Law statt Order - Maximilian Pichl - E-Book

Law statt Order E-Book

Maximilian Pichl

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Beschreibung

Nach Aktionen von Klimaschützern oder Schlägereien in Schwimmbädern werden regelmäßig Forderungen laut, nun müsse »mit der vollen Härte des Rechtsstaats durchgegriffen« werden. Gemeint ist damit: Schluss mit Entschuldigungen und Sozialarbeiter-Romantik, dafür robustes Auftreten der Polizei, Ausschöpfen des Strafrahmens vor Gericht – kurz: »Law and Order«-Politik.

Dabei gerät in Vergessenheit, dass »Rechtsstaat« eigentlich etwas ganz anderes bedeutet, nämlich die Bindung staatlichen Handelns an das Gesetz. Maximilian Pichl analysiert, aus welchen Gründen und mit welchen Strategien politische Akteure die skizzierte Umdeutung betreiben und welche Folgen sie hat. Diesen Bestrebungen setzt Pichl die lange Geschichte juristischer Kämpfe entgegen, in denen sich Anwälte und Aktivisten für eine Begrenzung politischer Willkür eingesetzt haben.

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Cover

Titel

3Maximilian Pichl

Law statt Order

Der Kampf um den Rechtsstaat

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2837.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Textund Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77948-4

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

1

Ubiquitär

Die Allgegenwärtigkeit des Rechtsstaates

2

Ursprünge

Wie der Rechtsstaat entstanden ist und wie um ihn gekämpft wurde

Der liberale Rechtsstaat

Ausschluss aus dem Rechtsstaat

Kämpfe um den Rechtsstaat im 19. Jahrhundert

Kämpfe um den Rechtsstaat in der Weimarer Republik

Die Demontage des Rechtsstaats im Nationalsozialismus

Der Kampf um den sozialen Rechtsstaat in der Bonner Republik

Der Deutsche Herbst und der Rechtsstaat

»Law and Order« wird hegemonial

Die Transnationalisierung des Rechtsstaats in Europa

Die Rechtsmobilisierung des Rechtsstaats im 21. Jahrhundert

3

Umdeutung

Wie mit dem Rechtsstaat »Law and Order« umgesetzt wird

»Law and Order« in der Asyl- und Migrationspolitik

… im Umgang mit dem »Polizeiproblem«

… in der Debatte um die sogenannte Clankriminalität

… im Umgang mit der Klimagerechtigkeitsbewegung

Intendierte und nichtintendierte Verschiebungen des Rechtsstaatsbegriffs

4

Usurpation

Wie der Rechtsstaat gekapert wird

Rechter Autoritarismus versus Rechtsstaat

Die metapolitische Strategie der Neuen Rechten im Umgang mit dem Rechtsstaatsbegriff

Die Reichsbürger und der Rechtsstaat

Die

A

f

D

und der Rechtsstaat

Zur Übernahme der rechten Rechtsstaatsrhetorik

5

Umbau

Wie Europa (erfolglos) versucht, die Rechtsstaatskrise einzudämmen

Die Laboratorien des Autoritarismus

Die autoritäre Abwehr des Rechtsstaats

Der Umgang der

EU

mit der Krise der Rechtsstaatlichkeit

Die »andere Rechtsstaatlichkeitskrise« der

EU

Der Rechtsstaat in der Wirtschafts- und Finanzkrise

Menschenrechtsverletzungen und Ausnahmezustände

Der Rechtsstaat in der Flüchtlings- und Migrationspolitik

Angriffe auf die europäische Gerichtsbarkeit

6

Utopie

Der kommende Rechtsstaat?

Die Rechtsstaatskrise sichtbar machen

Den Kampf um den Rechtsstaat aufnehmen

Allianz für Rechtsstaatlichkeit

Rechtsstaatlichkeit und Parlamentarismus

Law statt Order

Die Kämpfe internationalisieren

Dem Rechtsstaat den eigenen Stempel aufdrücken

Rechtsmobilisierung und soziale Bewegungen

Über den Rechtsstaat hinaus

Danksagung

Anmerkungen

1

Ubiquitär

Die Allgegenwärtigkeit des Rechtsstaates

2

Ursprünge

Wie der Rechtsstaat entstanden ist und wie um ihn gekämpft wurde

3

Umdeutung

Wie mit dem Rechtsstaat »Law and Order« umgesetzt wird

4

Usurpation

Wie der Rechtsstaat gekapert wird

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Umbau

Wie Europa (erfolglos) versucht, die Rechtsstaatskrise einzudämmen

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Utopie

Der kommende Rechtsstaat?

Informationen zum Buch

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71 UbiquitärDie Allgegenwärtigkeit des Rechtsstaates

