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Rasant, urkomisch und bitterböse. Vladimir Girshkin wurde in Leningrad geboren, mit zwölf kam er nach New York. Jetzt ist er 25 und fragt sich, ob sein Job im Emma-Lazarus-Verein zur Förderung der Einwandererintegration tatsächlich das Ziel all seiner Anpassungsstrategien gewesen sein soll. Jedenfalls will er endlich zu Geld kommen. Was liegt da näher, als bei der Russenmafia einzusteigen? Vladimir verlässt New York und stürzt sich in eine aberwitzige Blitzkarriere in Prawa, der Hauptstadt des Wilden Ostens. Schon bald scheint sich die amerikanische Tellerwäscherlegende für ihn zu erfüllen, doch dann geraten die Alte und die Neue Welt bedrohlich ins Wanken … «Ein anarchischer Lesespaß, ein gnadenlos boshaftes Feuerwerk von Sprüchen und Pointen, Einfällen und Einsichten.» (Neue Zürcher Zeitung) «Gary Shteyngart ist ein virtuoser Geschichtenerzähler.» (The New York Times) «Western aus dem Wilden Osten: Gary Shteyngarts russisch-amerikanischer Roman ist klug und kurzweilig.» (Die ZEIT) «Ein gewitzter Kommentar auf die Ostblocknostalgie.» (Süddeutsche Zeitung) «Eine verführerische Mischung aus wohl überlegten Kalauern und historischen Anspielungen, identitätspolitischen Volten und zynischen Randbemerkungen.» (taz)
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Seitenzahl: 657
Veröffentlichungsjahr: 2016
Gary Shteyngart
Roman
Rasant, urkomisch und bitterböse.
Vladimir Girshkin wurde in Leningrad geboren, mit zwölf kam er nach New York. Jetzt ist er 25 und fragt sich, ob sein Job im Emma-Lazarus-Verein zur Förderung der Einwandererintegration tatsächlich das Ziel all seiner Anpassungsstrategien gewesen sein soll. Jedenfalls will er endlich zu Geld kommen. Was liegt da näher, als bei der Russenmafia einzusteigen? Vladimir verlässt New York und stürzt sich in eine aberwitzige Blitzkarriere in Prawa, der Hauptstadt des Wilden Ostens. Schon bald scheint sich die amerikanische Tellerwäscherlegende für ihn zu erfüllen, doch dann geraten die Alte und die Neue Welt bedrohlich ins Wanken …
«Ein anarchischer Lesespaß, ein gnadenlos boshaftes Feuerwerk von Sprüchen und Pointen, Einfällen und Einsichten.» (Neue Zürcher Zeitung)
«Gary Shteyngart ist ein virtuoser Geschichtenerzähler.» (The New York Times)
«Western aus dem Wilden Osten: Gary Shteyngarts russisch-amerikanischer Roman ist klug und kurzweilig.» (Die ZEIT)
«Ein gewitzter Kommentar auf die Ostblocknostalgie.» (Süddeutsche Zeitung)
«Eine verführerische Mischung aus wohl überlegten Kalauern und historischen Anspielungen, identitätspolitischen Volten und zynischen Randbemerkungen.» (taz)
Gary Shteyngart wurde 1972 als Sohn jüdischer Eltern in Leningrad (St. Petersburg) geboren und emigrierte im Alter von sieben Jahren in die USA. Er veröffentlichte die Romane «Handbuch für den russischen Debütanten», ausgezeichnet u.a. mit dem National Jewish Book Award for Fiction, «Absurdistan» und «Super Sad True Love Story» – sein dritter Roman wurde in mehr als vierzig Sprachen übersetzt. Gary Shteyngart lebt in New York.
Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel «The Russian Debutante’s Handbook» bei Riverhead Books/Penguin Putnam Inc., New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2017
Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Die deutsche Erstausgabe erschien 2003 im Berlin Verlag GmbH, Berlin
Gary Shteyngart: Handbuch für den russischen Debütanten
Copyright © der deutschen Übersetzung 2003 by Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin
«The Russian Debutante’s Handbook» Copyright © 2002 by Gary Shteyngart
Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München
Umschlagabbildung sergobolonkov/thinkstockphotos.de
ISBN 978-3-644-40058-0
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für meine Eltern
Die Geschichte des Vladimir Girshkin – teils erinnert sie an P.T. Barnum, teils an W.I. Lenin, den Mann, der halb Europa erobern sollte (wenn auch die falsche Hälfte) – beginnt wie so vieles andere auch. An einem Montagmorgen. In einem Büro. Während die erste Tasse Kaffee im Aufenthaltsraum gurgelnd das Licht der Welt erblickt.
Sie beginnt in New York, an der Ecke Broadway und Battery Place, der heruntergekommensten, gottverlassensten, nullprofitversprechendsten Ecke des New Yorker Financial District. Im zehnten Stock begrüßte der «Emma-Lazarus-Verein zur Förderung der Immigrantenintegration» seine Klienten mit den vertrauten fleckigen Wänden und verdurstenden Hortensien einer tristen Behörde in der Dritten Welt. Unter den sanften, aber hartnäckigen Schubsern ausgebildeter Assimilationsmoderatoren schlossen im Wartezimmer Türken mit Kurden Waffenstillstand, reihten sich Tutsis geduldig hinter Hutus in die Schlange und hielten Serben mit Kroaten am entmilitarisierten Trinkbrunnen ein Schwätzchen.
Gleichzeitig machte sich im vollgestopften Büro die Hilfskraft Vladimir Girshkin – ein Bilderbucheinwanderer und Bilderbuchausländer, nicht totzukriegendes Opfer sämtlicher Kapriolen, die das ausgehende zwanzigste Jahrhundert zu bieten hatte, und untypischer Held unserer Tage – über das erste Soppressata-Avocado-Sandwich des Tages her. Wie Vladimir die gnadenlose Härte der doppelt gepökelten Soppressata und den fettigen Schmelz der zarten Avocado liebte! Dass sich solche dialektischen Sandwiches rapide ausbreiteten, war für sein Gefühl mit Abstand das Beste am Sommer 1993 in Manhattan.
Vladimir wurde heute fünfundzwanzig. Zwölf Jahre hatte er in Russland gelebt, und dann dreizehn Jahre hier. So war sein Leben – eins kam zum anderen. Und jetzt bröckelte es an allen Ecken.
Dies drohte der scheußlichste Geburtstag seines Lebens zu werden. Vladimirs bester Freund Baobab war in Florida und verdiente sich seine Miete durch unsägliche Geschäfte mit unbeschreiblichen Menschen. Mutter war, aufgeschreckt durch die mageren Erträge seines ersten Vierteljahrhunderts, offiziell auf dem Kriegspfad. Und, bislang wahrscheinlich die schlimmste Entwicklung: 1993 entpuppte sich als Jahr der Freundin. Einer dicklichen, depressiven amerikanischen Freundin, deren knalloranges Haupthaar seine Bleibe in Alphabet City vollfluste, als hätte ihn ein Kader Angorakaninchen beehrt. Einer Freundin, deren süßlicher Räucherstäbchenduft und moschuslastiges Parfüm Vladimir an der ungewaschenen Haut klebten, damit er nur ja nicht vergaß, was er von heute Nacht, seiner Geburtstagsnacht, zu erwarten hatte: Sex. Sie mussten jede Woche einmal miteinander schlafen, da sowohl er als auch diese blasse, üppige Frau, diese Challah, sich einbildeten, ohne wöchentlichen Sex würde ihre Beziehung laut Paragraph xy Beziehungsgesetz kollabieren.
Sexnacht mit Challah, genau. Challah mit den Pausbacken und der energischen Rettichnase, die immer so mütterlich und nach Vorstadtgirl aussah, trotz all der zerrissenen schwarzen T-Shirts, gruftigen Armreifen und Kruzifixe, die ihr die abgedrehtesten Läden von Manhattan immer wieder andrehten. Sexnacht: ein Angebot, das Vladimir nicht auszuschlagen wagte angesichts der Aussicht, in einem gänzlich leeren Bett aufzuwachen – leer bis auf den einsamen Vladimir natürlich. Wie ging das noch mal? Man macht die Augen auf, dreht sich um und starrt … dem Wecker ins Gesicht. In das beschäftigte, unbarmherzige Gesicht, das im Gegensatz zu einer Geliebten nichts anderes als «Ticktack» von sich gibt.
Plötzlich hörte Vladimir im Wartezimmer das hysterische Gekreisch eines bejahrten Russen: «Oppa! Oppa! Towarischtsch Girshkin! Aiaiai!»
Die Problemklienten. Die kamen immer am Montag in aller Frühe, nachdem sie das ganze Wochenende mit befreundeten Unsympathen ihre Probleme durchgekaut und in ihren Mini-Apartments in Brighton Beach vor dem Badezimmerspiegel erboste Posen einstudiert hatten.
Jetzt galt es zu handeln. Vladimir stieß sich vom Tisch ab und stand auf. So ganz allein in seinem Büro, ohne Bezugspunkt außer den paar spartanischen Tischen und Stühlen im Kindergartenformat, kam er sich plötzlich ziemlich groß vor. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren, dem unter den Achseln angegilbten Oxford-Hemd, der ausgefransten Hose, deren Aufschläge traurig herunterlappten, und den Schuhen mit Lochmusterkappe, die von einem Wohnungsbrand angekokelt waren, überragte er seine Umgebung wie der einsame Wolkenkratzer, den man gegenüber in Queens am East River hochgezogen hatte. Aber das stimmte gar nicht: Vladimir war klein.
Im Wartezimmer stand der resolute, stämmige Wachmann aus Lima, wie Vladimir feststellen musste, mit dem Rücken an der Wand. Ein vierschrötiger alter Russe im klassischen Flohmarktaufzug und mit Sechsdollarbürstenschnitt hatte den armen Burschen mit seinen Krücken eingekeilt und näherte sich jetzt bedrohlich der Beute, um mit seinen silbernen Zähnen zuzufassen. Dummerweise waren die original amerikanischen Assimiliationsmoderatoren beim ersten Anzeichen interner Gewalt schnöde vom Tatort geflüchtet und hatten nur ihre Kaffeebecher mit der Aufschrift «Harlem, U.S.A.» und die Stofftaschen aus dem Brooklyn Museum hinterlassen. Nun oblag es also der Hilfskraft Vladimir Girshkin, die Massen zu assimilieren. «Njet! Njet! Njet!», brüllte er den Russen an. «Auf den Wachmann gehen wir nicht los!»
