Lanny - Max Porter - E-Book

Lanny E-Book

Max Porter

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Beschreibung

Ein kleines abgelegenes Dorf. Es gehört den Menschen, die dort leben, ihren Freuden und Sorgen, ihrem Alltag und ihren Legenden. Doch es gehört auch dem mythischen Altvater Schuppenwurz, der aus seinem Schlaf erwacht ist, dem dörflichen Treiben zusieht und lauscht, immer auf der Suche nach seiner Lieblingsstimme: der Stimme von Lanny. Der neue Roman von Max Porter ist eine bewegende Warnung davor, was wir zu verlieren haben, und eine Hymne an alles, was wir nie ganz verstehen werden.

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INHALT

» Über den Autor

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks des Autors

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DEN AUTOR

Max Porter, 1981 geboren, studierte Kunstgeschichte und arbeitete jahrelang als unabhängiger Buchhändler, bevor er Lektor bei dem britischen Verlag Granta wurde. Sein international gefeiertes Debüt Trauer ist das Ding mit Federn wurde u.a. mit dem Sunday Times Young Writer of the Year Award, dem International Dylan Thomas Prize und dem Europese Literatuurprijs ausgezeichnet und fürs Theater adaptiert. Lanny ist sein zweiter Roman. Max Porter lebt mit seiner Familie in Bath.

ÜBER DAS BUCH

Ein kleines abgelegenes Dorf. Es gehört den Menschen, die dort leben, ihren Freuden und Sorgen, ihrem Alltag und ihren Legenden. Doch es gehört auch dem mythischen Altvater Schuppenwurz, der aus seinem Schlaf erwacht ist, dem dörflichen Treiben zusieht und lauscht, immer auf der Suche nach seiner Lieblingsstimme: der Stimme von Lanny. Der neue Roman von Max Porter ist eine bewegende Warnung davor, was wir zu verlieren haben, und eine Hymne an alles, was wir nie ganz verstehen werden.

»Max Porter ist anders als alles, was man bisher gelesen hat.« The Guardian

»Was für ein umhauendes Buch, was für eine rohe Wucht. Das kommt auf meine Liste der besten Bücher aller Zeiten.« Isabel Bogdan über Trauer ist das Ding mit Federn

»Sein erstes Buch war genial. Ich kann kaum erwarten, zu sehen, was Max Porter als Nächstes macht.« Nick Hornby

Friede, Fremder, ist ein Baum,Er wächst natürlich durch alleStörungen, Prüfungen und NöteDes Wachsens.Er ist grün und entschlossen,Er ringt nach Atem,Doch strömt er Frieden aus, Ruhe,Wachstum und Bewegung.Durchwandert mit grünem BalsamDie Welt, wo immerHimmel und Sonne seinem Wesen dienen,Wie ich dem deinen.

Lynette Roberts: »Green Madrigal (I)«

1

Altvater Schuppenwurz wacht aus dem Stand weitflächig auf, streift pechdunkle Traumreste ab, die glitzern vor feuchten Kehrichtklumpen. Er legt sich hin, um Erdhymnen zu hören (es gibt keine, also summt er), dann schrumpft er, schlitzt sich mit einer rostigen Dosenlasche einen Mund, saugt eine nasse Haut aus saurem Mulch und saftigen Würmern an. Er zerfällt und bebt, teilt und sammelt sich, würgt eine Plastikflasche hoch und ein versteinertes Kondom, verweilt kurz als zerschlagene Fiberglaswanne, stolpert und reißt sich die Maske ab, befühlt sein Gesicht und entdeckt lang vergrabene Gerbsäureflaschen. Viktorianischer Abfall.

Reizbarer Stammvater Schuppenwurz sollte nachmittags nicht schlafen, weiß nicht, wer er ist.

