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Das populärste Buch des großen amerikanischen Erzählers: Ein Haus auf dem Land, acht Freunde, vier Romanzen und sechs Monate in Isolation
Es ist März 2020, und eine uns wohlvertraute Katastrophe zieht am Horizont auf. In einem idyllischen Landhaus außerhalb von New York versammelt der russischstämmige Schriftsteller Sasha Senderovsky eine illustre Gruppe alter Freunde und loser Bekanntschaften, um die Pandemie bei gutem Essen und anregenden Gesprächen auszusitzen. Über die nächsten Monate wachsen neue Freund- und Liebschaften, während sich längst vergessen geglaubte Kränkungen mit frischer Kraft manifestieren. Doch mit der Ankunft eines mythenumwobenen Hollywoodstars gerät das mühsam konstruierte Gleichgewicht dieser Wahlfamilie gefährlich ins Wanken ...
Eine ungemein zeitgenössische Geschichte, erzählt mit der Haltung eines großen Romanciers: Shteyngart dokumentiert die singuläre Gefühls- und Erlebniswelt des Jahres 2020 und verpackt sie in einen süffig-intelligenten Roman, der Erinnerungen an Boccaccios »Dekameron« und die großen Klassiker der russischen Literatur durchscheinen lässt – versetzt ins Amerika der Gegenwart.
»Gary Shteyngarts Romane sind amerikanisches Kulturgut. Er hat schon immer mit Humor und Herz geschrieben, aber nie so sehr wie hier. Wenn Sie dieses Buch in der Öffentlichkeit lesen, seien Sie bloß vorsichtig: Es kann sein, dass sie laut loslachen müssen – oder dass Ihnen die Tränen kommen.« Jonathan Safran Foer
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Seitenzahl: 537
Veröffentlichungsjahr: 2022
Ein Haus auf dem Land, acht Freunde, vier Romanzen – und sechs Monate in Isolation: Der gefeierte Autor Gary Shteyngart meldet sich zurück mit einem großen Amerika-Roman über unsere Zeit.
Es ist März 2020, und eine uns wohlvertraute Katastrophe zieht am Horizont auf. In einem idyllischen Landhaus außerhalb von New York versammelt der russischstämmige Schriftsteller Sasha Senderovsky eine illustre Gruppe alter Freunde und loser Bekanntschaften, um die Pandemie bei gutem Essen und anregenden Gesprächen auszusitzen. Über die nächsten Monate wachsen neue Freund- und Liebschaften, während sich längst vergessen geglaubte Kränkungen mit frischer Kraft manifestieren. Doch mit der Ankunft eines mythenumwobenen Hollywoodstars gerät das mühsam konstruierte Gleichgewicht dieser Wahlfamilie gefährlich ins Wanken …
Eine ungemein zeitgenössische Geschichte, erzählt mit der Haltung eines großen Romanciers: Gary Shteyngart dokumentiert die singuläre Gefühls- und Erlebniswelt unserer jüngsten Vergangenheit und verpackt sie in einen süffig-intelligenten Roman, der an Boccaccios Dekameron und die großen Klassiker der russischen Literatur denken lässt – versetzt ins Amerika der Gegenwart.
Gary Shteyngart wurde 1972 als Sohn jüdischer Eltern in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren und kam im Alter von sieben Jahren in die USA. Er legte 2002 mit Handbuch für den russischen Debütanten seinen Erstling vor, der umgehend zu einem preisgekrönten New-York-Times-Bestseller wurde. Es folgten die vielfach ausgezeichneten Erfolgsromane Absurdistan und Super Sad True Love Story sowie sein autobiografisches Buch Kleiner Versager. Shteyngarts Werke werden in dreißig Ländern veröffentlicht und stehen regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Nach Willkommen in Lake Success ist dies der neue Roman des New Yorker Kultautors bei Penguin.
»Shteyngarts Romane sind amerikanisches Kulturgut. Er hat schon immer mit Humor und Herz geschrieben, aber nie so sehr wie hier.« Jonathan Safran Foer
»Gary Shteyngarts bewegendster Roman – und eine mächtige Fabel für unsere gebrochene Zeit.« Salman Rushdie
»Eine tragikomische Tour de Force und eines der seltenen Bücher, die einen auf der letzten Seite dankbar zurücklassen für die Welt, in der man eine Zeitlang zu Gast sein durfte – aber auch ein wenig traurig, weil man sie wieder verlassen muss.« Angie Kim
»Um es ganz klar zu sagen: Dies ist ein Meisterwerk.« Andrew Sean Greer
www.penguin-verlag.de
GARYSHTEYNGART
LANDPARTIE
ROMAN
Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Our Country Friends bei Penguin Random House, New York.
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Copyright © der Originalausgabe by Gary Shteyngart 2021
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
This translation is published by arrangement with Random House, an imprint and division of Penguin Random House LLC.
Redaktion: Renate Haen
Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka
Umschlagabbildung: © Shutterstock (Dasha D, Chinch)
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN978-3-641-28988-1V001
www.penguin-verlag.de
Für E. W.
PERSONEN
Alexander (Sasha) SenderovskySchriftsteller und Grundbesitzer
Masha Levin-Senderovskyseine Frau, Psychiaterin
Natasha (Nat) Levin-Senderovskyderen Tochter
Karen ChoErfinderin einer beliebten Dating-App und eine Freundin Senderovskys aus Highschool-Zeiten
Vinod Mehtaehemaliger außerordentlicher Professor, aktuell Koch in einem Schnellrestaurant, außerdem Highschool-Freund von Senderovsky und Karen Cho
Ed Kimein Gentleman
Dee CameronAutorin und ehemalige Studentin von Senderovsky
Der Schauspielervon der »Neuen Zürcher Zeitung« als der Welt größter Mime bezeichnet
Diverse amerikanische Dorfbewohner
ERSTERAUFZUG
DIEKOLONIE
1
Das Haus auf dem Hügel war in heller Aufregung.
Lastautos von Handwerkern strömten die lange, gekieste Auffahrt hinauf. Man hatte zwei Installationsfirmen beauftragt, von jeder Seite des Flusses eine, die fünf Bungalows hinter dem Haupthaus aus dem Winterschlaf zu holen, und sie mochten einander nicht. Ein paar zerbrochene Fensterscheiben in einem der Bungalows mussten schleunigst ersetzt werden, und eine Familie von Feldmäusen hatte das Kabel durchgenagt, das einen anderen mit Strom versorgte. Der nicht auf dem Grundstück lebende Hausmeister war von der Lage der Dinge derart überfordert, dass er sich auf die ausgedehnte überdachte Veranda zurückzog und mit langsamen, bedächtigen Kaubewegungen ein Käsesandwich aß. Masha, die Hausherrin, hatte die Rollläden ihres im Erdgeschoss gelegenen Arbeitszimmers heruntergelassen, um der Kakofonie der modernen Geräte und ländlichen Flüche zu entgehen. Zuweilen spähte sie hinaus, um festzustellen, was man nach dem Abzug der Arbeiter alles abwischen musste. Natasha (die sich gern Nat nennen ließ), ihre achtjährige Tochter, war oben, in der Dunkelheit ihres Zimmers von einem Bildschirm beleuchtet, in ihrer eigenen, einsamen öffentlichen Welt.
Das einzige glückliche Mitglied der Hausgemeinschaft war Alexander Borisovich Senderovsky, von seinen Freunden Sasha genannt. »Glücklich« mit einem Sternchen, sollte man wohl sagen. Er war aufgewühlt und auch begeistert. Ein Sturm hatte die schweren Äste zweier toter Bäume, die die Auffahrt flankierten, abgerissen und den riesigen vorderen Rasen mit ihrer toten Weißfäule übersät. Senderovsky verbreitete sich gern ausführlich über den »entropischen« Charakter seines Besitzes, die Art und Weise, wie jederlei Gewächse nach Lust und Laune wuchern durften, wie der Sumach stattlichere Pflanzen verdrängte, Efeu die äußere Umfriedung vergiftete, Murmeltiere Zerstörung über den Garten brachten. Aber die verstreut herumliegenden toten Äste verliehen dem Haus auf dem Hügel etwas Apokalyptisches: ebender Zustand, dem seine Gäste mit ihrem Besuch bei ihm zu entfliehen suchten. Der Hausmeister machte Rückenbeschwerden geltend und vermochte das Wegräumen sämtlicher Äste allein nicht zu meistern, und der sogenannte Baumpfleger war verschüttgegangen. In seiner Sporthose und seinem grellbunt gemusterten Hausmantel hatte Senderovsky versucht, einen dieser prähistorisch anmutenden Äste selbst zu verrücken, aber schon das allererste Hochwuchten ließ ihn einen Leistenbruch befürchten.
»Ach, was soll’s«, sagte er und stieg in seinen Wagen. Ein Wort zu dem Wagen. Oder nicht so sehr zu dem Wagen als vielmehr zu der Art, wie er gefahren wurde. Senderovsky hatte erst drei Jahre zuvor fahren gelernt, im bedeutsamen Alter von fünfundvierzig Jahren und nur innerhalb der Grenzen einer ländlichen Umgebung. Der Highway auf der anderen Seite des Flusses verunsicherte ihn. Er war ein ausgesprochen schrecklicher Fahrer. Die halb leeren regionalen Straßen ermutigten ihn, den Motor seines robusten, aber wenig wendigen schwedischen Autos »hochzujagen«, und er betrachtete die gelben Streifen, die die Straßen zweiteilten, als Vorschläge, gerichtet an »weniger routinierte Fahrer«, wer immer das sein mochte. Weil er an Straßenmarkierungen und bestimmte Aspekte der Relativität nicht glaubte, hatte sich ihm die Vorstellung der unübersichtlichen Kurve nie erschlossen. (Seine Frau erlaubte ihm nicht mehr, mit dem gemeinsamen Kind an Bord zu fahren.) Schlimmer noch, er hatte irgendwo den Ausdruck »rumdüsen« aufgeschnappt.