Der Verrückte drehte sich um und schaute ihn an. «Girshkin!», prustete er. «Da bist du ja!» Erstaunlich behände stieß er sich von dem Sicherheitsbeamten ab und humpelte auf Vladimir zu. Er war klein und wirkte noch kleiner durch den grünen Rucksack, der ihm schwer im Kreuz hing. Sein himmelblaues Hawaiihemd war von der Brust bis zum Nabel mit sowjetischen Kriegsorden übersät, die eine Kragenseite nach unten zogen, sodass der geäderte Specknacken zum Vorschein kam.
«Was wollen Sie von mir?», fragte Vladimir.
«Was ich von dir will?», polterte der Russe. «Mein Gott, ist der Kerl arrogant!» Flugs erhob sich eine bebende Krücke zwischen den Männern. Der Wahnsinnige setzte einen Übungsstreich: En garde!
«Ich habe vor ein paar Wochen mit dir telefoniert», maulte der Krückenträger. «Am Telefon klangen Sie recht kultiviert, wissen Sie noch?»
Kultiviert, jawohl. Das musste er gewesen sein. Vladimir begutachtete den Mann, der ihm den Vormittag verdarb. Er hatte ein breites slawisches (also nicht jüdisches) Gesicht mit spinnennetzartigen Falten, die so tief waren, als hätte man sie mit dem Taschenmesser eingeritzt. Buschige Breshnewbrauen wucherten vor seiner Stirn. In der geographischen Mitte seiner Birne ankerte eine kleine, immer noch blonde Fluseninsel. «Wir haben also telefoniert, eh?», sagte Vladimir im wurstigen Ton der sowjetischen Bürokratie. Er war ein großer Fan der Silbe «eh».
«Und wie!», rief der Alte begeistert.
«Und was habe ich zu Ihnen gesagt, eh?»
«Du hast gesagt, ich soll vorbeikommen. Miss Harosset hat gesagt, ich soll vorbeikommen. Der Ventilator hat gesagt, ich soll vorbeikommen. Also habe ich die Fünfer-U-Bahn nach Bowling Green genommen, wie du gesagt hast.» Er wirkte ausgesprochen zufrieden mit sich.
Vladimir machte probeweise einen Schritt zurück Richtung Büro. Der Wachmann nahm seinen Posten wieder ein, knöpfte das Hemd zu und murmelte in seiner Muttersprache vor sich hin. Trotzdem, irgendetwas fehlte noch. Fassen wir zusammen: wütender Slawe, gedemütigter Wachmann, schlechtbezahlter, absurder Job, vergeudete Jugend, Sexnacht mit Challah. Ach ja. «Welcher Ventilator?», fragte Vladimir.
«Na, der im Schlafzimmer», sagte der Mensch und verdrehte die Augen ob der überflüssigen Frage. «Ich habe zwei Ventilatoren.»
«Der Ventilator hat gesagt, Sie sollen vorbeikommen», sagte Vladimir. Und zwei Ventilatoren hat er. Mit einem Mal erkannte Vladimir, dass das kein Problemklient war. Sondern ein Spaßklient. Ein völlig durchgeknallter Klient. So einer, der einen morgens in Schwung brachte und den ganzen Tag munter und bei Laune hielt. «Hören Sie», sagte Vladimir zu dem Ventilatormann. «Gehen wir doch in mein Büro, dort können Sie mir alles erzählen.»
«Bravo, junger Mann!» Der Ventilatormann machte seinem vormaligen Opfer, dem Wachmann, das Victory-Zeichen und humpelte ins Büro, wo er sich auf einem der kalten Plastikstühle niederließ. Umständlich nahm er den monströsen grünen Rucksack ab.
«Also, wie heißen Sie? Damit fangen wir mal an.»
«Rybakow», sagte der Ventilatormann. «Alexander. Oder einfach Alex.»
«Bitte erzählen Sie mir doch von sich. Sie sind –»
«Psychotiker», sagte Rybakow. Zur Bestätigung zuckten seine überdimensionalen Augenbrauen, und er lächelte in falscher Bescheidenheit, wie ein Schulkind, das zum Berufsberatungstag seinen Astronautenvater mitbringt.
«Psychotiker!», sagte Vladimir und machte ein möglichst aufmunterndes Gesicht. Bei den verrückten Russen war es nicht unüblich, dass sie ihm prompt ihre Diagnose mitlieferten; manche behandelten sie fast wie einen Beruf oder eine Berufung. «Und das haben Sie schriftlich?»
«Nicht nur einmal. Ich stehe auch jetzt unter Beobachtung», sagte Mr. Rybakow und spähte unter Vladimirs Schreibtisch. «Schließlich habe ich sogar in der New York Times einen Brief an den Präsidenten geschrieben.»
Er zog ein zerknittertes Blatt Papier aus der Tasche, das nach Alkohol, Tee und seiner feuchten Handfläche stank. «Sehr geehrter Herr Präsident», las Vladimir. «Ich bin pensionierter russischer Seemann, stolzer Kämpfer gegen den Naziterror im Zweiten Weltkrieg und ärztlich anerkannter paranoider Schizophrener. Ich lebe seit mehr als fünf Jahren in Ihrem wunderschönen Land und habe viel moralische und finanzielle Unterstützung von den herzlichen, hocherotischen Amerikanern erhalten (da denke ich insbesondere an die Frauen, die auf Rollschuhen durch den Central Park fahren und nur ein kleines Stück Stoff um ihre Brüste tragen). Daheim in Russland werden ältere Mitbürger mit geistigen Behinderungen in schäbigen Krankenhäusern gehalten und tagtäglich von jungen Rowdys beleidigt, die den Großen Vaterländischen Krieg kaum vom Hörensagen kennen und kein Mitleid mit ihren Vorfahren haben, welche mit Zähnen und Klauen kämpften, um die blutrünstigen Krauts loszuwerden. In Amerika kann ich ein ausgefülltes, befriedigendes Leben führen. Ich kaufe meine Lebensmittel im Sloan’s-Supermarkt an der Ecke 89. Straße und Lexington, der über eine große Auswahl verfügt. Ich sehe fern, besonders die Sendung mit dem urkomischen schwarzen Knirps auf Channel Five. Und ich leiste meinen Beitrag zur Verteidigung Amerikas, indem ich einen Teil meiner Sozialhilfe in Unternehmen wie Martin Marietta oder United Technologies investiere. Bald werde ich Bürger dieser großartigen Nation sein und meine Führer wählen können (anders als in Russland). Ich wünsche also Ihnen, Herr Präsident, sowie Ihrer begehrenswerten amerikanischen Frau und Ihrer knospenden jungen Tochter ein gesundes und glückliches neues Jahr. Mit vorzüglicher Hochachtung, Alexander Rybakow.»
«Ihr Englisch ist tadellos.»
«Also, das ist nicht mein Verdienst», sagte der Ventilatormann. «Das war Miss Harossets Übersetzung. Sie ist ganz originalgetreu, das können Sie mir glauben. Miss Harosset wollte zwar ‹Deutsche› statt ‹Krauts› schreiben, aber da bin ich hart geblieben. Beim Schreiben darf man sein Gefühl nicht verraten, habe ich ihr erklärt.»
«Und die New York Times hat den Brief tatsächlich veröffentlicht?», fragte Vladimir.
«Die Hälfte von meinem Text haben diese schwachsinnigen Redakteure rausgestrichen», sagte Mr. Rybakow und drohte Vladimir symbolisch mit einem Bleistift. «Das ist amerikanische Zensur, mein Freund. Man tilgt doch nicht die Worte eines Dichters! Na ja, ich habe Miss Harosset sowieso angewiesen, auch in dieser Sache gerichtlich vorzugehen. Ihre kleine Schwester pudelt mit einem wichtigen Staatsanwalt, da sind wir also in guten Händen.»
Miss Harosset. Das musste seine Betreuerin beim Sozialamt sein. Vladimir blickte auf das leere Formular, auf dem er sich hätte Notizen machen sollen. Eine ausgewachsene, prachtvolle Psychose nahm vor seinen Augen Gestalt an und drohte die magere Zeile, die mit «Psychischer Zustand des Klienten» überschrieben war, zu sprengen. Er wurde unruhig, vermutlich eine Folge des Kaffees, der sich in seinem Magen breitmachte, und begann, die Internationale auf den Metalltisch zu trommeln, eine nervöse Angewohnheit, die er von seinem Vater geerbt hatte. Draußen vor den nicht vorhandenen Fenstern des Büros brodelten Rationalismus und tumbe Kommerzgeilheit in den Schluchten des Financial District: Sekretärinnen aus den Suburbs erforschten die Sonderangebote bei Kosmetik und Feinstrumpfhosen, Elite-Uni-Absolventen schluckten mit einem zufriedenen Happs ganze Stücke Yellowtail-Sushi. Aber hier drinnen saß Vladimir, der Fünfundzwanzigjährige, ganz allein mit den armen, bedrängten Massen, die sich nach Freiheit sehnten. Vladimir blickte aus seinen Gedanken hoch, denn sein Klient ächzte und röchelte wie ein überlasteter Heizkörper. «Hören Sie, Rybakow», sagte er. «Sie sind ein vorbildlicher Immigrant, Sie bekommen Sozialhilfe, Sie veröffentlichen in der New York Times. Was kann ich da noch für Sie tun?»
«Diese Schweine!», rief Rybakow und griff wieder nach seiner Krücke. «Diese elenden Schweine! Die wollen mir meine Staatsangehörigkeit nicht geben! Sie haben den Brief in der Times gelesen, und sie wissen über den Ventilator Bescheid, sie wissen sogar über beide Ventilatoren Bescheid. Und manchmal werden die Rotorblätter in lauen Sommernächten ein bisschen rostig, sodass man sie mit Maisöl schmieren muss, ja? Die haben also das Trikka-trikka und Krik-krak gehört, und jetzt haben sie Angst! Vor einem alten Invaliden! Es gibt doch in jedem Land Angsthasen, sogar hier in New York.»