Er sinnt nichts Gutes, also singt er. Es klingt zäh-nichtig nach im Hochsommer poppenden Teerblasen. Für sein Grinsen braucht er eine klebrige Stunde. Er schwatzt einfältig näselnd den papier-mumifizierten Flügeldingen und Borkenkäferlingen vor, munterer nun, spricht zu den eigenen Spuren vom letzten Jahr, zu den Mäusen und Lerchen, den Wühlern, dem Wild, seinem anheimelnden einstigen Selbst, so zyklisch verlässlich, Teil desländlichenLebenslaufs. Er schlüpft aus einer finsteren Verkleidung in die nächste, raschelt und sickert und schimpft sich seinen Weg durch den Wald. Er geht ein Stück als Techniker mit Warnweste. Er macht einen Schritt im Smoking, als Luftschutzbunker, im Trainingsanzug, als rostige Motorhaube eines Jeeps, im Lederrock, aber nichts funktioniert. Er legt eine Pause als Auspuff ein, dann windet er sich zur Schlinge, zur Kaninchenfalle, zur bepissten Nessel, zum pink-gewürgten Lamm. Er pflückt eine Schwarzdrossel vom Himmel und knackt den gelben Schnabel. Er späht in das gespaltene Gesicht, als wärs ein klarer See. Er schleudert den Vogel durch den Forst, steht waldbloß, buschig da und stampft mit den stockigen Haxen. Sein Rumpf ist ein Rindenharnisch mit den eingeritzten Initialen längst toter Teenagerpaare. Er kracht durch den Wald, hellwach und hungrig danach zu lauschen.

Nur eines muntert den launischen Schuppenwurz auf, nämlich sein Lauschen.

Er schnürt genauso schnell über das Land wie der Abend und erreicht seine Lieblingsstelle. Das Dorf, hingetupft im Halblicht, hübscht sich vor ihm auf. Er schiebt sich ins Schwingtor. Er ist unsichtbar und geduldig und etwa flohgroß. Er hält still.

Er lauscht.

Da.

Menschenlaute, an sein Gefallen gefesselt, übers Feld gezerrt, seinem großen Verlangen einverleibt.

Sie umgarnen ihn, er greift zu und zupft behutsam an Fäden, ein Dirigent, der dem Orchester Töne entlockt,

gekonnt, ohne Hast, wie die Zeit dem Organismus den Tod bringt, nach und nach, lauschend. Er hört sein Dorf sich zur Ruhe begeben,

Meister Schuppenwurz atmet aus, entspannt sich, lümmelt in seinem Schwinggatter, lächelt und saugt sie auf, seine englische Symphonie,

er schwimmt darin, schlingt und suhlt sich,

er reibt sich mit ihnen ein, er schiebt sie in seine Öffnungen, er gurgelt, spielt, phrasiert und giert, leckt und schlürft an den Lauten, will sich den Ort auf der Zunge zergehen lassen, diesen seinen eigenen Ort,

und dann hört er ihn, klar und unverfälscht, den herrlichen Klang seiner Lieblingsstimme.

Den Jungen.

Es hat den Kopf eines Delfins und Flügel wie ein Wanderfalke, ein Sturmwarnungstier, das über das Wetter wacht, während wir schlafen.

Altpapa Schuppenwurz wiegt sich in kranken Lärchenarmen, Kuckucksabber rinnt ihm übersKinn. Er grinst.Es hat den Kopf eines Delfins und Flügel wie ein Wanderfalke! Ihn überkommt eine chirurgische Lust, er möchte das Dorf spalten und das Kind herausziehen. Entfernen. Jung und zugleich uralt, Spiegel und Schlüssel. Ein Sturmwarnungstier, das über das Wetter wacht …Er lauscht dem Jungen eine Weile, seinen Bettzeitgedanken, seinen Gutenachtworten an die Mutter, seinem in visionären Schlaf hinübersickernden Wachdenken. Dann verlässt Papa Schuppenwurz seinen Posten und zieht ab, glucksend, in seinen diversen Häuten schlackernd, gehüllt in eine Abdeckplane, trunken vor Dorf, saftstrotzend vor Gefühl, gärend vor Gedanken dazu, wie wieder und wieder eines zum anderen führt, ein ums andere Mal, ohne dass es je ein Ende gäbe.

LANNYS MUM

Und da nun der Klang eines Lieds,

warmer kreatürlicher Atem.

Mein singendes Kind,

mit seinen Gaben.

Einen Augenblick später erst merke ich, er ist es nicht.

Lanny?

LANNYS DAD

Ich sitze in der City am Schreibtisch, und die Vorstellung, dass er eine Bahnstunde entfernt existiert, im Dorf seinen Tag beginnt, mit seinem andersartigen Gehirn herumspaziert, scheint fast unmöglich. Hier bei der Arbeit kann ich kaum glauben, dass wir ein Kind haben und dass das Lanny ist. Wären meine Eltern noch da, sie würden bestimmt sagen, Nein, Robert, du hast ihn geträumt. So sind Kinder nicht. Geh wieder ins Bett. Geh wieder an die Arbeit.

