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Annas Freundin ist ohne ein Abschiedswort verschwunden, und mitten im Berliner Kiez fällt ihr Leben in sich zusammen. Zurückgezogen verbringt sie ihre Tage in ihrem Pflanzenladen, der weit mehr ist: Sehnsuchtsort, Pflanzenheim, Pflanzenambulanz. Und zum Glück hat Anna auch noch ihren Nachbarn, einen liebenswerten Antiquar. Als schließlich der lebensfrohe Alex in Annas Leben tritt, ändert sich alles, was Anna erst gar nicht wahrhaben will. Schließlich machen sie sich gemeinsam auf die Suche nach der verschwundenen Freundin. Daraus wird eine Reise, die ganz anders ist als gedacht. Und als sie nach Berlin zurückkehren, hat etwas Neues längst begonnen.
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Seitenzahl: 191
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Saskia Luka wurde 1980 in Köln geboren. Nach ihrem Studium der Germanistik in Bonn arbeitete sie in Berlin im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und als freie Texterin. Ihr erster Roman Tag für Tag (2019) erschien bei Kein & Aber. Saskia Luka lebt mit ihrer Familie auf der dalmatinischen Insel Brač.
Nachdem Anna ihre Freundin von einem Tag auf den anderen nicht mehr erreichen kann, findet sie erst nur Halt in ihrem Pflanzenladen und bei ihrem nachmittäglichen Kaffee mit dem Antiquariatsbesitzer von nebenan. Bis eines Tages unverhofft Alex in ihrem Laden steht, auf der Suche nach einem WG-Zimmer – und obwohl Annas Wohnung eigentlich für eine Wohngemeinschaft ungeeignet ist, lässt sie ihn einziehen. Nur vorübergehend. Als Anna beschließt, ihre Ex-Freundin ausfindig zu machen und zur Rede zu stellen, machen sie sich gemeinsam auf die Suche.
Daraus wird eine Reise, die ganz anders ist als gedacht. Und als sie nach Berlin zurückkehren, hat etwas Neues längst begonnen.
Für die Gefährtinnen
Das Jahr hatte gerade begonnen und eine Farbe wie Milchglas. Jeden Tag lief Anna eine Runde um den Block, kaufte einen Latte macchiato, dazu einen schwarzen Kaffee, jeden Tag sagte sie »zum Mitnehmen«, dann schaute sie bei Henning vorbei und stellte den Kaffee sachte neben den Kaktus. Manchmal nahm sie den leeren Becher des Vortags, während die Tastatur klackerte. Manchmal ließ sie etwas frische Luft herein, bevor sie wieder ging. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, dieses Ritual zu unterbrechen. Sie mochte Henning und sein Geschäft. Sie mochte ihren täglichen Kurzbesuch, das Geräusch der Tasten. Es hatte drei Jahreszeiten gedauert, aber inzwischen wechselten sie ab und zu einige Worte. Rituale lohnten sich. Und den Dingen Zeit zu geben.
»Wo ist eigentlich Vinka?«, fragte Henning, als Anna hereinkam, und rutschte auf seinem Stuhl ein Stück zur Seite, damit er sie am Monitor vorbei ansehen konnte. Er rückte seine Brille zurecht.
»Weg«, antwortete Anna knapp. Jetzt war es ausgesprochen.
»Das Lied ist zu Ende«, erwiderte Henning.
Anna nickte.
»Ein Jammer«, sagte er und klang bestürzt, als habe auch er etwas verloren.
»Kann ich noch bleiben?«, fragte Anna und stellte ihre Tasche ab.
»Such dir ein Buch aus«, sagte Henning, wahrscheinlich der größte Trost, den er geben konnte.
»Welches denn?« Anna schaute die bis zur Decke gefüllten Regale an, die zitternden Spinnennetze.
»Egal. Sie sind alle gut.«
Umständlich schob sich Henning aus dem Schreibtischstuhl, der so nah an der Wand stand, dass er sich nicht zurückschieben ließ.
Anna ließ ihren Blick über die Bücher schweifen.
Henning holte Luft, atmete aus. »Nimm besser zwei.«
Anna griff ein Buch und zeigte es ihm.