«Das stimmt natürlich», pflichtete Vladimir ihm bei. «Aber ich glaube, was Sie brauchen, Mr. Rybakow, ist ein Anwalt für Einwanderer. Leider bin ich nämlich kein …»
«Ich weiß schon, wer du bist, kleines Erpelchen», sagte Mr. Rybakow.
«Wie bitte?», sagte Vladimir. «Kleines Erpelchen» hatte man ihn zum letzten Mal vor zwanzig Jahren genannt, als er tatsächlich noch ein winziges, wackeliges Geschöpf mit etwas Daunenflaum auf dem Kopf war.
«Der Ventilator hat mir neulich abends ein episches Lied vorgesungen», sagte Rybakow. «Es hieß ‹Die Geschichte von Vladimir Girshkin und Jelena Petrowna, seiner Mama›.»
«Mutter», flüsterte Vladimir. Was sollte er auch sonst sagen? Dieses Wort, ausgesprochen in der Gegenwart anderer russischer Männer, war an sich schon heilig. «Sie kennen meine Mutter?»
«Wir hatten noch nicht das Vergnügen, einander offiziell vorgestellt zu werden», sagte Rybakow. «Aber ich habe im Wirtschaftsteil des New Russian Word von ihr gelesen. Eine Prachtjüdin! Der Stolz eures Volkes. Eine kapitalistische Wölfin, Schrecken der Hedgefonds, Zarin ohne Gnade. Ah, meine liebe, gute Jelena Petrowna! Und hier sitze ich und halte ein Schwätzchen mit ihrem Sohn. Er wird unter den abgefeimten Angestellten der Einwanderungs- und Einbürgerungsbehörde schon die richtigen Leute kennen, vielleicht andere Hebräer …»
Vladimir zog seine behaarte Oberlippe hoch, um an ihrem Tiergeruch zu schnuppern – ein ausgesprochen beruhigender Zeitvertreib. «Sie täuschen sich», sagte er. «Ich kann nichts für Sie tun. Ich bin nicht so raffiniert wie Mutter, ich habe keine Freunde bei der EEB … Ich habe überhaupt keine Freunde. Der Apfel fiel recht weit vom Stamm, wie man so schön sagt. Mutter ist eine Wölfin, gut, aber sehen Sie mich an …» Mit ausladender Geste deutete Vladimir auf den traurigen Zustand ringsum.
In diesem Augenblick öffnete sich die Flügeltür, und die Chinesin und die Haitianerin, Vladimirs Bürokolleginnen, kamen zwanzig Minuten zu spät zur Arbeit hereingeschlendert, beladen mit Butterbrötchen und Kaffee. Sie setzten sich an die mit «China» beziehungsweise «Haiti» beschilderten Schreibtische und verstauten ihre langen hauchzarten Sommerröcke dahinter. Als Vladimirs Blick zu seinem Klienten zurückschweifte, lagen fächerförmig auf seinem Tisch zehn Hundertdollarscheine, zehn Porträts des schmallippigen Benjamin Franklin.
«Ai!», rief Vladimir, griff instinktiv nach der harten Währung und steckte sie in seine Hemdtasche. Er schielte zu seinen internationalen Kolleginnen hinüber. Ohne einen Funken Interesse an der soeben begangenen Straftat bissen diese herzhaft in ihre morgendlichen Brötchen und schwatzten über Rezepte für haitianische Cracker und darüber, woran man merkt, ob ein Mann etwas taugt. «Mr. Rybakow!», flüsterte Vladimir. «Was machen Sie da? Sie können mir doch kein Geld geben. Wir sind hier nicht in Russland!»
«Russland ist überall», sagte Mr. Rybakow tiefsinnig. «Wo man auch hingeht – Russland.»
«Jetzt legen Sie bitte Ihre Hand mit der Handfläche nach oben auf den Tisch», wies Vladimir ihn an. «Ich lade blitzschnell das Geld dort ab, Sie stecken es in Ihre Brieftasche, und dann betrachten wir die Sache als erledigt.»
«Ich möchte lieber nicht», sagte Alexander Rybakow in der Gestalt eines sowjetischen Bartleby. «Schau mal, wir machen das so: Du kommst mich besuchen, und wir unterhalten uns ein bisschen. Der Ventilator nimmt montags seinen Tee gern früh. Ach, und Jack Daniel’s haben wir auch, außerdem Beluga und leckeren Stör. Ich wohne in der 87. Straße, gleich neben dem Guggenheim-Museum, diesem Schandfleck. Aber es ist ein hübsches Penthouse mit Blick auf den Park, Kühlschrank mit Nullgradzone … Viel kultivierter als dieses Büro, wirst schon sehen … Vergiss deine Pflichten hier. Ecuadorianern beim Umzug nach Amerika zu helfen ist ein sinnloses Unterfangen. Komm schon, sei mein Freund!»
«Sie wohnen auf der Upper East Side …?», stotterte Vladimir. «Ein Penthouse? Auf Sozialhilfe? Wie kann das sein?» Ihm war, als hätte der Raum angefangen zu schwanken. Das einzig Schöne an seiner Arbeit war für ihn doch, dass er Ausländer kennenlernte, die die amerikanische Gesellschaft noch mehr aus der Bahn geworfen hatte als ihn. Heute wollte sich dieses schlichte Vergnügen jedoch nicht so recht einstellen. «Woher haben Sie das Geld?», wollte Vladimir von seinem Klienten wissen. «Wer hat Ihnen diesen Nullkühlschrank gekauft?»
Der Ventilatormann zwickte Vladimir mit Daumen und Zeigefinger in die Nase, eine alte russische, für kleine Kinder reservierte Geste. «Ich bin zwar Psychotiker», erklärte er, «aber kein Idiot.»
An jenem Montagmorgen befand sich der Emma-Lazarus-Verein wie an jedem Montagmorgen in einem Zustand fehlgeleiteter Hektik. Einsame Sozialarbeiterinnen schütteten sich gegenseitig ihr Herz aus, der Akkulturationszar der Agentur, ein heimwehkranker, suizidaler Pole, polterte durch seinen Einführungskurs USA («Egoistische Menschen, egoistisches Land»), und im Internationalen Salon fand die wöchentliche Haustierschau der Einwanderer statt, diesmal angeführt von einer bengalischen Schildkröte.
Umgeben von solcherlei polyglottem Rummel, war es für Vladimir ein Leichtes, seinen Posten zu verlassen, den sogenannten Russlandcounter, der übersät war mit bürokratischen Tintenflecken und Zeitungsausschnitten über sowjetische Juden in Bedrängnis. Bevor er jedoch Mr. Rybakow in sein Penthouse begleiten konnte, meldete sich auf seiner Büronummer eine leidenschaftliche Gratulantin.
«Geliebter Volodetschka!», rief Mutter. «Alles Gute zum Geburtstag …! Einen guten Start in dein neues Lebensjahr …! Dein Vater und ich wünschen dir eine strahlende Zukunft …! Du bist ein begabter junger Mann …! Mit der Wirtschaft geht es aufwärts …! Wir haben dir als Kind unsere ganze Liebe gegeben …! Alles, was wir hatten, bis zum letzten Hemd …!»
Vladimir stellte die Lautstärke im Headset leiser. Er wusste, was jetzt kommen würde, und tatsächlich: Sieben Ausrufezeichen später brach Mutter in Tränen aus und rief laut ihren Gott an:
«Boshe moi! Boshe moi! Wieso habe ich dir bloß diesen Job verschafft, Vladimir?», jammerte sie. «Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Du hast mir versprochen, du bleibst höchstens einen Sommer lang – und jetzt sind es vier Jahre! Ich habe meinen eigenen Sohn lahmgelegt, meinen einzigen geliebten Sohn! Wie konnte das passieren? Wir haben dich in dieses Land gebracht, und wozu? Sogar die strohdummen Einheimischen machen sich besser als du.»
Immer weiter lamentierte sie, begleitet von Tränen, Gurglern und explosiven Schnorchlern, über die Freuden von College und Jurastudium sowie den jämmerlichen Nichtstatus eines Schreibtischsklaven bei einem gemeinnützigen Verein, für acht Dollar die Stunde, während Gleichaltrige sich mit Volldampf in ihre Uni-Ausbildung stürzten. Ihr kontinuierliches Gejammer steigerte sich allmählich in Tonhöhe und Tempo, bis sie Vladimir an eine fromme Frau auf einer orientalischen Beerdigung erinnerte, und zwar in dem Moment, da der Sarg mit ihrem Sohn in die Erde gelassen wird.
Vladimir lehnte sich zurück und stieß einen lauten Protestseufzer aus. Nie konnte sie damit aufhören, nicht einmal an seinem Geburtstag.
Sogar sein Vater hatte ein Jahr Brautwerbung und ein Jahrzehnt Ehe gebraucht, um sich auf Mutters besonderes Talent einzustellen: Tränen auf Knopfdruck. «Wein doch nicht. Warum weinst du denn, mein Stachelschweinchen?», pflegte der junge Dr. Girshkin in ihrem trüben Leningrader Apartment zu flüstern, während er seiner Frau mit den Fingern durchs Haar fuhr, dieses Haar, das noch dunkler war als die Abgaswolke über der Stadt, dieses Haar, das nicht einmal die kräftigsten Lockenwickler aus dem Westen aufdrehen konnten (man nannte sie Mongolka, und tatsächlich war sie zu einem Achtel Mongolin). Sporadische Neonblitze beleuchteten die Tränen, die ihr das kantige Gesicht hinunterliefen, während das Schild des Fleischerladens unter ihrer Wohnung im launischen Stromnetz um sein Überleben kämpfte. Bis heute trug er ihr nach, dass sie oft erst spätnachts auf seine Zärtlichkeiten reagiert hatte, wenn sie einschlief und sich instinktiv an seine Schulter kuschelte, lange nachdem eine barmherzige Seele das Fleischerschild ausgeknipst hatte und die Straßen sich in die dunstige, undurchdringliche Petersburger Finsternis schickten.
