Le Feu oder der Aufbruch - Lorna Johannsen - E-Book

Le Feu oder der Aufbruch E-Book

Lorna Johannsen

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Beschreibung

In der Reihe Telegrafenbergkrimi arbeitet der queere Mathematiker Dr. Luzian Keller im PIK, das Potsdamer Wissenschaftsmilieu ist Ausgangspunkt der Kriminalfälle, in die er und eine Gruppe sehr verschiedener Menschen verwickelt werden. Schwarmintelligenz findet noch immer eine Lösung. Erkenntnisse der Klimafolgenforschung sind ebenso Teil der Krimis wie Aspekte queeren Lebens in Brandenburg und anderswo. Nicht jeder, der auftaucht, ist real, nobody is perfect, kein Grund für Keller, aufzugeben. Hilfe kommt von unerwarteter Seite, auch Killer haben Gefühle. Im dritten Teil der Reihe arbeitet Luzian Keller zwar immer noch auf dem Telegrafenberg, aber ein Forschungsprojekt führt ihn bis nach Marseille, dort brennen im Umland nicht nur die Pinien. In Potsdam schlugen Keller Flammen des Hasses entgegen, schwul und aktiv zu sein ist inzwischen brandgefährlich. Keller ergreift seine Chance, von der Bildfläche zu verschwinden, raus aus der Gefahrenzone, und gerät an andere Brandherde als er erwartet.

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Seitenzahl: 345

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Lorna Elijahu Johannsen, nonbinär, an der Elbe geboren, seit den neunziger Jahren mit Lebensmittelpunkt in Berlin, mit Spielbein in Wien, Wittstock und Marseille, hat die Drehbuchschreiberei erlernt und schreibt Romane, Krimis, Geschichten für Kinder und Lyrik. Hat auch einen Haufen Filme gemacht, seit 2015 die Reihe „Filme gegen Rechts“. Wenn es L.E. am Schreibtisch zu öde ist, entstehen Collagen, Frottagen, Acrylbilder, Installationen und andere Kunstaktionen.

Jobst Heitzig ist Mathematiker am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und forscht zur langfristigen Entwicklung von Natur und Gesellschaft, zu komplexen dynamischen Systemen, zu Möglichkeiten für kooperatives Handeln, und daran, wie man künstliche Intelligenz sicher machen kann.

Dieser Titel ist eine Verbeugung vor dem großen Jean Améry und seinem Buch „Lefeu oder der Abbruch“

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

Nachwort

1

„Der tödliche, der alles vernichten wollende Kampf, Krieg, ist bis heute unangefochtene Domäne heterosexueller Männlichkeit, auch wenn es durchaus schwule Krieger und auch Kriegerinnen gegeben hat. Es geht dabei angeblich um alles…, um Kriegshelden wird immer viel Wind gemacht.…“ – Davon weiß ich nichts, es geht ums Siegen, ums Überleben, ums Töten also. Medusa klickte weiter, der Artikel im Feuilleton einer englischen Tageszeitung war gar nicht so übel, eigene Gedankenblasen tauchten auf.

Und ich? Auch ich habe getötet und werde es wieder tun, als Fortsetzung einer Familientradition, so wie der Sohn des Henkers wieder Henker geworden ist. Nur, dass es bei mir ein Auftragskiller war, und der war eine Frau. Meine Mutter hat mir dieses Handwerk beigebracht und den Betrieb übergeben, als sie anderes zu tun beschlossen hatte. Ich bin weder Mann noch Frau, am Töten hindert mich dieser Umstand nicht. Im Gegenteil, wäre zu viel gesagt, doch er macht vieles einfacher. Ich habe dieses Gewerbe inzwischen lange genug ausgeübt, auch ich will eines Tages noch anderes machen. Nein bald, sehr bald… Eine Nachfolge gibt es nicht, aber muss es das?

Medusa sah sich an, ohne Maske war es ein Allerweltsgesicht, was sich da im Glas des Spiegels selbst betrachtete, oft war das ein Vorteil. Momentan gab es keinen Grund, daraus etwas zu machen. Dieser Gedanke tat gut, hatte aber nur noch minutenlang Wahrheitsgehalt, solange, bis das Postfach nach dem Ping noch ungeöffnet blieb.

Ein kurzer Blick auf den Text genügte, plötzlich gab es Brandgeruch in dem fast leeren Raum. Medusa witterte und spürte das auflodernde Knistern vom trockenen Gestrüpp der Macchia, wo brennende Korkeichen und Jahrhunderte alte Olivenbäume verglühten. Dabei war der Brand tausende Kilometer entfernt. Im Süden Frankreichs brannte es oft, aber diesmal war ein Mensch im Feuer umgekommen, dessen Tod den Zorn von jemandem entfacht hatte, der mit Fug und Recht darauf beharrte, dass Medusa ihm diesen Gefallen schuldete; die Schuldigen waren zu finden, zu stellen und zu Tode zu bringen. Das war Fakt, recht war es dem Menschen – der nun das biedere Gebarren und Gesicht eines Geschäftsmanns hatte und sich daran machte seine Sachen zusammenzupacken, nachdem ein Flug nach Marseille gebucht worden war – allerdings nicht.

Land unter, nach tagelangem Sturm und Starkregen war es zum ersten Mal wieder möglich, die Wetterstation zu verlassen, aber es sah wüst aus, überall entwurzelte Bäume, Schlamm, nichts als Schlamm, wohin Felix auch blickte. Von seinem Garten war nichts mehr geblieben. Alles war weggespült, er fühlte sich leer, die Feuchtigkeit war überall spürbar. Auch dass diese Insel den Menschen, der hier lebte, nicht länger auf sich leben lassen wollte. Das zu denken war verboten, weil unwissenschaftlich, aber war es deshalb weniger wahr? Felix beschloss, diese Frage laut werden zu lassen und nach langen Monaten des Schweigens einen Menschen um Antwort zu bitten.