Am 6. Februar 2023 fand in Hessen der »Tag des Rechtsstaats« statt. Das von gleich drei Landesministerien federführend entwickelte Format sollte Schülerinnen und Schüler über den Rechtsstaat aufklären. Einen Kerngedanken, der diesem zugrunde liegt, beschrieb Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) in seinem Grußwort wie folgt: »Er sorgt dafür, dass alle Bürgerinnen und Bürger eines Landes die gleichen Rechte haben und dass diese Grundrechte eingehalten werden, auch vom Staat.«1 Im Rahmen einer begleitenden Projektwoche durften die Schüler:innen unter anderem Amtsgerichte besuchen, mit Justizpersonal sprechen und Gerichtsverhandlungen simulieren. Aber am »Tag des Rechtsstaats« ging es nicht nur um die Justiz. Auf dem Platz vor der Frankfurter Paulskirche, der »Wiege der deutschen Demokratie« (John F. Kennedy),2 hatten die Veranstalter Infostände aufgebaut. Dort konnten sich die Besucherinnen und Besucher unter anderem einen Streifenwagen von innen ansehen und in Erfahrung bringen, was ein polizeiliches Überfallkommando macht. Innenminister Peter Beuth (CDU), der auf dem Paulsplatz interviewt wurde, sah darin »praktische Demokratieerziehung«.3 Aber was das Innenleben eines Streifenwagens mit Rechtsstaatlichkeit zu tun hat, wurde an keiner Stelle erklärt. Auch 8nicht, warum man an den Ständen der Polizei Brillen ausprobieren konnte, die den Konsum von Drogen simulieren sollten. Was nehmen Schülerinnen und Schüler von so einer Veranstaltung mit, wenn sie laut dem Ankündigungsflyer in den Präsidien die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Polizei näher kennenlernen oder einen Einblick darin erhalten, wie an einem Tatort Spuren gesichert werden? Steht dabei der eigentliche Gehalt des Rechtsstaats im Vordergrund?

Bei dem Projekttag ging es um eine niedrigschwellige Wissensvermittlung an junge Menschen. Doch die Art und Weise, wie der Rechtsstaat dort präsentiert wurde, ist symptomatisch für eine öffentliche Debatte, in der einerseits der Begriff allgegenwärtig ist, andererseits aber große Konfusion darüber herrscht, was genau darunter zu verstehen ist. Wie selten zuvor in der bundesrepublikanischen Geschichte führen Politiker:innen und auch Journalist:innen diesen Ausdruck inflationär im Munde. Mit dem von Zeit Online entwickelten Tool »Darüber spricht der Bundestag« lassen sich sämtliche zwischen den Jahren 1949 und 2019 im deutschen Parlament gehaltenen Reden auf die Verwendung einzelner Ausdrücke hin analysieren und grafisch aufbereiten.4 In eine Suchmaske kann man Begriffe eingeben, und daraufhin erstellt das Tool ein Kurvendiagramm, das anzeigt, wie oft ein Wort gebraucht wurde. Als Datengrundlage dienen die über 4200 Plenarprotokolle des Deutschen Bundestags. »Rechtsstaat« spielte in allen Wahlperioden in den Beiträgen der Abgeordneten eine gewisse Rolle. In der Zeit nach 1949 blieb die Verwendung zunächst aber auf einem eher unauffälligen Niveau. Ab Mitte der sieb9ziger Jahre nahm sie dann zu, um im Jahr 1977 einen ersten Höchstwert zu erreichen. Die Gründe hierfür waren der »Deutsche Herbst«, der Terror der Roten Armee Fraktion (RAF) und die Reaktionen des Staates. In dieser Zeit vollzog sich ein Bedeutungswandel des Begriffs. Seither wird er mit dem Bereich der Sicherheitspolitik verknüpft.

Der nächste Höhepunkt wurde kurz nach dem Fall der Mauer und der Auflösung der Sowjetunion in den Jahren 1991/92 erreicht. Die Abgeordneten stritten über die Wiedervereinigung und das neue Selbstverständnis der Berliner Republik, auch um sich vom Erbe des realsozialistischen Deutschlands abzugrenzen. Prägende Debatten drehten sich um die Fragen, ob und wann SED-Unrechtstaten verjährten und wie die Verfolgten des Stalinismus und des DDR-Regimes rehabilitiert und entschädigt werden konnten. Relevant ist in diesem Zusammenhang aber auch der Anstieg rechter Gewalt zu jener Zeit. Man denke etwa an den Brandanschlag von Mölln im Jahr 1992, bei dem drei Menschen ums Leben kamen. »Es wäre ein falsches Verständnis von Liberalität«, sagte damals Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), »wenn der Rechtsstaat an der Verfolgung politisch motivierter Terroristen gehindert würde. Ein Staat, der das Recht nicht mehr durchsetzt, verliert das Vertrauen seiner Bürger.«5 Bereits hier wird der Begriff »Rechtsstaat« im Sinne einer schärferen strafrechtlichen Verfolgung verwendet, so wie es heutzutage in vielen politischen Debatten selbstverständlich ist.

In den darauf folgenden Jahren wurde es im Parlament etwas ruhiger um den Rechtsstaat. Ab 2013 stieg die 10Kurve dann aber wieder steil an und erreichte im Jahr 2018 einen erstaunlichen Höhepunkt. Auch der Sicherheitsbegriff fiel in dieser Zeit sehr oft in den Bundestagsdebatten. Ähnlich wie andere prägende Schlagwörter der 2010er Jahre – »Mindestlohn«, »Digitalisierung«, »Klimaschutz« – gehört »Rechtsstaat« mittlerweile zu einem Dauerbrenner in den politischen Auseinandersetzungen im Parlament.

Abb. 1: Der Rechtsstaatsbegriff in den Debatten des Bundestags

Die Grafik zeigt die jährliche Nennung pro 100 ‌000 Wörter. Quelle: Zeit Online 2023.

