Landlust letal - Anne Chaplet - E-Book

Landlust letal E-Book

Anne Chaplet

0,0

Beschreibung

"Wem die Stunde schlägt in Königsborn", den erwarten zuerst ein "Festtagsbraten" und dann "Ein richtig schöner Tod". Wahlweise kann es auch zum "Countdown in Selm" kommen, denn es gilt nach wie vor: "In Barmen kein Erbarmen"... Schon die Titel von Anne Chaplets meisterhaften Krimi-Geschichten lassen den Schluss zu, dass falsch liegt, wer das Landleben für friedlich und idyllisch hält. Typisch Städter eben. Die wird Anne Chaplet, die vielfach preisgekrönte deutsche Krimi-Schriftstellerin, mit ihren grandiosen Stories aus der mörderischen Provinz auf spannendste Art eines Besseren belehren. "Ihre Krimis gehören zum Besten, was das Genre in diesem Land zu bieten hat. " (Brigitte) "Anne Chaplet schreibt "spannend, humorvoll und facettenreich!" (Hamburger Abendblatt) "Hohe Krimikunst, und nur wenig beherrschen sie hierzulande so gut wie Anne Chaplet." (Tagesspiegel)

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 185

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Edel eBooks Ein Verlag der Edel Germany GmbH
Copyright dieser Ausgabe © 2013 Edel Germany GmbH
Neumühlen 17, 22763 Hamburgwww.edel.com
Copyright © by Cora Stephan
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.  
Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München
Konvertierung: Jouve
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN 978-3-95530-261-0
facebook.com/edel.ebooks

Inhaltsverzeichnis

TitelImpressumIn Barmen kein ErbarmenCountdown in SelmCaillettesRehaugeRomeo kam nur bis Bad BoltenhagenHeringssalatDie Hüter der OrdnungMargaret’s HopePolonium 210Liebe und Tod in HattingenDer gute NachbarKalter KaffeeTote Orchideen

In Barmen kein Erbarmen

Der Schmerz in seinen Fingern hatte sich mittlerweile in jede Nervenfaser seines Körpers eingebrannt. Seine Linke hing kalkweiß herunter, gestreift von schwarz geronnenem Blut. Die rechte Hand zitterte. Wenigstens haben sie links und nicht rechts angefangen, dachte Victor Frank und versuchte, das Zittern zu kontrollieren, damit er schneller arbeiten konnte. Loch für Loch stanzte er in den Pappstreifen, der das Programm enthielt, das die Bandwebmaschine antrieb. Die „Banditin“, wie er sie nannte, war seine Favoritin, hier im oberen Saal des Wuppertaler Museums für Frühindustrialisierung. Mit ihr fertigte er nach Feierabend oder auch mal am Wochenende Bänder in den Farben und mit dem Logo der beliebtesten Fußballvereine an – die Fans waren ganz scharf darauf und bestellten wie die Irren. Jedes Wort auf dem gewebten Band und jedes Muster in jeder Farbe konnte man mit der Stanzmaschine programmieren, vor der er jetzt stand, obwohl er sich kaum aufrecht halten konnte. Kürzlich hatte er grün-weiße Bänder für den SC Salingia Barmen 08 programmiert und sich zweimal verschrieben dabei. War „Salingia“ vielleicht ein Name für einen Fußballverein? Egal: Diesmal durfte er sich bei dem, was er stanzte, nicht verschreiben.
Diesmal ging es um sein Leben. Victor Frank hob den Kopf und blickte auf die Wand hinter der Hollerithstanze. Nein, es ging schon lange nicht mehr um sein Leben. Nur noch um das Leben danach. Um seine Rache.
„Jetzt lassen wir die Puppen tanzen!“ Slavek hatte Roko zugenickt, der breit grinsend den Hebel herunterzog. Mit einem unwilligen Knurren setzte sich die „Puppenkönigin“ in Bewegung, eine Flechtmaschine aus dem 19. Jahrhundert, mit der Victor zuletzt blau-weiße Schnürsenkel für die Fans von Schalke 04 angefertigt hatte. Exklusiv. Ja, bei ihm war alles exklusiv. Auch sein Tod. Exklusiv und exquisit, vor allem was die Schmerzen betraf.