Der graue Kittel war über und über mit Farbe bekleckert, eine Fassade zu streichen hatte sich Keller einfacher vorgestellt. Das Dach neu zu decken wohlweislich einem Dachdecker überlassen, nun gab es da oben nicht nur neue Schindeln, sondern auch eine Solaranlage. Alles nahm langsam Formen an, und die Wahl der neuen Wandfarbe war ganz nach seinem Geschmack gewesen. Luzian Keller hatte ein sanftes Apricot gewählt, ganz alleine. Er hatte zum ersten Mal darauf verzichtet, sich die Frage zu stellen, was sein Freund Walter von dieser Wahl gehalten hätte. Walter Wolke war tot, seit mehr als einem Jahr. Was zerbrochen war, zu etwas zusammengekittet, was dem alten Leben glich. Oder eben nicht, Keller hatte sich in diese Art Haus-Arbeit gestürzt, nachdem er sein Sabbatjahr genehmigt bekommen hatte.

Das Haus zu kaufen, war ein Grund gewesen, doch nicht der einzige. Nun wohnte er seit Kurzem nur 1 km Luftlinie von seiner alten Wohnung entfernt in einem alten Haus, noch immer in der Nähe des Telegrafenbergs, eher dichter dran, dennoch weiter entfernt. Nichts absorbiert ein Hirn besser von Anderem als der Erwerb einer Immobilie, erst recht, wenn sie alt ist und unter Denkmalschutz steht. Er hatte keinen Kopf für Anderes als für dieses Projekt gehabt, selten so zielstrebig an etwas gearbeitet, und nun war inmitten des Chaos’ auf dieser Baustelle für ihn ein Ende absehbar. Er wusste selbst nicht warum, hatte auch keinen, dem er es mitteilen konnte. Der Polier war schon gegangen, und Livländer, der ihm zwischendurch geholfen hatte, längst zurück nach Marseille. Warum ausgerechnet dorthin, hatte Keller nicht begriffen, es interessierte ihn auch nicht sonderlich. Warum sich ein alter Mann der Gefahr aussetzte, Opfer eines Waldbrands zu werden, war für Luzian Keller schlicht nicht nachvollziehbar.

Wie war es dazu gekommen? Livländer und sein Kumpel Kalinke hatten sich in Südfrankreich eingerichtet, als die Pandemie sie auf dem Rückweg ihrer Nordafrikareise ausgebremst hatte, und die zufällige Begegnung mit einem der erfahrensten Waldbrandexperten der Welt hatte den Ausschlag gegeben, es gibt zu tun, hier und jetzt. Livländer hatte Feuer gefangen, etwas, was sein alter Kumpel zwar nicht in diesem Maße von sich sagen konnte, aber etwas Besseres, als nur auf Infektionszahlen zu starren, war die Beschäftigung allemal. Auch Löschfahrzeuge sind Autos. Er tüftelte an einem Löschpanzer de luxe, beide hausten seitdem in einem Vorort von Marseille, dort, wo die Straßen aufhören und die Calanques anfangen. Alte Männer und versteinerte Elefanten passen gut zusammen, hatte Livländer ihm kurz und bündig erklärt. Dieses Bild hatte Luzian Keller ebenso wenig verstanden wie den Rest der Schilderung.

Er war jetzt Bauherr und mit dem Versuch, dem Sesshaftsein eine dauerhafte Hülle zu geben, vollends beschäftigt. Hi-Nun-Ter, seine Halluzination eines alten Indigenen, käme jetzt gut, aber der war verschwunden, einfach in ein Auto gestiegen und abgehauen. So was war nicht fein, so etwas macht kein Freund, das galt selbst für Halluzinationen.

Dass zwischen schwarzen Stümpfen auch die Ruine eines ausgebranntes Hauses von beträchtlicher Größe im Hintergrund zwischen den Felsen aufragte, schien den Mann nicht im Geringsten zu interessieren, er stocherte mit seinem Spazierstock in der Asche herum, mal hier, mal da, ohne je den Kopf zu heben. War weder groß noch klein, sein grauer Haarschopf passte gut in diese von Staub und Asche geprägte Landschaft, die vor Kurzem noch ganz Anderes gewesen war. Immer wieder bückte sich der Mann, hob etwas auf, besah es sich genauer und warf es dann wieder weg. Weder das Knirschen von Rädern auf der Piste voller Geröll, noch das Zuschlagen einer Autotür brachte ihn dazu, diese Tätigkeit zu unterbrechen. Erst, als ein Schatten neben ihm auftauchte und die Sicht verdunkelte, sah er auf.

„Steh mir nicht im Licht… Du bist also wirklich gekommen. Sieh einer an, die alten Seile halten noch,“ wieder bückte sich der Mann und hob ein winziges Knöchelchen auf.

„Ist von einem Vogel, wozu soll das taugen? Er wird nicht wieder lebendig davon. Fehlen denn überhaupt Knochen?“ Medusa sah sich ohne Teilnahme um.

„Nein, es fehlt nichts. Alles fehlt, mein Sohn ist tot, kannst du nicht wenigstens so tun, als ob es dir leid täte?“ Unzufrieden tastete der Mann mit seinen Blicken in dem ausdruckslosen Gesicht herum, das ohne zu blinzeln seinen Blick erwiderte.

„Wozu sollte ich heucheln, dein Sohn war dir zu ähnlich, als dass es ein großer Verlust für die Menschheit wäre, dass er tot ist. Wenn alles, was du brauchst, Trost ist, kann ich wieder verschwinden. Wär mir sowieso lieber. Ich schulde dir noch einen Gefallen, einen einzigen, also…“

„Du hast dich kein Jota verändert, in all den Jahren, genauso kalt und widerlich, wie ich dich in Erinnerung habe, pfui Teufel, was bist du nur für ein Mensch…,“ der Mann kratzte sich schabend über die grauen Bartstoppeln.

„Es sind mehr als zehn Jahre vergangen, ich habe mich verändert, sehr sogar, aber darum geht es hier nicht. Von diesem Protzbau hat das Feuer nicht viel übrig gelassen, hättest dich doch besser an die Vorschriften halten sollen…,“ energisch stapfte Medusa in Richtung Ruine, Wanderstiefel und Jagdgewehr, grüne Tarnkleidung, breitkrempiger Hut, ein Jäger, eindeutig.

„Halt die Fresse, geh nicht zu weit, zu sicher sollte auch die Nummer eins sich nie fühlen…,“ der Mann war mit zwei Sätzen an Medusas Seite, rot vor Zorn, in seiner Hand blitzte ein Messer.

Medusa traf den Mann hart, hatte blitzschnell mit dem Gewehrkolben auf seinen Handrücken gedroschen, das Messer fiel in einen Aschehaufen.