Woher diese Prominenz? Nun, das scheint unter anderem damit zusammenzuhängen, dass viele den Rechtsstaat in akuter und großer Gefahr sehen. In den Bahnhofsbuchhandlungen und auf den Sachbuchbestsellerlisten finden sich immer wieder Bücher, die eine »Justiz-Apokalypse« prognostizieren, wenn nicht schnell gehandelt wird.6 Die meisten dieser Werke stammen von Aktiven und Ehemaligen aus dem Justizapparat. Ihre markanten Titel verschaffen ihren Urhebern – in der Regel männ11liche Autoren – regelmäßig Talkshowauftritte, in denen sie dann ihre Thesen einer breiten Öffentlichkeit präsentieren. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier hat sein 2019 erschienenes Buch, in dem er beschreibt, wie der Rechtsstaat angeblich ausgehöhlt wird, schlicht Die Warnung genannt. Zwei Jahre später war diese Warnung anscheinend ungehört verhallt. Jedenfalls sah Oberstaatsanwalt Ralph Knispel den Rechtsstaat am Ende. Beim ehemaligen Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes Jens Gnisa ist es die Gerechtigkeit (2017), die zur Disposition steht, weil Haftbefehle nicht vollstreckt würden. Amtsrichter Thorsten Schleif hat mittlerweile schon zwei Bücher herausgebracht, die das »Versagen der Justiz« im Titel (2019 und 2022) tragen.

Die Gefahren für den Rechtsstaat sehen diese Richter und Staatsanwälte in einer laschen Strafjustiz, renitenten Angeklagten, welche die Gerichte nicht respektieren würden, Parallelgesellschaften und unkontrollierten Grenzen. Härtere Strafurteile oder mehr Personal für Justiz und Polizei sollen diese Probleme lösen, um dem Rechtsstaat Respekt zu verschaffen. Andere Gefahren kommen indes gar nicht vor: Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz durch rechte Bewegungen und Parteien, eine Politik, die Geflüchtete in Europa entrechtet, Innenministerien und Polizeibehörden, die die Versammlungsfreiheit aushöhlen, oder die soziale Frage im Rechtsstaat sind blinde Flecken in diesen Werken.7

Wenn sich der öffentliche Blick nach Ungarn, Israel oder in die USA wendet, wo autoritäre Akteur:innen, Parteien und Bewegungen seit einigen Jahren die Unabhängigkeit der Justiz immer wieder angreifen, Gerichte nach 12ihrem eigenen parteipolitischen Gusto besetzen oder die Kompetenzen von Verfassungsgerichten beschneiden, dann ist in den Zeitungen und politischen Stellungnahmen schnell klar, worum es bei Rechtsstaatlichkeit geht. In Bezug auf Deutschland herrscht kaum Klarheit. Für die erwähnten Richter und Staatsanwälte scheint jedenfalls weniger der Rechtsstaat im Vordergrund zu stehen als vielmehr eine ordnungspolitische Grundhaltung, nämlich: »Law and Order«. Ihnen ist daran gelegen, die Härte und Durchsetzungskraft der Behörden und Justiz zu steigern. Wenn sie von »Rechtsstaat« sprechen, dann meinen sie einen Staat, der die Gesetze mit robusten Mitteln durchsetzt. Vielleicht am deutlichsten hat diese Einstellung unlängst der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder von der SPD zum Ausdruck gebracht: »Rechtsstaat heißt nicht, vor allem Minderheiten zu schützen«, ließ er Journalisten von der Süddeutschen Zeitung wissen, »sondern die Mehrheit zu schützen vor Kriminalität.«8

In der politischen Öffentlichkeit hat diese Tonalität spürbar verfangen. Wer in einer Online-Suchmaschine nach der Formel »Härte des Rechtsstaats« sucht, bekommt Zehntausende von Treffern. Um die Drastik noch zu steigern, wird gerne auch von der »vollen Härte des Rechtsstaats« gesprochen. Diese Formulierungen werden partei- und medienübergreifend und zu unterschiedlichen Anlässen verwendet. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) stellte sich nach den Jugendkrawallen in Stuttgart während des Pandemiesommers 2020 demonstrativ hinter die Polizei. »Gewalt, Vandalismus, schiere Brutalität […] müssen mit aller Härte 13des Rechtsstaats verfolgt und bestraft werden«;9 Carsten Knop, einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, forderte zum Schutz der Polizei die »volle Härte des Rechtsstaats, der das Gewaltmonopol hat – am besten in Kombination mit schärferen Gesetzen«;10 Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) brachte die »Härte des Rechtsstaats« gegen Flüchtlinge in Anschlag, die alkoholisiert und prügelnd durch Amberg gelaufen sein sollen;11 die »volle Härte des Rechtsstaats« verlangte Ex-Innenminister Horst Seehofer (CSU) gegen Demonstranten, die antisemitische Parolen rufen;12 in einem Kommentar für den Sender Deutsche Welle forderte der Journalist Tobias Oelmaier allen Ernstes, Fußballfans, die den TSG-Hoffenheim-Mäzen Dietmar Hopp angefeindet hatten, sollten »mit der vollen Härte des Rechtsstaats« vor Gericht gestellt und ins Gefängnis gebracht werden;13 Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) beschwor bei zahlreichen Gelegenheiten die »Härte des Rechtsstaats«, etwa gegen rücksichtslose Autofahrer (2022), Reichsbürger (2022) oder Organisierte Kriminalität (2023); und auch in der »liberalen« FDP findet diese Rhetorik Anklang, wenn beispielsweise Generalsekretär Bijan Djir-Sarai anlässlich der Blockadeaktionen von Klimaaktivist:innen am Berliner Flughafen BER in der Presse verlautbaren ließ, dass »Protestaktionen dieser Art vollkommen illegitim sind« und die »volle Härte des Rechtsstaates greifen« müsse.14

Die Liste lässt sich beliebig erweitern. Klar ist, dass »Rechtsstaat« in diesen Zitaten als ein Synonym für ganz andere Begriffe verwendet wird. Gemeint ist »mit 14aller Härte der Polizei«, »die volle Härte des Gewaltmonopols« oder auch »die volle Härte der Strafgesetze«. Doch auf diese Formulierungen wird verzichtet, von einigen Akteur:innen strategisch bewusst, von anderen möglicherweise unbewusst. Wer in aktuellen politischen Diskussionen vom Rechtsstaat spreche, schreibt der Journalist und Jurist Markus Sehl, »will davon profitieren, dass der Begriff unpolitisch klingt, wie eine Bestandsaufnahme, ein Best-of der rechtlichen Instrumente«.15 Er steht vermeintlich auf der richtigen Seite und muss sich politisch nicht mehr weiter erklären. Es geht ja »nur« darum, das Recht konsequent anzuwenden.