In seinem Zeugnis stand: »Lanny hat so viel Gemeinsinn. Er kann eine unbändige Klasse mit einem einzigen gut platzierten Witz oder einem Lied beruhigen.« Nüchtern betrachtet leuchtet das ein. Es klingt sehr nach Lanny. Aber woher hat er diese Gaben? Habe ich sie auch? Was oder wer soll den derart begabten Lanny an die Hand nehmen? Verdammt, das sind wir. Wer kriegt schon Kinder und wird nicht verrückt?

»Lanny ist sehr sprachbegabt, sein zum Weltbuchtag verfasstes Akrostichon Tarka der Otter wurde dem Schulleiter vorgelegt und mit einem goldenen Ulmensticker für herausragende Leistungen versehen.«

Bitte? Wovon redet ihr da? Ich will auch einen Sticker.

PETE

Das war in der Zeit, da ich vor allem Skelette toter Tiere sammelte und bearbeitete. Meist Vögel. Ich zerlegte sie, überzog sie mit Blattgold, setzte sie falsch wieder zusammen und hängte sie an Drahtgestelle. Kleine Mobiles fehlkonstruierter Vögel. Ich hatte rund ein Dutzend davon. Die Galerie brauchte was zum Ausstellen. Zum Verkaufen.

Ich machte auch Gipsabdrücke verschiedener Rinden. Die kombinierte ich mit Textfragmenten in Kästen. Und es gab Zeichnungen. Ein paar halbwegs anständige Drucke. Serien. Stille Sachen.

Eines Morgens kam sie ins Atelier und brachte mir einen Ast mit zwei perfekten Armen. Sie hatte von mir mal eine Holzskulptur gesehen.

Aus ein paar gelegentlich auf der Straße gewechselten Worten waren Stippvisiten geworden, ein-, zweimal die Woche auf eine Tasse Tee. Mal mit Lanny, mal allein. Sie wohnten erst ein oder zwei Jahre im Dorf.

Sie hatte einen grob gehauenen Mann von mir gesehen, einen Christus ohne Kreuz, und sie hatte in dem heruntergefallenen Ast die Möglichkeit eines zweiten erkannt.

Sehr aufmerksam, sagte ich.

Jederzeit, Pete, sagte sie.

Ich mochte sie. Konnte gut mit ihr reden. Warm, ein scharfes Auge. Ich zeigte ihr oft meine Arbeiten, und sie hatte Interessantes dazu zu sagen. Sie brachte mich zum Lachen, machte aber immer rechtzeitig den Abflug.

Schien zu spüren, wann mir nicht nach Gesellschaft war.

Sie war Schauspielerin, Bühne, dann ein bisschen Fernsehen. Dazu hatte sie gute Geschichten auf Lager. Zu den ganzen Arschlöchern im Betrieb. Nicht gerade meilenweit entfernt von der Kunstszene, wie ich sie kannte.

Die Schauspielerei fehlte ihr nicht, aber sie langweilte sich gelegentlich, wenn Lanny in der Schule war und ihr Mann in der Stadt. Sie schreibe ein Buch, sagte sie. Spannungsliteratur, einen Krimi.

Wahrscheinlich furchtbar brutal, sagte ich.

Ja, brutal und furchtbar, sagte sie, aber eben spannend.

Oft setzte sie sich zu mir, wenn ich arbeitete. Sie hatte der Galerie ohne mein Wissen eines meiner Werke abgekauft. Eines meiner guten Großreliefs. Ich sagte, wenn ich das gewusst hätte, hätte ich ihr einen Freundschaftspreis gemacht, und sie sagte, Eben, Pete.

Ich mochte sie.

Sie hantierte oft mit irgendwelchen herumliegenden Sachen.

Drähten. Einem Bleistift. Zweigen.

Nur zu, sagte ich einmal, mach was draus.

Oh nein, visuell bin ich hoffnungslos, sagte sie.

Und ich weiß noch, dass ich die Bemerkung seltsam und traurig fand.

Visuell hoffnungslos.

Das musste ihr irgendwer eingeredet haben.