„Du stichst mich nicht ab, versuch es anders, bist der tollwütige Dummkopf geblieben, der du immer warst. Steck dir die Nummer eins in den Arsch, du hast mich gerufen, da bin ich, also was nun?“

„Test bestanden, bist noch immer schnell, das ist gut, das wirst du sein müssen, der Brand wurde nicht von Idioten gelegt, mein Sohn ist nicht tot, weil er einer war, es sind andere Zeiten, es sind andere Gegner, finde sie, eliminiere sie, dann sind wir quitt.“ Der Mann rieb sich die Hand, hatte aber keine Miene verzogen, als der Gewehrkolben auf den Knochen traf. Wo, war jetzt deutlich zu sehen. Er griff in seine Jacke und zog einen Umschlag heraus.

„Hier ist alles, was du brauchst, auch die Schlüssel zum Cabanon, ich bin, wo ich immer bin, zu erreichen, nur für den Fall, dass du den Auftrag erledigt hast oder es etwas gibt, was mich wirklich interessieren könnte.“ Der Mann drehte sich wortlos um, Medusa sah ihm nicht nach, steuerte unbeirrt weiter auf die ausgebrannten Reste des Anwesens zu, kaum war der Mann verschwunden, spitzte Medusa die Lippen und pfiff ein Lied. Eine ziemlich alte Melodie, das Lied vom Tod.

Ohne Scheu legte der vermeintliche Jäger sich wenig später auf den verbrannten Boden, um im Schatten einer Mauer des ausgebrannten Hauses mit geschlossenen Augen zu versuchen, etwas von dem, was gewesen war, wieder hervorzulocken, es war einen Versuch wert. Manchmal klappte es mit dem Visualisieren gut. Doch diesmal kam Bambi angesprungen, eine Zeichentrickfigur hatte Medusa hier nicht erwartet, dieser Disney-Film war im Gedächtnis ganz nach hinten gerutscht. Eine Kindheitserinnerung, das verängstigte junge Tier, das nach dem Tod der Mutter durch das Inferno des brennenden Waldes floh und schließlich überlebte. Mutterlos, eine Waldwaise. Gab es Parallelen? Wohl kaum, der Mann, der hier verbrannt war, war weder Kind noch hilflos gewesen. Und doch, etwas gab es da, auch er hatte keine Mutter gehabt. Medusa erinnerte sich an den Jungen, den Teenager und späteren Juniorchef, er war immer in der Nähe des Vaters gewesen, eine Frau gab es nie. Wo war die denn hin? Seufzend stand Medusa auf und fand im Inneren des Hauses, dort wo die Küche gewesen war, fast unversehrte Fliesen, die, rasch sauber gewischt, die ideale Fläche boten um das, was sich in dem Umschlag befand, aufzufächern. Es war wenig genug, ein paar Fotos, eine handgeschriebene Chronologie der letzten Tage, ein paar Adressen und die Namen der Personen, die sich im Haus und in der Nähe aufgehalten hatten, an dem Tag als der Waldbrand das Anwesen erreichte. Gebrannt hatte es vorher schon, seit Tagen hatte die Feuerwehr vergeblich versucht, die immer wieder neu aufflammenden Brandherde zu löschen. Doch erst die kräftigen Gewitter am Montag danach hatten das Feuer endgültig gelöscht. Ein vorsintflutlicher Datenträger fiel zum Schluss aus dem Umschlag, der Alte traute Clouds offenbar ebenso wenig wie Medusa selbst. Sie waren beide Fossilien, in vielerlei Hinsicht. Doch dass sie es so konsequent geblieben waren, was das Handhaben von Informationen anging, hatte ihm, ebenso wie Medusa, selbst dazu verholfen, noch immer am Leben zu sein. Der Sohn hatte es nicht geschafft, warum nicht? Was war an diesem Sonntag im Juli passiert? Warum war das Haus trotz der Warnungen nicht geräumt worden, was hatte Jean-Baptiste Pateur bewogen, gegen jede Vernunft hier auszuharren? All diese Fragen ergaben nur Sinn, wenn sich Medusa der These anschloss, dass dieser junge, fitte Mann, den die Jahre in der Legion geprägt hatten, wirklich ein hilfloses Opfer des Feuers geworden war. Dass der alte Pateur an ein Attentat, also Mord glaubte, war keine Grundlage für eine eigene Arbeitshypothese. Der Eindruck vor Ort blieb diffus, es konnte ebenso gut ein Anfall von Größenwahn gewesen sein, der diese Kampfmaschine bewogen hatte, sich als unkaputtbar und feuerfest zu imaginieren. Das zumindest war er zweifelsfrei nicht gewesen. Dennoch empfand Medusa in diesem Augenblick Mitleid, bei lebendigem Leib zu verbrennen war ein abscheulicher Tod, niemand hatte den verdient. Es galt zuallererst zu klären, ob es so gewesen war, Jean-Baptistes Leichnam hierhin zu schaffen, damit er verbrannte und auf diese Art verschwunden blieb, ergab mehr Sinn, dieses Vorgehen passte zu den Gegnern, von denen Pateur senior gesprochen hatte.

Doch wer sollte Medusa von heute an sein, in welche Haut schlüpfen in den nächsten Tagen, vielleicht sogar Wochen? Welche Person hatte am meisten Chancen, herauszubekommen, was zu wissen unabdingbar war, um die zu töten, die getötet hatten, wenn es sie denn überhaupt gab.

2

Livländer schüttelte den Kopf, er war sich nicht sicher, ob er die Frau richtig verstanden hatte, Kalinke hatte in einer Autowerkstatt, die auch Oldtimer reparierte, Arbeit gefunden, gleich um die Ecke von dem Haus im Boulevard de l’Huveaune, das ihr neuer Wohnort geworden war, etwas größer als die Hütte am Meer, die sich auf Dauer als zu klein erwiesen hatte, sie fuhren nur noch am Wochenende hin. Dass Livländer sich überhaupt in der Werkstatt aufhielt, war reiner Zufall, er hatte etwas ausgetüftelt und wusste nicht, ob es auch umsetzbar war. Die Frau hatte ihn offensichtlich für einen der Mechaniker gehalten, er holte Kalinke unter dem Wagen hervor, an dem er gerade schraubte, und übersetzte die Frage der Frau.

