustür, und Maik stiefelt mit festen Schritten zu seinen Kollegen an den Unfallort. Mist.

Wie wir hier sitzen, hat es etwas aus der Zeit Gefallenes, ein wenig wie in einem Fernsehfilm über den Ersten Weltkrieg, in dem die Frauen und Kinder sich schützend in der Küche des Hauses versammeln, während draußen die Männer im Bombenhagel der Gefahr trotzen. Wahrscheinlich liegt es an der alten Küche von Oma Hedwig, an dem knisternden Ofen, und an Martha, wie sie da mit ihren geflochtenen Zöpfen und ihrem weißen Gewand am Fenster steht und den Männern zusieht, die in dem gleißenden Licht, das das Feuerwehrauto auf unser Grundstück wirft, den Schaden an ihrer Remise begutachten. »Vielleicht ist es ja nicht so schlimm«, versucht Laura zu trösten. Aber Martha reagiert überhaupt nicht.

»Ich wecke sie jetzt, das ist doch nicht normal. Sie schläft jetzt schon, seit wir hier angekommen sind.« Laura holt mich aus meiner Maik-Grübelei zurück. – »Klar, die ist sicher total erschöpft von der Fahrt und ihrem vielen Gebrüll«, versuche ich meine Freundin zu beruhigen. – »Sie hat jetzt aber schon fast zwei Mahlzeiten verpasst.« Laura schaut besorgt. – »Sie wacht doch sicher auf, wenn sie Hunger hat. Oder?« Um meine Einschätzung von erfahrener Stelle bestätigen zu lassen, blicke ich zu Iris, die seltsamerweise zu Martha schaut und, als diese nicht reagiert, sagt: »Ich denke auch.« Laura sieht unschlüssig auf die friedlich schlafende Matilda, dann steht sie ruckartig auf und holt mit der freien Hand ein Fläschchen aus dem Kühlschrank. »Ich würde sie wirklich schlafen lassen, Laura.« Ein eisiger Blick trifft mich, der so viel heißen soll wie: ›Du bist aber nicht ich. Ich bin die Mutter.‹ Sagen tut sie: »Die Fläschchen müssen ganz hinten in den Kühlschrank. Nicht in die Tür. Wegen der gleichmäßigen Temperatur«, und schichtet mit viel Geklirre das zweite von mir eingeordnete Fläschchen um. – »Warum fütterst du das Baby eigentlich mit dem Fläschchen?« Das war Fabienne. In die Stille hinein kracht die Haustür.

Martha und ich fahren herum. Doch es ist nur Maiks Kollege. »Jetzt hat’s die Tanne doch erwischt, Martha, wa? Ick hab ja immer jesacht, das ist nur eine Frage der Zeit, bis die umknickt.« Martha steht da wie ein gescholtenes Schulkind, so habe ich sie noch nie gesehen. »Is aber keene jroße Sache. Da haben wir heute mit Schlimmerem zu kämpfen. Wir kommen morgen und beseitigen den Schaden.« – »Und das Dach, meinst du, dein Sohn und du …«, findet Martha nun doch ihre Sprache wieder. – »Da werden wir uns sicher einig, Martha. Fürs Zampern und die Fastnacht, da bräuchten wir ja ooch noch was Wärmendes.« Er zwinkert Martha zu. Wir sehen die alte Frau verdutzt an. Was hatte dieser verschwörerische Blick zu bedeuten? Doch die sagt nur, als der Wind die Tür hinter dem Lulatsch zugeworfen hat: »Wo kann ich für heute Nacht mein Lager aufschlagen?«