Die Flechtmaschine veranstaltete ein lustiges Marionettentheater, wenn man sie in Gang gesetzt hatte. Dann tanzten die „Puppen“ – Spulen mit Garn verschiedener Farben – auf den Spindeln, die in rasender Geschwindigkeit kreisten und dabei vor-, zurück-, zur Seite sausten. Die Spindeln saßen auf einem sternförmigen Rad und wurden von vier mechanischen Armen je nach Programm hierhin und dorthin bewegt, sodass sich die Fäden, die sie trugen, zu einem dichten Geflecht verbinden konnten.
„Und wie sie tanzen!“ Roko strahlte Victor an, fasste seine linke Hand und zog ihn näher heran.
Die Puppenkönigin war eine geniale Erfindung, eine Erleichterung und ein Segen für die Bandflechter und Schnurmacher – das Flechten von Kordeln, Schnüren und Riemen war schließlich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Kinderarbeit gewesen. An Folter hatte ihr Erfinder sicher nicht gedacht, als er sie erschuf. Schon eher an höhere Produktivität. Und an den Profit dabei.
„Da will man doch glatt mittanzen, oder?“ Slavek. Er schien die Sache zu genießen.
Victor hatte sich nicht lange gewehrt. Er wusste, dass er gegen die beiden keine Chance hatte. Ein paar Lidschläge lang hoffte er, dass die Maschine automatisch stoppte, wenn etwas Festeres als Garn zwischen die zuckenden Metallspindeln geriet. Doch die Königin ließ sich durch splitternde Knochen und zerfetztes Fleisch nicht beeindrucken. Und Roko wusste, wohin man eine Hand lenken musste, wenn man dem Menschen, zu dem sie gehörte, größte Schmerzen bereiten wollte.
Meine Puppenkönigin, dachte Victor und schob den nächsten Hollerithstreifen unter die Stanzmaschine. Was kannst du zubeißen!
Er hatte geschrien. Klar hatte er geschrien. Und als er nicht mehr schreien konnte, hatte er gesungen wie Caruso.
Er hatte Roko und Slavek gesagt, wo er das Geld gebunkert hatte, und sie waren los, um es zu holen, weil sie der Meinung waren, dass es ihnen zustand. Und wenn sie es aus dem Versteck holten, würden sie auch alles andere finden. Die silbernen Scheiben mit den Daten. Wetten, Auszahlungen, Kontaktleute. Das hätte sie für Jahre ins Gefängnis gebracht.
Wieso nur hatte er das Geld bei den Unterlagen versteckt?
Aber er hatte ihnen etwas anbieten müssen. Damit sie eine Weile Ruhe gaben. Damit er Zeit gewann.
Denn sie würden zurückkommen. Würden wissen wollen, ob es Kopien gab. Für wen er das alles gesammelt hatte. An wen er sie verraten wollte. Und dann würden sie dafür sorgen, dass er niemals mehr reden konnte.
Wie lange würden sie brauchen? Wie lange hatte er noch Zeit hier oben in der ersten Etage des Museums, wo er saß wie die Maus in der Falle? Die Tür abgeschlossen, die Fenster nicht zu öffnen. Sicherheitsvorschrift.
Ob ihn jemand sehen würde? Unwahrscheinlich, niemand ging um diese Uhrzeit über den kalt ausgeleuchteten Hof des Museums. Das Handy hatten sie ihm natürlich abgenommen.
Er war allein, allein mit der Puppenkönigin, an der sein Blut klebte.
Was würden sie mit ihm machen, wenn sie zurückkamen?
Was kam nach der Puppenkönigin? Die Stanze? Die Walzenkarde? Die Flachshechel? Im Maschinenpark des Museums eignete sich fast alles dazu, einem Menschen Schmerzen zu bereiten: die Dampfmaschinen und Hämmer, die Webstühle und Spinnräder ...
Victor fragte sich, wie lange sich die Sache hinziehen würde. Wie lange er durchhielt, bis er um das Messer bettelte, das Roko normalerweise benutzte, wenn er tötete. Und er würde auch ihn töten. Trotz Jelika.