Und jetzt raste Senderovsky los, um seine Besorgungen zu machen, und achtete dabei auf nichts anderes als die Radarfallen, die mit langweiliger Vorhersehbarkeit an den zerfaserten Rändern von Kleinstädten oder in Schulgebieten aufgestellt waren, wo man die Geldbußen verdoppeln konnte. Als Erstes besuchte er seine Metzger, zwei ehemalige Katalog-Models aus der City, inzwischen Mann und Frau, die ihrem Gewerbe in einer Scheune nachgingen, die so rot war, dass es schon ans Patriotische grenzte. Die beiden prächtigen Fünfundzwanzigjährigen – blitzende Zähne und Overalls – überreichten ihm mild gewürzte und scharfe italienische Würstchen in Papier eingewickelt, glänzende Hamburger-Bratlinge und seine Geheimwaffe: Lammsteaks am Knochen, so frisch, dass nur ein von Senderovsky bewundertes Restaurant im Schlachthofviertel von Rom damit konkurrieren konnte. Der bloße Anblick von Fleisch für die morgige Grillparty weckte eine Freude in ihm, die man bei einem jüngeren Mann Liebe hätte nennen können. Nicht wegen des Fleisches selbst, sondern wegen der Gespräche, die drum herum dahinfließen würden, während es mariniert, gegrillt und serviert wurde, trotz zunehmender Beschränkungen solcher Nähe. Morgen Mittag würden seine besten Freunde endlich zusammenkommen, nachdem es in vorangegangenen Sommern nie so richtig geklappt hatte: zusammengeführt zwar von den Anfängen einer sich verschärfenden Tragödie, aber gleichwohl zusammengeführt an seinem Lieblingsort auf Erden, dem Haus auf dem Hügel.
Allerdings würde auch noch jemand anders kommen. Jemand, der kein guter Freund war. Jemand, der dafür sorgte, dass Senderovsky, der bereits Trinker war, noch mehr trank.
Eingedenk dessen raste er zum Wein- und Spirituosengeschäft im reichsten Dorf des Bezirks, ein Laden, der die Räumlichkeiten einer ehemaligen Kirche nutzte. Er kaufte im südlichen Querschiff zwei Kisten österreichischen Riesling, im nördlichen eine Kiste Rosé nebst einer Kiste Beaujolais, der überhaupt nicht zur Jahreszeit passte, für ihn und seine Highschool-Freunde Vinod und Karen jedoch mit nostalgischen Gefühlen verbunden war. Ed würde wie immer am schwersten zufriedenzustellen sein. Tief in der Sakristei wählte Senderovsky eine achtzehn Jahre alte Flasche aus, die seine Mittel eigentlich überstieg, dazu jeweils zwei Flaschen Cognac und Rye und, um seine draufgängerische Seite hervorzukehren, Schnaps und einen seltsamen Single Malt aus Tirol. Der Eigentümer, ein zotteliger Anglo mit Kupferakne-Nase, die unter seiner locker getragenen Maske hervorlugte, wirkte hocherfreut, als er, die Finger in schwarzen Einmalhandschuhen, die zahlreichen Käufe in die Kasse eintippte.
»Hab gerade einen Anruf von der Behörde gekriegt«, sagte er zu Senderovsky. »Kann sein, dass sie mich jetzt jederzeit dichtmachen, weil ich nicht systemrelevant bin.« Senderovsky seufzte und kaufte eine zusätzliche Kiste Riesling und zwei Flaschen eines handwerklich bereiteten Gins, von dem er noch nie gehört hatte. Er konnte sich vorstellen, wie Ed davon kostete, die Lippen schürzte und ihn für »trinkbar« erklärte. Als die endgültige Rechnung, ein knapp vierstelliger Betrag, mit vielen langen Rucken aus dem Gerät mäanderte, bewältigte Senderovskys Hand mit Müh und Not den Slalom seiner Unterschrift. Ein besonderer Anlass, tröstete er sich.
Den Kofferraum mit Flaschen und Fleisch gefüllt, jagte er in ein anderes, fünfundzwanzig Kilometer weiter nördlich gelegenes Dorf, um weitere Einkäufe zu tätigen. Danach sollte er das Fleisch zu Hause abliefern und Ed vom Bahnhof abholen. Bei der Ausfahrt zur Brücke über den Fluss geriet er in eine Autoschlange. Nichts irritierte Senderovsky so sehr wie die hiesige Version eines Staus. Er brachte dem ländlichen Leben die Ungeduld des Großstädters entgegen. Hier in der Gegend galt es als unhöflich zu hupen, aber Senderovsky hupte. Er kurbelte sein Fenster herunter, streckte sein längliches, knochiges Gesicht hinaus und drückte weiter mit dem Handballen auf die Hupe, wie er es Männer in Filmen hatte tun sehen. Der Wagen vor ihm rührte sich nicht. Er lag tief auf der Straße, eine rostige Schubkarre in den Kofferraum geklemmt, im Fahrerfenster eine flatternde Landesflagge und auf der Stoßstange ein teilweise abgeknibbelter Aufkleber mit der Aufschrift Ich halte zu meinem PRÄS... Senderovsky wurde klar, dass er bei diesem Tempo auf keinen Fall einkaufen und das Fleisch abliefern konnte, ehe Eds Zug ankam. Er ignorierte die sehr eindeutigen Straßenmarkierungen, die vor einem ebensolchen Manöver warnten, wendete durch mehrmaliges Vor- und Zurückstoßen und raste schon nach wenigen Minuten seine lange Auffahrt hinauf, wo er abermals die herabgestürzten Äste verfluchte, die den Blick auf das Haus auf dem Hügel verdarben. Während er in der riesigen weißen Küche geräuschvoll das Fleisch in den gewerblichen Gefrierschrank pfefferte (das Haus hatte einmal einem Spitzenkoch gehört), rief er den Jungen von jenseits des Flusses an, der immer zum Rasenmähen kam, und bat ihn, die Äste wegzuräumen. Aber der Junge hatte anderes zu tun. »Was denn anderes?«, wollte Senderovsky wissen und reizte ihn mit doppelter Vergütung. Draußen auf der überdachten Veranda stellte er den Hausmeister zur Rede, der aus einem schönen roten Radio alte Musik hörte, aber alles, was er zur Antwort bekam, war: »Meine bessere Hälfte hat gesagt, ich darf wegen meinem Rücken nichts Schweres heben.«
Nun trat Senderovskys bessere Hälfte in ihrem Kaftan auf die Veranda, die Arme in die Hüften gestemmt, die Finger in den weichen Leib gedrückt. »Bei dem ganzen Lärm kann ich nicht arbeiten«, sagte Masha zu ihrem Mann, eingedenk des Hausmeisters auf Russisch. »Für mich ist heute ein Arbeitstag. Meine Patienten können mich kaum verstehen und regen sich unter den gegebenen Umständen sehr auf.«
»Was denn für Lärm?«
»Bei den Bungalows wird gebohrt, und du wirfst Fleisch in den Gefrierschrank und schreist den Jungen an, der den Rasen mäht.«
»Liebling«, antwortete Senderovsky, der sich einer aufgeblähten Verkleinerungsform des Begriffs – dorogushka – bediente. Er kannte seine Frau seit ihrer beider Kindheit. Russisch baute als Sprache auf dem Verströmen von Wärme und Schmerz auf, aber in letzter Zeit empfand Senderovsky seine Liebeserklärungen an seine Frau als gestelzt, als läse er sie aus einem Theaterstück vor. »Die Arbeiter machen um drei Feierabend, wie immer«, sagte er. »Und ich muss nur noch Ed abholen und einkaufen.«
Der Hausmeister starrte die beiden an wie Aliens, die sie ja auch waren. Als er drei Jahre zuvor die Stelle bei den beiden angetreten hatte, waren sie von annähernd gleicher Größe gewesen, zwei eher kleine Gestalten, höchstwahrscheinlich Collegeprofessoren (ein winziges, aber sehr umtriebiges College lag in unmittelbarer Reichweite von Senderovskys Auto), in ihren Ansinnen nervig und in ihren Ausgaben frugal, allerdings ein City-Idiom sprechend, das nur leicht akzentgefärbt war. Inzwischen war die Frau etwas in die Breite gegangen, sah um die Hüften und an den Armen eher wie eine Einheimische aus, während der Mann die gegenläufige Entwicklung genommen hatte, geschrumpft und abgemagert war und sein Haar größtenteils eingebüßt hatte. Einzig seine spitze Nase und der Ziegelstein von einer Stirn stachen als Merkmale hervor, beides so markant, dass der Hausmeister vermutete, er sei krank. Ebenfalls im Gegensatz zu früher wirkte der Mann ungeachtet der alles durchsetzenden Zischlaute der Sprache, die sie sprachen, mittlerweile zufriedener, während sie sein früheres forsches Auftreten angenommen hatte. Was auch immer dieses Wochenende bringen würde, dachte der Hausmeister, es würde nichts Gutes sein. Außerdem hatte er gehört, der Hausgerätetechniker der Senderovskys von jenseits des Flusses habe schon monatelang kein Geld gesehen, obwohl der Kühlschrank im Haupthaus ständig auf interessante neue Arten kaputtging.
Das Gespräch setzte sich mit steigender Tonlage fort, bis sich die Frau an den Hausmeister wandte und sagte: »Würden Sie bitte die Hecke am Pool schneiden? Alle anderen sind beschäftigt.«
»Diese Art von Arbeit liegt mir eigentlich nicht«, sagte der Hausmeister. Trotz des kalten Märzwetters trug er eine kurze Jeanshose von antiquiertem Himmelblau, und eines seiner Beine zierte eine für beide Senderovskys unverständliche Ikonografie – Adler, Schlangen und kryptische Symbole – , von der sie hofften, dass sie nicht auf die Zugehörigkeit zu einer gewalttätigen Vereinigung hindeutete. Nachdem sie in ihrem ersten Jahr nach dem Kauf des Hauses auf dem Hügel ihren nichtkonfessionellen Neujahrsbaum aufgestellt hatten, sagte der Hausmeister zu Senderovsky: »Ich hätte Sie gar nicht für so Leute mit Weihnachtsbaum gehalten.« Dabei hatte er gelächelt, aber sie hatten in jener Nacht beide wach gelegen und sich gefragt, was er wohl meinte.