»Jetzt guckst du, als ob du mir das doch nicht geben willst.«
»Das habe ich tatsächlich schon lange gesucht.«
Anna überflog den Titel. »Ich stells zurück.«
»Nein«, rief Henning, »nein, schon gut.« Er fuhr sich durchs Haar. »Ich hätte es gern noch mal gelesen.«
»Ich leihe es dir«, sagte Anna. »Unglaublich«, murmelte sie.
Das zweite Buch nahm sie aus einem anderen Regal. Sie ließ den Zufall entscheiden.
»Gute Wahl«, sagte Henning. »Paul Auster. Die Musik des Zufalls, das sehe ich von hier.«
»Danke.« Anna stand mit den zwei Büchern da und nippte an ihrem Kaffee.
»Schon gut.« Als die Stille länger wurde, sagte Henning weiter: »Es gibt Wesen, die leben auf dem Meeresgrund ganz ohne Licht. In der Tiefsee.«
»Hat das jetzt irgendwas damit zu tun?«
Anna legte die Bücher neben ihre Tasche.
»Nicht direkt«, gab Henning zu und schob sich wieder hinter seinen Monitor. »Ich versuche nur, dich aufzumuntern.«
»Ach, das ist wirklich nicht nötig.« Anna machte eine abwehrende Handbewegung. Sie stand unschlüssig in der Nähe der Tür. »Kann ich dich mal was fragen?«
»Hm«, machte Henning irgendwo hinter seinem Computer.
»Möchtest du deine Bücher eigentlich verkaufen?«
Hennings Kopf tauchte neben dem Bildschirm auf. »Nicht unbedingt.«
»Ich fasse es nicht.«
»Du wolltest sicher eine ehrliche Antwort.«
»Kann ich dich noch was fragen?«
»Klar, jetzt wo wir gerade so warm werden.«
»Wie machst du das?«
»Was?«
»Wie überlebst du? Wie zahlst du deine Miete?«
»Es gehört mir«, sagte Henning.
»Du meinst, der Laden gehört dir?«
»Das ganze Haus.«
»Das ganze Haus?«
»Um genau zu sein, meiner Mutter, aber sie ist sechsundachtzig Jahre alt und gerade ausgezogen.«
Anna nickte, als verstünde sie das.
Sie überlegte, ob ausgezogen eine Umschreibung für gestorben war.
»Ich muss dann mal wieder.« Sie nahm die Bücher und ihre Tasche.
Ihr Blick fiel auf den Kaktus.
»Willst du noch einen Kaktus?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Henning, »jetzt, wo du es sagst. Ich glaube, man sollte sie nicht allein halten.«
Anna lachte.
Die Tür fiel zu.
Nebenan schloss Anna die Glastür auf und der warme Geruch nach feuchter Erde schlug ihr entgegen, nach all den Pflanzen, die entlang des großen Fensters rankten und in die Höhe wuchsen. Sie hingen von der Decke und füllten das Fenster so komplett aus, dass man kaum hineinsehen konnte. Sie schob die Tür zu und drehte das Schild mit der Aufschrift gleichzurück auf offen. »Pflanzen« stand auch noch darauf, und die Öffnungszeiten. Sie hatte den ganzen Tag geöffnet, außer sonntags. Da arbeitete sie ohne Störung. An den anderen Tagen saß sie oft auf einem Stuhl im Inneren des Ladens und schaute durch das Grün der Pflanzen hinaus, beobachtete das Licht, das hereinfand, die Blüten, die Blätter, die Formen, sie konnte sich nicht daran sattsehen, sie goss, sie hielt die Blätter frei von Staub, und auch die anderen Dinge, die sie außer den Pflanzen verkaufte: die kleinen Glashäuser mit den Kakteen und Orchideen, schwere Briefbeschwerer aus Glas mit Blüten wie eingefroren in ihrem Inneren, ihre Bilder und Drucke, sie beobachtete, und sie wartete auf Menschen, die hereinkommen würden. Nach und nach waren es mehr geworden. Sie verkaufte einiges, aber viele kamen auch herein, um einfach eine Weile hier zu sein. Morgens zog eine Kitagruppe draußen vorbei, mittags zurück, oft blieben die Kinder vor ihrem Schaufenster stehen, manchmal kamen sie herein, bestaunten die Wand im hinteren Teil des Ladens, die sie selbst bemalt hatte: Unzählige Pflanzen mit unterschiedlichsten Blättern schimmerten in allen Grüntönen, mit wenigen Blüten, zwischen denen nur der genaue Blick bunte Vögel und Insekten entdeckte. Das Wandbild verbarg die Tür, die in einen quadratischen Hinterhof führte. Stand die Tür offen, gab sie von innen den Blick auf den mächtigen Stamm des Kastanienbaums frei, der seine Krone weit über den bis auf die Mülltonnen leeren Hof spannte. Jetzt war er kahl, aber im Sommer war er das Schönste, was man zwischen Mauern finden konnte. Fand zumindest Anna. Wenn das Wetter es zuließ, topfte sie im Hof die Pflanzen um. Es war, als wäre Anna mit dem Baum ganz allein. Manchmal hörte sie das scharfe Geräusch, wenn die großen Mülltonnen geöffnet wurden. Manchmal sah sie Gestalten durch den Hof huschen und wieder verschwinden. Zusammen mit Vinka hatte Anna an einem Abend den Fuchs gesehen, der lautlos lief und mit einem Sprung über die Mauer verschwand. Er hatte sie auch gesehen und kam nie wieder.