„Nein, kein Oldtimer, ich brauche einen zuverlässigen Geländewagen, aber nicht so einen aufgemotzten SUV, sondern was kleines, wendiges, aber möglichst geschlossen.“

Erstaunt sah Kalinke sie an, sie sprach offenbar auch Deutsch, wenn auch mit Akzent, so doch fließend, er drehte sich um und kam mit einem Autoschlüssel zurück, die Frau folgte ihm, hinter dem Haus, auf einem Parkplatz stand ein kleiner Geländewagen, ein Renault Mégane Scénic, dem man den Vierradantrieb gar nicht ansah, der war wie geschaffen für das, was in nächster Zeit anlag. Nach einer Probefahrt wurden sie schnell einig. Dass die Frau den Wagen kaufen wollte und nicht mieten, erstaunte den Chef, der die Verhandlung übernommen hatte, ebenso wie das Abnicken des Preises und dass sie cash zahlte, als sie am Nachmittag zurückkam und den Wagen abholte, war etwas aus der Mode gekommen, der Chef schmunzelte und steckte den Packen Scheine weg. Er hatte ein gutes Geschäft gemacht, das musste nicht in den Büchern auftauchen, diese Karre gab es ja quasi schon lange nicht mehr. Die Frau hatte das sehr wohl begriffen, die beiden sich ohne viele Worte verstanden. Kalinke hatte den Wagen nochmal gecheckt, weil der schon eine gute Weile auf dem Hof gestanden hatte, die hatte deutlich mehr als ein Jahr gedauert.

„Wenn was ist, kommen Sie einfach vorbei,“ Kalinke wischte sich die Hände mit einem Lappen sauber, obwohl es gar keine ölige Arbeit gewesen war, die Frau dankte mit einem Lächeln, sagte, das werde sie sicher tun, stieg in den Wagen und fuhr davon. Auf dem Beifahrersitz hockte Hi-Nun-Ter und sah auf etwas, was nur ihm sichtbar war. In diesem Wagen war ein Mensch zu Tode gekommen, das hatte er sofort gewusst, auch Medusa war klar, dass dieses Fahrzeug eine Geschichte hatte, die nicht als Gute-Nacht-Geschichte taugte. Das störte keinen der beiden, die sich in Richtung Calanques entfernten, auch sie waren keine Wesen, die in eine Gute-Nacht-Geschichte gepassten.

Was es genau gewesen war, das ihn hatte wach werden lassen, wusste Keller selbst nicht mehr, er hatte schon immer einen flachen Schlaf gehabt, doch dieses Klirren hatte ihn jäh aus dem Schlaf gerissen, er fuhr hoch und knipste das Licht an. Es war wieder still, er tappte durch das Haus, das noch immer auch Baustelle war, und schrie vor Schmerz auf, da lag Glas auf dem Boden, vor einem der Fenster, die Scheibe war zersplittert, ein Stein lag inmitten der Scherben. Keller bückte sich, ohne weiter auf den Schmerz und den sich ausbreitenden roten Fleck zu achten. Er wickelte den Stein aus dem Papier und las: „Verpiss dich, du schwuler Gutmensch, dich braucht hier keiner!“ Der Text war in Großbuchstaben gedruckt.

Als es eine Dreiviertelstunde später klingelte, humpelte Luzian Keller notdürftig verpflastert zur Tür. Die beiden Polizisten folgerten ihm widerstrebend, sahen sich den Schaden an und machten sich Notizen, von einer Anzeige rieten sie ab, waren sichtlich nicht erfreut, als Keller darauf bestand.

„Dit war een Dummejungenstreich, was bringt dit, melden sie es der Versicherung. Wir ermitteln da nicht groß, wo denn auch… ist ja nüscht passiert.“

Dass Dr. Luzian Keller das anders sah und das auch deutlich sagte, wurde benickt. Durch die notdürftig mit Pappe verklebte Scheibe konnte Keller nicht sehen, wie sich die beiden wenig später entfernten, aber desto deutlicher hören.

„Wir schwulen Schwuppen sind eben empfindlich,“ flötete einer der beiden mit Fistelstimmchen, beide lachten, als sie in den Streifenwagen stiegen. Einsamkeit empfand Keller häufig, seit Wolke tot war, doch so verlassen hatte er sich lange nicht gefühlt. Es fiel ihm keiner ein, den er jetzt hätte anrufen können. Er hockte inmitten seiner Baustelle in einem von Walters Kitteln und weinte, ja, er war empfindlich, und er war schwul, ein Gutmensch zu sein war offenbar sehr schlecht. Dass jemand deshalb die Scheiben seines Hauses eingeschlagen hatte, war unfassbar, Luzian Keller hatte Angst. Der Potsdamer Polizei war das offenbar scheißegal.

Seit er sich in sein Sabbatjahr verabschiedet hatte, war Keller nicht mehr auf dem Gelände des Wissenschaftsparks gewesen. Er hatte es sich selbst verboten und sich bis jetzt auch daran gehalten. Doch nach dieser Nacht, in der er keinen Schlaf mehr gefunden und ohne Ergebnis eine Grübelschleife nach der anderen zerfleddert hatte, machte er sich auf den Weg dorthin. Der Termin bei einem Anwalt war bereits gemacht, am nächsten Tag würde er zumindest in juristischer Hinsicht klarer sehen. Es war das erste Mal, dass er Petershagen an seinem neuen Arbeitsplatz im hässlichen aber barrierefreien Neubau aufsuchte, und er war froh, als er ihn in seinem Büro bei offener Tür arbeiten sah. Petershagen sah erstaunt auf und begrüßte ihn mit etwas, das einem Lächeln ähnlich war. Erhob sich mühsam und kam auf seinen Stock gestützt um den Schreibtisch herum.

„Dr. Keller, Ihren Besuch hatte ich heute morgen nicht erwartet, dachte, Sie pausieren…“

Keller nickte und schüttelte die ihm entgegengestreckte Hand. Dann berichtete er von dem, was sich in der letzten Nacht ereignet hatte.

„Und damit kommen Sie ausgerechnet zu mir?“ Mit zunehmendem Unbehagen hatte Petershagen dem Kollegen zugehört, die Falte zwischen seinen Augenbrauen war immer steiler geworden.