»Die Heckenschere ist in der Garage«, sagte die Frau zum Hausmeister. »Wir wären Ihnen wirklich dankbar.« Das war eine weitere Veränderung, die dem Hausmeister in den letzten Jahren aufgefallen war: Während der Mann herumeierte, äußerte sich die Frau mit Bestimmtheit, ein gegen die Finger geschnelltes Gummiband.
Senderovsky küsste seine Frau ungelenk auf die Stirn und rannte zu seinem Wagen. Er sauste mit sechzig Stundenkilometern die Auffahrt hinunter, sodass das Auseinanderstieben des Kieses ein Muster kahler Stellen zurückließ, und bog auf die Straße ab, ohne nach links und rechts zu schauen. Als er bei der benachbarten Schaffarm noch weiter beschleunigte, hörte er es hinten klappern, und ihm wurde bewusst, dass er vergessen hatte, die Kartons mit Alkohol auszuladen. Er fragte sich, was passieren würde, wenn er eine Flasche Whiskey nach vorn in den Wagen holte. Bei früheren Besuchen pflegten er und Ed auf der Heimfahrt zu bechern, konnten es kaum erwarten, ihre Freundschaft zu bekräftigen. Heute, von der bevorstehenden Ankunft seiner Freunde glücklich gestimmt und von der seiner Nemesis geängstigt, hatte Senderovsky Lust, seinen Mund mit Alkohol zu fluten, sich nach Art seiner Vorfahren zu betäuben.
Der Parkplatz vor dem Bahnhof war voller europäischer Autos, die auf Reisende warteten. Senderovsky winkte einem Professor für Kalabrische Literatur am örtlichen College zu, ebenso dem Besitzer eines erstaunlich florierenden Cafés plus Buchladen, eine feste Größe des schicken Viertels der kleinen Stadt auf der anderen Seite des Flusses. Der Anblick dieser freundlichen Gesichter heiterte Senderovsky auf. Er war hier in der Gegend eine angesehene Persönlichkeit. »Sie haben eine großartige Familie und ein großartiges Zuhause«, hatte seine Agentin aus Los Angeles ihm bei einem Besuch vor mehreren Jahren gesagt, nachdem sich ein weiteres Fernsehprojekt zerschlagen hatte.
Der Zug hatte zwanzig Minuten Verspätung, aber schließlich schob sich seine altertümliche graue Form vor die gleichermaßen graue Linie des Flusses. Vom Alter kurzatmig, stiegen Stadtbewohner die Stufen vom Bahnsteig zum Bahnhof hinauf. Senderovsky erspähte seinen ersten Gast, der vergleichsweise jung und gelenkig war. Ed Kim schleppte einen Gladstone-Koffer aus Leder, hatte eine Pilotenbrille auf und trug sein Haar dunkel. Seit sie sich mit Mitte zwanzig kennengelernt hatten, erinnerte ihn Ed an den Protagonisten eines Films über den letzten Kaiser von China, den er einmal gesehen hatte, speziell an dessen zügellose Phase als Tuxedoträger und Marionettenherrscher der Mandschurei.
Senderovsky sprang aus dem Wagen. Er trug immer noch seinen Hausmantel, ein Geschenk, das Ed ihm in einem Geschäft in Hongkong mit Namen The Armoury gekauft hatte. Die beiden Männer betrachteten einander am Bordstein, beäugten einander wie Hund und Katze. Normalerweise würde Senderovsky seinen Freund in seine mageren Arme schließen, während Ed ihm mit einer Hand auf den Rücken klopfte, als wollte er ihn dazu bringen, Bäuerchen zu machen. »Ach je, was machen wir denn jetzt?«, rief Senderovsky.
»Dieses Spielchen mit dem Ellbogengruß mache ich nicht mehr mit«, sagte Ed. »Lass dich mal anschauen.« Er senkte die Sonnenbrille, wie es manche Onkel tun, wenn sie ihre jungen Nichten begrüßen. Die Fältchen um seine Augen sahen aus, als wären sie schon seit seiner Geburt da, während sein Gesichtsausdruck zugleich Distanz und Amüsiertheit zeigte. Senderovskys Freundin Karen, die über einen nebulösen Vorfahren in Seoul irgendwie mit Ed verwandt war, hatte diesen Gesichtsausdruck auch manchmal, aber sie brachte ihn erst seit ihrem jüngsten Erfolg zustande.
Ed schaffte es, sich mit einer Hand eine Zigarette anzuzünden, während er gleichzeitig den Kofferraum öffnete und sein klassisches Gepäckstück verstaute. »Masha hat mich gebeten, es allen zu sagen«, sagte Senderovsky, »Rauchverbot im Auto. Und übrigens auch auf dem Grundstück. Sie sagt, dass es den Krankheitsverlauf verschlimmern kann, wenn man sich ansteckt. Aber«, fügte er hinzu, »ich habe dir in deinem Bungalow einen Aschenbecher unters Waschbecken gestellt.«
»Lass mich eben drei Züge nehmen«, sagte Ed. Sasha sah zu, wie er dreimal karikaturenhaft inhalierte und den Rauch in die schiefergraue Luft ausstieß. Als jüngerer Mann hatte Sasha davon geträumt, Ed zu werden. Er fantasierte immer noch davon, ein Jahr lang mit ihm um die Welt zu reisen, sobald seine Tochter die sehr teure Schule für übersensible und schwierige Kinder in der City abgeschlossen hatte.
»Außerdem«, fuhr Senderovsky fort, »hat sie mir gesagt, dass niemand vorn sitzen soll. Wegen der Abstandsregeln.«
»Ach, scheiß der Hund drauf«, sagte Ed und öffnete die Beifahrertür. »Die Leute übertreiben es wirklich mit diesem Kram. Ich ducke mich, wenn wir zum Haus kommen.« Das Auto füllte sich mit dem Duft von frischem Tabak, was bei Senderovsky Sehnsucht nach einer Zigarette weckte. Ed legte eine Hand aufs Handschuhfach, wappnete sich gegen das Lospreschen des Grundbesitzers. »Was ist da passiert?« Er deutete auf den herabbaumelnden Seitenspiegel.
»Die Garageneinfahrten sind zu schmal«, sagte Senderovsky. Nur Sekunden waren verstrichen, doch der Bahnhof lag bereits weit hinter ihnen, und sie rasten, schlingerten am Skelett dessen vorbei, was in drei Monaten ein Bauernmarkt sein würde. »Ich hätte sie verbreitern lassen sollen.«
»Wie lautet noch mal die russische Redensart über unfähige Leute, die anderen die Schuld geben?«
Senderovsky lachte. »›Ein schlechter Tänzer stolpert sogar über seine Eier.‹«
»Mmmm.«
»Macht es dir was aus, wenn wir noch ein paar Lebensmittel kaufen? Ich habe nur das Fleisch und Alkohol.«
»Ich hab’s nicht eilig«, sagte Ed, und Senderovsky fiel sofort ein passender Grabspruch für seinen Freund ein: Hier ruht Edward Sungjoon Kim, er hatte es nicht eilig. Mit zunehmendem Tempo fuhr er weiter in Richtung Norden, auf einer stark befahrenen Landesstraße mit Aussicht auf die violetten Berge jenseits des Flusses, von denen jeder einen präpotenten amerikanischen Namen trug. Peekamoose mochte seine Tochter am liebsten. Unterdessen erspähte Ed, während Senderovsky über das Wetter, die politischen Nachrichten, Spekulationen über das Virus, die jeweiligen Vorteile von mild gewürzter und scharfer italienischer Wurst schwatzte, am Horizont ein ausgedehntes Frontensystem von Langeweile, von endlosem Obere-Mittelschicht-Geplauder, schlecht gemixten Negronis, heimlich gerauchten Zigaretten. Was sollte er machen? Sein Freund hatte ihn gebeten zu kommen, und die inzwischen zum Verstummen gebrachte City wäre noch deprimierender.
»Wer kommt denn noch?«, fragte Ed. »Außer dem Erhabenen.« Er sprach von dem berühmten Schauspieler, der für ein paar Tage kommen wollte, um mit Senderovsky an einem Drehbuch zu arbeiten, das die Ursache von dessen Bauchschmerzen war. »Karen, hast du gesagt.«
»Vinod auch.«
»Den habe ich schon ewig nicht mehr gesehen. Ist er immer noch in Karen verliebt?«
»Er hat vor ein paar Jahren einen Lungenflügel wegen Krebs verloren. Dann hat er seinen Job am City College verloren.«
»Ganz schön viel Verlust.«
»Masha wollte, dass er kommt, weil sein Immunsystem vielleicht geschwächt ist.«
»Wäre ich doch auch so eine tragische Figur, dann würde deine Frau mich mögen.«
»Musst dich eben anstrengen.«
»Und wer noch?«
»Eine ehemalige Studentin von mir. Letztes Jahr ist eine Essaysammlung von ihr erschienen: Wie man sich selbst Steine in den Weg legt und kapituliert. Hat ziemlich eingeschlagen.«
»Na, die wird wenigstens jung sein. Vielleicht lerne ich ja noch ein, zwei Dinge. Wie geht es übrigens deiner Tochter?«
»Blüht und gedeiht«, sagte Senderovsky.