Anna zog die meisten Pflanzen selbst, und wenn das Messer eine saubere Schnittkante schnitt, wenn sie die Pflanzen teilte, einpflanzte oder in Wasser stellte, erfasste sie ein ähnliches Gefühl wie beim Malen. Manchmal hörte sie Musik, aber meistens war es still hier drinnen, und Anna konnte den Atem der Pflanzen hören und den Pinsel oder den Stift auf dem Papier. Vinka hatte hier gesungen, und fast hätte Anna sich daran gewöhnt.
Heute war die Stille unerträglich und Anna machte sofort Musik an. Sie stapelte Jacke, Schal, Handtasche und Bücher auf einem Stuhl und betrachtete die mittelgroße Leinwand und das Bild, das sie am Morgen begonnen hatte, sie kochte Kamillentee, weil nur noch Kamillentee da war, übrig geblieben von einer Erkältung, und drehte die Heizung höher. Sie zündete ein paar Kerzen an, denn es dämmerte schon den ganzen Tag. Anna tauchte Pinsel in Farben, malte ein Stück leeres Jahr aus, gab der noch frischen Einsamkeit eine Farbe, sie dachte nach, hauptsächlich über Mieterhöhungen und über Vinka. Anna zog die Nase hoch. Sie hatte geglaubt, Vinka gehöre zu ihr und dass es für immer sei. Tränen liefen ihr über das Gesicht und sie wischte sie schnell mit dem Pulloverärmel weg. Sie ist nicht tot, dachte sie und schaute zur Tür, aber niemand kam, es war peinlich, ihr so hinterherzuheulen. Sie würde sie langsam vergessen. Stück für Stück. Anna rührte mit dem Pinsel in Farbe. Vieles würde sie wahrscheinlich vergessen, aber vieles niemals. Vinkas Stimme zum Beispiel. Die Farbe schäumte leicht. Und das Sonnenlicht – da war immer Sonnenlicht, aber auch die Schatten, die es schuf. Sie rührte vorsichtig weiter, damit das Licht der Erinnerung nicht erlosch. Das Geräusch von Pappeln. Und Vinkas Blick, der immer alles sah. Ein Gedanke ließ sie innehalten, Farbe tropfte. »Mist.« Sie warf den Pinsel hin und nahm die Jacke.
Sie ging vor die Tür und blies Zigarettenrauch in die Winterluft, es war so kalt, dass sie die Handschuhe aus den Taschen zog. Sie hielt die Zigarette mit Handschuhen, die Stadt leuchtete in der Dunkelheit. Von Henning nebenan war nichts zu sehen, nur seine Bücher in Bananenkisten, die er vor seinen Laden stellte. Henning war länger hier als alle. Die anderen Geschäfte der Straße waren neu und modern, manche hießen »Pop up«, und wenn sie gingen, kamen andere nach, erleuchtete Boutiquen mit schönen Dingen, Henning war der Einzige mit alten und staubigen Dingen. Anna fragte sich, ob er überhaupt von den anderen Läden wusste, ob er gemerkt hatte, wie sehr dieses Kreuzberger Viertel sich um ihn herum verändert hatte. Er war derselbe geblieben, aber die Zeit hatte ihn schleichend zur Rarität gemacht. Er schien nicht viel Notiz davon zu nehmen und vermutlich nicht allzu gut zu sehen durch seine dicken Brillengläser. Er brauchte keine Boutiquen. Er trug das ganze Jahr dasselbe: braune Hosen, braune Pullover, Turnschuhe. Jedenfalls seit letztem Sommer, als Anna neben ihm eingezogen war.
