Lavinia, Pauline, Kora - George Sand - E-Book

Lavinia, Pauline, Kora E-Book

George Sand

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Beschreibung

Drei Novellen der französischen Schriftstellerin und Feministin George Sand. Lavinia: Sir Lionel Bridgemont, ein englischer Lord, ist im Begriff, nach Luchon zu reisen, um Margaret Ellis zu heiraten, die ihm eine angesehene soziale Position und eine bequeme Mitgift bietet, als er eine Nachricht von Lady Lavinia Blake erhält, einer jungen Frau, die er zehn Jahre zuvor verführt hatte. Lavinia bittet ihn, die Briefe und das Porträt, das sie ihm damals geschickt hat, zurückzugeben, und er stimmt zu. Doch das vereinbarte Treffen verläuft anders als erwartet. Lavinia hat sich verändert und Bridgemont ist geblendet von ihrer Schönheit und ihrem Charme. Als noch ein Verehrer auftaucht, ist Bridgemont rasend vor Eifersucht. Pauline: Die Geschichte spielt in den 1830er Jahren in Frankreich. Laurence, eine erfolgreiche Pariser Schauspielerin, ist auf dem Weg nach Lyon. Nachts rastet sie in einer kleinen Provinzstadt und bemerkt, dass sie in Saint-Front unweit von Paris gelandet ist. Von dem Zufall überwältigt, erinnert sie sich an ihre Jugend in Gesellschaft ihrer Freundin Pauline, die ursprünglich aus Saint-Front stammt. Kora: Eins von Sands frühesten Werken. Die feministische Novelle karikiert die damaligen Provinzbräuche, insbesondere im Hinblick auf das oft tragische Schicksal von Frauen aufgrund ihrer romantischen Beziehungen und strengen sozialen Konventionen. Sands Beschäftigung mit der sympathischen Darstellung weiblicher Figuren durchdringt die Geschichte.

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LUNATA

Lavinia - Pauline - Kora

Drei Novellen

George Sand

Lavinia - Pauline - Kora

Drei Novellen

© 1880 George Sand

Aus dem Französischen von Robert Habs

Umschlagbild William-Adolphe Bouguereau

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Lavinia

Pauline

Kora

Lavinia

Eine alte Geschichte

Brief

»Dürfte es nicht angebracht sein, Lionel, da Sie sich verheiraten, uns gegenseitig unsere Briefe und Portraits zurückzugeben? Da der Zufall uns einander nahe bringt, und wir heute nach zehn Jahren himmelweiter Trennung nur wenige Meilen von einander entfernt sind, ist es leicht. Sie kommen zuweilen nach Saint-Sauveur, hat man mir erzählt – ich verweile wenigstens acht Tage dort und hoffe demnach, daß Sie sich im Laufe der nächsten Woche mit dem von mir zurückgeforderten Paquet hier einfinden werden. Ich wohne im Haus Estabanette am Fuße des Wasserfalls. Schicken Sie die mit der Botschaft beauftragte Person dorthin; sie wird Ihnen ein ähnliches Paquet zurückbringen, das ich für Sie zum Austausch bereit halte.«

Antwort

»Madame!

»Das Paquet, welches ich Ihnen übersenden soll, liegt mit Ihrer Adresse versehen, hier versiegelt. Da ich sehe, daß Sie nicht bezweifelten, es würde an dem Tage und dem Orte, an dem die Rückforderung Ihnen beliebte, mir zu Händen sein, bin ich Ihnen sicherlich zu Dank verpflichtet.

»Aber muß ich es denn persönlich nach Saint-Sauveur bringen, Madame, um es dann den Händen eines Dritten anzuvertrauen, der es Ihnen zustellen soll? Wäre es nicht einfacher, mich nicht an Ihrem Wohnsitze der Aufregung, Ihnen so nahe zu sein, auszusetzen, da Sie mir das Glück einer Zusammenkunft bei dieser Gelegenheit nicht zu bewilligen gedenken? Wäre es nicht besser, das Paquet einem Boten anzuvertrauen, von dem ich sicher bin, daß er es nach Saint-Sauveur bringt? Ich erwarte daraufhin Ihre Befehle, Madame. Wie sie auch seien, ich werde mich ihnen blindlings unterwerfen.«

Brief

»Daß meine Briefe zufällig in diesem Augenblick Ihnen zu Händen wären, Lionel, wußte ich, da mein Cousin Henry mir sagte, er habe Sie in Bagnères gesehen und diesen Umstand von Ihnen erfahren. Es freut mich sehr, daß Henry, der, wie alle Schwätzer, ein wenig lügt, mich nicht getäuscht hat. Das Paquet selbst nach Saint-Sauveur zu bringen, bat ich Sie, weil dergleichen Botschaften in von Schleichhändlern unsicher gemachten Gebirgen nicht leichtsinnig einer Gefahr ausgesetzt werden dürfen; denn diese Schmuggler nehmen alles, was ihnen unter die Hände kommt. Da ich Sie kenne als einen Mann, der anvertrautes Gut wacker zu verteidigen weiß, kann ich nichts Besseres zu meiner Beruhigung tun, als Sie selbst zum Bürgen für das machen, was mich interessiert. Eine Zusammenkunft bot ich Ihnen nicht an, da ich Ihnen dadurch den schon an sich peinlichen Weg, den ich von Ihnen verlangte, noch unangenehmer zu machen fürchtete. Da Sie aber mit Leidwesen an diese Zusammenkunft zu denken scheinen, bin ich es Ihnen schuldig und bewillige Ihnen diese schwache Entschädigung. Und da ich nicht wünsche, daß Sie dem Warten kostbare Zeit opfern, will ich Ihnen für diesen Fall den Tag bestimmen, damit Sie mich nicht abwesend finden. Seien Sie also am 15. Abends 9 Uhr in Saint-Sauveur. Warten Sie bei mir zu Hause auf mich und lassen Sie mich durch meine Negerin benachrichtigen. Ich werde sofort erscheinen. Das Paquet wird bereit liegen. – Adieu.«