Dienstag, 4. Februar

4:00. Seminarraum. Couch

Der Hammer in meinem Kopf ist wieder da. Lauras Kind brüllt seit einer guten Stunde das Haus zusammen. Mein Loyalitätsgefühl zwingt mich in die Senkrechte, auch wenn der kleine Teufel auf meiner Schulter denkt: ›Hätte Laura das Baby eben nicht geweckt.‹ Seufzend nehme ich meine Knirschschiene aus dem Mund, setze meine nackten Füße auf den kalten Boden, mache zwei vorsichtige Schritte durch das stockfinstere Zimmer und haue mir – »aua« – mein Knie an der zweiten Sofahälfte an. »Masch dosch dasch Lischt an.« – »Was?« Ich höre eine Bettdecke knistern, dann blendet grelles Licht meine Augen. Iris hat die Stehlampe neben ihrer Sofahälfte angeknipst. Hätte ich mir auch nicht träumen lassen, dass ich mir mit meiner Halbschwester mal ein Schlafzimmer teilen würde. Aber Martha, die unter Protest Iris’ Zimmer übernommen hat, wäre nicht unbedingt das kleinere Übel gewesen. Iris und ich haben die Sofahälften so weit auseinandergeschoben, dass sich nur noch unsere Füße berühren. »Ich geh mal nach Laura gucken«, murmle ich und drücke die Klinke runter. Eiskalte Luft aus dem Flur und Matildas ungedämpftes Geschrei schlagen mir entgegen. Hinter mir geht das Licht wieder aus.

04:05. Badezimmer

Die gellenden »Ich werde jeden Moment ermordet«-Panikschreie von Lauras Baby haben mich direkt ins Badezimmer geführt. Dort sitzt Laura als verheultes Häufchen Elend auf dem Badewannenrand, das puterrote, brüllende nackte Baby in ihren schlaffen Armen. Vor der Waschmaschine steht Martha und faltet in einer routinierten Bewegung ein weißes Spucktuch zu einem kunstvollen Dreieck. »Klebestreifen abmachen«, weist sie Fabienne gerade an, die folgsam eine von meinen Always-ultra-Binden auspackt und auf den gefalteten Mittelstreifen des Mulltuchs klebt. Siedend heiß fällt mir wieder das Ausbleiben meiner roten Korsaren ein. Martha gibt Laura ein Zeichen, und diese legt vorsichtig das sich windende Baby auf die provisorische Windel. (Pampers hat Laura in ihrer übereilten Flucht wohl auch nicht genug mitgenommen.) Geschickt schlägt Martha mit ein paar Handgriffen den Babypopo ein, streift eine dicke Wollhose über die zappelnden Beine und stülpt ein Hemdchen und einen kleinen Pullover über den Kopf. »Der Rest muss in die Wäsche.« Wieso sieht sie jetzt ausgerechnet mich an? Mit einem Zeh schiebe ich das vor mir auf dem Boden liegende, ziemlich übel riechende Wäschehäufchen mit deutlichen Spuren von verdauter Babymilch zu unserem Wäscheberg. Martha nimmt das kleine, noch immer aus voller Kehle brüllende Mädchen auf den Arm, presst es fest an ihren Körper und fängt an, in einem tiefen Ton zu brummen. Soll anscheinend das Baby beruhigen. »Komm, Mädchen, wir machen es euch gemütlich«. Damit war Laura gemeint, trotzdem folgen Fabienne und ich ihnen wie in einer Karawane bis zur Tür meines Zimmers. »Schaulustige ins Bett, sonst schläft von uns heute keiner mehr.« Mir soll es recht sein, ich habe Eisfüße.

4:08. Seminarraum

Ich tapse erneut durch die Dunkelheit und taste mich vorsichtig an dem Bett entlang. Ich fasse an etwas Weiches. Iris’ Gesicht. »Tschuldige.« Als Antwort bekomme ich ein mürrisches Knurren. Endlich habe ich meine Seite erreicht und kuschle mich in meine warmen Daunen, sodass nur noch meine Nasenspitze herausguckt. Mich würde es nicht wundern, wenn ich meinen Atem sehen könnte. Iris schläft nämlich auch im Winter mit abgedrehter Heizung und war nicht gewillt, für mich eine Ausnahme zu machen. Von oben tönt gedämpft das Brüllen des Babys. »Hättest du gedacht, dass Martha mit Babys umgehen kann?« Keine Reaktion. »Iris? Iris!« – »Wasch isch denn?« Wieder blendet mich das Licht. Iris zieht sich Ohropax aus den Ohren und sieht mich zerknautscht an. »Hättest du gedacht, dass Martha mit Babys umgehen kann?«, wiederhole ich. Jetzt greift Iris in ihren Mund und befördert eine Knirschschiene zutage. Ich muss grinsen. »Klar, sie war schließlich fast sechzig Jahre lang Hebamme«, sagt sie.