»Ein Blumengeschäft?« Er hatte sie angeschaut, als sei sie die Rarität.
»Ich verkaufe nur Topfpflanzen«, hatte sie geantwortet. »Keine Schnittblumen. Hauptsächlich Zimmerpflanzen.«
»Pflanzen und Bücher, das verträgt sich ganz gut«, hatte er gesagt. Anna hatte sich in seinem Laden umgesehen, aber außer Büchern und Papier nichts entdecken können. Keine Pflanzen, die sich mit den Büchern vertrugen.
»Hättest du gerne eine?«, hatte Anna gefragt.
»Wenn ich was mit Pflanzen zu tun haben will, gehe ich in den Park.«
Später brachte sie ihm einen kleinen Kaktus und ein selbst gedrucktes Lesezeichen. »Gibts ja nicht im Park.«
Henning ignorierte weitgehend alle, die in sein Geschäft kamen. Er tippte hinter seinem altmodischen Monitor einen Rhythmus, den sich keiner zu unterbrechen traute. Bücher stapelten sich bis unter die Decke, bis an den Rand gefüllt mit Worten, in vielen Sprachen. Henning war der schweigsamste Mensch, den Anna kannte, und manchmal kam sie nur aus diesem Grund für ein paar Minuten herein. Sie mochte sein Schweigen. Anfangs hatte sie ihn gefragt, wie er seinen Kaffee trank und wie das Wetter werden würde. Inzwischen wusste sie, dass Henning ihn schwarz mochte und dass es regnen würde, wenn er sich vor dem Laden blicken ließ, um die Bananenkisten hineinzubringen. Wie kriegt er das nur mit dem Regen mit, hatte Anna sich den ganzen Sommer gefragt, als sie viel Zeit draußen vor dem Laden verbrachte, viel Zeit mit Vinka, die sang und rauchte und tanzte und Anna umschwärmte wie ein schillerndes Insekt.
Anna fror und schaute in den Himmel, dann ging sie rein. Sie begann zu zeichnen, das half beim Nachdenken. Sie unterbrach ihre Arbeit siebenmal und verkaufte jedes Mal mehrere Pflanzen, nur der Typ, der kurz vor Feierabend reinkam, kaufte nichts.
»Ich hätte gerne eine Rose«, sagte er, als er plötzlich im Laden stand, sie hatte ihn nicht reinkommen hören, obwohl das Türschild beim Öffnen der Tür klapperte. Er trug eine schwarze Cappy auf dunklen Locken, eine voluminöse Jacke, die an ein Bärenfell erinnerte, einen blauen Schal und passende Handschuhe, er sah sich um, als Anna zum Kassentisch trat, und konnte keine Rose entdecken. »Aber Rosen hast du wohl nicht?«, fragte er.
»Ich verkaufe Pflanzen, keine Blumen«, sagte Anna und verzog den Mund zu einem professionellen Lächeln. Sie wollte zu ihrer Leinwand zurück und trommelte sanft mit den Fingern auf den Kassentisch. Sie sah, dass sein Blick an ihrem Wandbild hängen blieb und dort verweilte, bis er sich erinnerte, weswegen er hergekommen war.
»Eigentlich wollte ich dich bitten, das aufzuhängen.« Verlegen reichte er ihr einen Zettel. Anna nahm ihn und las »Wohnung gesucht«. Sie versuchte, ihn mitfühlend anzusehen, vielleicht wurde der Blick schuldbewusst, weil sie wusste, dass sie ihn nicht aufhängen würde. Sie könnte mit diesen Zetteln den Laden tapezieren und hatte sich angewöhnt, keinen einzigen aufzuhängen. Nicht die Wohnungsgesuche, nicht die Babysittergesuche, nicht die Musiklehrergesuche, nicht die Angebote für veganes Catering, für Cellostunden und gebrauchte Kinderschuhe. Außerdem suchte sie selbst eine Wohnung und wusste, dass das aussichtslos war.