„Mir fiel keiner ein, dem zu erzählen es mehr Sinn gemacht hätte…“

„Sie glauben doch nicht etwa, ich hätte…“

„Nein, das nicht, aber nach allem, was zwischen uns vorgefallen ist, dachte ich, Sie könnten sich am ehesten in denjenigen hineinversetzen, der das getan hat. Immerhin haben Sie mich…“

„Daran brauchen Sie mich nicht erinnern, ich habe es nicht vergessen, es ist lange her. Und wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, etwas schräg ist es schon, jetzt mit Ihrem Problem zu mir zu kommen. Können Sie diese alte Geschichte nicht vergessen, oder wollen Sie es nicht?“

„Weiß nicht, ist doch egal, immerhin wäre ich jetzt tot, wenn es nach Ihnen gegangen wäre, ohne Walter wäre es nach Ihnen gegangen, so lange her erscheint es mir heute gar nicht, wird es…“

Die beiden Männer horchten dem Unvollendeten des Satzes hinterher, jeder hörte etwas anderes.

„Gehen rüber, einen Kaffee trinken,“ schlug Petershagen vor, Keller nickte, er passte seine Schritte dem mühsamen Gehen seines Kollegen an, es hatte eine Zeit gegebenen, da hatte er ihn sehr bewundert, war sogar etwas verliebt gewesen, das hatte ein jähes Ende gefunden. Gehasst hatte er Petershagen nur kurz, danach hatte er die Sache verdrängt. Jetzt ging er neben ihm in Richtung Kantine, sein grauer Kittel flatterte ihm um die Beine, er war ihm etwas zu groß, aber durch die Strasslitzen hatte er an Eleganz gewonnen, fand zumindest Luzian Keller. Das gemeinsame Kaffeetrinken war dann entspannter als gedacht. Er notierte auf seinem Kassenzettel, was Petershagen zu sagen hatte, nicht, weil er es sich nicht merken konnte, sondern weil er bemerkte, dass es dem anderen leichter fiel, zu sprechen, wenn er dabei nicht angesehen wurde. Er referierte über die Außenwirkung seines Kollegen, als ob er über einen Käfer spräche.

Zuhause pinnte Keller den Zettel an eine noch unverputzte Wand, an der noch viele weitere Zettel landen sollten.

Exaltiert

nicht, oder zu stark an seiner Wirkung auf andere interessiert

nimmt es wichtig, dass alle merken, dass er anders ist

hat immer ein Anliegen

trägt auf penetrante Art und Weise Klamotten, die ihn feminin erscheinen lassen sollen

trotzdem auf Altmännerart um akademischen Duktus bemüht

diffus feminin, in oft zu engen Hosen, die das Gegenteil deutlich machen

Keller wußte nicht, ob er beleidigt sein sollte, einen Schreikrampf bekommen, oder einfach laut loslachen. Was war dieser Petershagen doch für ein verklemmtes Arschloch, was hatte er in diesem Typen gesehen? Einfach nichts daraus machen, es konnte ja durchaus sein, dass der Täter ähnlich tickte, also würde er sich dieser Liste bedienen. Auch wenn sie nun, durch den Wurf mit einer fast leeren Farbdose, einen leuchtend roten Punktelook bekommen hatte. Mit Gegenständen zu werfen war viel beruhigender als er gedacht hatte.

Das stürmische Wetter hatte sich beruhigt, die heftigen Winde sich schlafen gelegt. Das half Felix nur wenig, sein Schlaf war unruhig, und in dem alten Leuchtturm fand er überhaupt keine Ruhe mehr. Er konnte nur noch schlafen, wenn er sich zwischen den Dünen in eine Mulde kauerte wie ein Hase. Als das Boot mit neuem Proviant anlandete am Ende der Woche, war sein Entschluss gefasst, er wollte weg, vorerst, eine Pause einlegen, Urlaub von der Wetterstation machen. Doch schon während er all das in die für ihn typischen kurzen abgehackten Sätze packte, wusste er, dass er log. Er würde nie wieder hierher zurückkommen. Da er ungewöhnlich lange ohne zu pausieren die Wetterstation betreut hatte, war es überhaupt kein Problem für ihn, Urlaub zu bekommen, und schon als das Boot in der darauf folgenden Woche wieder auf die Insel kam, war er zur Abreise bereit, eine Vertretung übernahm seinen Job, all das ging schneller als gedacht, denn dieser Mann hatte das schon öfter gemacht. Das Schiff brachte ihn in die kleine Hafenstadt Östhammar, in der er bisher nur zweimal gewesen war, bei seiner Ankunft und als er im letzten Winter heftige Zahnschmerzen bekommen hatte. Auch diesmal wollte er sich dort nicht aufhalten. Kopfschüttelnd sahen ihm die wenigen Menschen nach, die an der Bushaltestelle geduldig auf den Überlandbus warteten, bis zur nächsten größeren Stadt war es weit, mehr als 60 km, wer ging denn feiwillig eine solche Strecke zu Fuß? Felix war froh darüber, wieder mehr als ein kleines Eiland unter die Sohle zu nehmen. Sein Seesack war nicht schwer, er hatte immer wenig besessen, daran hatte sich nichts geändert. Ein kleines zerfleddertes Taschenbuch hatte er in dem Leuchtturm gefunden, einer seiner Vorgänger hatte die Geschichte von Oberst Tarabas dort vergessen. Felix fühlte sich diesem Mann, dessen Schicksal Joseph Roth vor fast hundert Jahren, 1934, ersonnen hatte, seltsam nah. Der war, nachdem er jähzornig, grausam und ohne Grund einem rothaarigen Juden den Bart ausgerissen hatte, den Rest seines Lebens über die Landstraßen Osteuropas gewandert, und hatte so schließlich Vergebung und Frieden gefunden.