Mia guckt mich dermaßen erstaunt an, dass ich lachen muss. »Sie hat meine Mutter, mich und wohl auch die meisten, die in Feulenitz wohnen, auf die Welt gebracht. Und sie kennt sicher einige Geheimnisse, die besser unter Verschluss gehalten werden.«

»Geheimnisse?« Manchmal guckt Mia wirklich wie ein Schaf.

»Na, Pfarrer und Hebammen sind auf dem Dorf immer noch das, was in der Großstadt die Therapeuten sind. Die wissen, wer mit wem eine Affäre hatte, welches Kind wem untergeschoben wurde, wer heimlich abgetrieben hat … – So was eben.«

Ach ja. So was. Die Abgründe und inzestuösen Verstrickungen einer kleinen Dorfgemeinschaft. Dunkel-tragische oder auch schmerzlich-süße Geheimnisse, von denen wir aufgeklärte Großstadtkinder nur träumen können. Mit dem schalen Problem, mit vierunddreißig von einem gleichaltrigen, bindungsunfähigen Akademiker wegen fehlender Verhütung geschwängert zu werden, füllt man weder Schundromane noch Dramenklassiker. Man wird alleinerziehend oder treibt ab. So einfach und modern liegt da der Fall. Das Panik-Eichhörnchen nagt wieder an meinem Hirn. Was ist, wenn das Ziehen in meinem Bauch kein Vorzeichen für meine Tage ist, sondern das eingenistete Ei? Soll ich dann gleich mit zu Fabiennes Termin? Eine Doppelabtreibung? Würde ich denn abtreiben? Würde ich nicht? Um heute noch BN anzurufen, ist es zu spät (ganz abgesehen davon, dass unsere Sitzungen fast abgelaufen sind und ich mir die letzten für echte Notfälle aufsparen muss). Mia Mann, du beruhigst dich jetzt einfach, vielleicht hast du einfach nur Hunger. Ich gebe mir noch zwei Tage. Dann mach ich einen Test. So. Und jetzt: Panikkarussell aus! Eigene Knirschschiene rein.

4:12

Wer in diesem Dorf könnte schmutzige Geheimnisse haben? Maik? Marlies? Ernesto? Und was für schmutzige Geheimnisse?

4:18

Das Babygeschrei ist verstummt.

»Irisch? – Irisch!«

»Was isch denn jetzt noch?«

»Kenscht du jemanden, von dem wir Babyschachen holen könnten?«

9:00. Lübbenau. Vor Sigrids Haus

Ich habe von einer Geburt geträumt, von Martha angeleitet. Maik, in Feuerwehruniform, stand neben mir und hielt meine Hand. Hat sich gut angefühlt. Also seine Hand. Weniger, dass ich gepresst und gepresst habe, das Baby wie am Spieß gebrüllt hat, aber nicht rausgekommen ist. Plötzlich stand meine Mutter da und wollte mit Lauras Abpumpgerät als Saugglocke das Baby rausziehen. Als ich aufgewacht bin, war ich schweißgebadet und musste feststellen, dass die Bilder zwar weg waren, das Babygebrüll aber weiterging. Iris saß, trotz Ohropax, neben mir senkrecht im Bett. Es war 6:55 Uhr. Wir schauten uns in die verquollenen Augen und waren uns in diesem Moment so einig wie selten. Nie wieder, auf keinen Fall, ein Baby im Haus! Laura war es dementsprechend unangenehm, als sie uns beide mit grimmigen Gesichtern in die Küche schlurfen sah. Sie trug das schreiende Baby herum, während Martha, schon fertig gestriegelt und putzmunter, am Herd stand und irgendwelche seltsamen Bällchen aus Reis knetete. Während Iris einen starken Kaffee machte, verkroch ich mich in die dämmernde Finsternis draußen, um die Tiere zu füttern. Um acht Uhr dreißig, nach allerlei guten Ratschlägen unsererseits (vielleicht ist die Windel wieder voll? Vielleicht ist ihr die Luft hier zu trocken? Oder es ist zu warm, fühl doch mal am Nacken? Hast du eigentlich einen Schnuller?) katapultierte Martha uns mit dem Auftrag, Windeln zu holen, aus dem Haus. Draußen empfing uns der diffuse Feulenitzer Frühnebel, der aus den Wiesen aufstieg. Iris und ich schwiegen einträchtig, als wir in ihrem Auto durch die etwas zerrupft aussehende Landschaft fuhren. Wir sind nämlich nicht die Einzigen, bei denen ein Baum umgeknickt ist. Und auch hier, auf den Straßen von Lübbenau, liegen überall große Äste herum, an einigen Häusern hängen Dachrinnen am seidenen Faden. Das Haus, vor dem wir stehen, scheint unversehrt. Ob Iris’ Freundin auch unter den Helfern ist, oder warum macht hier niemand auf?