Sir Lionel wurde von der Ankunft dieses zweiten Billetts unangenehm berührt. Es überrumpelte ihn gerade bei dem Project zu einer Reise nach Luchon, wobei die schöne Miss Ellis, seine Verlobte, sehr auf seine Begleitung rechnete. Der Ausflug mußte entzückend werden. In den Bädern gelingen die Lustfahrten beinahe stets, weil sie so rasch einander folgen, daß man nicht Zeit hat, sie vorzubereiten, weil das Leben hastig, lebhaft, unvorhergesehen vorüberbraust, und weil das beständige Hinzukommen neuer Gefährten den geringsten Kleinigkeiten einer Festlichkeit den Charakter des Unvorhergesehenen verleiht.

Sir Lionel amüsierte sich also in den Bädern der Pyrenäen, so weit es für einen guten Engländer schicklich ist, sich überhaupt zu amüsieren. Zudem war er ganz leidlich in den üppigen Wuchs und die erquickliche Mitgift der Miss Ellis verliebt, und seine Fahnenflucht angesichts eines Schauritts von so außerordentlicher Bedeutung (Fräulein Ellis hatte einen sehr schönen Navarreser Apfelschimmel aus Tarbes kommen lassen, den sie an der Spitze der Caravane glänzen lassen wollte) konnte seinen Heiratsprojekten verderblich werden. Sir Lionels Lage war gleichwohl eine schwierige, denn er war ein Mann von feinstem Ehrgefühl. Daher suchte er seinen Freund Sir Henry auf, um ihn von dem Gewissensfall in Kenntnis zu setzen.

Um aber den jovialen Henry zu ernster Aufmerksamkeit zu zwingen, begann er, mit ihm zu zanken.

»Sie leichtsinniger Schwätzer!« schrie er ihn gleich beim Eintreten an. »Es verlohnte sich wohl der Mühe, Ihrer Cousine mitzuteilen, daß ihre Briefe in meinen Händen wären! Nie haben Sie ein verfängliches Wort auf der Zunge behalten können! Sie sind gerade wie ein Gießbach, der eben soviel ausströmt, als er einnimmt, wie einer jener unverschloßnen Vasen, die die Statuen der Flußgötter und Najaden schmücken: der Guss, der sie durchströmt, nimmt sich nicht zum Ruhen Zeit.«

»Sehr gut, Lionel!« rief der junge Mann. »Ich sehe Sie gern in einem Anfall von Wut: das macht Sie poetisch. In diesem Augenblick sind Sie selbst ein Gießbach, ein Fluß von Metaphern, ein Strom der Beredsamkeit, ein Meer von Allegorien.«

»Ha! es handelt sich jetzt wohl um einen Scherz!« schrie Lionel wütend. »Wir reiten nicht nach Luchon!«

»›Wir reiten nicht nach Luchon – wer hat das gesagt?‹«

»Wir reiten nicht dorthin, Sie und ich! Das sage ich Ihnen!«

»›Sprechen Sie Ihrerseits soviel Sie wollen, ich für mein Teil bin Ihr sehr ergebener Diener.‹«

»Ich gehe nicht dorthin und folglich auch Sie nicht. Sie haben einen Fehler begangen, Henry, den müssen Sie wieder gut machen. Sie haben mir eine abscheuliche Unannehmlichkeit auf den Hals geladen – nun fordert Ihr Gewissen, daß Sie mir sie tragen helfen. Sie dinieren mit mir in Saint-Sauveur.«

»›Der Teufel hole mich, wenn ich's tue!‹« rief Henry. »›Seit gestern Abend bin ich närrisch in die kleine Bordeauxerin verliebt, über die ich mich noch gestern Morgen lustig machte. Ich reite nach Luchon, da sie dahin reitet. Sie wird meinen Yorkshire besteigen, und Ihr großes Habichtsgesicht, Miss Margaret Ellis, wird vor Eifersucht bersten.‹«

»Hören Sie, Henry,« sagte Lionel mit ernster Miene. »Sie sind mein Freund?«

»›Ohne Frage! Das ist bekannt. Es ist unnütz, in diesem Augenblick der Freundschaft wegen in Rührung zu zerfließen. Mir ahnt, daß dieser feierliche Eingang mich veranlassen soll.‹«

»Hören Sie mich an, sage ich Ihnen, Henry. Sie sind mein Freund, Sie freuen sich über die glücklichen Ereignisse meines Lebens, und ich denke, Sie würden es sich nicht leichthin verzeihen, wenn Sie mir einen Nachtheil, ein wirkliches Unheil zugefügt hätten?«