Jelika. Blonde Königin in einem Puppenpalast. Vor drei Monaten war er dort ausgezogen, aus der perfekt renovierten Gründerzeitvilla, von oben am Hang hinunter ins Tal, in ein heruntergekommenes Fabrikgebäude direkt an der Wupper. Das glatte Gegenprogramm. Er hatte sich im dritten Stock einer ehemaligen Bandweberhalle eingerichtet, aus der der jetzige Eigentümer ein Büro- und Atelierzentrum für die neue Kreativwirtschaft hatte machen wollen, bis ihm aufgefallen war, dass die partout nicht nach Wuppertal ziehen wollte. Victor gefielen die gekalkten Klinkerwände und die großen Fenster. Und die Lage. Manchmal hatte er sich abends unten an die Wupper gesetzt, wenn es schon dunkel war, sodass man den ganzen Dreck nicht bemerkte, den liebenswerte Menschen in den Fluss warfen. Am schönsten aber war der Blick aus dem Küchenfenster. Man sah direkt auf die Schwebebahn und in die Gondeln hinein, wenn sie im Zehnminutentakt vorbeisurrten.
Er vermisste weder Jelika noch den Palast am Hang, den er nicht gemocht und nicht bezahlt hatte.
Bezahlt hatte Slavek.
Immer schon.
„Eine kroatische Hochzeit ist lustig!“ Vor allem, wenn der Bruder der Braut Slavek heißt und reich ist. Sehr reich. Reicher, als ein unbestechlicher kleiner Finanzbeamter wie Victor Frank je werden konnte.
Und deshalb hatte Slavek natürlich auch die Hochzeit bezahlt, „... muss schon was richtig Großes werden für meine Jelika, schönster Tag im Leben, oder?“, und das Haus der Großeltern von Friedrich Engels gemietet. Eigentlich war Slavek noch nicht alt genug, um damals in Jugoslawien, im Paradies der Arbeiterklasse, eine ordentliche Marxismus-Leninismus-Schulung genossen zu haben, aber Friedrich Engels als großer Sohn der Stadt Wuppertal – das sagte ihm offenbar was. „War Freund von Karl Marx, oder?“ Klar.
„Wir werden Mordsspaß haben, Vic. Wirst sehen.“ Victor hatte sich in der Umarmung seines Schwagers wie im Schraubstock gefühlt. Wie in den Klauen eines zutraulichen Braunbären. Slavek war nicht nur reicher als er, sondern auch größer und breiter und bärtiger und lauter. „Alles für meinen Schwager.“ Victor glaubte für einen Moment Slaveks Bärentatzen auf seinem Rücken zu spüren. „Alles für den besten Verrückten der Welt. Der sein Museum mehr liebt als meine Jelika.“ Tatz tatz. „Aber das wird jetzt anders, oder?“ Patsch patsch. „Meine Jelika wird dir keine Zeit mehr lassen für deine Maschinen, ja?“ Klar.
Jelika. Jelika wie Angelika. Angelique. Engel.
Als er sie kennenlernte, hatte es ebenfalls eine Feier im Engelshaus neben dem Museum gegeben, irgendeine Familienfeier für jemanden aus dem Slavek-Clan, ein runder Geburtstag, eine Verlobung, irgendwas war schließlich immer, und Slavek feierte gern. Victor hatte nichts davon mitbekommen, erst, als eine muntere Runde ausgezogen war und draußen zu tanzen begonnen hatte. Auch deshalb war das Engelshaus für Feiern so beliebt, es lag direkt gegenüber dem großen Platz, der herrlich leer war – bis auf den weißen Koloss, ein Kunstwerk, das damals als Engelsdenkmal gedacht war und das den meisten heute peinlich war. In dem weißen Klotz erkannte man in Ketten gelegte muskulöse Männerarme und Fäuste, die sich zum Himmel reckten. Niemand mochte diesen monumentalen Schinken. Selbst Friedrich Engels hätte ihn nicht gemocht. Der Titan aus Barmen, in dessen großväterlichem Haus heutzutage jeder feiern konnte, der das nötige Geld dazu hatte. Auch Betrüger und Verbrecher.