Hatte vergessen, wie zermürbend Babygebrüll sein kann. Kein Wunder, dass Mias Freundin aussieht wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Fabienne war auch reichlich übernächtigt, als sie sich schnell einen Kaffee aus der Küche holte und sich wieder auf ihre Matratze verzog. Vielleicht hatte Mia Recht, und es konnte gar nichts Besseres passieren, als von einer überforderten Mutter überfallen zu werden. Zu sehen, dass es kein Zuckerschlecken ist, ein Kind zu haben, wird Fabienne die Sache erleichtern.

»Wo ist dein Baby?«, fragt ein Stimmchen von unten, wo ich Nele entdecke, Sigrids vierjährige Tochter. Ich habe – in Gedanken versunken – gar nicht gemerkt, dass sich die Haustür geöffnet hat. Nele trägt ein rosafarbenes Gewand, dem die Ärmel fehlen und das von Stecknadeln zusammengehalten wird. »Wo ist dein Baby?«, fragt sie noch einmal und schaut Mia erwartungsvoll an. Jetzt biegt Sigrid um die Ecke und sagt: »Na, sieht aus, als wäre nur die Mama mitgekommen, Nele. Hallo!«

»Ähm, ich bin gar nicht … Ich bin Mia«, versuche ich den Irrtum aufzuklären und frage mich, ob die Welt sich gegen mich verschworen hat. »Meine Halbschwester«, setzt Iris hinzu und lacht. »Das Baby ist von ihrer Freundin, und ich glaube, wenn Mia einen heimlichen Kinderwunsch gehegt haben sollte, ist er ihr in den vergangenen zwölf Stunden vergangen.« Iris hat ja keine Ahnung, wie Recht sie hat. Ich versuche den spontanen Gedanken, dass Kindermund Wahrheit kundtut, zu verdrängen, beschließe später im Drogeriemarkt einen Schwangerschaftstest zu erwerben und beuge mich für den Fall, dass mein »Ach, was für ein lustiges Missverständnis«-Lächeln etwas schief geraten sein sollte, zu dem kleinen Mädchen runter. »Hallo, und wer bist du?«

»Ich bin eine Prinzessin«, sagt sie stolz, und ich verstehe ihren merkwürdigen Aufzug. »Ich nähe ihr gerade ein Fastnachtskostüm. Am Freitag könnt ihr sie bewundern. Wir zampern mit Oma und Opa in Feulenitz.« Zampern? Iris muss meinen verständnislosen Blick wohl bemerkt haben. Sie erklärt: »Zampern. Sorbischer Fastnachtsbrauch. Die Leute verkleiden sich und ziehen von Haus zu Haus oder halten Autos an und sammeln Geld, Eier und Speck.« Und zu Sigrid: »Mia kommt nicht von hier.« Gnagna. Das hätte sie sich auch sparen können. Sigrid lächelt mich an: »Na, am Freitag bist du im Bilde. Dann wirst du das Spektakel bei euch im Dorf hautnah erleben.« Damit kommt sie zur Sache beziehungsweise zum Grund unseres Besuchs: »Braucht ihr so was auch?« Sigrid deutet auf einen kleinen Stapel winziger weißer Anziehteile, den sie im Arm trägt. »Wickelunterhemden. Ich fand die ja supernervig.« Iris lag anscheinend richtig mit ihrer Vermutung, hier Babyklamotten zu finden. Sie hat Sigrid heute Morgen netterweise angerufen. Iris’ Klassenkameradin, die Iris im Dezember wiedergetroffen hat, sieht irgendwie ganz anders aus als meine Halbschwester. Freundlich, offen, bodenständig. Man würde nicht denken, dass die mal Freundinnen waren. »Manches ist sogar noch von Lydia, also nicht gerade nigelnagelneu. Aber dafür schon so oft gewaschen, dass garantiert keine Chemie mehr drin ist. Ich konnte mich einfach noch nicht davon trennen.«