»Ich hänge es vielleicht in die Tür«, log sie jetzt doch. Sie seufzte innerlich.
»Das würdest du mache?« Er strahlte sie an. Kurz dachte sie, er würde ihr um den Hals fallen, und wich ein wenig zurück. Annas Blick fiel auf das fett gedruckte »DRINGEND«.
»Ob ich wohl irgendwo Rosen bekomme?«, fragte er, als er die Tür öffnete und es kalt wurde, das Schild klapperte.
»In der U-Bahn«, sagte Anna, sie war schon auf dem Weg zu ihrer Leinwand und ließ den Zettel in den Papierkorb gleiten. Es machte nur ein kleines Geräusch. Ihr Blick fiel auf den Brief, den sie neben die Kasse gelegt hatte. Säuberlich geöffnet mit einem Brieföffner, der einmal ihrem Vater gehört hatte und den sie benutzte, wann immer es ging. Es kam nicht viel Post. Dieser Brief war in einem umweltfreundlichen Umschlag eingetroffen, ohne Unterschrift gültig und kündigte eine Erhöhung der Ladenmiete an. Darüber hatte sie mit Vinka sprechen wollen. Sie hatte sie fragen wollen, ob sie bei ihr einziehen wolle, für länger oder für immer. Mit Vinka in der Wohnung und einer geteilten Miete hätte sie die Kosten des Ladens tragen können und das ganze Leben. Sie warf den Brief in die Schublade des Kassentischs.
Vinka war ausgezogen, noch bevor sie richtig eingezogen war, und verschwand zusammen mit ihrer Leichtigkeit aus Annas Leben. Wo sie eben noch gesungen hatte, war es jetzt ganz still. Nur die Dinge waren noch da. Vinka hatte kaum etwas mitgenommen. Sie lagen überall verstreut, in jeder Ecke eine Kleinigkeit, ein Buch, ein Lippenstift, Zigaretten, Kippenstummel im Aschenbecher, eine benutzte Teetasse mit Beutel, eine Kaffeetasse, ein paar leere Rotweinflaschen, ein Stift, Pinsel, ein Faden aus ihrem Kleid, den sie herausgezogen und achtlos fallen gelassen hatte. Anna hob ihn auf. Vinka schrieb Tagebuch, vielleicht hatte sie ihm auch ihre Abreise anvertraut, aber gesagt hatte sie nichts. Anna wickelte den zarten Faden um den Finger, so eng, dass es schmerzte. Das Tagebuch konnte sie nicht entdecken. Hier war nichts, wofür sich eine Rückkehr lohnte. Sie leerte den Aschenbecher in den Papierkorb unter ihrem Schreibtisch, ließ alles andere, wo es war, sie zwang sich an den Dingen vorbei durch ihre Wohnung, schließlich in ihr Schlafzimmer, vorbei an Vinkas Socken, Unterwäsche, Zetteln, Papierschnipseln. Anna ließ sich ins Bett fallen, wieder träumte sie, dass Vinka gut angekommen war, sie wachte auf und zog Hose und Socken aus, ihre Kraft reichte nicht für den Pullover. Dann fiel sie wie ein Stein auf den Grund des Schlafs, hinab bis zu den Tiefseewesen, die ohne Licht auskamen. Als der Morgen anbrach, trank sie viel Kaffee und heulte unter der Dusche. Wie konnte sie wieder die werden, die sie ohne Vinka gewesen war? Die Rückkehr fiel ihr schwer.
Der Weg aus ihrer Wohnung führte durch ein Treppenhaus, dessen Hässlichkeit ihr noch immer den Atem verschlug. Durch den Eingang spannte sich ein Baugerüst, als wäre eine Sanierung geplant und dann vergessen worden, vielleicht sollte es die Wände stützen. Im Winter zog es durch die kaputten Fenster, der sandige Boden staubte, das Geländer aus Holz, das das Feuer bis in ihre Wohnung getragen hatte, war ausgetauscht worden. Die Treppe war nicht mehr die alte, aber Anna kannte den Klang ihrer Schritte. Die langsamen und die eiligen, die müden und die doppelten, die glücklichen, wenn sie mit Vinka die Treppe heruntergekommen war, auf dem Weg zu etwas Gutem. Anna kannte das besondere Licht, das es nur in diesem staubigen Hausflur gab, es fiel durch die Buntglasfenster, das Geräusch der Briefkastentür – ihre ließ sich immerhin schließen, wenn sie sie mit dem Schlüssel leicht anhob. Jeden Tag schaute sie in den Kasten, obwohl sie die Zeitung abbestellt hatte. Auch den Klang der Haustür kannte sie, wenn sie sich hinter ihr schloss und sie draußen war, auf den blank getretenen Kacheln, kurz bevor das graue Pflaster begann. Dann kam das Innehalten und In-den-Himmel-Schauen, die alltägliche, sich wiederholende Frage, ob sie nach rechts oder links gehen sollte.