Sie rauschten in eine kleine Stadt, die es eigentlich gar nicht gab. Das Warenangebot in Rudolph’s Market, dem einzigen Geschäft am Platze, umfasste Dinge, die weder Ed (geboren 1975 in Seoul) noch sein Gastgeber (1972 in Leningrad) in ihren nichtamerikanischen Jugendjahren genossen hatten: Süßigkeiten, die nach Veilchen schmeckten, Brot, das dermaßen vollwertig war, dass man es als Isoliermaterial verwenden könnte. Neben diesen ungeheuer hochpreisigen nostalgischen Artikeln gab es internationale Lebensmittel, die noch teurer waren und die Ed sorglos in einen Korb stapelte. Es gab frische ganze Sardinen, die man vor dem Fleisch grillen konnte. Luftschiffförmige griechische Oliven von Inseln des klassischen Altertums, Käsesorten, die so vollgestopft waren mit aromatischen Kräutern, dass sie (aufseiten Senderovskys) Erinnerungen an niemals Geschehenes heraufbeschworen, Zutaten für ein schlichtes vitello tonnato, die sich – ohne das Kalbfleisch – irgendwie auf über achtzig Dollar summierten. »Ich glaube, wir haben genug«, sagte Senderovsky beunruhigt. »Ich möchte nicht, dass etwas verdirbt.«
Sie standen in einer langen Schlange von Zweithausbesitzern. Als der schockierende fällige Betrag auf einem Touchscreen erschien, wandten sie beide den Blick ab, bis die ältere Frau hinter der Kasse vielsagend in ihre behandschuhte Faust hüstelte. Senderovsky seufzte und griff nach seiner Karte.
Bald ließen sie auf der langen Auffahrt Kies aufstieben. Es war erst zwei Uhr, aber die Arbeiter waren bereits fort, zusammen mit ihren schweren, mit alten, ortsüblichen Namen beschrifteten Lastwagen. »Bitte entschuldige die vielen toten Äste«, sagte Senderovsky. »Ich habe mich noch bemüht, sie wegräumen zu lassen.«
»Was für Äste?« Ed betrachtete geistesabwesend sein neues Zuhause, die Bungalows, die sich hinter dem Haupthaus erhoben wie ein Halbrund es umkreisender Monde. Der Himmel hatte die Farbe einer alten, bis an die Ränder der fernen Hügel heruntergezogenen Projektionsleinwand, die hier und da von der tintenbeklecksten Hand eines Jungen angefasst worden war.
Unterdessen hatte Masha in ihrem Arbeitszimmer einen schweren Perlenvorhang angehoben. Sie sah Ed mit jener Mattigkeit, die ihn so leicht überfiel, aus dem Wagen ihres Mannes steigen. Natürlich hatte er nicht hinten gesessen, wie sie es verlangt hatte. Sie gab ein Schnauben von sich, das sie sofort als das ihrer Großmutter, einer Überlebenden eines Arbeitslagers, erkannte. Na bitte, da hast du’s, pflegte ihre Großmutter immer zu sagen. Das erste der Kinder war da. Noch mehr Kinder, um die sich Masha kümmern musste, zusätzlich zu demjenigen, das sich oben Videos von asiatischen Boygroups ansah, mit offenem Mund und trüben Augen, ruhiggestellt. Bald würde sich das Grundstück mit ihnen füllen, erwachsenen Kindern ohne Kinder. Im Gegensatz zu den Freunden ihres Mannes waren alle ihre Freunde verheiratet (und keiner wäre so verrückt, in Zeiten wie diesen jemand anderen zu Hause zu besuchen). Masha schaltete ihren Bildschirm aus, erwog kurz, sich für Ed etwas anderes als ihren Kaftan anzuziehen, trat dann jedoch so, wie sie war, auf die Auffahrt hinaus.
Den knarzenden Gladstone-Koffer auf den Rücken geworfen, kam Ed ihr entgegen. Masha war zeitweise in New Jersey aufgewachsen und hatte kräftige Männer auf ähnliche Weise Golftaschen tragen sehen. »Wie war die Zugfahrt?«, rief sie, im Ton ein bisschen zu leidend, wie sie fand.
»Bezaubernd«, sagte Ed. »Ich habe einen Platz mit Blick auf den Fluss bekommen.« Er wusste, dass er zunächst einige Präliminarien hinter sich bringen musste: »Vielen Dank, dass ich in diesen Zeiten hier zu Gast sein darf. Ich weiß das sehr zu schätzen.« Er zwang sich zu einem übertrieben tiefen Einziehen der feuchten Luft. »Mmm«, sagte er. »Genau das, was der Arzt verschrieben hat. Ihr seht beide wunderbar aus. Sasha hat richtig abgenommen.«
Die Bemerkung zum Abnehmen, wurde ihm rasch klar, konnte von Masha fehlinterpretiert werden, die zwar schön war, ihn inzwischen jedoch an das Porträt einer Adligen erinnerte, das er voriges Jahr in der Tretjakow-Galerie gesehen hatte. Der Kaftan half auch nicht gerade. Die beiden Männer stiegen schweigend die Zedernholzstufen der überdachten Veranda hinauf, die mit dem Haupthaus verbunden war und die Bungalows überblickte, das Herzstück des Besitzes und zugleich sein Juwel, eine abgeschirmte Welt für sich.
»Wenn es dir nichts ausmacht, werde ich jetzt ein bisschen ärztlich«, sagte Masha, »falls man das so sagen kann.«
»Keineswegs«, sagte Ed. Machte es ihm keineswegs etwas aus, oder konnte man das keineswegs so sagen? Darüber musste Masha nachdenken, und vielleicht war genau das die Absicht.
»Ich habe ein paar Regeln aufgestellt«, sagte sie. »Da du mit dem Zug gekommen bist, könntest du dir vielleicht frische Kleidung anziehen, bevor du dich irgendwo hinsetzt. Aber zuerst würde ich gern noch einige Flächen in deinem Bungalow abwischen, mit denen die Arbeiter in Berührung gekommen sind. Es gibt immer noch vieles, was wir über dieses Virus nicht wissen.«
»Sicherheit geht vor.«
Sein Ton gefiel ihr nicht. Senderovsky stand in gebeugter Haltung neben ihnen. Er hatte viele Jahrzehnte lang als Diplomat zwischen zwei sich bekriegenden Elternteilen fungieren müssen. »Außerdem«, fuhr Masha fort, »werde ich in gemeinsam genutzten Räumen wie der Veranda und dem Esszimmer auf die Einhaltung von Abständen achten und jedem einen festen Platz zuweisen. Es tut mir leid, wenn ich mich wie eine Spaßverderberin anhöre.«
»Da gibt es kein Richtig oder Falsch«, sagte Ed. »Wir alle müssen in dieser Krise wir selbst bleiben.«
Tatsächlich gab es da sehr wohl ein Richtig und ein Falsch. Ed erinnerte sie an die Eltern ihres Mannes. Sich mit ihnen zu unterhalten war wie die Auseinandersetzung mit einem lächelnden Widersacher, der eine Handvoll vergifteter Zahnstocher in der Tasche hatte. Jedes Mal wenn man nicht auf der Hut war, spürte man einen scharfen Stich im Hinterteil.
»Noch eine Frage, die ich dir stellen muss. Und im Grunde ist das ein Kompliment, weil du ständig in der Weltgeschichte umherreist. Kannst du mir sagen, wo du seit, sagen wir, vergangenen Dezember überall gewesen bist?«
»Seit Dezember? Hmmm.« Ed blickte zum gipsverputzten Haupthaus auf, ein neutrales Grau wie der Himmel. Angehörige einer bestimmten Schicht, insbesondere Einwanderer, erregten nicht gern Aufsehen. Ein Treppenabsatz im ersten Stock und ein angrenzendes Fenster, gegeneinander versetzt, waren gelb erleuchtet, sodass es wie ein Gemälde von Mondrian wirkte – der obere Quadrant war höchstwahrscheinlich das Zimmer der Tochter. Ed hatte ihren Namen vergessen.
»Tja, also ich war in Addis zu diesem Jazzdings«, sagte er. »Dann bin ich nach AD geflogen, um Jimmy zu besuchen, der dort einen Lehrstuhl hat.« Ed zog in der Luft eine Linie von (vermutlich) Addis Abeba nach (vermutlich) Abu Dhabi. »Zu Weihnachten bin ich nach Seoul geflogen. Nein, halt.« Die Linie über das Arabische Meer endete abrupt, Eds Finger kreiste und ließ Treibstoff ab. »Ich habe Suketu in Bombay besucht, bloß übers Wochenende, und dann bin ich nach Seoul weitergeflogen.« Sasha folgte der Linie durch die Luft mit Interesse und stellte sich vor, er und nicht Ed wäre es, der diese Reisen unternahm, einen Business-Class-Whiskey in der Hand. Vor langer Zeit, nachdem seine Kindheitsbeziehung mit Masha zu Ende gegangen war, aber bevor seine Erwachsenenbeziehung mit ihr begann, hatte er als Autor und Redakteur für eine Reisezeitschrift gearbeitet und war mit nichts als einem Notizblock und ein bisschen Vokabular in beiden Hemisphären herumgejuckelt. Diese Zeitspanne umfasste einige der besten Jahre seines Lebens, die Spesenkonten, der Schweiß tropischer Städte, die betrunkene Kameradschaft der Eds dieser Welt.
»Wann bist du aus Seoul abgereist?«, fragte Masha.
»Ach, ich verstehe, worauf du hinauswillst. Gleich nach Weihnachten, bevor es dort so schlimm wurde. Und von dort« – Eds Zeigefinger war bereit für einen bedeutenden Sprung – »nach Big Island.«
»Zu Ehren unseres Bungalows«, sagte Sasha strahlend. Der für Ed reservierte Bungalow war demjenigen nachempfunden, in dem er und Masha während ihrer Flitterwochen auf der Hauptinsel von Hawaii gewohnt hatten, und er hatte eine Besonderheit, über die kein anderes Haus verfügte – eine Außendusche, deren Wände mit Muscheln verputzt waren.
»Ja«, sagte Ed. »Mein Freund Wei hat einen Bungalow am Mauna Kea. Ich hüpfe sozusagen von Bungalow zu Bungalow.«
»Wei Li?«, fragte Senderovsky.
»Wei Ko. Er ist in der Biotechbranche. Ich schätze, das ist sein großer Moment.«
»Und dann bist du in die City zurückgekommen«, sagte Masha.