Damals vor zwei Jahren, als Jelika mit ein paar kichernden Freundinnen im Museum aufgetaucht war, weil ihnen die Männer zu laut und zu betrunken waren, hatte er noch nicht gewusst, womit Slavek sein vieles Geld verdiente. Und Jelika, der Unschuldsengel, wollte es nicht wissen.
Es wurde dann wirklich eine lustige Hochzeit, so alles in allem. Es gab viel Champagner und viel Wodka. Und je lustiger die Feier, desto lauter wurde die Musik. Irgendjemand öffnete die Fenster des Saals im ersten Stock des Engelshauses und legte kroatische Tanze auf. Und weil man den historischen Parkettboden des Hauses nicht mit Stöckelschuhen ruinieren durfte, liefen alle hinaus in die warme Juninacht, auf den großen Platz. Sie tanzten im Kreis um das Denkmal herum, lachten, klatschten, tanzten. Tranken und tanzten, klatschten, lachten. Tranken.
Die Hochzeitsnacht verbrachte Jelika allein. Gegen drei Uhr morgens hatte Roko Streit mit Franjo angefangen, angeblich, weil der Jelika angestarrt hatte. Die Braut, oder? Victor fühlte sich als ihr Ehemann verpflichtet, dazwischenzugehen. Was ihn nicht störte, hatte Roko auch nicht zu stören. Aber Roko konnte längst nicht mehr zwischen Freund und Feind unterscheiden und erwischte Victor am Arm. Die lange, tiefe Messerwunde musste im Krankenhaus genäht werden.
Slavek schien es nichts auszumachen, dass Victor beim Finanzamt arbeitete. Im Gegenteil: Er fragte ihn bei jeder Gelegenheit nach Steuertipps und ob er seinem Cousin nicht auch mal helfen könnte bei der Steuererklärung für seine Kneipe. Victor hatte erst nein gesagt, dann vielleicht und schließlich ja.
Slavek hatte eine Vorliebe für ihn, die Victor nicht verstand. Einmal hatte er seinem Schwager das Museum gezeigt und wie man mit der Puppenkönigin oder der Banditin bunte Schnüre in den Vereinsfarben und Bänder mit den Namen der Fußballklubs anfertigen konnte. Slavek kriegte sich gar nicht mehr ein vor Begeisterung: „Erste Klasse, Vic! Wie machst du das nur?“ Und überhaupt: „Fußball, Vic! Fußball ist ganz groß! Fußball ist das Ding!“ Prompt hatte er Victor mit zu den Regionalligaspielen geschleppt und ihm im Hinterzimmer der Jugo-Kneipe seines Cousins namens „Rijeka“ seinen ersten Tipp gegeben: „Todsicher! Machst du großen Gewinn! Ich schwör!“
In einem schmierigen Sportwettenladen hatte Victor per Internet zwei Monatsgehälter auf das Spiel irgendeines Zweitligisten in Süddeutschland gesetzt. Bei Slavek hatte das ja auch geklappt. Klar, wenn es aufgeflogen wäre, dass er illegal wettete, hätte er seinen Job beim Finanzamt vergessen können. Aber es flog nicht auf.
Jelika freute sich wie ein Kind, als er ein paar Tage später mit einem riesigen Überraschungspaket ankam, das sie auspacken durfte. Zwei Teddys und ein Plüschhund. Ein bisschen Unterwäsche von La Perla. Ein goldenes Armband, das Victor geschmacklos fand, aber sie liebte Geschmackloses, solange es nur teuer war, das hatte er längst begriffen. Was folgte, war eine lange zärtliche Nacht, an die er sich nicht erinnern durfte, sonst wurde er schwach.
Victor starrte auf seine zu einem roten Klumpen aufgeschwollene linke Hand. Der brennende Schmerz war einem pulsierenden Pochen gewichen, tief und böse. Aber er musste weitermachen. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Seine Botschaft musste alle wesentlichen Details enthalten – und zugleich so verschlüsselt sein, dass sie nur einer begreifen würde: Walter Neumann.