Vladimir litt unter den Vorwürfen seiner Mutter, ob Zweierzeugnisse feierlich im Kamin verbrannt wurden, ob Porzellan durch die Gegend flog, weil er im Schachclubturnier wieder einmal nicht gewonnen hatte, oder ob er sie um drei Uhr morgens im Arbeitszimmer dabei erwischte, wie sie schluchzend ein Foto des dreijährigen Vladimir an die Brust presste, der mit einem kleinen Rechenschieber spielte: so strahlend, so unternehmungslustig und so unendlich vielversprechend … Der Gnadenstoß kam jedoch, als Mutter auf der Hochzeit eines kalifornischen Girshkin vor aller Welt in Tränen ausbrach und Vladimir, der schüchtern mit einer dicklichen Cousine Disco tanzte, bezichtigte, «Hüften wie ein Homosexueller» zu haben. Oh, diese sinnlichen Hüften!
Schuldbewusst und verstört suchte Vladimir dann bei seinem Vater nach Beistand oder wenigstens einer Erklärung, doch die kam erst in seiner frühen Teenagerzeit, als sein Vater ihn auf einen langen Herbstspaziergang durch den sumpfigen, übelriechenden Alley Pond Park – Queens’ Beitrag zur Erhaltung des amerikanischen Waldes – mitnahm und sich gestattete, zum ersten, aber keineswegs letzten Mal das Wort «Scheidung» auszusprechen.
«Deine Mutter leidet an einer Art Wahnsinn», sagte er. «In einem ganz realen, medizinischen Sinn.»
Und Vladimir, bei aller jugendlichen Unschuld schon ein Kind Amerikas, fragte: «Gibt’s da keine Pillen gegen?» Doch der ganzheitlich orientierte Dr. Girshkin hielt nichts von Pillen. Eine energische Abreibung mit Alkohol und eine heiße Banja waren seine beiden Allheilmittel.
Sogar jetzt, da Vladimir sich von ihrem Geschluchze leichter distanzieren konnte denn je, fiel ihm einfach nicht ein, wie er sie beruhigen sollte. Seinem Vater war es nicht besser ergangen. Nie hatte er sich getraut, die minutiös geplante Scheidung einzureichen. Schließlich war Mutter bei all ihren Fehlern seine einzige Freundin und Vertraute in der Neuen Welt.
«Boshe moi, Vladimir», schluchzte Vladimirs Mutter, und dann brach sie plötzlich ab. Sie drückte am Telefon herum: es piepste. Ein paar Sekunden lang war die Leitung tot. Dann kam die Stimme seiner Mutter wieder: «Ich leg dich auf die Warteschleife, Vladimir. Da ist ein Anruf aus Singapur. Der könnte wichtig sein.»
Eine Instrumentalversion von «Michael Row Your Boat Ashore» dröhnte aus den elektronischen Gedärmen von Mutters Unternehmen in sein Ohr.
Er musste allmählich los. Der unbeaufsichtigte Mr. Rybakow war ins Wartezimmer zurückgehumpelt und terrorisierte schon wieder den Wachmann. Fast hätte Vladimir aufgelegt, als Mutter sich mit einem Wimmern zurückmeldete. Vladimir schnitt ihr das Wort ab. «Und, wie läuft’s bei dir?»
«Fürchterlich», erwiderte seine Mutter und schaltete auf Englisch um, was Job-Talk bedeutete. Sie putzte sich die Nase. «Muss ich jemand feuern aus unsere Büro.»
«Schön für dich», sagte Vladimir.
«Große Problem», stöhnte Mutter. «Er ist amerikanische Afrikaner. Ich habe Angst, ich sage etwas falsch. Meine Englisch ist nicht so gut. Sollst du mir diese Wochenende beibringen, wie ich bin sensibel mit Afrikaner. Muss ich können, oder?»
«Bin ich am Wochenende bei euch?», fragte Vladimir.
Mit einem gekünstelten Lachen erklärte ihm seine Mutter, dass es ja wohl völlig absurd wäre, kein Geburtstags-Grillfest für ihn zu veranstalten. «Du wirst nur eine Mal fünfundzwanzig. Und du bist keine völlige – wie sagt man? – Versagerer.»
«Immerhin bin ich nicht auf Crack», bestätigte Vladimir fröhlich.
«Und auch nicht schwul», sagte seine Mutter. «O-der?»
«Wieso musst du immer –»
«Hast du noch jüdische Mädchen? Die kleine Challah-Zopfe?»
«Ja», beruhigte sie Vladimir. Ja, ja, ja.
Mutter atmete tief durch. «Na, dann ist gut.» Er solle am Samstag seine Badehose mitbringen, fügte sie hinzu, höchstwahrscheinlich sei der Pool bis dahin in Ordnung gebracht. Dann schaffte sie es, gleichzeitig zu seufzen und Vladimir einen Abschiedskuss durch die Leitung zu schicken. «Sei stark», lautete ihr letzter, unergründlicher Ratschlag.
Die Eingangshalle von Mr. Rybakows Wohngebäude, den Dorchester Towers, beherrschte ein Wandteppich mit dem Wappen von Dorchester, einem doppelköpfigen Adler mit einer Schriftrolle im einen Schnabel und einem Dolch im anderen – die Allegorie des New Money und seines Werdegangs. Zwei Portiers öffneten Vladimir und seinem Klienten die Tür. Ein dritter steckte Vladimir ein Bonbon zu.
Bei der Zurschaustellung von Reichtum im amerikanischen Stil hatte Vladimir immer das Gefühl, Mutter würde hinter ihm stehen und ihm ihren englisch-russischen Lieblingsspitznamen ins Ohr flüstern: Failurchka. Kleiner Versager. Zittrig vor Ärger, lehnte er sich an eine Liftwand, versuchte krampfhaft, den satten roten Glanz des burmesischen Padauk-Holzes zu ignorieren, und betete, Rybakows Zuhause möge sich als Loch von einem Penthouse entpuppen, staatlich bezuschusst und vollgemüllt.
Als sich die Lifttüren öffneten, kam jedoch ein sonniger, cremeweiß gestrichener Empfangsraum zum Vorschein, ausgestattet mit schicken Alvar-Aalto-Stühlen und einem raffinierten schmiedeeisernen Deckenfluter. «Hier lang, Schweinerippe», sagte Rybakow. «Mir nach.»
Die beiden betraten das Wohnzimmer, das ebenfalls in dezentem Cremeton gehalten war, bis auf etwas, das nach einem Triptychon von Kandinsky aussah und eine ganze Wand einnahm. Unter dem Kandinsky waren zwei Garnituren von Sofas und Sesseln um einen Rückprojektionsfernseher gruppiert. Dahinter lag ein Esszimmer, in dem ein üppiger Leuchter knapp kalkuliert über einem herrschaftlichen Rosenholztisch hing. Obwohl das Appartement riesig war, wirkte die Einrichtung wie für ein noch größeres Domizil bestimmt. Das hier ist noch gar nichts, schienen die Möbel zu sagen.
So langsam wie möglich nahm Vladimir dieses Tableau in sich auf, wobei sein Blick verständlicherweise an dem Kandinsky hängenblieb. «Dieses Bild …», stammelte er.
«Ach, das. Das hat Miss Harosset mal auf einer Auktion mitgenommen. Sie versucht immer wieder, mir abstrakten Expressionismus anzudrehen. Aber schau dir das Ding bloß mal an! Dieser Kanunsky war offensichtlich Päderast oder so was. Weißt du, Volodja, ich bin ein einfacher Mensch. Ich nehme die U-Bahn und bügle meine Hemden selbst. Ich brauche weder Geld noch moderne Kunst. Ein gemütliches Plumpsklo, ein bisschen Trockenfisch, eine junge Frau, die meinen Namen ausruft – das ist das wahre Leben!»
«Miss Harosset», sagte Vladimir. «Ist das … Ihre Betreuerin vom Sozialamt?»
Mr. Rybakow lachte fröhlich. «Betreuerin, jawohl», sagte er. «Das trifft es genau. Ach, Volodja, du hast es gut, dass du noch so jung bist. Jetzt setz dich, ich mach dir einen Tee. Lass dich von denen nicht täuschen.» Er winkte Vladimir mit einer Krücke. «Ich bin ein Seebär!»
Er verschwand durch eine Glastür. Vladimir setzte sich an ein Ende des Tisches, der sich für ein Staatsbankett besser geeignet hätte als für einen Schluck Tee, und schaute sich um. An der einen Wand hing neben mehreren vergilbten Militär-Urkunden ein Saiteninstrument, das einer russischen Balalaika nicht unähnlich sah. An der Wand gegenüber befand sich lediglich ein gerahmtes Schwarzweißfoto eines ernst blickenden jungen Mannes, der helle Augen und die buschigen Augenbrauen des Ventilatormannes hatte. Quer über seiner Unterlippe saßen Fieberbläschen, die aussahen wie Maulwurfshügel.
Unter dem Foto stand ein schlichter Nachttisch und darauf ein Ventilator mit breiten Flügelblättern, dessen Metallgehäuse funkelte und blitzte.
«Ihr seid also schon dabei, euch bekannt zu machen», sagte Rybakow, während er einen Teewagen mit einem Mini-Samowar, einer Flasche Wodka und Tellern voll Matjeshering und Rigaer Sprotten hereinschob. «Ventilator, das ist Vladimir. Vladimir, Ventilator.»
«Nett, Sie kennenzulernen», sagte Vladimir zum Ventilator. «Ich habe schon so viel Gutes von Ihnen gehört.»
Der Ventilator sagte kein Wort.
«Der Ventilator ist ein bisschen müde», sagte Mr. Rybakow und strich mit einem Samttuch über die Blätter. «Wir haben gestern die ganze Nacht durchgemacht und Sauflieder gesungen. ‹Murka, ach, meine Murka … Ach, meine geliebte Murka … Hallo, auf Wiedersehen!› Kennst du das?»