»Nein, nicht direkt. Mein Bruder hat ein Weingut in Ungarn gekauft.« Senderovsky fielen der österreichische Riesling und die diversen Alkoholika ein, die noch immer in seinem Kofferraum herumschepperten, und er betete, dass bei seinen vielen Fahrten nichts kaputtgegangen war, besonders nicht die achtzehn Jahre alte Flasche, die er Ed und dem Schauspieler zugedacht hatte. »Ich war am Plattensee«, fuhr Ed fort. »Sind eure Familien damals eigentlich je dort gewesen? In den sowjetischen Ferien? Der Wein war eine ziemliche Plörre, aber ich habe eine fantastische Kalbsleber in haufenweise Butter und Paprika gegessen, wüsste zu gern, wie sie die gemacht haben. Und dann London.«
»Irgendein spezieller Grund für London?«, fragte Masha. Sasha fand, sie höre sich an wie jemand von der Einwanderungsbehörde, der einen Besucher aus einem Entwicklungsland ins Verhör nimmt.
»Nein, das war bloß … London«, sagte Ed.
»Letzte Frage, versprochen. Irgendwelche Reisen nach China oder Norditalien?«
»Nein«, sagte Ed. Missmutig stellte er seinen Koffer lauter als nötig ab. »Doch, halt, einmal hatte ich eine Zwischenlandung in Linate.«
»Das ist Mailand«, sagte Sasha.
Beiden Männern fiel auf, wie Masha in diesem Augenblick ihren Gatten ansah. Doch was sie ärgerte, war nicht dessen Unterstellung, sie sei provinziell. Sie zwingen mich, jemand zu sein, der ich nicht bin, dachte Masha. Sie verwechseln meine Fürsorge mit autoritärem Gehabe, und dann bleibt mir keine andere Wahl, als zu einem weiblichen Stalin zu werden. Was soll ich denn sonst machen, wenn ich verhindern will, dass diese Kretins krank werden?
»Das war eine ganz kurze Zwischenlandung«, sagte Ed über seine Zeit in Norditalien. »Ich bin mir sicher, dass ich es nicht habe.« Wenn Ed Kim im Gespräch nervös wurde, legte er die rechte Hand hinters rechte Ohr, als wollte er es zum Muschelhorn machen. Es war ein nervöser Tick, der jedem auffiel und dessen er sich wohlbewusst war, dennoch konnte er in Momenten der Sozialphobie nichts gegen sein Hand-hinters-Ohr-Legen tun.
»Ich bin mir auch sicher, dass du es nicht hast«, sagte Masha. »Ich exerziere das alles wirklich nur sehr ungern durch. Ich tue das wegen Natasha.« Richtig, so hieß die Tochter. Sasha, Masha, Natasha. Sie versuchten es nicht einmal, diese Russen. »Man kann gar nicht vorsichtig genug sein«, fügte sie hinzu. »Irgendwelche Sonderwünsche fürs Abendessen?«
»Das kommt überhaupt nicht infrage«, sagte Ed. »Heute Abend koche ich. Du ruhst dich aus. Ich habe gehört, dass Eltern es zurzeit besonders schwer haben. Und Sasha ist dir bestimmt keine Hilfe.«
»Wir haben tolle Sachen gekauft«, sagte Senderovsky. »Wir wissen doch, wie gern du frische Sardinen magst.« Masha lächelte. Auch wenn es nicht stimmte, dass die beiden an sie gedacht hatten, die Lüge war nett. Sie würde sich mit der Lüge zufriedengeben. Ed meinte, einen flüchtigen Blick auf ihre Jugend erhascht zu haben, als sie lächelte. Die neue Fülle ihres Kinns erinnerte ihn an eine Griechin, in die er sich fast auf den Tag genau vor zehn Jahren verliebt hatte, eines der letzten Male, dass er jemanden geliebt, zugelassen hatte, dass vergessene Stellen seines Körpers – unterhalb seiner Fußknöchel, an den Wimpern – ohne Grund kribbelten. Senderovsky legte beide Hände in das fruchtbare Tal zwischen seiner Brust und seinem Hals, froh darüber, dass sein Freund und seine Frau miteinander auskamen. Inzwischen herrschte völlige Stille bis auf die Laute eines übererregten Laubfroschs und das Klappern, mit dem der Hausmeister die Hecken am abgedeckten Pool so geräuschvoll schnitt, als wollte er gegen sein Los aufbegehren.
Zwischen den Bungalows verlief ein gekiester Fußweg auf eine Weise, die, so hatte Senderovsky gehofft, die Anmutung eines gepflegten europäischen Dorfs erzeugte, die Art von Dorf, wie es seine Vorfahren niemals willkommen geheißen hätte. Die Bungalows bildeten ein Halbrund um das Haupthaus, einige überblickten eine klassische Wiese, andere ein von lärmenden Tieren überlaufenes Wäldchen. Im Winter waren sie gemütlich, wie es sich für kleine Behausungen gehörte, und im Sommer zweckmäßig, aber ihnen fehlte das visuelle Flair von rauchenden Schornsteinen oder Verandaschiebetüren. Was es an Luxus gab, sollte in gemeinsam Erlebtem bestehen: dem guten Essen und noch besseren Gesprächen. Zu Anfang hatte es in Senderovskys häuslichem Leben wenig zu lachen und wenig gute Ideen gegeben, und obwohl er mittlerweile Restaurants und gelegentlich auch literarische Veranstaltungen in der City besuchte, gefiel ihm nichts so sehr, wie der Anführer seiner ländlichen Menagerie zu sein. Ganz zu schweigen von dem verstohlenen Staunen, mit dem er sich auf seinen vielen Morgen privaten Senderovsky-Besitzes erging, auf einem Kontinent, der seine Adoptionspapiere unterzeichnet hatte.
Allein, packte Ed seinen Koffer aus, den Laptop (jetzt fiel ihm ein, dass es im Bungalow keinen Empfang gab), Ladegeräte, frische Garnituren zusammengelegter koreanischer Unterwäsche, überreicht vom Dienstmädchen seiner Mutter, Polohemden, ein Leinenjackett (würde er wirklich bis zum Sommer bleiben müssen?), zwei Krawatten und ein Einstecktuch. Er setzte sich auf das weiche, bequeme Beinahe-Art-déco-Bett und erlitt anscheinend eine Panikattacke, bei der seine Atemzüge in kurzen, schnellen Stößen kamen, als zwänge ihn jemand, Luft aus einem Ballon zu saugen.
Das einzige Fenster offenbarte ein sich immer weiter vertiefendes Grau, die Vorstellung einer künstlichen Intelligenz vom Verstreichen der Tage auf der Erde. Er war den rasch wechselnden Hafenstadthimmeln der City so nah und doch so fern. Waren über dem spitzen Zedernholzdach jemals Kondensstreifen zu sehen? Flugzeuge, die dem Verlauf des Flusses zu den Flughäfen folgten? Wie schon aus einer anderen Ära hörte er die strenge, näselnde Stimme eines Pursers: Meine Damen und Herren, wir beginnen jetzt mit dem Landeanflug auf Berlin-Tegel. Wie viele seiner ähnlich situierten Freunde überall auf der Welt blickten jetzt wohl gerade aus einem doppelt isolierten Fenster oder auf eine Giebeldecke aus Zedernholz und versuchten, sich mit ähnlichen Beschwörungsformeln zu beruhigen?
Über dem Kopfende hing ein opulentes Foto von der in den Pazifik brodelnden Lava des Kilauea auf Big Island. Ed fand die Komposition einfallslos, aber schön, ja interplanetarisch, dennoch stieg er aufs Bett und verrückte den Rahmen, sodass er etwa zwanzig Grad von der Waagerechten abwich. Er zerwühlte das sorgfältig gemachte Bett, als hätte sich gerade ein Liebespaar darin vergnügt. Auf dem modernistischen Schreibtisch erspähte er zwei aus Holz geschnitzte Ananasskulpturen (wobei ihm einfiel, dass eine bedeutende Ananasproduktion immer nur auf Maui und Oahu, nie jedoch auf Big Island stattgefunden hatte) und stieß eine davon um, womit er der tödlichen Krankenhausordnung um ihn herum eine gewisse Asymmetrie verlieh.
Was würde seine Mutter von ihrem unverrückbaren Gangnam-Kokon aus sagen, während ihr vom heißen Gerstentee der Hals kribbelte? Ein Ratschlag, den sie selbst niemals befolgen würde. Sei stark für deine Freunde.
Von der überdachten Veranda her schrie eine Frau – es musste wohl Masha sein – irgendwas. Für Ed war der zweimal wiederholte Einsilber nicht zu verstehen, und er fragte sich, was sie in dieser ländlichen Einsamkeit in solche Aufregung versetzt haben konnte. Er lehnte sich auf dem Bett zurück, befreite eine Gauloise aus einem zerknitterten Päckchen, und sein Blick hielt dem blinkenden Licht des Rauchmelders an der Decke stand. Für seine Freunde stark sein? Geschwindigkeit war sein Freund. Verschwindende Landschaften waren seine Freunde. Ihm fiel ein, dass Sasha ihm im Badezimmer einen Aschenbecher unters Waschbecken gestellt hatte. Die rebellische Zigarette hellte seine Stimmung rasch auf. Bis zum Essen würde es noch einige Zeit dauern, nicht wahr? Er hatte seine Ohrstöpsel vergessen, aber er schaffte es trotzdem, einzuschlafen.
2
Karen Cho zwang ihren Mietwagen in die vielen Senken und blinden Kurven der vertrauten Landstraße, in ihrem Fahrverhalten nur unwesentlich gezügelter als Senderovsky. Sie hatte einen Satellitensender eingeschaltet, der Songs aus ihrer Jugend plärrte, und sie versuchte, das Ganze so ernst zu nehmen, wie Ed es immer tat, der noch beim dämlichsten Song sein Karaoke-Bestes gab. Und dies war kein dämlicher Song.
Christine, the strawberry girl.
Christine, banana split lady.