Ich dachte an meine Mutter. Als sie noch sehr klein war, hatte ihr mal jemand gesagt, sie könne den Ton nicht halten. Also hat sie ihr Leben lang nicht gesungen oder gepfiffen. Ich kann nicht singen, sagte sie. Erst viel später, als sie tot war, begriff ich, was für ein Schwachsinn das war. Kann nicht singen.

Also sitzt sie an meinem Tisch und stupst an einem Häufchen zerbröselter Flechten herum, während wir über den monströsen Glaskasten sprechen, der auf Sheepridge Hill neu gebaut wird.

Ich beobachte sie.

Erst formt sie einen ordentlichen Haufen. Drückt ihn platt. Teilt ihn. Schiebt zwei Linien zurecht. Stupst sie in Abständen zusammen, bis sie eine kleine Reihe graugrüner Zähne erhält. Formt Ecken und säubert mit dem Fingernagel die Ränder, dann tupft sie mit der angefeuchteten Fingerkuppe ein gleichmäßiges Rund hinein.

Visuell hoffnungslos, sitzt aber da und verschiebt einen kleinen Haufen trockener Flechten zu einem halben Dutzend hübscher Formen, lässt geistesabwesend auf meinem Küchentisch Bilder entstehen.

Sie blickte hoch und sagte, sie weiß ja, dass ich zu tun habe, und weiß, dass ich berühmt bin, aber wenn das jetzt nicht komplett bescheuert ist, ob ich dem jungen Lanny nicht vielleicht ein paar Stunden geben könnte.

Kunstunterricht: So ein Bockmist, dachte ich.

Ich sagte ihr, sosehr ich den Jungen mag und unsere kleinen Unterhaltungen genieße, könnte ich mir nichts Schlimmeres vorstellen als Kunstunterricht.

Ich bin ein elender alter Eigenbrötler und kann kaum einen Bleistift halten, sagte ich.

Und sie lachte und sagte, Verstehe, und dann verdrückte sie sich auf ihre sympathische Art. Lichtempfänglich, könnte man es nennen. Von der Sorte, die dem Wetter ein klein wenig wesensverwandter ist als die meisten, viel eher aus denselben Feinstoffen gemacht als die meisten Menschen heutzutage. Was Lanny erklärt.

Also ging sie an jenem Morgen wieder, und ich saß da und atmete die Luft ihres Besuchs und dachte lange darüber nach, wie Frauen aufwachsen, was es heißt, in dieser Welt weiblich zu sein, und da fehlten mir meine Mutter und meine Schwester und andere Frauen, die ich gekannt habe, und ich belegte den Schädel eines Rotkehlchens vorsichtig mit winzigen Goldblättchen und summte »Old Sprig of Thyme« vor mich hin.

LANNYS MUM

Und da nun der Klang eines Lieds,

warmer kreatürlicher Atem,

und er schmiegt sich an mich, klettert auf meinen Schoß und knuddelt mich.

Ich sagte, Auftritt Lanny – Gesang und Kieferngeruch und andere Düfte.

Ich dachte, Bitte werde nie zu erwachsen zum Knuddeln, mein kleines geothermales Jüngelchen.

LANNYS DAD

Wenn ich um 7:21 fahre, entgeht mir ein Frühstück mit Lanny, dafür bleibt mir Carl Taylor erspart und ich kriege meist einen Sitzplatz. Wenn ich um 7:41 fahre, bekomme ich Lanny noch zu sehen, aber dann lauert mir Carl Taylor schon am Bahnsteig auf, und ich muss mir das Neueste über Susan Taylor und die schlauen Taylor-Töchter anhören und welche Fächer sie für den Sekundarstufenabschluss gewählt haben, und wir stehen dann meist eingekeilt zwischen fremden Achselhöhlen und einem Klappfahrrad, während Taylors Redeschwall sich mit der blechernen Musik aus jemandes Kopfhörer beißt.