Neumann vom Förderverein des Museums wusste, dass die Arbeit an den historischen Maschinen für Victor viel mehr als nur ein Hobby war. Angefangen hatte alles mit den Modellen historischer Dampfmaschinen und Motoren, die Victor seinerzeit mit Leidenschaft angefertigt hatte. Später hatte er die aufwendige Restaurierung der Spinnmaschinen und Webstühle beaufsichtigt, der Kardierwalze, der Klöppel- und der Bandmaschine und all der anderen technischen Wunderdinge, bis sie wieder einwandfrei funktionierten. Seither kümmerte er sich um die Wartung, machte auch mal Führungen, niemand konnte besser als er jede Maschine und ihre Funktionen erklären.
So viel Leidenschaft hatte Jelika imponiert, zuerst jedenfalls. Doch schon kurz nach der Hochzeit sperrte sie ihn aus dem Schlafzimmer aus, wenn er wieder einmal den Abend in seiner Werkstatt „vertrödelt“ hatte, wie sie das nannte.
Seine Geschenke waren hilflose Versuche, ihre Zuneigung zurückzugewinnen – vielleicht sogar mit ein bisschen Leidenschaft als Zugabe. Eine Zeit lang hatte das funktioniert, Slaveks „Tipps“ machten Dinge möglich, an die er als kleiner Finanzbeamter nie hätte denken können. Aber auf Dauer führte nichts an der Erkenntnis vorbei, dass Jelika sich mit ihm langweilte.
Weil er das war, was sie zuerst so anziehend gefunden hatte – ein netter Kerl. Kein Brutalo wie ihr Bruder. Victor verzog spöttisch den Mund. In Wirklichkeit mochte sie die Männer erheblich zupackender, als er es war, und hätte bestimmt nichts gegen ein bisschen häusliche Gewalt eingewandt – „... nichts Ernstes, nur so ein bisschen auf den Hintern, sollst sehen, wie schön man sich danach versöhnen kann, Vic!“ Ein guter Rat von Slavek. Aber ein netter Kerl schlägt keine Frauen, auch nicht aus Leidenschaft.
Und ein Steuerbeamter namens Victor konnte es auf die Dauer nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, sich am illegalen Wettgeschäft seines Schwagers zu bereichern.
Wie das genau funktionierte, was Slavek so betrieb, hatte er eher nebenbei mitbekommen. Er war einfach nur Vic, der mit den Fanbändern und den witzigen Schnürsenkeln, wenn er mit Slavek bei einem Spiel auftauchte. Fans und Funktionäre kamen zu ihm mit Sonderwünschen, die er abends auf der Puppenkönigin oder der Banditin umsetzte und beim nächsten Spiel mitbrachte. Vic wurde Slaveks Maskottchen. Er war die perfekte Tarnung. Vor dem Spiel, nach dem Spiel. In den Kabinen oder im VIP-Bereich. Wenn Vic mit seinen bunten Bändern dabei war, achtete niemand auf Slavek, der sich mit einem Spieler oder dem Schiedsrichter mal kurz in eine stille Ecke verzog.
Auf Fragen antwortete Slavek nicht, er grinste nur. „Jeder auf seine Art, Vic, klar?“ Klar.
Natürlich kapierte er ziemlich bald, was da lief und wie Slaveks todsichere Tipps zustande kamen. Sah ja ein Blinder mit Krückstock, wenn wieder der Favorit ein Spiel haushoch verlor, weil der Schiedsrichter nach dem Zufallsprinzip pfiff. Oder ein Torwart keinen Ball mehr hielt.
Der Dreh- und Angelpunkt war das „Rijeka“, die versiffte Pinte von Slaveks Cousin in der Ebertstraße. Hier liefen die Nachrichten aus den anderen Städten ein, hier wurde klargemacht, wer wo wie viel auf welche Partie setzte. Nach den ersten guten Tipps, „todsicher, ich schwör!“, wettete Victor vorsichtiger. Man soll sein Glück nicht herausfordern, erklärte er Slavek. Aber er hatte damit begonnen, seine Beobachtungen aufzuschreiben. Zu welchen Partien Slavek ihn mitnahm, mit wem er zusammenstand, wen er ansprach. Hatte den Papiermüll vom „Rijeka“ mal ein bisschen sortiert und aus Buchungsbestätigungen eine Liste der beteiligten Wettbüros angefertigt.