Das Fahren hatte ihr gefehlt, seit sie von der Westküste wieder hierhergezogen war, aber im Gegensatz zu Senderovsky konnte sie den Wonneschauer, den es ihr vermittelte, nie genauer bestimmen, das Gefühl, gerade dann ein kleines bisschen amerikanischer zu sein, wenn sie einen viele Tonnen schweren Koloss mit überhöhter Geschwindigkeit eine Straße entlangsteuerte, eine Familienpackung saugfähige Wischtücher in einen Kombi stopfte, das hypnotische Metronom eines Blinkers einschaltete. Das Fahren passte zu ihrem neuen Machtgefühl, das sie, wenn sie ehrlich mit sich war, immer noch nicht völlig verstand. »Wie fühlt es sich an?«, hatte Senderovsky sie nach dem Verkauf ihrer sogenannten Firma ständig gefragt, im Grunde einer bloßen Idee: eine Softwareentwicklerin (eine Freundin und ehemalige Bandkollegin) und zwei Urheberrechtsanwälte auf Pauschalhonorarbasis. Sie sagte ihm, sie könne jetzt gegen einen weißen Mann im teuren Hoodie auskeilen, in der sicheren Gewissheit, dass sie ihr Geld trotzdem behalten würde, wenn sie damit fertig war, ihn anzubrüllen.
Now she’s in purple, now she’s the turtle.
Disintegrating.
Karen stieg auf die Bremse. »Brr«, sagte sie. Seit der Scheidung hatte sie angefangen, mit sich selbst zu reden. Ein perfekt gerundeter grüner Hügel beschwor einen Dinosaurierrücken herauf. Der Rücken war mit wolligen kleinen Bauschen bedeckt. Jetzt fiel ihr ein, dass ein Teil von Sashas Besitz an eine Schaffarm grenzte, und so fuhr sie rechts ran und stieg aus dem summenden, piependen Wagen. Die Schafe hatten sich in Reihen aufgestellt, als praktizierten sie das Abstandhalten, das man ihren Besitzern verordnet hatte. Sie waren erst kürzlich geschoren worden und erinnerten in ihrer Haltung an schlaksige Teenager. Einige hatten das Maul voller Gras, doch die meisten beobachteten irgendetwas auf der anderen Seite des Zauns, der die Farm von Senderovskys Grund trennte. Karen hätte am liebsten ihr Handy gezückt und ein Foto gemacht, aber sie hielt sich zurück. Kürzlich hatte sie sich geschworen, in ebenden sozialen Medien, die sie reich gemacht hatten, keine Fotos mehr hochzuladen, sondern Augenblicke zu genießen, anstatt sie einzuschließen.
An Haufen von frisch gemähtem Gras entlang ging sie auf den Zaun zu. Auf der anderen Seite der Straße, neben einem imposanten neuen Haus, erspähte sie Pferde, die Pullover trugen. Pferde in Pullovern, was für ein Leben. Es schien fast unmöglich, dass die Besitzer der kaputten Häuser, die sie unterwegs gesehen hatte – »Bruchbuden-Yankees«, wie Ed sie einmal auf seine typische Art genannt hatte – , die gleiche gehaltvolle Landluft atmen konnten wie Sasha und einige seiner Nachbarn. Sie wunderte sich, dass die Atmosphäre des Landes nicht schon längst von einem Algorithmus erfasst und gemäß Inhalt eingeteilt worden war. Einige ihrer Verbündeten im Valley arbeiteten wahrscheinlich schon daran. Sie stahl sich einen gewaltigen Atemzug knospende Forsythie, dann noch einen, ein plötzlich dankbares Kind der Großstadt. Bald war Ostern, aber ihre Mutter war trotzdem tot.
Ein Hütehund trabte an der Umzäunung auf und ab und kläffte sich wegen irgendetwas die Lunge aus dem Leib, die Schafe reihten sich hinter ihm auf und bedachten die Aufregung mit Gleichmut, von der Anwesenheit ihres Anführers beruhigt. Karen konnte eine einsame, winzige Gestalt ausmachen, die sich in der einbrechenden Dämmerung auf der Senderovsky-Seite des Zauns bewegte, und begann wie in Trance darauf zuzugehen. Warum war sie hierhergekommen? Offiziell, um ihre Freunde zu besuchen, die sie seit ihrem geschäftlichen Triumph, wie sie fand, vernachlässigt hatte. Obwohl es ihr bei ihrem letzten Gespräch mit Vinod schwergefallen war, ihre Traurigkeit zurückzuhalten. Und ihren Zorn. Auch nachdem ihn der Krebs einen Teil seiner Lunge gekostet hatte, arbeitete er weiter in der schmierigen Küche seines Onkels. Es war, als wollte er ihr unter die Nase reiben, wie sein Leben sich entwickelt hatte. Sie war nahe dran, ihm tatsächlich Geld oder eine Pro-forma-Beschäftigung anzubieten – mit anderen Worten, ihm das Herz zu brechen. Tja, besser sein Herz als das, was von seiner Lunge noch übrig war. Sein Herz hatte sich im Lauf der Jahre als ziemlich unverwüstlich erwiesen, trotz allem, was Karen damit angestellt hatte. Also noch mal, weshalb war sie hierhergekommen?
Die Version, die sie sich selbst erzählte, die inoffizielle, lautete, dass sie den Schauspieler sehen wollte. Zwar bekam sie in ihrem neuen Leben eine Menge berühmter Leute zu sehen, aber sie hatte ihn seit Ende der Neunziger geliebt, seit seinem ersten Film, in dem er nackt mit diesem dämlichen Hut auf dem Kopf getanzt hatte, augenblicklich der Liebling ihrer Generation. Die Vorstellung, dass der Schauspieler in den bemühten Charme von Sashas Bungalowkolonie einbezogen werden sollte, hatte sie veranlasst, einen Wagen zu mieten und die stillgelegte City zu verlassen. Sogar während der Herfahrt auf dem leeren Highway durch eine malerische Landschaft hatte sie sich dabei ertappt, dass sie eine Hand an die Innenseite ihres Oberschenkels legte, ihr Atem unerwartet warm, ihre Oberlippe nach Frühling duftend.
Es gab also den offiziellen und einen inoffiziellen Grund für ihren Besuch. Aber der ehemalige außerordentliche Professor und jetzige Küchenhelfer Vinod würde fragen, welches der richtige Grund war.
Jetzt wurde die herantänzelnde Gestalt deutlich. Es war ein Junge, und er schien … ja, was? Inzwischen sah sie immer schlechter, vor allem im Dunkeln. Sie war ein Jahr älter als Sasha und Vinod, was bedeutete, dass ihr Fünfzigster keine Frage von Jahren, sondern von Monaten war. Aber nein, jetzt erkannte sie ganz deutlich, der Junge tänzelte, hüpfte, klatschte in die Hände, stieß nach Art eines Martial-Art-Kämpfers die Fäuste in die Luft und sang dazu mit lieblicher Mädchenstimme, während der Hund seine unbeachtet bleibenden Warnungen kläffte und seine Schützlinge andächtig zusahen, zu verblüfft, um zu blöken.
Als Karen den Liedtext hörte, lachte sie lauthals, ganz so wie damals, als ihr mittlerweile Ex-Mann Leon ihr die Scheidungspapiere hatte zustellen lassen oder als ihr Anwalt ihr ein erstes Kaufangebot für ihre Firma vorlegte. Ihre Kindheit war fast ohne Überraschungen verstrichen, ein endlos schwingendes Pendel aus elterlichen Kränkungen und Populärkultur, aus unten angebrüllt werden und sich oben selbst trösten. (Immerhin, wäre sie von ihren Eltern belehrt worden, hatte es – anders als bei ihren armen Verwandten in ihren beengten Wohnungen in Elmhurst – eine Treppe gegeben.) Was der Junge sang, waren unverkennbar Worte in ihrer Muttersprache, gefolgt von dem englischen Refrain: I’m so sick of this fake-ah love, fake-ah love, fake-ah love. Es handelte sich um einen Boygroup-Pophit von vor vielleicht zwei Sommern. Sie erinnerte sich, ihn im Lotte World beim Einkaufen für ihre Verwandten, diese Versager, auf Wiederholungsschleife gehört zu haben, damals, als sie nach Seoul geflogen war, um sich von der Presse eine Woche lang als hochgeschätztes Musterexemplar ihres Volkes beweihräuchern zu lassen, als Tochter von Daehan Minguk, die es geschafft hatte.
Der protokoreanische Junge trug eine hübsche weiße Weste mit V-Ausschnitt, hellbraune Hosen und, wie es aussah, eine Erwachsenenkrawatte, die ihm bis zu den Oberschenkeln reichte. Eine durchgeknallte koreanische Schuluniform. Karen war überrascht und war es zugleich nicht. Alles, was im Dunstkreis von Senderovsky passierte, war immer ein bisschen seltsam.
»Hi!«, rief Karen dem Jungen zu. Es kam keine Antwort. Sprach er kein Englisch (außer »fake-ah love«)? »Annyonghaseo!«, rief Karen. Das Kind blickte auf, winkte, dann hüpfte und sang es weiter. Der Hütehund, der nun zwei Feinde wahrnahm – einer davon größer als er selbst – , fing zu knurren an, seine Nackenhaare stellten sich auf, und die Schafe begannen zur Erwiderung zu blöken, obwohl einige trotz ihres Schreckens weiterhin Gras mampften. Und dann erkannte Karen etwas an dem Jungen, das Oval des Gesichts, die lang gestreckten, aber stämmigen Beine, die breite Nase, genau das Kind, das vor mehreren Jahren auf der überdachten Veranda auf Senderovskys Schoß gesessen hatte, während er – auf grenzwertig rassistische Weise – zu erklären versuchte, dass seine Tochter sämtliche Markenzeichen der Gegend um Harbin an der chinesisch-russischen Grenze trage, von wo sie adoptiert worden war.
»Natasha?«, sagte Karen. Das Kind tanzte weiter. Der Hütehund und seine Schützlinge führten inzwischen einen wütenden Dialog sowohl mit ihren vermeintlichen Feinden als auch untereinander, ein verunsicherter Liberaler, der einen standhaften zur Rede stellt. »Natasha!«
»Ich nenne mich jetzt Nat«, sagte das Mädchen zwischen zwei Verszeilen, streckte die Brust vor und schwenkte keusch die Hüften, ihre Bewegungen zu geübt, um echt zu sein. Unvermittelt erinnerte sich Karen an die Erkennungsmelodie einer Fernsehshow mit dem unwahrscheinlichen Titel Happy Days und daran, wie viel es ihr vor fast einem halben Jahrhundert bedeutet hatte, in ihrem Zimmer dazu zu tanzen, den Bauch mit den ramyeon ihrer Mutter gefüllt. Saturday, what a day, groovin’ all week with you.