Tatsächlich aber benutzen die Apologet:innen der »Law and Order«-Politik den Ausdruck dann, wenn die rechtliche Lage nicht so eindeutig ist und sich aus dem Strafrecht nicht sicher ableiten lässt, dass Angeklagte schnell bestraft werden sollten. Mit dem Aufruf des Rechtsstaats geht nicht selten das stille Kommando an die Justiz einher, entgegen den zentralen Prinzipien des Strafrechts zu handeln, wie dem Ultima-Ratio-Prinzip (Strafrecht soll nur als letztes Mittel eingesetzt werden) oder dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (jede Strafe muss in einem angemessenen und grundrechtsschonenden Verhältnis zum verfolgten legitimen Zweck stehen). Gleichzeitig wird eine Botschaft an die breite Öffentlichkeit gesendet. Die Politik signalisiert, dass sie alles unter Kontrolle hat und handlungsbereit ist. In öffentlichen Debatten entfaltet dieser diskursive Zug eine enorme Wirkung, weil die Behauptung, der Rechtsstaat sei in Gefahr oder Rechtsstaatlichkeit werde verletzt, impliziert, »dass der Bruch einer be15stimmten Rechtsregel zugleich eine Erschütterung des Rechts als Ganzem darstellt«.16

Aber was ist unter dem Begriff »Rechtsstaat« eigentlich zu verstehen? Ein Blick in das Grundgesetz hilft an dieser Stelle nicht recht weiter. Der Ausdruck wird nur in Artikel 28 erwähnt:17 »Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen.« Was Rechtsstaatlichkeit bedeutet, haben vor allem das Bundesverfassungsgericht in zahlreichen Urteilen und Rechtswissenschaftler:innen in Kommentaren und Fachbeiträgen entwickelt. Einmal abgesehen von Nuancen orientiert sich der Großteil der juristischen Arbeiten an einer liberalen Auslegung, in der die individuellen Freiheitsrechte und deren Schutz in den Mittelpunkt gestellt werden. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat den Begriff folgendermaßen interpretiert: Er »zielt stets auf die Begrenzung und Eingrenzung staatlicher Macht und Herrschaft im Interesse der Freiheit der einzelnen, auf den Abbau der Herrschaft von Menschen zugunsten der ›Herrschaft der Gesetze‹; der Primat des Rechts gegenüber der Politik erscheint als immer wiederkehrendes Postulat rechtsstaatlichen Denkens.«18 Es ist sicherlich auch der deutschen Wortkombination von »Recht« und »Staat« zu verdanken, die es bei vergleichbaren Konzepten im Englischen und Französischen nicht gibt, dass der Terminus zu einer ordnungspolitischen Umdeutung im Alltagssprachgebrauch geradezu einlädt. Aber hinter dem Begriff stehen eine Geschichte und eine Rechtsprechungspraxis, die ihn prägen. Nicht 16der strafende und ordnende Staat steht im Zentrum rechtsstaatlichen Denkens, sondern gerade die Einhegung staatlicher Macht.

Ein solches herrschaftsbegrenzendes Verständnis von Rechtsstaatlichkeit ist in vielen Ländern der Erde scharfen Attacken ausgesetzt.19 Tatsächlich lässt sich eine globale Rechtsstaatlichkeitskrise mit Zahlen belegen. Seit 2016 veröffentlicht das unabhängige World Justice Project (WJP) den »Rule of Law Index«, in dem Daten und Informationen aus der ganzen Welt dokumentiert und gesammelt werden, oft eingebracht von Anwaltsvereinigungen aus den jeweiligen Nationalstaaten. Anlässlich der Veröffentlichung des Berichts für das Jahr 2022 erklärte Elizabeth Andersen, die Exekutivdirektorin des WJP, dass »autoritäre Trends, die bereits vor der Pandemie existierten, die Rechtsstaatlichkeit weiter erodieren lassen«.20 Im fünften Jahr in Folge stellte das WJP einen globalen Rückgang an Rechtsstaatlichkeit fest. Und dieser manifestiert sich auch in Deutschland, Österreich und insbesondere den USA.

Im Mainstream der politik- und rechtswissenschaftlichen Populärliteratur werden zur Analyse dieser Krise gerne die angeblichen »Freunde des Rechtsstaats« von dessen »Feinden« unterschieden.21 Eine konservative und liberale Mitte wird als Bollwerk gegen die Attacken auf die Rechtsstaatlichkeit ins Feld geführt. Dabei bleibt jedoch unberücksichtigt, dass viele der autoritären Akteur:innen aus ebendieser Mitte kommen.