»›Nein, auf Ehre nicht! Aber warum handelt es sich denn?‹«

»Nun, Sie machen möglichen Falls meine Heirat zu Wasser, Henry.«

»›Gehen Sie doch! Nur weil ich meiner Cousine sagte, Sie wären im Besitz ihrer Briefe, und weil dieselbe sie von Ihnen zurückverlangt? Welchen Einfluß kann Lady Lavinia nach zehnjährigem, gegenseitigen Vergessen auf Ihr Leben ausüben? Sind Sie so dünkelhaft, daß Sie meinen, sie habe sich über Ihre Untreue nicht getröstet? Zum Teufel, Lionel, das ist zu gewissenhaft! Das Übel ist nicht so groß! Glauben Sie nur, es ist nicht ohne Heilmittel gewesen‹«

Henry zupfte bei diesen Worten nachlässig an seiner Cravatte und warf einen Blick in den Spiegel, zwei Bewegungen, die in der heiligen Sprache der Pantomime leicht zu deuten sind.

Diese Lektion über Bescheidenheit aus dem Munde eines Menschen, der noch eitler war, als er, erzürnte Sir Lionel.

»Ich werde mir nie eine Bemerkung über Lady Lavinia erlauben,« sagte er, indem er seinen Unmut zu unterdrücken strebte. »Das Gefühl verletzter Eitelkeit wird mich nie bewegen, den Ruf einer Frau zu beflecken, selbst wenn ich nie Liebe zu dieser Frau empfunden hätte.«

»›Das ist durchaus bei mir der Fall,‹« entgegnete Sir Henry leichtsinnig. »›Ich habe sie nie geliebt und bin nie auf die eifersüchtig gewesen, welche sie besser zu behandeln wußte als mich. Überdies habe ich gegen die Tugend meiner glorreichen Cousine nichts einzuwenden – nie habe ich sie ernstlich zu erschüttern versucht.‹«

»Henry, Sie haben ihr diese Gnade widerfahren lassen? Da muß sie Ihnen wirklich dankbar sein!«

»›Nun genug, Lionel! Wovon reden wir, was wollten Sie mir sagen? Gestern schienen Sie gegen die Erinnerung an Ihre erste Liebe sehr wenig pietätvoll zu sein: rückhaltlos lagen Sie vor der strahlenden Miss Ellis anbetend auf den Knien. Wenn's beliebt – wo bleiben Sie heute damit? Betreffs der Vergangenheit scheinen Sie keine Vernunft anzunehmen und reden da von einem Ritt nach Saint-Sauveur, anstatt nach Luchon! Laßt sehen, wen lieben Sie jetzt? Wen wollen Sie heiraten?‹«

»Ich heirate Miss Margaret, wenn's Gott und Ihnen gefällt.«

»›Mir?‹«

»Ja, Sie können mich retten. Da, lesen Sie das neue Billett, das mir Ihre Cousine schreibt. – Haben Sie? – Sehr gut! Sie sehen, ich muß mich jetzt zwischen Luchon und Saint-Sauveur, zwischen einer zu erobernden und einer zu tröstenden Frau entscheiden.«

»›Holla, Sie Narr!‹« rief Henry. »›Hundert Mal habe ich Ihnen erzählt, meine Cousine sei frisch wie eine Blume, schön wie ein Engel, munter wie ein Vogel, lustig, heiter und gesund, elegant, kokett – wenn diese Dame trostlos ist, will ich mein ganzes Leben unter der Last eines gleichen Schmerzes verseufzen.‹«

»Machen Sie sich keine Hoffnung, Henry, mich zu ärgern, Ihre Mittheilung macht mich vielmehr glücklich. Aber können Sie mir diesenfalls die sonderbare Laune deuten, die Lady Lavinia veranlaßt, mir ein Rendezvous zu geben?«

»›O Sie Erznarr!‹« rief Henry. »›Sehen Sie denn nicht, daß das Ihre Schuld ist? Lavinia, wünschte diese Zusammenkunft nicht im mindesten – dessen bin ich sicher. Denn als ich mit ihr von Ihnen sprach, als ich sie fragte, ob nicht auf dem Wege von Saint-Sauveur nach Bagnères beim Nahen einer Gruppe von Kavalieren, unter denen auch Sie sich befinden könnten, ihr Herz zuweilen schneller schlüge, antwortete sie mir mit schläfriger Miene: »Wahrhaftig! mein Herz pochte vielleicht, begegnete ich ihm« – und ein reizendes Gähnen modulierte das letzte Wort ihrer Phrase. Beißen Sie sich nicht auf die Lippen, Lionel, es war ein so zartes, so frisches Gähnen aus schönem Frauenmund, so harmonisch, daß es artig und schmeichelhaft schien, so lang gezogen, daß es die tiefste Apathie, die herzlichste Gleichgültigkeit ausdrückte. – Sie aber, anstatt aus dieser guten Stimmung Nutzen zu ziehen, Sie können der Neigung zum Phrasenmachen nicht widerstehen. Treu dem ewigen Pathos der in Ungnade gefallenen Liebhaber, affektieren Sie, obgleich über diese Ungnade entzückt, den elegischen Ton, das tragische Genre; Sie scheinen die Unmöglichkeit, sie wiederzusehen, zu beklagen, anstatt ihr offen und ehrlich zu sagen, daß Sie ihr eben deshalb außerordentlich dankbar seien.'«