«Du hast unsere Liebe verraten …», sang Vladimir. «Ach, meine geliebte Murka … Dafür, meine Murka, wirst du zugrunde gehen!»
«Du hast ja eine wunderschöne Stimme!», rief Mr. Rybakow begeistert. «Vielleicht können wir einen kleinen Gesangsverein auf die Beine stellen. Den Exilchor der Roten Armee. Was meinst du, Ventilator?»
Der Ventilator blieb stumm.
«Er ist mein bester Freund, weißt du das?», sagte Rybakow unvermittelt. «Mein Sohn ist weg, Miss Harosset ist den ganzen Tag mit irgendwelchem Teufelszeug beschäftigt, und sonst kümmert sich ja keiner um mich. Ich weiß noch, wie wir uns kennengelernt haben. Ich war gerade am Kennedy Airport gelandet, meinen Sohn haben sie beim Zoll festgehalten – die Burschen von Interpol wollten ein offenes Wort mit ihm reden … Und dann kamen die Frauen von der örtlichen Hebrew Society vorbei, um den ankommenden Juden Geld zu schenken. Tja, nach dem ersten Blick in meine christliche Visage haben sie mir lieber eine Salami und ein Stück von diesem scheußlichen amerikanischen Käse in die Hand gedrückt … Aber dann – wahrscheinlich wegen der Affenhitze in diesem Sommer – hatten die Hebräer Mitleid mit mir und schenkten mir meinen Ventilator. Er war gleich so spontan! Wir haben losgeklönt wie zwei alte Schiffskameraden. Und seit dem Tag sind wir unzertrennlich.»
«Ich habe hier auch noch nicht viele Freunde gefunden», sinnierte Vladimir leise vor sich hin. «Für uns Russen ist es schwer, in diesem Land Freundschaften zu schließen. Manchmal bin ich so einsam, dass –»
«Ja, ja», unterbrach ihn Mr. Rybakow. «Schön und gut, Vladimir, aber der Tag ist kurz, vergessen wir unseren Kummer und reden von Mann zu Mann.» Er räusperte sich und setzte neu an.
«Vladimir, der Ventilator möchte dir eine Geschichte erzählen. Besser gesagt, ein Geheimnis.
Magst du Geheimnisse, Volodja?»
«Ähm, ehrlich gesagt –», sagte Vladimir.
«Na klar, Geheimnisse mag jeder. Also, unser Geheimnis beginnt mit einem Vater und einem Sohn, die beide in der großen Hafenstadt Odessa geboren und aufgewachsen sind. Und die beiden waren sich so nah, wie sich Vater und Sohn nur sein können, Volodja, auch wenn der Vater, Seemann von Beruf, oft um die Welt segelte und den Sohn in der Obhut seiner vielen Geliebten zurücklassen musste. Rrrrr.» Mr. Rybakow knurrte voll Behagen. Er ließ sich auf einem Liegesessel in der Nähe nieder und rückte die Kissen zurecht.
«Bei diesen langen Trennungen wurde dem Vater das Herz immer sehr schwer», sagte er und schloss die Augen. «Auf See führte er oft eingebildete Gespräche mit seinem Sohn, obwohl ihn der Koch Achmetin, dieser räudige Tschetschene, gnadenlos verspottete und ihm bestimmt in die Suppe spuckte. Aber dann, eines Tages in den späten achtziger Jahren … Was passiert da? Der Sozialismus bricht zusammen! Also wanderten Vater und Sohn, ohne lange zu überlegen, nach Brooklyn aus.
Elende Zustände waren das», klagte Rybakow. «Eine winzige Wohnung. Überall Spanier. Ach, die Misere der armen Leute! Und der Sohn – Tolja hieß er, aber alle nannten ihn das Murmeltier (das ist auch eine lustige Geschichte, wie er diesen Namen bekam) – der Sohn freute sich, dass er wieder mit seinem Papotschka vereint war, aber gleichzeitig war er natürlich ein junger Mann. Er wollte auch mal ein Mädchen mit nach Hause bringen, um es von vorne bis hinten durchzuvögeln. Er hatte es nicht leicht, das kannst du mir glauben. Und weit und breit gab es keine Arbeit, bei der er seine angeborene Intelligenz wirklich einsetzen konnte. Höchstens ein paar Griechen stellten ihn mal an, damit er ihnen aus Versicherungsgründen das Lokal in die Luft jagte. Bei so was war er sehr tüchtig, also: Bumm bumm –» Mr. Rybakow nahm einen großen Schluck Wodka. «Bumm bumm. Zehn-, zwanzigtausend Dollar hatte der Sohn auf die Art verdient, aber immer noch war er unruhig. Er war eben ein Genie, verstehst du?» Zur Verdeutlichung zeigte der Ventilatormann auf seinen Kopf.
Vladimir tippte sich zum Zeichen der Zustimmung ebenfalls an den Kopf. Die Mischung aus Tee und Wodka heizte ihm ein. Er angelte in seiner Tasche nach einem Taschentuch, stieß aber nur auf die zehn Hundertdollarscheine, die ihm Rybakow gegeben hatte. Die Scheine fühlten sich steif an, fast wie gestärkt; am liebsten hätte Vladimir sie sich in die Unterhose gesteckt: Streicheleinheiten für die Intimteile. «Und dann bekam der Sohn einen heißen Tipp», fuhr Mr. Rybakow fort. «Er lernte jemand kennen und flog erst nach London, dann nach Zypern und dann nach Prawa.»
Prawa? Vladimir wurde munter. Das Paris der neunziger Jahre? Der Tummelplatz der amerikanischen Künstlerelite? Osteuropas SoHo?
«Ganz genau», sagte der Ventilatormann, als hätte er Vladimirs ungläubiges Staunen gespürt. «Osteuropa. Da macht man heutzutage sein Geld. Und tatsächlich, innerhalb von ein paar Jahren hat der Sohn Prawa erobert, und die eingeschüchterten Einheimischen gehen vor ihm in die Knie. Er kontrolliert das Taxigeschäft am Flughafen und den Waffenschmuggel von der Ukraine in den Iran, schafft Kaviar aus dem Kaspischen Meer nach Brighton Beach, Opium von Afghanistan in die Bronx und hat die Prostituierten am Hauptplatz gleich vor dem K-Mart unter sich. Und er schickt seinem Vater, dem Glückspilz, jede Woche Geld. Das ist doch mal ein dankbarer Sohn, was? Hätte seinen Papa ja auch in ein Altersheim oder in die Psychiatrie stecken können, wie das die Kinder in unseren zynischen Zeiten gern tun.»
Mr. Rybakow machte die Augen auf und wandte sich Vladimir zu, der nervös seine Geheimratsecken befummelte.
«So», sagte Rybakow. «Jetzt, wo der Ventilator wieder still ist, können wir beide uns die Geschichte in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Wie finden wir diese interessante Saga? Sind wir empört über die Aktivitäten des Sohnes, wie es sich für einen guten Amerikaner gehört? Machen wir uns Sorgen um die Prostituierten, die Schmuggelware und die Lokale, die in die Luft fliegen –»
«Na ja», sagte Vladimir. «Ein paar Fragen wirft die Geschichte schon auf.» Rechtsstaatlichkeit, dieser Fels der westlichen Demokratien, war zum Beispiel so eine Frage. «Andererseits dürfen wir nicht vergessen, dass wir arme Russen sind, dass unser Heimatland schwierige Zeiten durchmacht und dass wir manchmal besondere Maßnahmen ergreifen müssen, um unsere Familien zu ernähren und überhaupt zu überleben.»
«Eben! Eine ausgezeichnete Antwort!», sagte der Ventilatormann. «Du bist doch ein echter russki Mushik, im Gegensatz zu diesen Assimilationistenkindern mit ihren Juradiplomen. Der Ventilator ist angetan. Und jetzt, Vladimir, muss ich mir etwas von der Seele schaffen: Ich habe dich nicht nur wegen Hering und Wodka und den sentimentalen Erinnerungen eines müden alten Mannes hier raufgelockt.
Der Ventilator und ich hatten heute früh eine Telefonkonferenz mit meinem Sohn, dem Murmeltier, in Prawa. Mein Sohn ist ebenfalls ein großer Fan deiner Mutter. Er weiß, dass uns der Sohn von Jelena Petrowna Girshkin nicht enttäuschen wird. Ach, Vladimir, Schluss jetzt mit deiner Bescheidenheit! Ich will nichts mehr davon hören! ‹Ich bin nicht der Sohn meiner Mama!›, greint er. ‹Ich bin bloß ein einfacher Mensch!› Du bist ein kleines Gürkchen, und sonst gar nichts.
Also, kleines Gürkchen, der Ventilator und ich freuen uns jetzt, dir folgenden Vorschlag machen zu können: Du besorgst mir meine Staatsbürgerschaft, und mein Sohn macht dich zum außerordentlichen Direktor seiner Organisation. Sobald ich eingebürgert bin, hast du ein Erste-Klasse-Ticket nach Prawa in der Hand. Mein Sohn macht aus dir ein Eins-a-Schlitzohr. Einen modernen Geschäftsmann. Einen – wie sagt ihr Juden dazu? Einen Ganeff. Mehr als acht Dollar die Stunde wirft der Job jedenfalls ab. Sehr gute Englisch- und Russischkenntnisse erforderlich. Kandidat sollte Amerikaner und Sowjetbürger zugleich sein. Interessiert?»
Vladimir schlug die Beine übereinander und lehnte sich vor; er verschränkte die Arme und erschauerte. Doch dieses ganze körpersprachliche Theater war lächerlich. Rein logisch betrachtet, war da nichts drin: Aus ihm wurde kein osteuropäischer Mafioso. Er war das verhätschelte Einzelkind aus Westchester, dessen Eltern fünfundzwanzigtausend Dollar im Jahr hingeblättert hatten, um ihn auf ein progressives College im Mittleren Westen zu schicken. Gut, er war nicht gerade bekannt dafür, sich in einer klar umrissenen moralischen Landschaft zu bewegen, aber Waffenschmuggel in den Iran lag eindeutig nicht auf seiner Route.