Nicht nur die Rechtsstaatlichkeit selbst und ihre Institutionen werden attackiert. Auch der einst liberal geprägte Begriff des Rechtsstaats ist so umkämpft wie lan17ge nicht mehr. Publizist:innen und Wissenschaftler:innen warnen eindringlich davor, dass sich sein Inhalt zu verschieben beginnt. In der von »großen Missverständnissen«22 geprägten Debatte werde der Ausdruck wie bei einem »Rechtsstaatsbingo«23 »bewusst oder unbewusst vollkommen falsch verstanden und verwendet«.24 Es dominiere ein »Law-and-Order-Fetischismus«,25 Rechtsstaat werde mit einem »starken Staat mit starker Zwangsmacht« gleichgesetzt.26 In der Summe laufe diese »Form populistischer Vereinfachung von Rechtsstaatlichkeit […] Gefahr, antidemokratisch zu wirken, also hinter die Erkenntnisse genau jenes modernen Staatsdenkens, auf das sie sich beruft, zurückzufallen«.27

Der Rechtsstaatsbegriff war stets umkämpft, und seine Bedeutung hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder gewandelt. Schon seit dem 19. Jahrhundert, als der Terminus geprägt wurde, unterlag er einem heftigen politischen und staatstheoretischen Streit. In den letzten Jahren hat sich der ordnungspolitische Deutungskampf verschärft. »Rechtsstaat« steht in den öffentlichen Debatten nicht mehr für das Schutzinstrument gegenüber dem Staat und mächtigen Herrschaftsinteressen. Vielmehr wird der Begriff heute immer häufiger verwendet, um das rigorose Handeln des Gewaltmonopols zu legitimieren. Nicht die angeblich fehlende »Härte« ist die Gefahr für den Rechtsstaat, sondern die galoppierende Erosion seines ursprünglichen auf den Schutz des Einzelnen zielenden Gehalts.

Es ist das Anliegen dieses Buches, den Treibern dieser Umdeutung im Sinne eines »Law and Order« nachzuspüren. Anhand zentraler politischer Diskurse der 18letzten Jahre – über Flüchtlingspolitik, rassistische Polizeigewalt, Klimapolitik, sogenannte Clankriminalität und die europäische Rechtsstaatlichkeitskrise – wird gezeigt, wie ordnungspolitische Verständnisse des Begriffs in das gesamte politische Spektrum eingesickert sind und inwiefern selbst die extreme und die Neue Rechte versuchen, den Ausdruck für ihre Interessen zu kapern. Bei diesen Deutungskämpfen geht es nicht einfach nur um Wörter. Sie haben praktische Konsequenzen in der Politik, der Verwaltung und der Justiz und wirken sich auf Gesetze, Urteile und behördliches Handeln aus.

Mir geht es in diesem Buch nicht allein darum, eine liberale Auslegung des Rechtsstaates zu verteidigen. Der Begriff entstand Ende des 18. Jahrhunderts in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche. Er war und ist in die kapitalistischen, (neo-)kolonialen und patriarchalen Herrschaftsverhältnisse verstrickt. Die spezifische liberale Rechtsstaatlichkeit war in ihrer Geschichte defizitär, ausschließend und ist auch heute nicht umfassend in der Lage, den multiplen Krisen des 21. Jahrhunderts wie der Klimakatastrophe, der (globalen) sozialen Ungleichheit oder dem Massensterben von Schutzsuchenden auf ihrer Flucht hinreichend zu begegnen. Welches Potenzial hat der Rechtsstaat diesen immanenten Grenzen zum Trotz? Warum lohnt es sich, dass auch progressive Akteur:innen für ihn kämpfen? Und wo liegen die Grenzen, um die man bei diesen Kämpfen wissen muss? Ich möchte das liberale Verständnis des Rechtsstaates verteidigen, um zugleich seine Defizite zu benennen und über es hinauszugehen.

19In Kapitel 2 wird zunächst die Geschichte des Rechtsstaats und zugleich die des Rechtsstaatsbegriffs rekonstruiert. Ich stelle dar, wie beide in unterschiedlichen Phasen und Gesellschaftskonstellationen umkämpft waren, welche Vorarbeit ordnungspolitische Akteur:innen geleistet haben, um den Begriff seiner freiheitssichernden Funktion zu entkleiden, und welche Kontinuitäten sich daraus für die Debatten und Kämpfe im 21. Jahrhundert ergeben.

In Kapitel 3 gehe ich dann auf die Umdeutung im Sinne einer »Law and Order«-Politik ein. Diese Bedeutungsverschiebung wird von Akteur:innen unterschiedlicher parteipolitischer Couleur betrieben. Anhand von vier Politikfeldern der inneren Sicherheit – Asyl- und Migrationspolitik, die Kontrolle der Polizei, die Bekämpfung sogenannter Clankriminalität sowie die öffentliche Rhetorik und Strafpolitik gegen Proteste der Klimagerechtigkeitsbewegung – zeige ich auf, wie der Begriff des Rechtsstaates in konkreten politischen Debatten und für bestimmte Maßnahmen zweckentfremdet wird.

Kapitel 4 wendet sich den Debatten in der extremen und der Neuen Rechten zu. Ich zeichne metapolitische Strategien nach, die darauf abzielen, sich den Rechtsstaatsbegriff anzueignen oder gar das Recht zu kapern, um ungehindert die eigenen völkischen Interessen durchzusetzen.

Kapitel 5 geht der Frage nach, wie die Europäische Union auf die virulente innere Rechtsstaatlichkeitskrise reagiert, durch die die Werte der Union untergraben werden. Neben den öffentlich stark diskutierten Zu20ständen in Polen und Ungarn wird der Blick darauf gelenkt, welche Verantwortung die EU und ihre angeblich liberalen Stützen in den zentraleuropäischen Mitgliedsstaaten tragen. Dabei wird das Ausmaß der europäischen Rechtsstaatlichkeitskrise deutlich.