»Dergleichen Ungezogenheiten kann man sich nicht zu Schulden kommen lassen. Wie konnte ich ahnen, daß sie einige müßige Worte, die in diesem Falle die Schicklichkeit mir abnötigte, im Ernst nehmen würde?«

»,O, ich kenne Lavinia. Das ist eine Bosheit in ihrer Manier.'«

»Unsterbliche Frauenbosheit! Doch nein! Lavinia war die sanfteste und am wenigsten spottsüchtige von allen. Ich weiß, sie hat nicht mehr Lust zu dieser Zusammenkunft als ich. Halt, lieber Henry, retten Sie uns beide vor dieser Strafe: nehmen Sie das Paquet, eilen Sie nach Saint-Sauveur, bemühen Sie sich, alles zu ordnen, geben Sie ihr zu verstehen, daß ich unmöglich …«

»Miss Ellis am Vorabende Ihrer Hochzeit verlassen darf, nicht wahr? – Ein netter Grund, den man einer Nebenbuhlerin angeben könnte! Unmöglich, mein Lieber! Sie haben die Suppe eingebrockt, nun müssen Sie sie auslöffeln. Wenn man die Dummheit begeht, zehn Jahre lang die Briefe und das Porträt einer Frau aufzubewahren, wenn man unbesonnen genug ist, sich gegen einen Schwätzer wie mich damit zu rühmen, wenn man die Tollheit besitzt, mit kaltem Blute einem Scheidebrief Geist und Empfindung einzuhauchen, so muß man auch die Folgen über sich ergehen lassen. So lange die Briefe in Ihren Händen sind, können Sie Lady Lavinia nichts verweigern, und welche Art des Verkehrs Sie Ihnen auch vorschreibt, Sie sind ihr unterworfen, bis der feierliche Schritt getan ist. Auf, Lionel, lassen Sie Ihren Pony satteln und gehen wir! Denn ich begleite Sie. Ich bin ein wenig schuld an alle dem, Sie sehen, daß ich nicht lache, nun es sich um's Wiedergutmachen handelt. Vorwärts!«'

Lionel hatte gehofft, Henry würde ein anderes Mittel finden, um ihn aus der Verlegenheit zu ziehen. Mit der geheimen Empfindung unwillkürlichen Widerstandes gegen den Ratschluss der Notwendigkeit blieb er bestürzt, unbeweglich an seinem Platze. Am Ende jedoch erhob er sich mit über der Brust gekreuzten Armen, traurig und in sein Schicksal ergeben. Im Punkte der Liebe war Sir Lionel ein vollkommener Held. War auch sein Herz in mehr als einem Falle eidvergessen gewesen, nie war sein äußeres Benehmen vom Codex der seinen Lebensart abgewichen, nie hatte ihm eine Frau ein Abirren von jener zartsinnigen, großherzigen Willfährigkeit, dem besten Zeichen, das ein wohl erzogener Mann einer zürnenden Frau für das Erblassen seiner Leidenschaft geben kann, zum Vorwurf machen können. Mit dem Bewusstsein einer peinlichen Treue gegen diese Regeln beruhigte der schöne Sir Lionel sein Gewissen über die Leiden, die für andere mit seinen Triumphen verbunden waren.

»›Halt! ein Mittel!‹« rief endlich Henry und sprang ebenfalls auf. »›Die Klatschgesellschaft unserer schönen Landsmänninnen ist hier maßgebend. Miss Ellis und ihre Schwester Anna sind die bedeutendsten Mächte im Rate der Amazonen. Man muß es von Margaret erlangen, daß der auf morgen festgesetzte Ausflug um einen Tag verschoben wird. Ein Tag hier zu Lande, das ist viel, ich weiß es, aber man muß es durchsetzen, ein ernstes Hindernis zum Vorwand nehmen und noch in dieser Nacht nach Saint-Sauveur aufbrechen. Wir kommen dort am Nachmittag an, ruhen uns bis zum Abend aus, um 9 Uhr, während des Rendezvous, lasse ich die Pferde satteln, und um 10 Uhr (ich glaube, daß zum Austausch zweier Briefpakete nicht mehr als eine Stunde nötig) sitzen wir wieder auf; wir reiten die ganze Nacht durch, kommen mit Sonnenaufgang hier an, treffen die schöne Margaret auf ihrem edeln Rosse paradierend, meine hübsche, kleine Madame Bernos meinen Yorkshire tummelnd, wechseln die Stiefeln und die Pferde, und staubbedeckt, marschermüdet, liebeskrank, bleich und interessant folgen wir unfern Dulcineen durch Berg und Tal. Wenn solcher Eifer nicht belohnt wird, verdienen alle Frauen zum warnenden Exempel gehangen zu werden. Vorwärts, bist du fertig?‹«

Dankdurchdrungen warf sich Lionel in Henry's Arme. – Nach einer Viertelstunde kehrte dieser zurück. »›Laß uns aufbrechen,‹« sagte er, »›es ist alles abgemacht, die Fahrt nach Luchon wird bis zum 16. verschoben. Aber es hat Mühe gekostet. Miss Ellis war argwöhnisch. Sie weiß, daß meine Cousine in Saint-Sauveur ist und hegt eine schreckliche Abneigung gegen sie, weil sie die Tollheiten kennt, die du früher Lavinia's wegen angestellt hast. Doch ich habe geschickt den Argwohn abgelenkt. Ich sagte, du wärest entsetzlich krank, und ich hätte dich soeben gezwungen, dich zu Bett zu legen.‹«