Trotzdem öffnete sich im letzten Winkel seines Hinterkopfs ein Fenster, und aus dem lehnte sich Mutter und rief in die Welt hinaus: «Aus meinem kleinen Versager wird noch ein großer Gewinner!»
Vladimir schlug das Fenster schwungvoll zu. «Das ist nicht nötig, Mr. Rybakow», sagte er. «Ich werde Ihren Fall dem Anwalt meiner Agentur übergeben. Er wird Ihnen behilflich sein, das offizielle Formular für die Einsicht in Ihre Akte auszufüllen. Wir finden schon heraus, warum Ihr Antrag auf Staatsbürgerschaft abgelehnt wurde.»
«Ja, ja, ja. Auch bei diesem Thema sind sich mein Sohn und der Ventilator einig: Du bist Jude, und ein Jude ist nicht dumm; man muss ihm schon was bieten, sonst lohnt es sich für ihn nicht. Du kennst doch das alte russische Sprichwort: Ist kein Wasser mehr im Krug, trank der Jud den letzten Schluck …»
«Aber Mr. Rybakow –»
«Jetzt hör mal zu, Girshkin! Die Staatsbürgerschaft ist das A und O! Ein Mann, der zu keinem Land gehört, ist kein Mann, sondern ein Landstreicher. Und dafür bin ich zu alt.» Einen Augenblick war es still, bis auf die Schmatzgeräusche, die Mr. Rybakow mit seinen fleischigen Lippen machte. «Sei doch so lieb», flüsterte er, «und stell den Ventilator auf schnell. Er möchte uns zur Feier unserer Abmachung ein Ständchen bringen.»
«Einfach auf schnell stellen?», fragte Vladimir, dessen Magen eine nervöse Hintergrundmusik brummelte. Welche Abmachung? «Meine Mutter sagt immer, man soll einen Ventilator zunächst auf mittel stellen und erst dann auf schnell, weil sonst der Motor –»
Mr. Rybakow schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. «Bedien den Ventilator nach Belieben», sagte er. «Du bist ein fähiger junger Mann, ich vertraue dir da voll und ganz.»
Vladimir traf die Wucht des russischen Wortes für «vertrauen», das sich im Hause Girshkin besonderer Beliebtheit erfreute. Er stand umstandslos auf, trat an den Ventilator und stellte ihn auf mittel. Die Wohnung hatte zwar eine zentrale Klimaanlage, aber trotzdem war die Brise willkommen: ein kühler Lufthauch, der wie eine Faust in die allgemeine Kälte hieb. Er stellte weiter auf schnell, die Blätter verdoppelten sichtbar ihre Anstrengung, und in ihr Surren mischte sich jetzt ein Quietschen und Knacken.
«Ich muss ihn wieder mal ölen», flüsterte Rybakow. «Man hört ihn ja kaum vor lauter Gequietsche.»
Vladimir kam bei der Antwort ins Schleudern und brachte schließlich nur eine Art Muhen heraus.
«Pschsch, hör zu», sagte sein Gastgeber. «Hör dir das Lied an. Kennst du das?» Der Ventilatormann gab selber einige heisere Quietscher von sich, bis Vladimir merkte, dass er mitsang:
«Pa-ra-ra-ra Mos-kau-er Näch-te plim
Pa-ra-ra-ra plim pa-ra-plim
Plim plim pa-ra plim nicht ver-ges-sen kann
Pa-ra Mos-kau-er Näch-te plim.»
«Ja, das Lied kenne ich!», sagte Vladimir. «Pa-ra-ra-ra Mos-kau-er Näch-te plim …»
Sie sangen die Strophe ein paarmal und setzten ab und zu einzelne Wörter für das «pa-ra plim» ein, wenn sie ihnen plötzlich wieder einfielen. Vielleicht war es Einbildung, aber Vladimir glaubte zu hören, dass der Ventilator bei der bittersüßen Weise nie aus dem Takt kam, ja die beiden Sänger geradezu anführte.
«Gib mir deine Hand», sagte Mr. Rybakow und legte seine faltige, geäderte Handfläche offen auf den Tisch. «Komm, gib sie mir.»
Vladimir betrachtete seine eigene Hand, als sollte er sie gleich in den laufenden Ventilator stecken. Diese schlanken Finger … Schlanke Finger sollten doch gut sein fürs Klavierspielen, aber damit musste man früh anfangen. Mozart war –
Er legte die Hand in die warme Handfläche des Ventilatormanns, der sie umschlang wie ein Python ein Kaninchen. «Der Ventilator rotiert», flüsterte Mr. Rybakow und drückte zu.
Vladimir blickte auf den rotierenden Ventilator und musste an seine Eltern mit ihrem bevorstehenden Wochenend-Grillfest denken. «Mos-kau-er Näch-te plim»: Das sang man in Brighton Beach und in Rego Park und auf 93.7 WEVD, New York – «Wir sprechen Ihre Sprache» –, dem Sender, der bei den Girshkins ständig lief, sogar damals, als seine ersten amerikanischen Freunde von der Jüdischen Schule zum Computerspielen vorbeikamen, das «Pa-ra-ra-ra …» mit dem Billigsynthesizerorchester im Hintergrund hörten und Zeuge wurden, wie seine Eltern am Küchentisch vor ihren verbotenen Schweinekoteletts saßen und mitsangen.
Mr. Rybakow ließ Vladimirs Hand los und tätschelte sie beiläufig, wie man seinem Lieblingshund den Kopf tätschelt, wenn er morgens die Zeitung gebracht hat. Dann hängte er sich über die Seitenlehne seines Liegesessels. «Sei doch so lieb und hol mir die Bettpfanne aus dem Schlafzimmer», sagte er.
Diverse Heringe später verabschiedete sich Vladimir von seinem Klienten und kehrte in sein bescheidenes Quartier in Alphabet City zurück. Schließlich war er zum Geburtstagfeiern mit seiner Geliebten verabredet, der «kleinen Challah-Zopfe». Doch wie das Schicksal so wollte, war Challah ausgerechnet an diesem Tag in den «Kerker» beordert worden, die Peitschenhöhle in Chelsea. Vier Schweizer Banker, unlängst nach New York verpflanzt, hatten festgestellt, dass sich ihre Gemeinsamkeiten nicht auf den Job, die Umschuldung der Dritten Welt, beschränkten: Sie sehnten sich alle danach, von einer Mutterfigur gedemütigt zu werden, die etwas mehr Substanz hatte als die durchschnittliche Kerker-Domina. Folglich war auf Challahs Beeper der Code $$DRINGEND$$ aufgetaucht, und sie war mit einer Blechdose voller Schwanzringe und Nippelklammern losgezogen. Um neun wollte sie wieder zurück sein, Ehrenwort, sodass Vladimir noch etwas Zeit für sich blieb.
Als Erstes stieg er unter die kalte Dusche (draußen waren es 32 Grad, drinnen an die 40). Nackt, sauber und gut gelaunt streifte er dann durch die zweieinhalb Zimmer ihrer gemeinsamen Schlauchwohnung, den schmalen Pfad entlang, wo sein weltmännischer Besitz und Challahs Krempel sich früher bekriegt hatten, jetzt aber durch eine inoffizielle Demarkationslinie getrennt waren.
Schon über zwei Jahre lebte Vladimir nun nicht mehr bei seinen Eltern, aber die Begeisterung darüber, dass er sich aus ihren Samtkrallen befreit hatte, war ungebrochen. Allmählich bekam er eine Hausbesitzermentalität. Er träumte davon, die Wohnung irgendwann von Grund auf zu putzen und das Loch zwischen Küche und Schlafzimmer, das bei ihnen «Wohnzimmer» hieß, in ein Lesezimmer für sich zu verwandeln.
Und was wollte Vladimir in seinem Lesezimmer lesen? Er hatte eine Schwäche für Kurzprosa – kleine, gut durchdachte Geschichten, in denen Menschen akut und heftig litten. Wie in der Tschechow-Geschichte, wo der Droschkenkutscher allen Fahrgästen erzählt, sein Sohn sei kürzlich gestorben, und keiner schert sich darum. Entsetzlich. Die hatte Vladimir zum ersten Mal in Leningrad gelesen, während er wieder einmal krank im Bett lag und Mutter und Großmutter im Nebenzimmer die kuriosesten russischen Hausmittel für seine geplagten Bronchien zusammenbrauten.
Die Geschichte des Kutschers (sie heißt einfach Gram) war gewissermaßen das Stenogramm für die melancholische Existenz des jungen Vladimir, der das Bett immer mehr als seine eigentliche Heimat empfand. Eine Heimat fernab der Leningrader Grabeskälte, in der er früher mit seinem Vater Verstecken gespielt hatte, unter den riesigen Bronzefüßen der Lenin-Statue, deren verdreckter Arm steil nach oben in die verheißungsvolle Zukunft wies. Eine Heimat fernab der Volksschule, wo er nur selten in seiner blitzblanken, gebügelten Uniform erschienen war, da der Arzt ihn meist als zu krank einstufte; und wenn er hinging, starrten ihn die anderen Kinder und der Lehrer an, als wäre er ein mit dem Andromeda-Erreger infizierter Kosmonaut, den man versehentlich aus der Quarantäne entlassen hatte. Und eine Heimat fernab von Serjosha Klimow, dem überfütterten Rüpel – von seinen Eltern bereits in die Grundlagen der Gesellschaftswissenschaften eingewiesen –, der sich in der Pause vor ihm aufbaute und hämisch «Jude, Jude, Jude!» schrie.
Nun hätte der junge Vladimir den Verlust von Freiheit und Ausbildung nur zu willig hingenommen, wenn man ihn mit seinem warmen Federbett, seinem Tschechow und seinem Freund Juri, der Plüschgiraffe, in Ruhe gelassen hätte. Aber Mutter, Großmutter und Vater, wenn er von der Arbeit aus dem Krankenhaus nach Hause kam, gönnten ihm seinen Frieden nicht, sondern kämpften ohne Unterlass und mit der gesamten Sowjetenzyklopädie der Medizin sowie diversen weniger verlässlichen Traktaten gegen sein Bronchialasthma an. Sie packten Vladimirs bleichen Körper stündlich in Alkoholwickel, hielten ihm den Kopf über einen kochenden Topf Kartoffeln und übten sich im surrealistischen Ritual des «Schröpfens»: Ein Satz kleiner Gläser saugte sich schmerzhaft an seinem Rücken fest (nachdem man mit einem brennenden Streichholz in jedem Gläschen die Luft erwärmt hatte, um den Schleim aus dem Körper des Kranken zu ziehen). Stegosaurus-Methode nannte Dr. Girshkin diese vermaledeiten Gläserreihen.