Die Dorfstraße runter, mit gerade so viel Karacho in die Kuhle der Kreuzung, dass der Speckbauch schwabbelt, die Ghost Pilot Lane rauf, durch Ashcote durch. Ohne Traktoren schaffe ich es in unter zwanzig Minuten zum Bahnhof. Meine persönliche Bestzeit sind vierzehn. Wenn ich in der Ghost Pilot Lane etwas abbremse, sind vielleicht Rehe auf der Straße, dann halte ich kurz und beobachte sie. Oder ich hupe, um sie zu warnen, und erreiche siebzig, achtzig Meilen die Stunde, Fenster offen, um mich wach zu schocken. Warum sollte ich an dem Wagen nicht meine Freude haben, er war schließlich teuer genug und verbringt den Großteil seines Lebens als Park-and-Ride-Schlitten.

Manchmal, wenn ich schnell war, bleiben mir fünf Minuten auf dem Bahnhofsparkplatz, und dann rede ich mit meinem Gefährt. Danke, sage ich. Stets gern zu Diensten, Sir. Der war gut, Kumpel. Bukephalos, du Prachtstück, Inbegriff der Pferdestärken. Das nenne ich Pendeln. Dem Trott etwas abgewinnen, das sind die kleinen Kniffe des Teilzeit-Landbewohners. Mag seelentötend sein. Mag erbärmlich sein. Was weiß ich schon.

Über meinem Schreibtisch hängt eine Zeichnung von Lanny. Sie zeigt, wie ich im Cape über eine Skyline fliege, und darunter steht: »Wohin saust Dad Tag für Tag? Das weiß keiner.«

LANNYS MUM

Pete kam und klopfte bei uns an.

Bin grad der alten Peggy ohne Kreuzverhör entwischt.

Gratuliere, Pete, aber sie wird dich auf dem Heimweg abfangen. Sie fürchtet, jemand füttert die Rotmilane. Tee?

Er blickte auf seine Stiefel und zupfte sich am Bart.

Danke, nein. Hör mal. Ich habe gestern noch mal nachgedacht, als du weg warst. Ich bin ein alter Griesgram, aber dagegen kann man ja was tun. Vom Unterrichten versteh ich nichts, habe den Unterricht selbst immer gehasst. Aber wenn du meinst, dass Lanny vorbeikommen und in der Küche sitzen soll, Papier kriegen, mit mir zeichnen, mit mir darüber reden, was ich tue, warum nicht. Er ist ein prima Junge, und ich hätte gegen ein bisschen Gesellschaft nichts einzuwenden. Täte mir vielleicht gut. Wie wärs also montags oder mittwochs nach der Schule?

Ach, wie schön von dir, Pete. Dafür dürfen wir dir aber etwas geben.

Kommt überhaupt nicht infrage. Kannst du knicken, meine Liebe. Dein reicher Mann kann einen meiner fummeligen Goldvögel kaufen, wenn sie nächstes Jahr ausgestellt werden.

Nun, das ist sehr großzügig von dir. Lanny wird begeistert sein. Mittwochs wäre super.

Pete knirschte die Auffahrt hinab. Ohne sich umzudrehen, hob er die Hand und rief:

Dann erwarte ich ihn Mittwoch, vier Uhr!

ALTVATER SCHUPPENWURZ

Vater Totwurz liegt unter einer Vikarsfrau aus dem vorigen Jahrhundert und spielt mit Eibenwurzeln in ihrem Becken. Er liebt den Friedhof. Er lauscht …

Quader von ferne, Feldsteine von hier, Holz aus hiesigen Wäldern, heimische Jungs, Drechsler von auswärts für die Kirchbänke, die Blumenornamente, eine Liedtafel mit Efeuumrandung, den Altartisch mit – ja, in der Tat, da ist er, der Grüne Mann, grinst die Getauften und Getrauten an, die Angeödeten und die Toten, zerbeißt seine Kalksteintollkirschen,

Er findet sich auf Schlusssteinen, Zierschablonen, als Tätowierung und als Cricketclub-Logo wieder, war so ziemlich jedes englische Kinkerlitzchen und Kitsch aller Art, Moral für Bares, Maskottchen und Fluch. Er überdauert als Legende in jedem Schlafzimmer in jedem Haus. Er durchtränkt sie wie Wasser. Tierisch, pflanzlich, mineralisch. Sie bauen neue Häuser, kappen seinen Gürtel, also taucht er anverwandelt wieder auf, er erschreckt und bestimmt. An diesem Ort ist er alt wie die Zeit.

PETE

Wir nehmen unseren Unterricht auf.

Wir sind drinnen, weil meilenbreit Schauerstaffeln durchs Tal sprinten, wie mit dem Spachtel verschmiertes Schlechtwetter zieht am Fenster vorbei.