»Gerechter Gott! eine neue Torheit, um mich in's Unglück zu stürzen!«

»›Nein, nein, keineswegs! Dick wird deinem Kopfkissen eine Nachtmütze aufstülpen, es der Länge lang in dein Bett legen und beim Hausmädchen drei Terrinen Krankensuppe bestellen. Vor allen Dingen aber wird er den Zimmerschlüssel in die Tasche stecken und sich mit verdrießlichem Gesicht und wildem Blick an die Tür postieren. Und dann hab' ich ihm auf die Seele gebunden, niemand eintreten zu lassen und jeden durchzuprügeln, der es versuchen sollte, mit Gewalt den Eintritt zu erzwingen – und wäre es Miss Margaret selbst. Ah sieh, da ist er ja und wärmt dein Bett mit der Wärmflasche. Famos! er hat ein ausgezeichnetes Gesicht – traurig will er aussehen und sieht dumm aus. Laß uns durch die Tür hinausschlüpfen, die zur Schlucht führt. Jack wird unsere Pferde an den Ausgang des Thales führen, als ob er sie ausritte; an der Lonniobrücke treffen wir mit ihm zusammen. Marsch, auf den Weg! und der Gott der Liebe mag uns schützen!« –

Eilig durchsprengten sie den Raum, der die beiden Bergketten trennt, und mäßigten die Gangart erst in dem engen, dunkeln Hohlweg, der sich zwischen Pierrefitte und Luz hinzieht. Unstreitig ist dies eine der wild-romantischsten, charakteristischsten Partien in den Pyrenäen. Alles nimmt dort ein düsteres Aussehen an. Die Berge drängen sich eng aneinander, dazwischen zwängt sich der Gave hindurch und grollt dumpf unter den von wildem Wein und Felsklippen gebildeten Bogengängen dahin. Die schwarzen Felshänge sind mit Schlingpflanzen bedeckt, deren kräftiges Grün auf den entferntern Flächen in bläuliche Tinten und gegen die Gipfel zu in einen grauweißen Ton übergeht. Das Wasser des Bergstroms erhält dadurch einen bald hellgrünen, bald mattblauen, schieferfarbenen Glanz, wie man ihn am Meerwasser bemerkt.

Große Marmorbrücken wölben sich in einem einzigen Bogen über Abstürze hinweg von einer Seite der Bergkette zur andern. Nichts ist imposanter, als die Bauart und die Lage dieser Brücken, die in der Luft schweben und sich in der klaren, feuchten Atmosphäre baden, welche nur widerwillig in's Tal zu sinken scheint. Auf einen Raum von vier Meilen1 läuft die Straße sieben Mal von einer Seite der Schlucht zur andern. Als unsere beiden Reisenden die siebente Brücke passierten, erblickten sie im Grunde des Schlundes, der sich allmählich vor ihnen erweiterte, das entzückende Luzer Tal, das die Glutpfeile der aufgehenden Sonne überfluteten. Die Höhe der Berge gestattete den Strahlen der Morgensonne nicht, bis zu ihnen zu dringen. In den Stauden am Bache ließ die Wasseramsel ihren leisen Klageruf ertönen. Das schäumende, kalte Wasser zerriß mühsam den Nebelschleier, der auf ihm lagerte. An den Gipfeln blitzten nur spärlich einige Lichtstrahlen über die Zacken der Felsen und das hangende Astwerk der Waldreben hin. Aber mitten in dieser wild-düstern Umgebung, hinter den gewaltigen Felsmassen, die, hart und starr, den beliebten Gemälden Salvators glichen, schwamm das schöne Tal, vom strahlenden Morgenrot übergossen, in einem Meer von Licht und glich einer goldenen Platte in einem Rahmen aus schwarzem Marmor.

»Wie schön ist das!« rief Henry, »und wie bedaure ich Sie, Lionel, daß Sie verliebt sind. Sie sind unempfindlich gegen all diese Schönheit und meinen, der herrlichste Sonnenstrahl wiege ein Lächeln Miss Margaret Ellis nicht auf.«

»Gestehen Sie, Henry, daß Miss Margaret die schönste Person der drei Königreiche ist.«

»Gewiß, theoretisch betrachtet, ist sie eine Schönheit sonder Tadel. Aber gerade das mache ich ihr zum Vorwurf: ich wollte, sie wäre weniger vollkommen, weniger majestätisch, weniger klassisch. Hundert Mal lieber nähme ich meine Cousine, ließe mir Gott zwischen beiden die Wahl!«

»Gehen Sie doch, Henry, Sie denken nicht daran,« sagte Lionel lächelnd. »Der Familienstolz macht Sie blind. Nach dem Urteil aller, die Augen im Kopfe haben, ist Lady Lavinia von mehr als problematischer Schönheit. Und ich, der ich sie in der ganzen Frische der Jugend gekannt habe, ich kann Sie versichern, daß zwischen beiden ein Vergleich nie tunlich.«

»Schon gut! Aber wieviel Anmut und Lieblichkeit bei Lavinia! Diese feurigen Augen, dies schöne Haar, diese kleinen Füße!«

Lionel unterhielt sich ewige Zeit damit, die Bewunderung Henry's für seine Cousine zu bekämpfen. Aber während er sich ein Vergnügen daraus machte, die Schönheit zu rühmen, die er liebte, schmeichelte es einer versteckten Empfindung seiner Eitelkeit, auch jene wieder zu Ehren bringen zu hören, die er geliebt hatte. Es war das freilich nur eine Anwandlung der Selbstgefälligkeit, denn in Wirklichkeit hatte die arme Lavinia dies Herz, das die Erfolge frühzeitig verdorben hatten, nie besessen. Es ist vielleicht ein großes Unglück für einen Mann, sich zu früh zu einer glänzenden Stellung berufen zu finden. Die blinde Vorliebe der Frauen, die blöde Eifersucht gewöhnlicher Rivalen genügt, um dem Urteil eines Neulings eine falsche Richtung zu geben und einen ungeübten Geist zu verderben.