Der ältere, gesunde Vladimir schritt jetzt sein imaginäres Lesezimmer ab, in dem sein Kinder-Tschechow stolz neben neueren Errungenschaften stehen würde: einem Martini-Shaker von der Heilsarmee, einer Biographie von William Burroughs und einem winzigen Feuerzeug, das raffiniert in einem ausgehöhlten Kieselstein steckte. Na gut, für den Tschechow war die Wohnung allmählich zu voll gemüllt – Challahs Gummiknüppel, Peitschen und KY-Pötte standen im Weg, ganz zu schweigen von den billigen Gewürzregalen aus der 14. Straße, die regelmäßig von der Wand fielen, oder den zahlreichen Wassereimern, die Vladimir in Küche und Schlafzimmer aufgestellt hatte, um seinen Kopf hineinzutauchen, wenn er den Temperatur-Status-quo nicht mehr aushielt. Trotzdem, was für eine Wohltat, allein zu sein. Selbstgespräche zu führen, als unterhielte er sich mit seinem besten Freund. Sein tatsächlich bester Freund Baobab war nach wie vor in Miami und ging seinen unappetitlichen Geschäften nach.
Und dann war es so weit. Challah stand vor der Tür und fummelte an den Schlössern herum. Vladimir schaltete den Kopf ab, verschaffte sich eine Erektion und ging hinaus, um seine Freundin zu begrüßen. Da stand sie. Noch bevor er einen richtigen Blick auf ihr Professionellengesicht werfen konnte – in der Hitze zerliefen Lippenstift, Wimperntusche und Rouge zu einer unwirklichen Maske, immerhin einen Hauch verruchter als ihre allzu biederen Alltagszüge –, umarmte sie ihn schon und flüsterte ihm «Alles Gute zum Geburtstag» ins Ohr, denn im Gegensatz zu den anderen Gratulanten des Tages wollte Challah das leise sagen.
Die gute Challah mit der warmen flachen Nase, den überdimensionalen Wimpern, die über seine Wangen kitzelten, und dem schweren näselnden Atem – Königin aller Moschus- und Muttertierwonnen. Sie merkte schnell, was Vladimir weiter unten für sie vorbereitet hatte, wo der Rüssel des Erdferkels aus seiner Stachelhecke lugte, und sagte mit perfekt gespielter Überraschung: «Liebe Güte!» Als sie anfing, die Sicherheitsnadeln an den schwarzen Fetzen aufzuhaken, die sie im Kerker trug, sagte Vladirnir: «Nein, das mach ich!»
«Pass auf, dass du nichts zerreißt», sagte sie und kümmerte sich darum, dass er steif blieb, während er sie auszog; die Sache dauerte schließlich. Als er sie ausgepackt hatte, blieben nur noch die eisernen Kruzifixe auf ihren schweren Brüsten übrig – ein Anblick wie eine Hügellandschaft mit Artilleriegeschützen. Und dann führte Challah ihn endlich mit baumelnden Kreuzen und seinem Glied in der Hand ins Schlafzimmer.
Auf dem Futon rief er sich seine Mission ins Gedächtnis: Gründlichkeit. Er küsste, rieb mit der Nase, zupfte mit den Zähnen, zwirbelte zwischen Daumen und Mittelfinger und bestocherte mit dem, was Challah die Girshkin-Gurke getauft hatte, sämtliche Körperteile an ihr, auch solche, die er mit der Zeit leid geworden war: die Wülste, die sich an ihren Hüften aufwarfen, oder ihre Arme, die ihn dick und rosa an sich pressten, und zwar nicht voller Lust, sondern eher so, wie eine Mutter ihr Kind vor einer anrollenden Lawine an sich drücken würde.
Schließlich, als es zwischen seinen Beinen mit Volldampf kochte, ging er zwischen die ihren und sah sie zum ersten Mal an. Die liebe Challah, die liebe amerikanische Freundin mit ihrem rosigen Blick der Erregung, aber auch beherrscht – wie sie Vladimir davon abhielt, sie in den Hals zu beißen oder die Zunge in ihrem Mund zu versenken, Hauptsache, sie konnte ihm in die Augen schauen, wenn sie sich so nahe waren.
Folglich machte Vladimir die Augen zu. Und hatte eine Vision.
In leichten Baumwoll-Chinos und leger hängendem Hemd, eine braune Net-Sherman’s im Mundwinkel, die Haare im modischen Kurzhaarschnitt und von einem verspielten Sommerwind wellig zur Seite gestrichen, gab Vladimir Borissowitsch Girshkin Anweisungen in ein Mobiltelefon, während er eine Landebahn abschritt. Gut, es war eine lausige Landebahn. Kein Flugzeug weit und breit. Trotzdem: Eine Reihe weißer Striche im richtigen Abstand, in löchrigen Asphalt geätzt, konnte doch nur eine Landebahn bedeuten (sonst höchstens eine Landstraße in der Provinz, aber nein, undenkbar).
Während der blinde, nackte Vladimir im Bett mit Challah verzweifelt auf einen Orgasmus hinackerte, kam sein topmodischer Doppelgänger zügig auf der Landebahn voran, hinter der der Halbkreis einer untergehenden Sonne, aufgedunsen und fleckig wie eine verrottende Frucht, an der Nahtstelle zweier grauer Berge hervorlugte. Vladimir sah diesen neuen Vladimir zwar klar, seinen entschlossenen Gang und sein verärgertes Gesicht, verstand aber nicht genau, was er in das Handy sagte, warum von Gestrüpp überwucherte Felder die Landebahn säumten und warum er sich nicht auch noch ein Flugzeug, tolle Gesellschaft und gefüllte Champagnerflöten zusammenträumen konnte …
Und dann, als der koitale Vladimir unmittelbar vor seinem hart erkämpften Ziel mit Challah stand, hörte der imaginäre Vladimir unmittelbar über sich ein Grollen, ein Dröhnen, eine überschallhafte Luftverdrängung. Eine adlernasige Turboprop kreiste über der Landebahn und flog direkt auf unseren Helden zu, so tief, dass er die einsame Figur im Cockpit sehen konnte, oder jedenfalls das irrsinnige Glitzern im Auge des Piloten, das nur zu einem Mann gehören konnte. «Ich komm dich holen, Junge!», rief Mr. Rybakow in Vladimirs Handy. «Wir hauen ab!»
Er öffnete die Augen. Sein Gesicht war zwischen Challahs Schulterblättern eingequetscht, wo eine Ansammlung von Schönheitsflecken eine Art Suppenkelle bildete. Die Kelle hob und senkte sich mit ihrem Atem; eine Locke ihres orangefarbenen Haars fiel hinein.
Vladimir stützte sich auf einen Ellbogen. Challah hatte in ihrer Freizeit ihr gemeinsames Schlafzimmer in Zahnarztpraxen-Mauve gestrichen, an der Decke hatte sie überlappende Retro-Poster (Kondensmilchreklame und Ähnliches) arrangiert, und dann hatte sie auch noch einen Kürbis gekauft, der jetzt in einer Ecke vor sich hin faulte. «Wieso hast du die Augen zugemacht?», fragte sie.
«Was?» Er wusste genau, was.
«Du weißt genau, was.»
«Die meisten Menschen machen die Augen zu. Ich war eben überwältigt.»
Sie bohrte den Kopf in ein Kissen, das links und rechts aufquoll. «Warst du nicht.»
«Willst du damit sagen, dass ich dich nicht liebe?»
«Du sagst damit, dass du mich nicht liebst.»
«Das ist doch lächerlich.»
Sie drehte sich um, bedeckte ihren Körper aber mit den Armen und zog die Beine an. «‹Das ist doch lächerlich› – wie kannst du das sagen? So was sagt man nicht, außer wenn einem alles scheißegal ist. Wie kannst du so wurstig sein? ‹Das ist doch lächerlich.› Wie kannst du so kalt sein?»
«Ich bin Ausländer. Ich spreche langsam und wähle meine Worte mit Bedacht, damit ich mich nicht blamiere.»
«Wie kannst du jetzt das wieder sagen?»
«Was darf ich denn überhaupt sagen, verdammt noch mal?»
«Ich bin zu fett!», rief sie. Sie sah sich um, als suchte sie nach einem Wurfgegenstand, und packte dann eine der Speckrollen unter ihren Brüsten, direkt über ihrem Bauch. «Sag die Wahrheit!»
Die Wahrheit?
«Du kannst mich nicht ausstehen!»
Nein, so sah die Wahrheit auch nicht aus. Er konnte nur den Gedanken an sie nicht ertragen, aber das war etwas anderes. Trotzdem, Vladimir hatte diese mächtige Matrone schließlich freiwillig in sein Leben geholt, und jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als sein mageres Vokabular nach tröstlichen Worten zu durchforsten, um die geziemenden Schmeicheleien zusammenzubasteln. Du bist nicht fett, dachte er, du bist nur gut entwickelt. Aber noch bevor er solche halbgaren Gedanken aussprechen konnte, fiel ihm ein großes, komplexes Insekt auf, eine Art Schabe mit Flügeln, die unmittelbar unter dem Posterbaldachin durch die Luft schwirrte. Vladimir hielt sich schützend die Hand vor den Schritt.
Inzwischen hatte Challah ihre Speckrolle losgelassen, sodass diese genüsslich in ihrem größeren Landsmann, dem Bauch, aufging. Challah vergrub das Gesicht wieder im Kissen und holte so tief Luft, dass Vladimir sich sicher war, sie würde beim Ausatmen in Tränen ausbrechen.
«Da kommt ein komisches Insekt auf dich zu», warnte er sie.
Challah blickte auf. «Igitt!»