Zwei Stühle am Küchentisch.

Behaglich. Kaminfeuer. Radio 3.

Zwei Blöcke, zwei Stifte, ein Glas Saft, ein Becher Tee.

Ah, Lanny, mein Freund, sieh sie dir an, die leeren Seiten,

fühlst du dich nicht wie Gott vor Beginn aller Zeiten?

Dir steht alles offen.

Also LOS!, sage ich. Mal mir einen Mann.

Was für einen Mann?

Einen beliebigen. Eine Person. Was Menschliches. Ich habe im Kopf eine Münze geworfen, Baum oder Mann, und es war Mann, also fangen wir erst einmal damit an.

Seine Schultern runden sich, die rechte etwas hochgezogen, als er die Arme um sein Blatt legt und anfängt zu kritzeln, mit einem leisen Fast-Flüster-Summen aus Halbwörtern und tröpfelnden Melodiefetzen. Konzentriert. Er hetzt sich nicht.

Er kratzt sich am Kopf, richtet sich auf und schiebt seine Zeichnung rüber. Unzufriedenes Stirnrunzeln.

Gut, lass mal sehen. Ganz klar, ein Mann. Gut gemacht. Dann wollen wir den mal durchgehen und schauen, was wir da haben.

Die Anspannung der Konzentration ist weg und Lannys Gesicht weit offen, neugierig zugewandt. Seine Augen sind von einem sehr lichten Grün, wie Hainbuchen im Frühling.

Also gut, Lanny. Wo wachsen deine Arme raus? Sieht aus, als wüchsen deinem Kerl die Arme direkt aus den Rippen, was meinst du?

Wir drehen uns seitlich weg und breiten die Arme aus, zwei Flieger am Küchentisch. Lanny lacht und nickt zu seiner Schulter hin und zeichnet dem armen Kerl ein neues Paar Arme, die an der richtigen Stelle sitzen und nicht fast in der Taille.

Und jetzt der Kopf, Lanny. Vorschlag zur Güte: Betrachte mal deine eigene Wenigkeit und überlege, ob nicht zwischen Kopf und Brust noch irgendwas ist.

Er grinst und zeigt mit gespielter Überraschung auf seinen Hals.

Wir lachen. Wir freuen uns. Wir stoßen an und trinken auf die deutlich bessere Darstellung eines Manns.

Als er längst weg ist nach dieser ersten Stunde, sitze ich und überlege.

Ich versuche, die Geräusche zu imitieren, die Lanny macht, seinen songhaften Singsang:

»Limon-a, fruchte fa, limon abe, fabe habe, männe da, laber da, litze fahr, aba chakka aba chakka aba chakka limon-a …«

Vielleicht ein Fernsehjingle oder Popsong, den ich nicht kenne, vielleicht aber auch bloß Lanny, der nimmt, was immer er aufgeschnappt hat, der die Klänge dieser Welt aufsaugt und daraus eine andere spinnt.

Ich warte.

Windhörige Wollmäuse ducken sich in die Küchenecken.

Ich entsinne mich, wie grau ich mich fühlte zu den Hochbetriebszeiten, als meine Kunst sich plötzlich verkaufte. Als ständig jemand was von mir wollte. Die Leute meinen Namen kannten. London. Und ich taste mich weiter zu der Zeit davor, zu Tagen der Klarheit wie diesen. Als ich Junge war.

Ich entsinne mich der alten Dame, die mir einst meine eigene Zeichnung eines Manns zeigte und mich aufforderte zu überlegen, wo, anatomisch betrachtet, die Arme saßen.

Die alte Dame lebt nicht mehr.

Die Erde dreht sich wie bisher.

LANNYS MUM

Lanny tanzt herein, singend, nach freier Natur riechend.

Weiiißtuu, sagt er, dass alle Clownfische als Männchen geboren werden und erst wenn die Königin stirbt, einer von ihnen zum Weibchen und zur Königin wird? Also was kommt zuerst, Männchen oder Königin?

Ich sage Königin, du Harlekin.

Ich knuddle ihn.

Was machst du da, Mum?

Ich antworte nicht, und er zieht ab, jagt der Spur einer anderen Neugierde hinterher, folgt seinen kleinen Ahnungen oder Fragen wieder in den Garten.