In Kapitel 6 skizziere ich abschließend, wie der Rechtsstaatsbegriff angesichts einer autoritären Konstellation überhaupt für progressive Akteur:innen relevant sein kann. Warum ist es essenziell, den Rechtsstaat zu verteidigen? Warum und wie sollten progressive Kräfte über ihn hinausgehen?

212 UrsprüngeWie der Rechtsstaat entstanden ist und wie um ihn gekämpft wurde

Was ist der Rechtsstaat? In vielen öffentlichen Diskussionen herrscht diesbezüglich Unklarheit. Der Begriff entzieht sich einer »einfachen und formelhaften Umschreibung«.1 Akteur:innen aus dem gesamten politischen Spektrum verwenden ihn auf unterschiedliche Weise, um so ihre je eigenen Anliegen zu legitimieren. Aber nicht nur in der breiten Öffentlichkeit, auch in der Politik- und in der Rechtswissenschaft besteht in dieser Frage keine Einigkeit. »Als Verfassungsprinzip und normative Grundlage […] teilt der Rechtsstaat die Unbestimmtheit des Grundsätzlichen«, so hat es Günter Frankenberg einmal polemisch formuliert.2 Es handele sich, schrieb Ernst-Wolfgang Böckenförde, um einen »vage[n]« und nicht »ausdeutbare[n] Schleusenbegriff«, der offen für politischen Wandel sei.3

Bei aller Unbestimmtheit ist er aber zugleich nicht beliebig verwendbar, zumindest wenn man ihn auf die theoretischen und historischen Debatten zurückführt, aus denen heraus er entstanden ist. Auch Böckenförde verweist darauf, dass erst die »Kenntnis seiner geschichtlichen Entwicklung« es ermöglicht, den Begriff zu gebrauchen, ohne dass er seine »Kontinuität« verliert und zu einer »bloßen Leerformel« herabsinkt.4 Also sollen 22im Folgenden die historischen Ursprünge des Rechtsstaates skizziert werden.

Zu unterscheiden ist dabei zwischen der Begriffs- und der Phänomengeschichte des Rechtsstaats, die nicht immer deckungsgleich sind. Im Staatsrecht, der Rechtsphilosophie und in politischen Debatten wird seit zwei Jahrhunderten lebhaft über den Rechtsstaatsbegriff diskutiert. Zugleich gibt es auch eine empirisch beobachtbare Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit, die ebenfalls einem dynamischen Wandel unterliegt. Bei einem Blick in die wechselvolle Geschichte des Begriffs und seines Phänomens ist ein Fokus auf die deutsche Debatte unausweichlich, handelt es sich doch um ein spezifisch deutsches Konzept.5 Gleichwohl gilt es, die europäische Perspektive zu berücksichtigen. Der Rechtsstaat und seine Institutionen entwickelten sich in Westeuropa in jeweils eigenen politischen Kontexten, doch bestehen wichtige Gemeinsamkeiten. So sind etwa »Rechtsstaat« und »rule of law« zwar nicht das Gleiche, aber beide sollen bestehende Freiheiten sichern und neue ermöglichen. Zugleich ist es wichtig, die europäischen Dimensionen zu beleuchten, weil sich die Krise der Rechtsstaatlichkeit im 21. Jahrhundert und die ordnungspolitische Umdeutung des Rechtsstaatsbegriffs in entscheidender Weise im Rahmen der Europäischen Union abspielen.6

23Der liberale Rechtsstaat

Der Rechtsstaat ist untrennbar mit dem modernen Liberalismus verbunden. Dieser war angetreten, ein politisches und ökonomisches System zu entwickeln, das den Feudalismus und das absolutistische Herrschaftsmodell ersetzen sollte. Im Kampf gegen das Ancien Régime sollte eine neue Ordnung für das europäische Bürgertum entstehen. Die liberalen Ideen wurden nicht im luftleeren Raum erdacht: Sie entstanden im Zusammenhang mit den gewaltvollen und revolutionären Umbrüchen im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts. Auch die Konturen des deutschen Rechtsstaatsbegriffs etablierten sich in dieser Zeit, orientierten sich an den liberalen philosophischen Vorbildern7 und standen unter dem Eindruck der Revolutionen in Frankreich und Nordamerika sowie der Kämpfe in Europa zwischen der alten Feudalaristokratie, dem Bürgertum und dem dritten Stand. Der Begriff »lag während der revolutionären Schwellenzeit gleichsam in der Luft«, so Günter Frankenberg.8

Nach den Umstürzen oder im Versuch, ihnen zuvorzukommen, rechtfertigten liberale Denker:innen mit dem Begriff des Rechtsstaats die neuen Herrschaftssysteme. Dazu zählte in Teilen auch die deutsche Rechtsstaatstheorie, »die den besonderen deutschen Verhältnissen des 19. Jhs entsprechende Variante der bürgerlichen Staatstheorie«.9 Das Ziel bestand darin, ein Gegenstück zu despotischen Ordnungssystemen und dem, was man unter »Policey« oder einem Polizeistaat verstand, zu formulieren. »Policey« meinte eine Regierung, die in alle Lebensbereiche, die Bildung, die Gesundheit, die Fürsor24ge, die Ökonomie eingreifen konnte, um die »Kraft des Staates« zu steigern.10 Daraus entwickelte sich später die europäische Form der Polizei. Im Unterschied zu einem Rechtsstaat unterliegt ein Polizeistaat keinen Schranken und verleiht sich selbst die Befugnisse, um das Leben der Untertanen zu regulieren.