Das Vieh landete zwischen ihnen, worauf sie fluchtartig den Futon räumten. «Gib mir mein T-Shirt», befahl Challah, die sich wieder so gut wie möglich mit den Armen bedeckte.
Der Eindringling kroch so beharrlich über die Kämme und Täler ihrer Bettlaken, wie ein Sattelschlepper sich eine Bergstraße hochwindet, um sich dann mit einem Riesensatz in Vladimirs Kissen zu stürzen. Nicht schlecht! Die Schaben in Leningrad waren viel kleiner und längst nicht so unternehmungslustig.
Challah beugte sich vor und blies das Monster hoffnungsfroh an, schreckte aber zurück, als sich seine Flügel bewegten. «Ach Mensch, ich will einfach schlafen», sagte sie, während sie ihr langes T-Shirt wieder anzog, das mit dieser Kinder-Comicfigur, die Vladimir nicht kannte, einem seltsamen blauen Kobold. «Ich bin schon seit sechs auf. Ein zweiter Staatsanwalt wollte ein komplettes Teeservice auf seinem Rücken aufgestellt haben.»
«Du spielst doch nicht Sklavin?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Wenn so ein Anwalt dich angrabscht –»
«Kein Mensch grabscht mich an. Die wissen schon.»
Er kam ums Bett herum und nahm sie in den Arm. Sie wich zurück. Er küsste sie auf die Schulter, und bevor er irgendetwas anderes unternehmen konnte, fing er an zu weinen – das passierte manchmal ganz leicht, jetzt, wo sein Vater nicht mehr in der Nähe war, um Einspruch zu erheben. Sie drückte ihn an sich, und er fühlte sich in ihren Armen sehr, sehr klein. Auf dem Futon regierte immer noch das Insekt, also gingen sie hinaus auf die Feuerleiter, um eine zu rauchen. Challah weinte inzwischen ebenfalls, mit der Zigarette in der Hand, und als sie sich die Nase an der Handfläche abwischte, bekam Vladimir Angst, ihre Haare könnten Feuer fangen, weshalb er Anstalten machte, ihr die Nase zu putzen.
Sie tranken ungarischen Billigriesling, dem die Kopfschmerzen nach dem dritten Glas aufs Etikett geschrieben waren. Sie hielten Händchen. Gegenüber im Pflegeheim Garibaldi, einem fünfstöckigen Gebäude, das man in den sechziger Jahren gebaut hatte, um zu beweisen, wie ähnlich ein Gebäude einer Resopalplatte sehen konnte, gingen die Lichter aus. Der jamaikanische Plattenladen im Erdgeschoss – im Sortiment drei Bob-Marley-Platten und sehr viel Dope – stimmte sich aufs nächtliche Business ein, wobei die Lautstärke des Reggae den Schrullen der schlafbedürftigen Garibaldi-Bewohner gegenüber zuliebe gedrosselt wurde. Genau wie die Bullen hatten diese mit den profitablen Rastafaris eine Art pragmatischer Übereinkunft à la Alphabet City getroffen: Jeder ließ jeden in Ruhe, und die Musik blieb leise.
«Hey, in drei Monaten werde ich fünfundzwanzig», sagte sie.
«Ist weiter nicht schlimm, wenn man fünfundzwanzig wird», sagte Vladimir. Und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Vielleicht war es für sie ja doch schlimm. «Ich habe gerade von einem Klienten tausend Dollar bekommen», sagte Vladimir. «Wir könnten an deinem Geburtstag in ein schönes französisches Restaurant gehen. In das mit den berühmten Meeresfrüchten zum Beispiel. Von dem habe ich in der Zeitung gelesen. Vier Sorten Austern, eine ganz besondere Langustenart –»
«Du hast tausend Dollar von einem Klienten gekriegt?», sagte Challah. «Was musstest du denn dafür tun?»
«Nichts!», sagte Vladimir und schüttelte sich beim bloßen Gedanken an die Anspielung. «War bloß ein Trinkgeld. Ich helfe ihm, seine Staatsbürgerschaft zu bekommen. Diese Meeresfrüchte sind jedenfalls …»
«Ich kann das glibberige Zeugs nicht ausstehen, das weißt du doch», sagte Challah. «Gehen wir lieber einen richtig guten Hamburger essen. Wie damals in dem schicken Diner, wo wir an Baobabs Geburtstag waren.»
Hamburger? Sie wollte an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag Hamburger essen? Vladimir fiel das bevorstehende Grillfest bei seinen Eltern ein, eine ausgesprochen hamburgerträchtige Veranstaltung. Ob er Challah dazu einladen sollte? Ob sie etwas Anständiges anziehen würde? Ob sie so tun könnte, als studierte sie Medizin, womit Vladimir die Girshkin’sche Familienphantasie diskret gespeist hatte?
«Das mit dem schicken Diner klingt doch sehr gut», sagte Vladimir und küsste Challah auf die spröden Lippen. «Wir bestellen für alle einen Caesar’s Salad, Gourmet-Relish, Sangria in rauen Mengen, was du willst …» Und das nächste Mal würde er beim Sex die Augen offen lassen. Ihr direkt in die Augen schauen. Durch solche Sachen hielt man schließlich eine Beziehung am Laufen. So etwas nannte sich Notmaßnahme. Vladimir kannte sich aus. Sich sein Lehen erhalten, egal, wie mickrig es sein mochte, das war doch die Aufgabe eines gereiften, erwachsenen Vladimir.
Am Wochenende stand dann Dr. Girshkin schwitzend in der Mittagssonne, seine Glatze bräunte zusehends wie ein Crêpe in der Pfanne, und er fuchtelte mit einer riesigen Fleischtomate herum. «Das ist die größte Tomate im ganzen Staat New York», erklärte er Vladimir, dem er sie aus jedem erdenklichen Winkel präsentierte. «Ich muss ans Landwirtschaftsministerium schreiben. Vielleicht haben die für so jemand wie mich einen Preis.»
«Du bist ein Meistergärtner», piepste Vladimir und versuchte, einen aufmunternden Ton in seine Stimme zu schmuggeln.
Leicht war das nicht. Während er den ganzen Vormittag damit zugebracht hatte, Riesenrettiche beim Sonnenbaden im Vorstadtdunst zu beobachten, war ihm etwas Neues, Verstörendes aufgefallen: Sein Vater wurde alt. Er war klein und kahl, mit dem zierlichen Körperbau und dem dunklen ovalen Gesicht Vladimir nicht unähnlich. Seine Brust war zwar vom dauernden Angeln und Gärtnern noch straff, der schwarze Teppich, der sie bedeckte, war aber in letzter Zeit ergraut, seine Haltung war nicht mehr ganz so aufrecht, und seine lange Adlernase hatte früher nie so dünn und zerbrechlich ausgesehen, die Haut drum herum nie so voller Sonnenfältchen.
«Weißt du, wenn der Dollar abstürzt und wir alle wieder wie die Bauern leben müssen», sagte Vladimir, «dann wäre diese Tomate eine ganze Hauptspeise.»
«Na klar!», sagte der Doktor. «Mit großem Gemüse kommst du weit. Im Krieg hatten wir Zeiten, da haben sich ganze Familien tagelang von einer einzigen Karotte ernährt. Bei der Belagerung von Leningrad zum Beispiel haben deine Großmutter und ich … na, ehrlich gesagt waren wir überhaupt nicht in der Nähe von Leningrad. Wir sind gleich bei Kriegsbeginn in den Ural geflüchtet. Aber zu essen gab es dort auch nichts. Wir hatten bloß Tolik, unseren Eber. Ein Riesentrumm von Schwein – an dem haben wir fünf Jahre lang gegessen. Töpfe mit Schmalz haben wir sogar noch gegen Garn und Kerosin eingetauscht. Der ganze Haushalt hing von diesem Schwein ab.» Er blickte seinen Sohn traurig an, als bedauerte er, dass er keinen Schwanzwirbel oder sonst ein Souvenir aufgehoben hatte. Dann fiel ihm etwas anderes ein.
«Mutter!», rief er Vladimirs Großmutter zu. Sie döste in ihrem Rollstuhl unter den mächtigen Eichen, die das Grundstück der Girshkins von dem ihrer angeblich größenwahnsinnigen indischen Nachbarn abgrenzte. «Weißt du noch, das Schwein, das wir hatten? Tolik?»
Oma lüpfte mit ihrer gesunden Hand die Krempe ihres Strohschlapphutes. «Was hast du gesagt?»
«Tolik, das Schwein!», brüllte Vladimirs Vater.
Omas Augen wurden groß. «Ja, dass dieses Schwein mir nie schreibt, möchte wirklich wissen, warum», sagte sie und drohte dem Doktor und seinem Sohn mit der Faust. «Boston ist doch nicht weit, da könnte er mich wirklich ab und zu mal besuchen. Schließlich hab ich den Kerl so gut wie großgezogen, nachdem seine Mutter tot war.»
«Nein, nicht Cousin Tolik», brüllte Dr. Girshkin. «Ich rede von Tolik, dem Eber. Weißt du noch, im Krieg? Im Ural? Er wurde so groß, dass wir auf ihm in die Stadt geritten sind. Kannst du dich an den Eber erinnern?»
«Ach so», sagte Großmutter. «Doch. Ich erinnere mich an ein Tier. Das war aber eine Kuh, und die hieß Mascha.»
«Mascha war nach dem Krieg!», brüllte Dr. Girshkin. Er drehte sich zu Vladimir. Vater und Sohn warfen sich einen Blick zu und zuckten aus jeweils unterschiedlichen Gründen die Achseln.
«Wozu hätten wir denn einen Eber halten sollen?», überlegte Großmutter, während sie ihren Rollstuhl langsam von ihrem freiwillig bezogenen Posten herübermanövrierte und die Eichen schutzlos dem Inder und seiner berüchtigten Motorsäge überließ. «Wir sind doch Juden, oder? Gut, deine Frau isst die Schweinesalami aus dem russischen Laden, und ich manchmal auch, weil sonst nichts im Kühlschrank liegt. Aber einen ganzen Eber?»
Verstört beäugte Großmutter das Tomatenbeet.