„Er war ein Gast auf dieser Welt,“ stand am Ende der Geschichte auf dem Grabstein von Tarabas, der schon lange aufgehört hatte, ein Oberst und ein gewalttätiger Mensch zu sein. Wieder und wieder hatte Felix diesen schmalen Band gelesen. Monomanisch, bis er fast jedes Wort auswendig konnte. Was es war, das ihn dazu antrieb, hatte er zuerst selbst nicht verstanden, und dann schälte es sich von Mal zu Mal mehr heraus, wie eine Zwiebel hatte sich die Wahrheit für ihn Schicht für Schicht entwickelt. Er war zwar anders, aber ebenso schuldig geworden, hatte achtlos das Herz seines älteren Bruders zum Stillstand gebracht. Zerschlissen an der Liebe zu einem jüngeren Bruder, der sich so gar nichts aus ihm machte. Deshalb und nur deshalb wollte er zurück nach Potsdam, etwas gutmachen konnte er nicht mehr, aber etwas klarstellen, das wollte er unbedingt. Und auch wenn die Erkenntnis, dass dieser Bruder ausgerechnet einen Typen wie Luzian Keller geliebt hatte, Felix noch immer befremdete, wollte er ihm all das sagen, was er in all den Tagen auf der Wetterstation gesammelt hatte, all diese Muschelworte vor ihm ausbreiten. Den Weg dorthin würde er zu Fuß zurücklegen. Er war nicht zum ersten Mal auf der Straße, diese Art zu Leben war ihm bekannt und durchaus nicht immer hart. Es würde eine Zeit lang dauern, doch es war seine Zeit.

3

Keller wusste selbst nicht genau, was ihn dazu trieb, doch er hatte den Eindruck, dass es Zeit sei, an seinen Platz auf dem Telegrafenberg zurückzukehren, die Routinen seines Arbeitslebens hatten ihm bisher nicht gefehlt, plötzlich taten sie es. Ein Glaser hatte die zerbrochene Scheibe ersetzt, alles war repariert, doch es war nicht wie vorher. Der Anwalt hatte ihn ebenso wie die beiden Polizisten auf die geringe Wahrscheinlichkeit, den Täter zu fassen, hingewiesen. Wo kein Beschuldigter vor Gericht belangt werden konnte, war für ihn nicht viel zu tun. Akteneinsicht zu verlangen, in einem Fall, der bis auf die Tatortbeschreibung und einen Zettel mit einer Aufforderung, die auch als Drohung zu verstehen sein konnte, keinerlei Anhaltspunkte enthielt, wer der oder die Täter waren, war keiner. Die Frage, ob er denn Feinde habe, verneinte Keller. Nicht, dass er wüsste, er lebe eher zurückgezogen. Die zweite Frage, ob er sich in der neuen Nachbarschaft durch irgendetwas unbeliebt gemacht habe, irritierte ihn, er hatte sich seinen direkten Nachbarn irgendwann nach dem Kauf des Hauses einmal vorgestellt, sonst sei nichts gewesen. Er habe so wenig Kontakt wie zuvor in seiner Mietwohnung zu seinen Nachbarn, guten Tag und guten Weg, das war’s. Dass es sich lohnen könne, da einmal nachzuhaken, leuchtete Keller durchaus ein, doch er fand es irgendwie unangenehm und einen Privatdetektiv wollte er damit auch nicht beauftragen.

Im Büro des Anwalts kam ihm das Ganze plötzlich völlig irreal vor, es war vielleicht wirklich nur eine Bagatelle, ein ziemlich bescheuerter Streich, mehr nicht. Trotzdem wollte er wissen, was die Polizei nun zu tun gedachte, vage erinnerte er sich an einen Kommissar, der ermittelt hatte, als es mehrere Tote auf dem Telegrafenberg gegeben hatte, wie hieß der Mann noch? Bärlauch, ja genau. Der Anwalt fand, dass es keine schlechte Idee sei, den zu kontaktieren, und versprach, seinerseits Akteneinsicht zu fordern und darauf hinzuweisen, dass sich sein Mandant seitdem bedroht fühle, er riet Keller außerdem, eine Alarmanlage einzubauen. Die würde immerhin einen gewissen Schutz bieten. Auf dem Weg nachhause fand Keller diesen Vorschlag bedenkenswert, doch er zögerte, wollte er einem Impuls, der ebensogut paranoid sein konnte, überhaupt nachgeben? Der Zettel mit dem, was laut Petershagen andere Menschen dazu gebracht haben konnte, diesen Stein geworfen zu haben, kam ihm nun nicht mehr nur lächerlich vor. Er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, das tat auf Dauer keinem gut. Es waren fast elf Monate um, sein Entschluss stand fest, sein Sabbatjahr war hiermit beendet, es hatte lang genug gedauert. Er würde Handwerker finden, die sich um den Rest der Arbeiten im und am Haus kümmern konnten.

Und am folgenden Montagmorgen, dem ersten im August, machte sich Dr. Luzian Keller um 7.30 auf den Weg, er wollte pünktlich sein und in Ruhe all seine kleinen Rituale wieder aufnehmen. Der Weg war nun ein geringfügig anderer. Durch ein Tor im Zaun um den Telegrafenberg herum, dafür hatte er einen Schlüssel bekommen. Dann am Kamm der GFZ-Gebäude entlang zur Bushaltestelle und von da hoch zu A62.

Das Wetter war lausig, es hatte in der Nacht in Strömen geregnet, dass ein SUV ohne Rücksicht an ihm vorbeidonnerte und er mit verschlammten Hosen zur Arbeit kam, störte ihn zwar aber wunderte ihn kaum, es gab solche Vollidioten, besonders bei dieser Art von PKWs, dieser Depp war mehr als eng an ihm vorbeigeschrammt. Unnötig nah, er hätte Platz genug gehabt, um auszuweichen. Später in seinem alten Büro brachte das Geräusch, das der alte Kühlschrank machte, Keller dazu, abzudriften, er sah sich wieder die Straße zum Telegrafenberg hoch laufen, den Schirm über dem Kopf, was sinnlos war, da der Regen von vorn in stürmischen Böen kam, er hatte den Wagen erst im letzten Moment wahrgenommen und war beiseite gesprungen. Ganz instinktiv, nicht gerade wie ein junges Reh, aber immerhin, was wäre gewesen, wenn er nicht gesprungen wäre? Das war nicht eindeutig zu beantworten, aber dass er auf dem aufgeweichten Weg gestürzt wäre, soviel stand fest.