Rechts- und Staatsphilosophen führten engagierte »Diskurse über das richtige Maß von Herrschaftsgewalt«.11 Kennzeichnende Merkmale des Rechtsstaates, die sich nach und nach durchsetzten, waren der Schutz des Einzelnen vor dem neu entstandenen Gewaltmonopol, vor willkürlichen Eingriffen der Exekutive ohne gesetzliche Grundlage, freiheitliche Garantien und Rechte gegenüber dem strafenden Staat sowie das Bestimmtheitsgebot, das den Auftrag an das Parlament enthält, Gesetze und insbesondere Strafnormen so klar zu formulieren, dass die Folgen für die Bürger:innen vorhersehbar sind.

Sowohl die englische rule of law als auch der französische état légal waren nicht nur freiheitsschützend angelegt, sondern besaßen eine demokratische Komponente. In England und Frankreich lässt sich die Herrschaft des Rechts nicht denken, ohne zugleich den Souverän zu benennen, der das Recht setzt, nämlich das Parlament. Nach der gescheiterten demokratischen Revolution von 1848 löste sich der Rechtsstaatsbegriff in Deutschland jedoch von der parlamentarischen Demokratie. Er nahm als »rechtliche Form der konstitutionellen Monarchie« Gestalt an, wie Ulrich K. Preuß geschrieben hat.12 In den Vordergrund traten »die unpolitischen, individualistischen, staatsfremden Komponenten«, die 25eine »Abwehr gegen ›polizeistaatliche‹, absolutistische Willkür und Einmischung der Verwaltung in Privatangelegenheiten« sicherstellen sollten.13 Diese Errungenschaften sollte man nicht geringschätzen. In einer Zeit, als es noch keine Bürgerinnen und Bürger, sondern lediglich »Unterthanen« gab, gingen vom Rechtsstaat freiheitliche Impulse aus, die über den Status quo hinauswiesen. Darin lag schon damals und liegt bis heute sein universelles Potenzial begründet, das sich nicht darin erschöpft, das bürgerliche Eigentum zu sichern.14

Ausschluss aus dem Rechtsstaat

Historisch betrachtet hat er dieses Versprechen auf Universalität freilich nie vollständig eingelöst; er war stets durch Ausschlüsse und Ambiguitäten gekennzeichnet. Die liberalen Modelle des Rechtsstaats waren Theorien, die dem sich in politischer und ökonomischer Hinsicht zu einem Machtfaktor entwickelnden Bürgertum Ideen als Waffe in die Hand drückten. »Wie kann eine aufstrebende Klasse wie die Bourgeoisie sich ohne den erforderlichen Kraftakt Zutritt zum offiziellen Establishment verschaffen?«, fragte der Staatsrechtler und Politologe Otto Kirchheimer auf die Entwicklungen im 19. Jahrhundert zurückblickend. »Sie wird, nach klassischem Muster, die Allgemeingültigkeit ihrer Ansprüche behaupten.«15 Mit dem Begriff des Rechtsstaats versuchte das Bürgertum, seine eigenen Interessen als die aller Klassen zu präsentieren. Doch es blieb bei dieser Behauptung. Tatsächlich entwickelte sich der Rechtsstaat im 2618. und 19. Jahrhundert, indem innere und äußere Grenzen gezogen wurden.

In der Zeit vor der Gründung des deutschen Kaiserreichs bildete sich langsam ein Konzept heraus, das kapitalistisch und bürgerlich geprägt war. Im Vordergrund stand der Schutz des Privateigentums und hinter diesem die kapitalistische Wirtschaftsordnung. Arbeitsschutzgesetze gab es nicht, wie auch keine für Angehörige der unteren Schichten zugängliche Gerichtsbarkeit. Das Bürgertum wollte seine neu gewonnene ökonomische Freiheit, die zuvor dem Adel vorbehalten gewesen war, mithilfe von Recht und Gesetz absichern.16 Der Historiker Eckart Kehr hat gezeigt, dass der Kapitalismus zu diesem Zeitpunkt die Formalität des Rechts benötigte, um sich gegen die »unberechenbaren königlichen Eingriffe in die Rechtspflege« zu immunisieren. Später wiederum musste die neu entstandene »allmächtige Bürokratie« eingedämmt werden.17 Das Bürgertum wollte sich zum einen gegen die um sich greifende und verselbstständigende »Staatsmaschinerie«, wie Karl Marx sie bezeichnet hat,18 zur Wehr setzen und zum anderen die sich formierende Arbeiter:innenklasse in Schach halten, die den Reichtum vergesellschaften und umverteilen wollte. Der Rechtsstaat sollte dem Bürgertum Schutz bieten vor der sozialen Demokratie. Konfrontiert mit gesellschaftlichen Umwälzungen waren die Eliten zu unterschiedlichen Zeiten aber auch mitunter bereit, demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien zu opfern. Die kapitalistische Herrschaftsdimension, die im Konzept des Rechtsstaats stets angelegt war, erklärt, warum gerade kritische und marxistische Theorien stets 27hochgradig ambivalent auf ihn Bezug genommen haben.19