Ein todsicherer Tipp. Fragte sich nur, für wen.
Die Arbeit an der Stanze fiel ihm immer schwerer. Es war so ungeheuer anstrengend, die Kartonstreifen in Position zu bringen, die Stanze einzustellen und schließlich den Hebel zu betätigen. Für jeden Buchstaben, der später auf dem Band erscheinen sollte, mussten sechs Löcher gestanzt werden. Vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte. Und wenn doch jemand vorbeikäme? Ein neugieriger Spaziergänger? Die Polizei, um nach dem Rechten zu sehen? Aber damit war nicht zu rechnen. Niemand wunderte sich, wenn im Museum abends noch Licht brannte. Man wusste ja, wer dort arbeitete. Victor Frank, der Bastler und Tüftler. Der Finanzbeamte mit den exotischen Hobbys: vorsintflutliche Maschinen und Fußball.
Das letzte Wort. Victor stanzte das, was auf der Bordüre später als großes H erscheinen würde, und verfluchte seine Schwäche.
Da war ein Geräusch. Von unten, vom ersten Flur. Sie sind zu früh, dachte Victor. Mit zitternder Hand stanzte er die Zeichen fürs R, während er lauschte. Verdammt noch eins, viel zu früh. Fast wären ihm die Tränen gekommen.
Als er mitbekam, wen Slavek neuerdings am Wickel hatte, war er so weit. Er musste etwas tun. Schon aus Selbstachtung. Denn er spürte, wie aus Jelikas Enttäuschung über ihn erst Verachtung wurde. Und dann Mitleid. Sie betrachtete ihn, wie man einen Krüppel betrachtet. Oder einen Freak. Einen, der nichts dafür konnte, dass er ein Schlappschwanz war.
Na los, sag es schon, hatte er gedacht. Das hätte vieles einfacher gemacht. Spuck’s aus! Sag, dass es vorbei ist!
Aber das tat man nicht in Jelikas Familie. Und außerdem – was würde ihr Bruder sagen? Der war schließlich Victors bester Freund!
Und dieser beste Freund war auf Luca Suker aus. Luca war ein Ausnahmespieler, der Libero des VfL und der Liebling seiner Fans. Victor konnte sich denken, wie Slavek den Jungen in die Falle gelockt hatte. Mit einer kleinen Spritztour in Slaveks Cabrio an den Chiemsee. Und dann ab ins Luxushotel mit ein paar willigen Bräuten. Oder mit dem neuesten Flachbildschirm, dem größten, den es gab, mitsamt Kabelanschluss und sky-Abo. Und dann ...
Victor hatte gesehen, wie Luca mit sich kämpfte, als er Slavek den ersten Gefallen tun sollte.
„Wir sind doch Freunde, mein Junge, oder?“ Klar. Was sind schon ein paar verschossene Torchancen, damit Slavek und seine Kumpane im „Rijeka“ kassieren konnten? Kann jedem mal passieren.
Als Victor dem Jungen ein paar Fanbänder mit seinem Namen schenkte, hatte er gemerkt, wie Luca litt. Doch schon war Slavek da, schob ihn zur Seite, legte Luca die Pranke um die Schultern und zog ihn weg. „Luca, mein Junge, also Folgendes ...“
Der nächste Samstag war der vorletzte Tag gewesen, den er in Jelikas Puppenpalast verbrachte. Sie hatten mit Slavek und seinen Leuten vorm Fernseher gesessen. Das Rumgestümpere Luca Sukers machte ihn fassungslos, und die ausgelassene Freude der anderen nach dem verlorenen Spiel war zum Kotzen. Am Abend hatte er seine Sachen gepackt und war weg. Zuerst in ein Hotel, dann in das Versteck an der Schwebebahn. Es dauerte eine Woche, bis Slavek ihn aufgestöbert hatte. „Vic! Was machst du nur? Jelika weint sich die Augen rot!“ Da wusste er, dass er Slavek nie loswerden würde. Ihn und die Clique, die Cousins und die Brüder, die Onkel und die Neffen aus dem „Rijeka“. Ihn und Jelika und die ganze vergoldete Scheiße. Nie.