Und genau daran hakte sich in Kellers Kopf etwas fest. Es war vier Tage her, seit ihm jemand das Fenster eingeworfen hatte. Was hatte das zu bedeuten, „Gar NICHTS!“ mahnte sich Keller und versuchte, sich auf das kleine Projekt zu fraktalen Mustern im Daisyworld-Modell zu konzentrieren, an dem er vor dem Sabbatjahr gearbeitet hatte, es fiel ihm nicht leicht, aber dann war er doch so gut in den Arbeits-Flow gekommen, dass er fast vergessen hätte, rechtzeitig unten in der Kantine zu sein, um noch Mittag zu essen. Etliche der noch Anwesenden begrüßten ihn herzlich, offenbar gab es doch ein paar Menschen, die seine Abwesenheit bemerkt hatten und sich freuten, dass er wieder da war. Auch Petershagen nickte ihm zu, als er auf seinen Stock gestützt hinaus ging, doch auch diesmal verrutschte sein Lächeln zu einem indifferenten Hochziehen der Mundwinkel. Plötzlich war sich Keller sicher, es gab zumindest einen Menschen, dem er zutiefst zuwider war. Aber dass der nachts Steine in sein Fenster warf, war ebenso absurd wie die Vorstellung, dass ausgerechnet Petershagen der Fahrer des SUVs gewesen war. Dennoch überprüfte Keller auf dem Heimweg, was für ein Wagen auf dessen Parkplatz stand, doch der war leer.

Es hatte etwas von Rummelplatz, und der Wagen, in den Medusa nun einstieg, während ein streng blickender Mann darauf achtete, dass der Riegel auch korrekt geschlossen wurde, erinnerte an eine Achterbahnfahrt, die lange zurücklag. Kurz vorher hatte der Teenager, der Medusa einmal gewesen war, an einem Stand eine Bratwurst gegessen, und nun schrie dieses damals sehr lila geschminkte Wesen die ganze Zeit „mein Würstchen, mein Würstchen!“ ins Ohr der Freundin, die einen Lachkrampf bekam, gekotzt hatten dann beide nicht, nur ziemlich rot im Gesicht waren sie gewesen. Lächelnd lies der Mann, zu dem Medusa sich heute gemacht hatte, die Security-Hinweise über sich ergehen, ein Allerweltstourist, dessen amüsierter Gesichtsausdruck dem Service-Menschen total gleichgültig war. Die Simulation und der Nachbau der Cosquer-Höhle schienen Medusa gut gelungen, sie hörte der Stimme, die mittels Kopfhörer erläuterte, was es zu sehen gab, aufmerksam zu. Insbesondere, dass die echte Höhle für die Öffentlichkeit geschlossen war. Gut so, dachte Medusa, aus mehr als einem Grund, sehr gut sogar, genau so ein Ort würde für ihre Arbeit hier von unerhörtem Vorteil sein. Und diese touristische Attraktion war genau das, was Medusa als Einführung in die reale Unterwelt gebraucht hatte, also machte der Mann in mittleren Jahren, der in einem Tarnanzug steckte und dazu eine alberne Kappe trug, als wäre Krieg, eifrig Fotos und ließ sich nichts von dem, was gesagt wurde, entgehen:

Der Eingang der Höhle liegt in der Calanque de la Triperie, 37 m unter dem Meeresspiegel, und kann daher nur von Tauchern erreicht werden. Er ist durch ein Gitter verschlossen.

Durch den überfluteten Eingang gelangt man in einen höher gelegenen trockenen Höhlenraum mit etwa 19.000 bis 27.000 Jahre alten Höhlenmalereien, Zeichnungen und Handnegativen. Die zu betrachten, ließ Medusa abdriften, wie viele Menschen waren hier gewesen… wie viele hatten sich im Laufe der Zeit als Negativ im eigenen Gehirn unumkehrbar angesammelt, von Lebenden und von Toten?

Seehunde, Fische, urzeitliche Pferde, Robben, Steinböcke, Riesenalken und andere Meeresvögel bevölkern die Wände, Medusa wand sich nach ihnen um, andere Gedanken fischend, bessere.

Es wird noch erfahren, dass die Höhle 1985 von Henri Cosquer erstmals ertaucht worden ist. Nachdem er und seine Begleitung ihre Tauchgänge immer tiefer in die Eingangsröhre vorgeschoben hatten, entdeckten sie im Juli 1991 Höhlenmalereien. Im selben Jahr wurde die Entdeckung der Höhle nach ersten wissenschaftlichen Untersuchungen offiziell bekanntgegeben. Sie steht unter Naturschutz, der Besuch ist strengstens untersagt. Der Eingang der Höhle lag gegen Ende der Würm-Eiszeit, also zur Zeit der Nutzung, etwa 80 m über dem Wasserspiegel und etwa 11 km von der Küste entfernt. Das änderte sich, als der Meeresspiegel durch das Abtauen der Polkappen stark anstieg. Dies war nun also der Ort, den es zu erkunden galt. Und es würde gegen alle Regeln der Tauchkunst allein geschehen, aber wann hatte Medusa sich je an Regeln gehalten. Scheiß der Hund drauf, wenn es kein Auftauchen mehr geben würde für Medusa, welcher Ort wäre besser geeignet, um unten zu bleiben.

Der Weg war anders, als erwartet, dass Felix zusammen mit einem alten Japaner auf der Flucht gewesen war, lag inzwischen mehr als ein Jahr zurück, dass er als Obdachloser auf den Straßen Europas unterwegs gewesen war, noch wesentlich länger. Von Östhammar nach Uppsala hatte es zwei Tage gedauert, das Wetter war angenehm gewesen, weder zu heiß noch zu kühl. Und doch hatte Felix in Uppsala den Zug bestiegen, war nicht wie geplant bis Göteborg weiter gewandert, hatte nicht im Freien geschlafen, sondern schon auf der kurzen Strecke von nur 65 km in einem Gasthaus in Alunda übernachtet. Es war ein diffuses Misstrauen in ihm, er hatte in den Blicken der Menschen, denen er auf seinem Weg begegnet war, keine Freundlichkeit gefunden, in manchen so viel Kälte und Verachtung, dass ihn Furcht befiel. Dabei sah er, seiner Ansicht nach, wie ein Rucksacktourist aus. Für die, denen er begegnete, aber offensichtlich nicht. Oder aber, auch so einer wurde von den Einheimischen bereits als Mensch minderer Kategorie wahrgenommen. Nie hatte sich Felix träumen lassen, dass er einmal Sehnsucht nach Potsdam bekommen würde, doch genau so war es, er hatte sich vorgestellt, wie erstaunt Livländer sein würde, wenn er plötzlich vor seiner Tür stand, wie er die alten Räume wieder bewohnen würde und sich dort in Ruhe Gedanken über seine Zukunft machen könnte.