Wenn Fabienne nicht abtriebe, könnten wir die Sachen gleich behalten, wenn Laura wieder weg ist, schießt es mir durch den Kopf. Nicht witzig, Iris. Sigrids Telefon klingelt mich aus meinen Gedanken. »Lothar? Ich ruf dich zurück, ja? Ich hab gerade … Iris ist da. Mit ihrer Schwester … Ja, erklär ich dir später. Was? … Ob Iris …, ach wo, das glaub ich nicht. Iris kennt doch noch nicht so viele Leute hier. Aber ich frag sie.« Sie blickt zu mir und hält die Hand vor den Hörer. »Weißt du jemanden, der sich für unser altes Auto interessieren könnte?«

Eine Dreiviertelstunde später im Drogeriemarkt

Wenn ich daran denke, was mich dieser Leihwagen hier täglich kostet, frage ich mich, ob ich mich vielleicht für die alte Familienkutsche interessieren sollte. Na ja, aber wie lange werde ich mein Leben hier so noch führen? Wenn ich demnächst wieder öfter nach Frankfurt muss … Bei dem Gedanken sträuben sich mir ehrlich gesagt alle Nackenhaare. – Welche Windeln nehme ich denn jetzt? Als Fabienne ein Baby war, gab es gerade mal zwei Sorten, jetzt stehe ich vor einem Regal, das von klassisch bis ›Active fit‹ alle möglichen Saug- und Sitzkomfortvarianten bietet. »Simply dry«, das klingt doch gut. Wo ist denn Mia abgeblieben? Schminke testen?

Ich drücke mich vor dem Regal herum und denke, wie absurd, dass Iris gerade ein Riesenpaket Windeln zur Kasse trägt, während ich im Begriff bin, nach einem Ding zu greifen, mit dem ich später auf dem Klo sitzen werde, um zitternd darauf zu warten, ob sich ein oder zwei rote Streifen bilden. Vielleicht sollte ich den Test heimlich in meiner Tasche verschwinden lassen, um ihn nicht vor Iris bezahlen zu müssen. Tut man nicht, weiß ich, aber wäre ja ein Notfall. Ich sehe mich gerade um, ob die Luft für meinen Diebstahl rein ist, da biegt Iris um die Ecke. Reflexartig greife ich in das Regel neben den Schwangerschaftstests. Iris kommt und guckt – irritiert. Dann grinst sie spitzbübisch und sagt trocken: »Hast du dann alles?« Ich nicke und sehe erst jetzt, was ich in meiner Hand halte. Gleitgel. ›Für ein reibungsloses Liebesspiel‹. Mit hochroter Birne folge ich Iris zur Kasse.

12.30. Küche

Stille. Als wir nach Hause kamen, hatte sich das Kind auf wundersame Weise beruhigt. Es schlummerte selig in seinem Kinderwagenaufsatz auf dem Küchentisch, und Laura saß gelöst am Fenster und betrachtete den Februargarten. Ein Bild himmlischen Friedens. Jetzt sitze ich hier, während Mia ihrer Freundin die Tiere zeigt. Ich lausche dem Knistern des Ofens und den ruhigen Atemzügen des Babys, unterbrochen von kleinen, wonnigen Seufzern, die Zeichen seiner bewegten Babyträume sind. Wann, außer manchmal spätnachts nach getaner Arbeit oder nach Beendigung einer Dienstreise, hatte ich jemals Zeit, in solcher Ruhe an Fabiennes Bettchen zu sitzen und ihr beim Schlafen zuzuhören? Ich merke, wie sich meiner eigenen Brust ein melancholischer Seufzer entringt. Ich sehe meine große Tochter durch den Garten staksen. Vermutlich sucht sie die Katze. Auf dem Dach der Remise erscheint ein Feuerwehrmann, ich glaube, es ist Maik, und macht sich an dem Baumwipfel zu schaffen, der sich da oben am Haus ausnimmt wie ein Gamsbart am falschen Hut. Dann stört das heisere Knattern einer Motorsäge die winterliche Stille.

Zur gleichen Zeit vor dem Schafstall