Weil Lionel das Glück des Geliebtwerdens zu wohl kennen gelernt, hatte er die Kraft seines Gemüts durch Zersplitterung erschöpft; weil er die Leidenschaften zu früh genossen, hatte er sich zu einer innigen Neigung unfähig gemacht. Unter schönen, männlichen Zügen, unter dem Ausdruck einer jugendlich kräftigen Gesichtsbildung verbarg er das kalte, verbrauchte Herz eines Greises.

»Nun, Lionel, sagen Sie mir, warum haben Sie Lavinia Buenafè, durch Ihr Verschulden jetzt Lady Blake, nicht geheiratet? Denn obgleich ich kein Tugendheld und durchaus aufgelegt bin, unter den Privilegien unseres Geschlechts vor allem das göttliche Recht des freien Beliebens zu respektieren, so kann ich doch, wenn ich es überlege, Ihr Benehmen nicht recht billigen. Nachdem Sie ihr zwei Jahre den Hof gemacht, nachdem Sie sie kompromittiert haben, soweit eine junge Dame zu kompromittieren ist (was im glücklichen Albion keine durchaus leichte Sache ist), nachdem sie Ihretwegen die besten Partien ausgeschlagen hat, verlassen Sie sie, um hinter einer italienischen Sängerin herzulaufen, die wahrlich einer solchen Missetat nicht wert war. Laßt sehen, war Lavinia nicht geistreich und hübsch? war sie nicht die Tochter eines portugiesischen Bankiers, der freilich Jude, aber auch reich war? wurden Sie von ihr nicht bis zum Wahnsinn geliebt?«

»He, Freund, eben darüber beklage ich mich: sie liebte mich viel zu sehr, als daß ich sie hätte zur Frau nehmen können. Nach der Meinung jedes verständigen Mannes muß eine Gattin eine sanfte, friedliche Gefährtin, Engländerin bis auf den Grund der Seele sein; wenig empfänglich für die Liebe und unfähig zur Eifersucht, muß sie den Schlummer lieben und einen ziemlich starken Missbrauch mit dem schwarzen Tee treiben, um ihre Eigenschaften in einem der Ehe angemessenen Gleichgewicht zu erhalten. Mit dieser Portugiesin mit dem Feuerherzen, dem lebhaften Temperament, der frühzeitigen Gewohnheit des Reifens, den ungezwungenen Manieren, den freien Ideen, mit all den gefährlichen Gedanken, die eine Frau, welche die Welt durchstreift, in sich aufnimmt, wäre ich der unglücklichste, wenn nicht lächerlichste Ehemann geworden. Fünfzehn Monate lang täuschte ich mich über das unvermeidliche Unglück, das diese Liebe mir bereiten mußte. Ich war damals so jung, zweiundzwanzig Jahre! – erinnern Sie sich dessen, Henry, und verdammen Sie mich nicht. Endlich öffnete ich die Augen gerade in dem Augenblick, als ich die großartige Dummheit begehen wollte, eine Frau zu heiraten, die mich wahnsinnig liebte – ich hielt am Rand des Abgrundes inne und ergriff die Flucht, um nicht meiner Schwäche zu unterliegen.«

»Heuchler!« sagte Henry. »Lavinia hat mir die Geschichte ganz anders erzählt. Es scheint, Sie waren schon lange vor jenem fühllosen Entschluss, der Sie nach Italien führte, der armen Jüdin überdrüssig und ließen sie grausamer Weise fühlen, daß Sie sich bei ihr langweilten. O, wenn Lavinia das erzählt, macht sie keine Phrasen, das versichere ich Sie. Sie gesteht das eigene Unglück und Ihre Herzlosigkeit mit einer Treuherzigkeit und Einfachheit, Wie ich sie niemals bei einer andern Frau gefunden habe. Sie hat so eine eigene Manier »am Ende langweilte ich ihn« zu sagen – wahrhaftig, Lionel, hätten Sie diese Worte von ihr gehört, mit dem Ausdruck offenherziger Trauer, den sie hineinzulegen versteht, ich wette, Sie würden Gewissensbisse empfinden.«

»Habe ich deren etwa nicht gehabt?« rief Lionel. »Das eben ist's, was uns eine Frau noch ferner verleidet: alles was wir nach unsern Rücktritt ihretwegen erdulden. Da sind die tausend kleinen Plagen, mit denen die Erinnerung uns verfolgt, die Stimme der Gesellschaft, die Rache und Anathema schreit, das Gewissen, das uns schreckt und quält, die leichten, sanften, und doch so grausamen Vorwürfe, die die arme Verlassene durch das hundertzüngige Gerücht uns zusendet. Sehen Sie, Henry, ich kenne nichts Langweiligeres und Traurigeres als das Gewerbe eines Don Juan.«

»Wem wollen Sie das einreden!« entgegnete Henry in neckendem Tone und machte dabei jene Geste ironischer Prahlerei, die ihm so gut stand. Doch sein Gefährte geruhte nicht, zu lächeln, und ritt langsam weiter, indem er dem Pferd den Zügel und seinen müden Blick auf dem entzückenden Gemälde umherschweifen ließ, welches das Tal zu ihren Füßen entrollte.