»Nat, wo ist deine Mommy?«, fragte Karen. »Und dein Daddy?«, fügte sie hinzu.
Das Mädchen wies mit einem Schlenker seiner Hand in Richtung des Hauses auf dem Hügel. »Dein neuer Bubikopf gefällt mir«, sagte Karen. Keine Antwort. »Gehen wir nach Hause und essen einen Happen. Ich komme gerade aus der City und bin am Verhungern.«
»Nein danke.« Das Mädchen hörte sich atemlos an, sprach jedoch mit entschiedener Stimme. Vielleicht war sie seit Stunden zugange.
»Deine Eltern sorgen sich vielleicht schon«, sagte Karen. Sie machte einen Schritt nach vorn und ergriff eine kleine Hand. »Ich bestehe darauf«, sagte sie. Das Kind blickte auf, die Lippen wütend geschürzt. »Hey, ich bin deine Tante Karen«, sagte sie. »Wir haben auf der Veranda mit meinem Telefon gespielt, als ich das letzte Mal hier war. Erinnerst du dich an mich?«
»Wir sind verwandt?« Das war eine ungemein erwachsene Frage. Aber Karen war klar, woher sie kam.
»Na sicher«, sagte sie. »In gewissem Sinn.«
»Mein Daddy hat gesagt, dass Onkel Ed kommt, aber der spielt nicht gern mit Kindern.«
»Stimmt.«
»Aber an dich kann ich mich überhaupt nicht erinnern.«
»Komm, ich fahre dich mit meinem Auto heim.«
»Mommy hat gesagt, ich darf auf keinen Fall zu jemand Fremdem ins Auto steigen.«
»Das ist superschlau von Mommy. Aber ich bin niemand Fremdes.«
»Genau das würde auch jemand Fremdes sagen.« Diese Logik.
»Richtig. Aber ich glaube wirklich, sie machen sich vielleicht schon Sorgen um dich. Es wird jetzt jede Sekunde dunkel.«
»Okay, aber zuerst muss ich den Schafen und dem Hütehund Auf Wiedersehen sagen.«
»Cool. Das würde ich gern sehen.«
Das Mädchen trat an den Zaun, der es von dem bellenden und den blökenden Tieren trennte. »Auf Wiedersehen, Schafe. Auf Wiedersehen, Luna«, sagte sie. Und verbeugte sich dann steif, wie ein Boygroup-Mitglied, das einen Preis entgegennimmt. Die Tiere schienen sich augenblicklich zu beruhigen, als ob sie diesen Ablauf bereits kennen würden. Luna, deren Knurren inzwischen heiser und gedämpft war, folgte ihnen zu dem hell erleuchteten Wagen mit den melodiösen Manchester-Stimmen im Radio.
»Ich weiß nicht so genau, wie man ein Kind anschnallt«, gestand Karen ebenso sehr sich selbst wie Nat ein. »Außerdem denke ich, dass wir beide uns nicht so nah kommen sollten.«
»Wegen des Virus«, sagte Nat.
»Ja, bis das vorbei ist. Was sehr bald der Fall sein wird.«
»Oder auch nicht«, sagte das Mädchen. So klug wie ihre Mutter, dachte Karen, und genauso optimistisch. Sie schnallte sie auf dem Rücksitz an, und dabei wurde ihr klar, dass sie noch nie zuvor Kinderschweiß gerochen hatte und dass alles, was man darüber sagte, stimmte. »Danke, Tante Karen«, sagte das Kind höflich. Bei Karens letztem Zusammentreffen mit Senderovsky hatte er sich in aller Ausführlichkeit über die Schwierigkeiten seiner Tochter und über die neunundfünfzigtausend Dollar Gebühren für eine Schule beklagt, in der man Unterschiede nicht nur tolerierte, sondern laut der auf Fotokarton gedruckten Broschüre regelrecht feierte, bis Karen sich an ihren Freund gewandt und mit einem Augenrollen, das fester Bestandteil ihres Vokabulars war, gesagt hatte: »Mein Gott, vielleicht solltest du sie nach China zurückschicken.«
Sie rollte langsam die lange Auffahrt hinauf und sah dabei im Rückspiegel immer wieder nach ihrer Mitfahrerin. Trotz der Dämmerung konnte sie die weißen Äste ausmachen, mit denen der vordere Rasen übersät war wie mit Leichen nach einer Schlacht. So viele Jahre, und Senderovsky konnte immer noch nicht für sich selbst sorgen. Bei diesem Gedanken musste sie grinsen. Immer noch derselbe Sasha. Ihre Scheinwerfer erfassten eine unvertraute Gestalt, die vom Haus aus auf sie zurannte und dabei ganz deutlich »Nat! Nat! Nat!« schrie, und Karens Mitfahrerin verkündete: »Da ist meine Mommy.« Karen kniff die Augen zusammen. Sie hatte sich stets das Bild von Masha aus der Frühzeit ihrer Bekanntschaft bewahrt, als sie sich alle Sorgen gemacht hatten, dass sie nicht genug äße. In ihrer mütterlichen Hast rannte Masha, den Kopf voran, beinahe in den Wagen hinein, sodass Karen auf den Rasen ausweichen musste und unter einem Rad ein riesiger weißer Eichenast knirschte.
Masha öffnete die Hintertür und schnallte mit fliegenden Fingern ihre Tochter los, wobei sie halb schrie, halb weinte: »Wo warst du? Wo warst du? Wo warst du?«
»Sie hat den Schafen etwas vorgesungen«, sagte Karen ruhig, denn sie hatte in ihren Entwicklungsjahren gelernt, mit unglücklichen Eltern umzugehen, obwohl das Masha gegenüber nicht fair war. »Es war süß.« Inzwischen waren sie alle ausgestiegen, und Masha kniete auf dem Kies, der sie mit kleinen Stückchen in die Füße pikte, und hielt das Kind an den Schultern fest.
»Das darfst du nicht!«, schrie sie. Sie packte die lange Krawatte – höchstwahrscheinlich eine von Sasha – und begann sie mit fahrigen Fingern zu lösen.
»Nein!«, schrie Nat. »Mommy, lass die an!«
»Du wirst dich damit erwürgen«, sagte Masha, während sie die Krawatte losriss und in die Tasche ihres Kaftans stopfte. Das Mädchen begann laut zu weinen. Jetzt sah Karen Sasha die Stufen vom Haus herabsteigen, und zwar, wie sie zunächst nicht wahrhaben wollte, in einem Hausmantel. Sie verstand Mashas Angst nicht. Hatte sie ernsthaft geglaubt, ihre Tochter wäre weggelaufen? Wo sollte sie denn hin?
»Ich stelle mal lieber den Wagen ab«, sagte sie.
»Ah! Ah! Ah!«, rief Senderovsky. »Karen! Nat!« Er wirkte zerzaust und stark abgemagert, und er hatte schon mit achtzehn eine Haltung wie ein Fünfzigjähriger gehabt. »Du hast sie gefunden!«, sagte er zu Karen. »Tausend Dank. Wir dachten schon, sie wäre weggelaufen. Wir hätten beinahe Ed geweckt, damit er uns bei der Suche hilft.«
»Ed kann ja nicht mal sich selbst finden«, sagte Karen. »Und dabei hat er buchstäblich überall gesucht.«
Senderovsky lachte. »Wie schön, dich zu sehen«, sagte er. »Wenn wir uns nur umarmen könnten.«
Karen warf ihm eine Kusshand zu. Sie betrachteten seine Frau und seine Tochter auf dem Kies, wie Masha ihr auf Russisch etwas zuflüsterte, Worte, die nur Senderovsky verstehen konnte, ein beruhigendes Mantra, das sie nur in den schwierigsten Lagen zur Anwendung brachte: »Ich habe eine wunderbare Familie und wunderbare Freunde. Ich kann alles schaffen, wenn ich mir Mühe gebe, und ich bin freundlich zu anderen Menschen.«
Das Mantra hatte anscheinend gewirkt. Das Mädchen beugte sich vor und küsste seine Mutter mehrmals auf die Stirn, Küsse, die erwidert wurden. Senderovsky beugte sich mit einem knirschenden russischen »Oy« herab und tat das Gleiche, sodass sein Hausmantel jetzt im Matsch schleifte. »Wir tun das, um uns zu vergewissern, dass wir die richtigen Präriehunde sind«, erklärte das Mädchen Karen.
»Wie bitte?«
»Präriehunde müssen einander küssen, um sich zu vergewissern, dass sie miteinander verwandt sind, weil es so viele davon gibt«, sagte Senderovsky.
»Darf ich dann Tante Karen küssen?«, fragte das Kind. »Ich glaube, wir sind verwandt.«
Karen ertappte sich dabei, dass sie erwartungsvoll vortrat, aber Masha hob die Hand. »Tante Karen ist gerade aus der City gekommen, deshalb müssen wir ihr noch ein bisschen Zeit lassen«, sagte sie. Und an Karen gewandt: »Vielen Dank, dass du das verrückte Ding gefunden hast. Ich dachte, ich verliere den Verstand.«
»Wie alt ist sie jetzt?«, fragte Karen.
»Ich bin acht!«, schrie das Mädchen. »Sieh mal, das Geburtstagsarmband, das meine Mommy mir geschenkt hat, mit acht Merinowollperlen, für jedes Jahr eine. Zusammen ergeben sie N-A-T-A-S-H-A und ein Ausrufezeichen. Natasha! Aber eigentlich nenne ich mich Nat. Und meine Pronomen sind ›sie‹ und ›ihr‹, obwohl ich mir das Recht vorbehalte, sie später zu ändern.«
»Sie ist acht und wird demnächst achtzig«, sagte Senderovsky zu Karen. »Wie auch immer, bitte entschuldige die Dramatik unseres Vorprogramms. Ich verspreche, von jetzt an herrscht nur noch ländliche Ruhe und Frieden. Masha kann dir helfen, dich einzurichten; ich muss Vinod von der Bushaltestelle abholen.«
»Willst du nicht helfen, deine Tochter zu beruhigen?«, fragte Masha, in der falschen Sprache, wie sie sich klarmachte. »Was ist los mit dir?«, fügte sie auf Russisch hinzu.