Wie die Besitzlosen und abhängig Beschäftigten waren auch Frauen zunächst vom Schutz durch das Recht ausgeschlossen. Liberale Gesellschaftsvertragstheorien spalteten die Gesellschaft in eine öffentliche und eine private Sphäre. »Der Gesellschaftsvertrag ist eine Geschichte der Freiheit«, schreibt die Politikwissenschaftlerin Carole Pateman. »Der Geschlechtervertrag« hingegen, der die Herrschaft der Männer über die Frauen sicherte, sei »eine Geschichte der Unterwerfung«.20 Der Rechtsstaat entstand mit einer eindeutig patriarchalen Prägung. Er war die Schutzmacht des weißen, männlichen und eigentumsbesitzenden Bürgers. Ironischerweise führte gerade die moderne Trennung von öffentlicher und privater Sphäre zu einer »Verstrickung der Geschlechterungleichheit mit den Grundbegrifflichkeiten des modernen Konstitutionalismus«.21 »Je eindeutiger es um die Regelung politischer Repräsentation und Partizipation […] ging, desto rigoroser achtete man darauf, sie Männern vorzubehalten.«22 Frauen mussten lange für den Schutz vor Willkür, vor Gewalt sowie für den Schutz ihres Eigentums kämpfen. Noch bis 1977 waren sie auf die Zustimmung ihres Ehemanns angewiesen, wenn sie einen Beruf ausüben wollten, und erst seit 1997 ist Vergewaltigung in der Ehe strafbar.

Grenzen zum Ausschluss von Menschen wurden auch nach außen gezogen. Der Rechtsstaat entstand nicht nur als kapitalistische, sondern auch als auf nationales Territorium begrenzte, ja, als rassistische und koloniale Institution. Er flankierte die imperialistischen und kolo28nialistischen Abenteuer und den Rassismus als Begleitideologie. Der Rechtsstaat wurde in die »zivilisatorische Mission« des Kolonialismus integriert und angepasst. Dabei ging es um die asymmetrische Verrechtlichung des permanenten Belagerungszustands zu Lasten der Kolonialvölker.23 Die Mitgliedschaft in einem staatlichen Gemeinwesen, das Schutz verspricht und durchsetzt, ist eine zentrale demokratische Frage.24 Ausgeschlossen waren die in den Kolonien unterworfenen Indigenen, die einer schrankenlosen Gewalt- und Willkürherrschaft ausgesetzt waren: Ihren Grund und Boden sahen die Kolonisatoren aus Europa nicht als Eigentum an, sondern als Niemandsland (terra nullius). Ihnen gegenüber waren »die exekutiven Autoritäten« nicht an »irgendwelche rechtlichen Bindungen oder Grenzen gebunden«.25

Die inneren und äußeren Grenzziehungen des Rechtsstaats, seine kapitalistischen, patriarchalen, rassistischen und kolonialen Aspekte, sind in seine Geschichte eingewoben und wirken bis heute fort – sind aber zugleich massiv umkämpft und werden von den Ausgeschlossenen herausgefordert. Sie nehmen das Versprechen der Universalität beim Wort.

Kämpfe um den Rechtsstaat im 19. Jahrhundert

In Deutschland stieß die liberale Kontur der Rechtsstaatlichkeit bei jenen politischen Kräften auf Widerstand, die zunächst der Monarchie die Treue hielten. Sie versuchten, die Machtapparate für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Große Teile des Besitzbürgertums 29suchten das »Heil und seine Sekurität wiederum bei der Monarchie«.26 Die »rückständige politische Praxis« in Deutschland brachte die rechtsstaatliche Entwicklung ins Stocken, so die politische Theoretikerin Ingeborg Maus.27 Weil die demokratische Revolution gescheitert war, war die Forderung nach einem rechtebasierten politischen System in Deutschland nach 1848/49 in einen widersprüchlichen Kompromiss zwischen den bürgerlichen Liberalen und den autoritären Monarchisten eingebettet.28

Für einen Militärstaat wie Preußen stellte die Idee des Rechtsstaats ein Problem dar, schließlich wollten die Eliten die Macht der Exekutive, vor allem in Zeiten des Krieges, nicht zu stark eingeschränkt wissen. Bismarck verunglimpfte den von Robert von Mohl in die deutsche Staatslehre eingeführten Terminus als »erfundenen Kunstausdruck«.29 Doch machten ihn sich die preußischen Konservativen zugleich zu eigen, um mit ihm das Bismarck'sche System im Sinne eines »konservativen Konstitutionalismus« zu legitimieren.30 Vor allem Friedrich Julius Stahl deutete den Begriff um und versuchte, ihn als Grundlage für eine exekutive Staatstechnik zu verwenden.31 Während der als »Preußischer Verfassungskonflikt« bekannt gewordenen Konfrontation zwischen König und Parlament in den Jahren 1859 bis 1866 – Wilhelm I. wollte eine Heeresreform durchsetzen, um die Truppenstärke aufzustocken, die liberale Mehrheit des Abgeordnetenhauses war dagegen – fand seine sogenannte »Lückentheorie« Eingang in die Politik. Stahl argumentierte, sofern die Verfassung für einen in Frage stehenden Sachverhalt keine explizite Re30gelung treffe, könne der Monarch »als eigentlicher Träger der Staatsgewalt« eigenmächtig und ohne Zustimmung des Parlaments entscheiden, um so die »Lücke« zu schließen.32 Ministerpräsident Bismarck berief sich auf diese Theorie, um als Regierungschef und Vertreter der Krone dem Abgeordnetenhaus sein kennzeichnendes Recht, das Budgetrecht, zu entreißen und die Reform des Heeres ohne parlamentarisch gebilligten Haushalt durchzuführen. Unter Rückgriff auf Stahl wurde der Rechtsstaatsbegriff also gewissermaßen umgedreht und gegen das Parlament gewendet. Die konstitutionelle Monarchie ging aus diesem Konflikt massiv gestärkt hervor.