Luz ist eine kleine Stadt, die ungefähr eine Meile von Saint-Sauveur entfernt liegt. Unsere Stutzer machten dort Halt. Nichts konnte Lionel bewegen, bis zu Lady Lavinias Wohnort zu reiten. Er setzte sich in einem Gasthause fest und warf sich in Erwartung der für das Stelldichein bestimmten Stunde aufs Bett.

Obgleich das Klima hier weit weniger warm ist, als im Bigorratale, war doch der Tag drückend heiß. Sir Lionel, auf dem schlechten Wirtshausbett hingestreckt, empfand etwas Fieber und schlief unter dem Summen der Insekten, die über seinem Kopfe in der glühenden Atmosphäre hin- und herschossen, nur mit Mühe ein. Sein lebhafterer und sorgloserer Gefährte durchschritt das Tal, besuchte die Nachbarschaft, überwachte den Durchzug der Cavalcaden auf der Straße nach Gavarni, grüßte die schönen Ladies, die er an den Fenstern oder auf den Wegen erblickte, warf den jungen Französinnen, für die er eine entschiedene Vorliebe besaß, feurige Blicke zu und kehrte endlich bei Einbruch der Nacht zu Lionel zurück.

»Heda! Aufgestanden!« rief er und fuhr dabei unter die wollenen Bettvorhänge, »die Stunde des Stelldicheins ist da!«

»Schon?« sagte Lionel, der Dank der Abendkühle friedlich zu schlummern begann, »was ist denn die Uhr, Henry?«

Henry erwiderte in pathetischem Tone:

»At the close of the day, when the hamlet is still,

And nought but the torrent is heard upon the hill«2

»Um Himmels willen, verschonen Sie mich mit Ihren Zitaten, Henry! Ich sehe wohl, daß die Nacht herabsinkt, daß die Stille zunimmt, daß das Murmeln des Baches klangvoller und reiner zu uns herübertönt – aber Lady Lavinia erwartet mich erst um 9 Uhr. Vielleicht kann ich noch ein wenig schlafen.«

»Nein, keine Minute mehr, Lionel! Wir müssen uns zu Fuß nach Saint-Sauveur begeben, denn ich habe schon heut' Morgen die Pferde dahin führen lassen; die armen Tiere sind ziemlich abgetrieben, und zudem bleibt ihnen noch ein gutes Stück zu tun. Vorwärts, kleiden Sie sich an! So ist's gut! Um 10 Uhr bin ich an Lady Lavinias Tür, führe Ihnen Ihren Renner vor und überreiche Ihnen die Zügel, gerade wie unser großer William an der Pforte des Theaters, als er zum Jockeydienst erniedrigt war, der große Mann. Vorwärts Lionel, hier Ihr Mantelsack, eine weiße Cravatte und Bartpomade. Ruhig doch! Gott, diese Nachlässigkeit! Diese Apathie! Woran denken Sie denn, Bester? Sich einer Frau, die man nicht mehr liebt, in schlechter Toilette zu präsentieren, ist ein ungeheurer Fehler. Bedenken Sie doch, daß man, um ihr die Größe des Verlustes fühlbar zu machen, gerade mit allen Vorzügen vor ihr erscheinen muß! – Schnell, schnell! Arrangieren Sie Ihre Haartour noch sorgsamer, als wenn es sich darum handelte, mit Miss Margaret den Ball zu eröffnen. – So! – Lassen Sie sich noch etwas abbürsten. – Wie! sollten Sie gar ein Flakon mit Hyazinthenessenz zum Parfümiren Ihres seidenen Taschentuches vergessen haben? Das wäre unverzeihlich! Gott sei Dank, hier ist's. Nun vorwärts, Lionel, Sie duften, Sie strahlen – gehen Sie. Bedenken Sie, daß es eine Ehrensache für Sie ist, Tränen zu entlocken, da Sie heute Abend zum letzten Mal in Lady Lavinia's Gesichtskreis erscheinen.«

Beim Gange durch das weitläufig gebaute Saint-Sauveur, das aus höchstens fünfzig Häusern besteht, waren sie erstaunt, weder auf der Straße noch an den Fenstern eine Person der feineren Welt zu bemerken. Doch diese Seltsamkeit fand ihre Erklärung, als sie an den Fenstern eines Erdgeschosses vorüberkamen, aus dem die misstönenden Klänge einer Fiedel, eines Flageolets und eines Hackebretts, jenes Instrumentes, das zwischen dem französischen Tambourin und der spanischen Gitarre die Mitte hält, hervorschollen. Der Lärm und der Staub belehrten unsere Reisenden, daß der Ball begonnen habe, und daß die vorhandene elegante Welt der französischen, spanischen und englischen Aristokratie in einem einfachen Saale, dessen weiß getünchte Wände Buchsbaum- und Thymiangirlanden schmückten, versammelt war und sich nach dem Klang des abscheulichsten Charivaris, das je die Ohren zerriß und den Takt falsch markierte, im Tanze drehte.