Die Luft des Januars war klar. Der Weg zu ihrem Laden dauerte etwa fünfzehn Minuten. Nach wenigen Schritten fiel sie in ihre Gedanken, heute hingen sie wieder Vinka nach. Vielleicht war Veränderung nicht mehr als Vinkas Schulterzucken – Anna kannte keinen anderen Menschen, der mit den Schultern zuckte –, nicht mehr als Losgehen, nach rechts oder links, und an der Ecke abbiegen, und nicht das Ende der Welt. Anna holte die leere Weinflasche aus der Tasche. Die Altglas-Container an der Ecke waren voll, rund um die Container waren weitere, unzählige Flaschen ordentlich aufgereiht. Auf den runden Tonnen klebten Plakate, eins war halb abgerissen. Anna mochte die blaue Farbe und die gelbe Schrift. Blaubeerenblau. Warmes Strohblumengelb. Lasst uns froh und munter sein, stand darauf. Es war eiskalt. Anna stellte die Flasche hinten an, in die Reihe. Sie versuchte, den Tag mit einem Ablaufplan, den sie im Kopf durchging, unter Kontrolle zu bekommen. Sie brauchte neue Farben, die sie wie auch die meisten ihrer Pflanzen online bestellte, sie wollte Texte ihrer Website überarbeiten und ihre neuesten Bilder fotografieren. Vielleicht würde sie auf dem Nachhauseweg irgendwo zu Abend essen, um ein wenig unter Leute zu kommen. Anna lief die letzten Meter zu ihrem Laden schneller, damit ihr wärmer wurde, ließ den Blick flüchtig über Hennings Bananenkistenangebot streifen, atmete auf, als sie in ihren Pflanzen stand und die Tür zum Draußen zufiel. Sie warf die unzähligen Kleidungsstücke, die sie zum Schutz vor der Kälte trug, auf einen Stuhl und schaltete ihren Laptop an, überflog die wenigen E-Mails.
Als sie aus dem Fenster sah, machte Henning sich vor dem Laden an den Bananenkisten zu schaffen. Anna arrangierte Pflanzen und Bilder und fotografierte, um das trübe Licht des Tages auszugleichen, vor einem gelben Hintergrund, dann ganz schlicht vor Grau. Die Kakteen und Sukkulenten sahen aus wie Kunstwerke. Anna hatte wenige Orchideen im Sortiment, die sie vor die gold-grüne Wand stellte und eine von ihnen neben die Kasse. Sie fotografierte durch das große Fenster nach draußen, es regnete, und sie hoffte, dass es aufhören würde, vor ihrer Kaffeerunde. Sie mochte die Aussicht durch ihr Fenster auf das kleine Stück Straße, wie ein Bild von einem Stück Berlin. Anna beobachtete das Wasser, das die Scheibe hinablief, die Straße vor dem Fenster war leer. Sie fotografierte auch die Strelitzie, die nur kurz bei ihr sein würde. Solche exotischen Pflanzen führte sie nicht, aber sie bestellte sie auf Anfrage, als besonderes Geschenk, diese war für eine Hochzeit und würde am Nachmittag abgeholt. Die meisten ihrer Pflanzen waren genügsam und wurden gekauft, weil sie von allem so wenig brauchten und kaum Ansprüche hatten. Anna sprühte die Monstera ein, die Friedenslilie mit ihren tiefgrünen Blättern, die die hohe Luftfeuchtigkeit und den Platz in der Nähe der Heizung mochte wie sie. Sie bewegte sie nicht, ließ sie immer an ihrem Platz, und auch die Geigenfeige fotografierte sie an Ort und Stelle, Veränderung mochte sie nicht. Anna kletterte auf einen Stuhl, um die Blätter zu erreichen, die um das Fenster rankten. Auf ihrer Website präsentierte sie Geschenkideen und Pflanzen für besondere Anlässe, den Goldbaum, oder den Olivenbaum für mediterrane