Es war aber ein fremdes Gesicht, das ihn fragend ansah, wer er denn sei, wen er denn suche? Auch in diesem Gesicht spiegelte sich Misstrauen und nur wenig Anderes. Immerhin Erleichterung, als klar wurde, dass der Gesuchte Livländer war. Die Auskunft, dass der seit Längerem in Marseille lebte und inzwischen das Haus einem Doktoranden und dessen Familie zur Verfügung gestellt hatte, machte Felix ratlos. Er fragte nach dessen Adresse in Marseille, doch der Mann bedauerte, einem völlig Fremden könne er die nicht geben. Auch Felix’ Hinweis, dass er der Bruder des verstorbenen Walter Wolke sei, änderte nichts daran. Die Tür wurde geschlossen, er machte sich auf den Weg zu Kellers Wohnung, an einem Sonntag würde er den sicher zuhause antreffen. Felix’ Angewohnheit, sich nie vorher zu melden, um seine Ankunft anzukündigen, ebenso wie der Verlust seines Mobiltelefons auf der Fähre, machte alles kompliziert. Denn auch Keller wohnte nicht mehr in seiner Wohnung, immerhin war der neue Bewohner etwas weniger misstrauisch oder einfach sehr bequem, es gab Post für Dr. Luzian Keller, und so wurde er sie los. Mit einem Brief und der neuen Adresse machte sich Felix auf den Weg, der nicht besonders lang war. Er wunderte sich, all diese Behausten, aus seiner Sicht immer am selben Ort Lebenden, hatten sich bewegt, ihren Wohnsitz aufgegeben und lebten jetzt woanders. Immerhin war Keller nur ein paar Straßen weiter gezogen, er öffnete die Tür in einem der grauen Kittel von Walter und war der erste Mensch, in dessen Gesichtsausdruck Erstaunen und Freude aufleuchteten. Felix wurde im Haus herumgeführt, es gab Platz für ihn, selbstverständlich. Er war Walters Bruder, also willkommen.

Keller genoss es sichtlich, endlich einem bekannten Menschen sein neues Refugium zeigen zu können, er hatte bisher keinen Gast gehabt. Am Abend saßen die beiden Männer nach dem Essen noch lange in der fast fertigen Küche und ließen das vergangene Jahr Revue passieren. Es war viel passiert, und doch, im Gegensatz zu dem, was vorher gewesen war, so gut wie nichts. Zum Schluss sprach Keller dann doch über die eingeworfene Scheibe, er hatte es ursprünglich gar nicht erwähnen wollen. Es kam ihm inzwischen albern vor. Doch Felix reagierte anders als erwartet, er nahm ernst, was Keller berichtete, und der sprach dann auch zum ersten Mal von dem SUV, der ihn fast umgefahren hatte, ein Zufall, oder? Schon möglich, aber was, wenn es doch keiner war. Es gab Grund dafür, Anderes zu vermuten. Dass Petershagen etwas damit zu tun haben könnte, schloss Felix aus, der war zwar verschlossen und ziemlich arrogant, hatte aber auf der „Polarstern“ bewiesen, dass er Courage hatte und auf der richtigen Seite stand, wenn es darauf ankam.

Als Keller später im Bett lag und über das Gespräch nachdachte, gab er Felix recht. er sollte die alte Geschichte auf sich beruhen lassen oder endlich mal einen Therapeuten aufsuchen, es war ganz allein sein Problem und nicht sein einziges. Er wollte es angehen und schlief ein. Endlich auch wieder durch und ohne ängstlich auf die Geräusche der Nacht zu lauschen. Luzian Keller freute sich aufrichtig über Felix’ Auftauchen, er hatte nie einen Mitbewohner gewollt, jetzt war froh darüber, einen zu haben. Den Brief hatte er ungelesen in die Tasche seines Kittels gesteckt, nachdem Felix ihn übergeben hatte, dort knisterte er am Morgen, wer schrieb ihm an seine alte Adresse? Der Absender, ein unbekannter Name.

4

Medusa hatte auf zwei sehr verschiedene Arten Tauchen gelernt, von einem ehemaligen Soldaten der US Navy, der als Kampfschwimmer ausgebildet worden war, und von einer Aborigine, die als Perlentaucherin in Queensland gearbeitet hatte, bis sie zu alt dafür war. Auf welche Weise gelang es, sich am unauffälligsten Einlass in die Höhle zu verschaffen? Das war die große Frage, eine weitere Identität annehmen? Das hieße, die Höhle in den Fokus rücken, Fragen beantworten, Begleitung akzeptieren, all das war nicht erwünscht. Die Distanz war ohne Tauchgerät zu schaffen, aber es war riskant, und da viel getaucht wurde in den Calanques, entschied Medusa, es auf diese Art zu machen, ein Boot zu mieten und eine Ausrüstung, eine zweite Person zu erfinden, mit einer Puppe abzutauchen und die dann unter Wasser zu parken. Das war am Unauffälligsten. So würde es aussehen wie ein Zweipersonen-Tauchgang in der Nähe der Cosquer-Höhle, was ja nicht verboten war, den Sonnenaufgang abzuwarten war leider keine Zeit, es war 5 Uhr morgens, nur ein paar Fischerboote dümpelten in der Ferne.

Die Calanque de la Triperie war rasch erreicht, in 37 Metern Tiefe befand sich der Eingang der Höhle, durch nichts als ein Gitter verschlossen. Das war kein großes Problem: Ein Schloss ist ein Schloss, ist ein Schloss… und hat keine Dornen. Medusa blubberte das Gedicht lächeln aus sich heraus, das Ding war in kurzer Zeit geöffnet, très, très simple. Die schmale Öffnung zu durchtauchen hingegen nichts für Klaustrophobiker, es war wirklich eng, und dann atemberaubend schön. Medusa war sich alles andere als sicher, ob an diesem Ort wirklich das stattfinden sollte, was zur Arbeit eines Killers gehörte, es war zu schön, zu still, zu weit weg von all dem, was dieses Gewerbe ausmachte. Trotzdem sah Medusa sich nicht nur Bilder und Zeichnungen an, der Blick hakte an Stalagmiten und Stalaktiten fest, andere Bilder schoben sich vor das innere Auge, déformation professionelle.

Dort, wo vor tausenden von Jahren Unbekannte ihre Handabdrücke hinterlassen hatten, lehnte Hi-Nun-Ter und sah weder an Medusa vorbei noch über dieses wie in schwarzes Gummi gegossene Wesen hin