Mehrere Gruppen von Badegästen, die eine weniger glänzende Stellung oder eine gründlicher ruinierte Gesundheit der aktiven Teilnahme an der Soiree beraubte, drängten sich an den Fenstern durcheinander, um über die Schultern der Vornstehenden einen neidisch oder ironisch neugierigen Blick in den Saal zu werfen und lobende oder tadelnde Bemerkungen auszutauschen, wobei sie auf den Schlag der Dorfuhr warteten, die jeden Kranken bei Strafe des Verlustes sämtlicher wohltätigen Folgen des Mineralwassers ins Bett treibt.

Gerade als unsere beiden Reisenden an dieser Gruppe vorübergingen, entstand unter dem Haufen ein Wogen gegen die Fensteröffnungen hin, und Henry, der sich unter die Neugierigen zu drängen suchte, hörte folgende Worte:

»Jetzt tritt die schöne Jüdin Lavinia Blake zum Tanze an. Man sagt, sie sei die beste Tänzerin in ganz Europa.«

»He, kommen Sie her, Lionel!« rief der junge Baronnet. »Schauen Sie, wie geschmackvoll gekleidet und wie reizend meine Cousine ist.«

Lionel aber zupfte ihn am Arme und zog ihn missmutig und ungeduldig vom Fenster fort, ohne auch nur einen Blick nach dieser Seite zu werfen.

»Weiter, weiter,« sagte er, »wir sind nicht hierher gekommen, um dem Tanze zuzusehen.«

Er konnte sich jedoch nicht so schnell entfernen, als daß nicht eine andere Bemerkung, die zufällig in seiner Nähe fiel, sein Ohr erreicht hätte.

»Ah!« sagte man, »der schöne Graf von Morangy tanzt mit ihr.«

»Thun Sie mir die Liebe und sagen Sie mir, wer anders sonst noch es sein könnte,« erwiderte eine zweite Stimme.

»Man sagt, er verliere darüber den Kopf,« fiel ein dritter ein. »Er hat ihretwegen schon drei Pferde und ich weiß nicht wieviel Jockeys zu Schanden gehetzt.«

Die Eigenliebe ist ein so seltsamer Berater, daß wir ihretwegen hundertmal des Tages in den schönsten Widerspruch mit uns selbst geraten. Tatsächlich war Lionel entzückt, Lady Lavinia durch eine neue Neigung beschäftigt und in einem Verhältnis zu sehen, das ihre beiderseitige Unabhängigkeit sicherte. Und dennoch schienen ihm diese öffentlichen Triumphe, die der verlassenen Frau Vergessenheit des Vergangenen gewähren konnten, eine Art Beleidigung für ihn, die er nur mühsam verschluckte.

Henry, der die Örtlichkeit kannte, führte ihn an das Ende des Dorfes zu dem Hause, das seine Cousine bewohnte. Dort verließ er ihn.

Das Haus lag ein wenig von den andern entfernt. Auf der einen Seite lehnte es sich an den Fels, auf der andern beherrschte es die Schlucht. Nur drei Schritte davon stürzte der Bach mit donnerndem Getöse in die Felsrinne, so daß das Haus, das so zu sagen in dies erfrischende, wilde Geräusch eingehüllt war, vom Sturz des Wassers erschüttert und bereit schien, sich mit ihm in die Tiefe zu stürzen. Es war eine der pittoreskesten Lagen, die man wählen konnte, und Lionel erkannte an diesem Umstande den romantischen und etwas bizarren Geschmack der Lady Lavinia wieder.

Eine alte Negerin öffnete ihm die Tür eines kleinen Salons im Erdgeschoß. Kaum fiel der Lichtschein auf ihr glänzendes, schwieliges Gesicht, als Lionel ein Ausruf der Überraschung entschlüpfte. Es war Pepa, Lavinia's alte Amme, dieselbe, die Lionel zwei Jahre lang täglich bei seiner Vielgeliebten gesehen hatte. Da er auf eine Gemütsbewegung nicht vorbereitet war, verwirrte der unerwartete Anblick der Alten, der ihm die Vergangenheit in's Gedächtnis zurückrief, auf kurze Zeit all seine Gedanken. Beinahe wäre er ihr um den Hals gefallen, hätte sie beinahe wie in den Tagen der feurigen Jugend Mutter genannt und sie wie eine würdige Dienerin, eine alte Freundin umarmt, doch Pepa wich drei Schritte zurück und betrachtete Lionels erregtes Wesen mit verdutzter Miene. Sie erkannte ihn nicht wieder.

– Ich habe mich also sehr verändert? – dachte er.

»Ich bin die Person, die Lady Lavinia zu sich befohlen hat,« sagte er dann verwirrt. »Hat sie es Ihnen nicht gesagt?«

»O doch, Mylord« entgegnete die Negerin. »Mylady ist auf dem Ball; sie befahl mir, ihr ihren Fächer zu bringen, sobald ein Herr Einlass begehre. Bleiben Sie hier, ich eile, sie zu benachrichtigen.«

Die Alte begann den Fächer zu suchen. Er lag auf der Kante eines Marmortischchens im Bereich von Sir Lionel's Hand. Er nahm ihn auf, um ihn der Alten zuzustellen; der feine Duft desselben haftete noch an seinen Fingern, als sie schon hinausgegangen war.