Atmosphäre. Sie hatte Flyer produziert und sie in alle Geschäfte, Friseursalons und Arztpraxen des Viertels gebracht – einige Praxen hatten bei ihr bestellt und Anna ihre Anmeldungen und Wartezimmer mit Efeututen und anderem dekoriert. Neben den Pflanzen, die Anna bestellte, kamen andere auf unterschiedlichen Wegen zu ihr: Sie bot eine Art Pflanzenambulanz an, gab auf ihrer Website Tipps zur Pflege und nahm kranke Pflanzen bei sich auf, die fast alle für immer bei ihr vergessen wurden. Außerdem kaufte sie scheinbar kaputte Pflanzen günstig ein. Sie übernahm Pflanzen, die ihr Zuhause verloren hatten, und profitierte vor allem von Trennungen, Umzügen, Neudekorierungen von Wohnungen und Todesfällen. Viele ihrer Pflanzen ließen sich einfach vermehren. Zusammen mit ihren Bildern verkaufte sie auch Sets für das minimalistische Wohn- oder Schlafzimmer, dort wurden Pflanzen – das sah sie auf Instagram oder den Internetseiten von Möbelherstellern – wie Designobjekte ausgestellt. Anna staunte über die Fotos, weil sie wusste, dass die Pflanzen, die dort so lässig im Hintergrund standen, Tausende Euros kosteten. Manche Kunden gaben auch bei ihr viel Geld aus, weil sie ihre Sehnsucht nach Natur oder nach etwas anderem stillte. Einmal war ein junges Mädchen gekommen und hatte sich lange umgesehen. Schließlich hatte sie den allerkleinsten Kaktus gekauft und gesagt, mehr Platz habe sie in ihrem vollen Zimmer nicht. Anna bot auch einen Urlaubsservice an: Wer niemanden zum Gießen hatte, konnte seine Pflanzen für die Dauer des Urlaubs in ihren Laden bringen. Sie selbst kannte niemanden, der ihre Pflanzen im Urlaubs- oder in einem anderen Fall versorgen würde. Anna mochte alle Pflanzen. Vielleicht besonders die, die secondhand oder in alten Töpfen zu ihr kamen und schon ein Leben und eine Geschichte hatten. Manche waren schön, manche so traurig, dass sie eingingen, manche blühten auf. Und alle waren still.
Als der Regen nicht aufhörte, nahm sie den Schirm. Auf dem Rückweg konnte sie ihn nicht öffnen, weil es ihr nicht gelang, zusätzlich zwei Pappbecher mit heißem Kaffee zu tragen. Sie band die Kapuze am Kinn fest, was wie immer ein komisches Gefühl hervorrief, es hatte so etwas Kindliches. Sie ließ den Schirm vor der Tür. In Hennings Laden tropfte sie auf den Boden, stellte den Kaffee ab und friemelte den Knoten der Kapuzenbänder auf, hängte die nasse Jacke schließlich an den Türgriff. Henning hatte bisher noch kein Wort gesagt, unterbrach aber das Tastengeklapper.
»Schon Kaffee? Wie die Zeit vergeht«, sagte er schließlich.
»Ich freue mich, dass du dir selbst so eine gute Gesellschaft bist und deine Zeit verfliegt«, sagte Anna, »ich habe da mehr Mühe.« Sie reichte ihm den Kaffee.
»Die Zeit zu vergessen, ist eine meiner liebsten guten Eigenschaften.«
»Trotzdem solltest du mehr rausgehen«, sagte Anna.
»Da raus?« Henning zeigte einen erschreckten Gesichtsausdruck. »Ich bin heilfroh, dass heute sehr wahrscheinlich niemand reinkommt.«
»Außer mir.«
»Außer dir, versteht sich.«
Anna lachte. »Ein wenig Sauerstoff wäre sicher gut, Vitamin D und so.«
Henning schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich brauche von allem sehr wenig. Von allem.«
»Scheint mir auch so. Keine großen Träume, Wünsche, Sehnsüchte?«
»Ich bin mit wenig zufrieden.«