»Ich kann Vinod nicht an der Haltestelle warten lassen. Nicht in seinem Zustand. Und sie ist jetzt okay. Sie hat ihren Präriehundekuss bekommen.«
Karen fuhr den Rest der Auffahrt hinauf bis zur Garage, während Senderovsky wie ein gehorsamer Vasall neben ihr herging. Das futuristische Auto manövrierte sich selbst mit Verve in eine freie Lücke. Senderovsky bekümmerte der Tumult, der die Ankunft seiner Freundin begleitet hatte, während Karen sich über ihre Beförderung zur »Tante« freute. Sie wusste, dass sie bald mit den Problemen ihrer Freunde überhäuft würde. Aber im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester und ihrer Mutter, als sie noch lebte, würden ihr diese beiden zumindest zuhören.
3
Wieder einmal attackierte Senderovskys Wagen den unschuldigen Briefkasten an einer Biegung der zur Brücke führenden Straße und dellte das darauf abgebildete naive Kunstwerk – einen alterslosen, von einem Kleefeld entzückten Osterhasen – tiefer ein. Wieder einmal malte sich Senderovsky ein weinendes Kind – »Jemand hat Bunny angefahren!« – und ein tröstendes Elternteil aus: »Aber nicht mit Absicht. Das war bloß ein schlechter Fahrer.« Wieder einmal ertönte der Gong seines Näherungsalarms, allerdings erst, als das Malheur schon im Gang war. Senderovsky raste weiter. Irgendwann würde er dem Grundstücksbesitzer einen neuen Briefkasten schenken, mit einem Kaninchen, gemalt von einem Künstler aus der City, sodass der Kasten zwangsläufig an Wert gewinnen würde, wenn man ihn ordentlich imprägnierte, aber heute entschuldigte er sich nur leise in Form einer gemurmelten Selbstrechtfertigung: »Zu viel um die Ohren.«
Die zwanzig Minuten von Nats Abwesenheit waren brutal gewesen, Mashas in voller Lautstärke schreiende, panische Stimme (für Senderovsky gab es nichts Erschreckenderes als eine Psychiaterin in Panik) – »Natashenka!« – und seine eigene unsichere, wenig gebieterische – »Nat?« – schallten über das Gelände. Obwohl keiner von beiden mit der Beaufsichtigung von Nat betraut worden war, die, hatte Senderovsky vermutet, immer noch oben bei ihren Videoclips steckte, wusste er, dass Masha ihn wegen Nats Verschwinden unter Anklage stellen würde. »Sie ist bereits dysreguliert, weil die Schule auf Onlinebetrieb umgestellt hat, und jetzt schleppst du auch noch fünf Leute an, die herumlaufen, Lärm machen und weiß Gott was treiben.« – »Soziale Kontakte tun ihr gut.« – »Mit ihresgleichen, nicht mit diesen Leuten.« – »Diesen Leuten. Das sind meine besten Freunde.« – »Oh, das weiß ich. Und ob ich das weiß.« – »Sie können auch Elternfiguren sein. Du magst Vinod.« – »Vinod braucht Ruhe. Was er nicht brauchen kann, ist die Übernahme der väterlichen Pflichten, denen du dich entzogen hast.« – »Du behauptest also, sie ist weggelaufen, weil Leute zu Besuch kommen?« – »Neue Gesichter machen ihr Angst. Es ist ja nicht so, dass generalisierte Angststörungen dir unbekannt sind.« – »Wenn ich doch bloß als Kind meine sozialen Defizite überwunden hätte. Dann ginge es mir jetzt erheblich besser, so viel steht fest.« – »Ich erinnere mich, wie du damals in dieser Bungalowkolonie als Achtjähriger warst. Du warst so verdammt freundlich. [Wechsel ins Russische.] Wir konnten dich gar nicht mehr zum Schweigen bringen.« – »Eben. Und das hier ist Nats Bungalowkolonie.« – »Abzüglich einer Peergroup. Während sie [Wechsel zurück ins Englische] Identitätsprobleme hat.« – »Während sie dabei ist, sich selbst zu finden.« – »Und Ed Kim wird ihr bei dieser Reise helfen?« – »Bei meiner hat er mir geholfen.« Selbstverständlich fand dieses Gespräch niemals statt. Aber es hätte bis hin zur allerletzten therapeutischen Formulierung so stattfinden können. Wie sehr Senderovsky doch Autoren beneidete, die die Ehe zu ihrem Thema gemacht hatten.
Schlimmer noch, er hatte vor Karen sein Gesicht verloren. Seit Karens Beitrag zur Zivilisation seinen eigenen in den Schatten gestellt hatte, war Senderovskys Bedürfnis nach ihrem Beifall noch stärker geworden. Eine »großartige Familie und ein großartiges Zuhause« zu haben, um seine Agentin aus Los Angeles zu zitieren, wäre ein Beweis dafür, dass er im Gegensatz zu seiner unverheirateten, kinderlosen Freundin »alles hatte«. Und jetzt hatte Karen mitbekommen, wie seine Tochter weggelaufen war, um Schafen etwas vorzusingen. (Aber vielleicht hatte sie das ja als Beleg für die Fantasie und die Eigenständigkeit des Kindes aufgefasst. Die jüngere Karen hätte das ganz bestimmt.) Weitere Vorfälle dieser Art könnten in diagnostische Vorträge münden, die wiederum zu noch mehr Erwähnungen ihrer Schulsituation führen würden, in der sie von den feinfühligsten Lehrern unterrichtet wurde, die jemals Kreide geschwungen hatten, allerdings ohne dass sie dort trotz der zahlreichen Interventionen ihrer Eltern irgendwelche Freunde gefunden hätte.
Und während er auf dem Grundstück nach Nat suchte, hatte er eine etwas vage Nachricht des Schauspielers bekommen, dass er sich verspäten oder heute Abend nicht mehr oder vielleicht überhaupt nicht kommen werde, und das hieße, falls es stimmte, dass es mit dem Drehbuch nicht vorangehen würde, und damit wiederum würde sich die Hälfte von Nats neunundfünfzigtausend Dollar Schulgebühr verflüchtigen. Ganz zu schweigen von dem, was es kosten würde, auf unbestimmte Zeit seine Gäste zu füttern und deren Bungalows zu heizen und zu kühlen. Andererseits wusste Senderovsky, dass sich die Atmosphäre, sobald der Schauspieler einträfe, verändern würde: von einem »Besuch in ›Sashas luxuriöser Bungalowkolonie‹« zu einem »Abend mit dem Schauspieler in ländlicher Umgebung«. Er würde entweder darum kämpfen, sich über dem schönen Schweigen des Schauspielers Gehör zu verschaffen, oder versuchen, eine Lachkonserve beizusteuern, was am Ende auf das Gleiche hinauslaufen würde.
Drei Autos waren an die Kreuzung zweier größerer Landesstraßen herangefahren. Senderovsky hatte vergessen, wer in einem solchen Fall Vorfahrt hatte, ging davon aus, dass er es war, und trat aufs Gas. Ebenso passierte er einen Kilometer weiter ein »Vorfahrt gewähren«-Schild, weigerte sich jedoch, die Vorfahrt zu gewähren. Auf der Zufahrt zur Brücke verlangsamte er sein Tempo, weil weiter vorn wahrscheinlich ein Polizeiwagen wartete (sein Seitenspiegel baumelte immer noch herab), und als er auf die Bremse stieg, hörte er aus dem Kofferraum das Geräusch einer großen Umschichtung, die mit der unverkennbaren Sinfonie zerklirrenden Glases endete. Hol’s der Teufel. Er hatte schon wieder vergessen, die Kartons mit dem Alkohol herauszunehmen. Er fuhr von der Straße ab auf den »Kiss & Ride«-Parkplatz. Senderovsky, noch nie im Leben auf einen abgelegenen Bahnhof angewiesen, konnte sich einfach nicht denken, warum der Parkplatz so hieß. Eine Anstiftung zur Prostitution? Er öffnete seinen Kofferraum, aus dem es sofort nach ausgelaufenem Alkohol roch. Er seufzte. War das womöglich die achtzehn Jahre alte Flasche, die er gekauft hatte, um Ed und den Schauspieler zu beeindrucken (der, das hatte er ganz vergessen, eigentlich gar nicht trank)? Er durchstöberte die Kartons, bis er sich an einem Stück zerbrochenem Glas leicht in den Finger schnitt. Er nuckelte eine Zeit lang an seinem Finger. Schließlich wagte er einen Blick nach unten. Die teure Flasche war unversehrt, aber zwei Flaschen ländlicher Rye waren gegeneinandergekracht und in den Karton ausgelaufen. Senderovsky führte den Karton an die Lippen, kippte ihn leicht und trank, wobei seine Zunge kleine Glasstückchen aussiebte. Jetzt befand er sich in seinem natürlichen Zustand, leicht angetrunken und in seinem Hausmantel, Frau und Kind in einer anderen Welt. Wenn Staats-, Bundes- oder intergalaktisches Recht es erlaubt hätten, hätte er die nächste Stunde auf dem »Kiss & Ride«-Parkplatz zugebracht und sich in einen tragikomischen Zustand getrunken, ehe er seinen Wagen seinem Freund entgegenjagte. Er warf die Flaschenreste in einen wartenden Abfalleimer, dann stellte er sich an die Straßenseite und sah den blindwütig auf die Brücke sausenden Autos zu, deren Fahrer, ins elektronische Licht ihrer Kabinen getaucht, klein und unscheinbar wirkten, nicht vorbereitet auf diesen Moment in der Geschichte.