Ein paar Tage später lief ihm Luca über den Weg, ausgerechnet vor dem Finanzamt, ausgerechnet, als Victor Feierabend hatte, um fünf, wie jeder gute Beamte. Das war natürlich kein Zufall, aber Victor spielte das Spiel mit. „Ein Bier? Brauchst du ein paar neue Bänder für deine Fans?“ Luca hatte ihn mit traurigen Augen angesehen und „Welche Fans?“ gemurmelt.
Der Junge wollte reden. Wollte aussteigen. Beim zweiten Bier war Victor klar, dass er selber auch nichts anderes wollte. Aussteigen. So schnell wie möglich.
„Ich will mir was Eigenes aufbauen. Autowerkstatt oder so. Kicken nur noch nach Feierabend.“
Ein bescheidener Wunsch, dachte Victor. Aber unerfüllbar.
„Vielleicht krieg ich Kredit.“
Vielleicht. „Aber vorher kriegst du Ärger“, sagte Victor. „Mit Slavek. Der lässt keinen so einfach gehen.“
„Was für ’ne Scheiße“, sagte Luca und sackte wieder zusammen.
„Nur die Ruhe. Ich habe da eine Idee ...“
Gut, es war nicht ganz uneigennützig, was Victor vorhatte. Aber es schlug mehrere Fliegen mit einer Klappe. „Wir machen unsere eigene Wette“, sagte er. „Für die Partie am Samstag. Und du gibst alles, okay?“
Slavek hatte Luca dazu überredet, „ein bisschen schwach“ zu spielen und die Gegenseite mit zwei Toren Vorsprung gewinnen zu lassen. Und das hatte den Jungen völlig fertiggemacht. Victor sagte: „Ich kenne ein paar Buchmacher und setze alles auf Sieg, auf ein Tor Vorsprung für dich und deinen Verein. Die Quote steht im Moment bei zehn zu eins. Mit wie viel kannst du dabei sein?“
Luca konnte 50.000 lockermachen, Victor legte 30.000 dazu, aus seiner eisernen Reserve. Und dann ließ er sich von Luca die ganze Story noch mal haarklein erzählen, die ganzen Deals mit Slavek, und nahm alles auf. Vier Minidiscs. Zusammen mit dem anderen Material war das ein Gottesgeschenk für die Spezialisten für Organisierte Kriminalität beim Polizeipräsidium an der Friedrich-Engels-Allee.
Der Gewinn nach dem Spiel war der Weg in die Freiheit. Für Luca und für Victor. Hatte er gedacht. Aber man sollte einen wie Slavek nicht unterschätzen.
Morgen, dachte Victor. Morgen ist alles vorbei. Morgen haben sie Slavek am Nasenring. Morgen? Victor hielt inne. Der Schweiß rann ihm durch den Hemdkragen den Rücken hinunter. Das war ein Denkfehler. Nicht morgen. Morgen würde sein Blut nicht nur an der Wand und in der Flechtmaschine kleben. Es würde überall sein. Und irgendwo würde man seine hässlich zugerichtete Leiche finden.
Tanja würde die Erste sein. Sie würde schreiend davonlaufen, zur Kasse, wo Kurt saß, den nichts erschüttern konnte, also bestimmt auch keine Leiche. Sie würden die Polizei rufen, das Museum würde zu einem mit Flatterband gesicherten Tatort werden, es würde Tage dauern, bis der normale Betrieb wieder aufgenommen werden konnte, und bis dahin ...
Victor versuchte, seinen rechten Arm mit dem linken zu stabilisieren, und stieß aus Versehen mit den zerfetzten Fingern an seinen Ellenbogen. Der Schmerz raste durch seinen Körper, der sich aufbäumte und das Frühstück von sich geben wollte. Aber sein Magen war längst leer. Nach Lucas letztem Spiel – der Junge hatte das Spiel seines Lebens gemacht – hatten Roko und Slavek den Libero sonderbehandelt. „Fußballtalent stirbt bei mysteriösem Unfall auf der A 40“, stand am nächsten Tag in der Zeitung. Luca Suker war in seinem Wagen verbrannt. Doch zuvor hatte der Junge geredet, hundertprozentig.
Wenn Roko sich an die Arbeit machte, redeten alle.