0,99 €
Mehr als fünfzig Jahre hat mich das runde Leder nie ganz losgelassen. Und dann passierte es doch - ganz plötzlich und von einem Augenblick zum nächsten. Damit muss man erst einmal fertigwerden. Und genau das versuche ich in diesem Text.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2022
Erinnern Sie sich, liebe Leser? Weltmeisterschaft 1970. Gerd Müller schaffte es irgendwie, den Ball aus kürzester Distanz hinter die englische Torlinie zu bugsieren und die amtierenden Titelträger doch noch aus dem Turnier zu werfen.
Ich war damals sechs Jahre alt und erinnere mich blass, dass mein Vater, damals ein junger Bäckermeister von nicht ganz dreißig Jahren und selbst Amateurtorwart, einen Schrei von sich gab und aus dem Wohnzimmersessel aufsprang. Unser Schwarz-Weiß-Fernsehgerät stand an der Stirnseite des Wohnzimmers und die Bilder, die es von sich gab, hatten etwas Pixeliges an sich. Am Ende siegte unsere Mannschaft und zog ins Halbfinale ein. Das dürfte eine meiner ersten Erinnerungen an diesen Sport sein, bei dem sich angeblich alles um einen runden Lederball dreht.
In den etwas mehr als fünfzig Jahren, die darauf folgten, kamen unzählige solcher Momente hinzu. Seit dem vergangenen Sonntag weiß ich, dass keine weiteren mehr folgen werden. Aber dazu komme ich noch.
In jenem Sommer kam ich in die Schule, lernte zügig zu lesen und zu schreiben und fand irgendwann auch das Spiel mit den Zahlen interessant. Und weil in den Zeitungen montags Fußballtabellen abgedruckt waren, wusste ich bald, was eine Tordifferenz war und wie man einen Rückstand von drei Punkten doch noch vor dem Ende einer Spielzeit wettmachen konnte. Dafür brauchte man damals zwei Siege, nicht nur einen. Man musste sich also mehr anstrengen, um das zu erreichen, was heute in 90 Minuten möglich ist.
Es war übrigens das Jahr des Torpfostenbruchs, in dem man immer wieder hörte, die Gladbacher könnten nicht mehr Meister der noch sehr jungen Bundesliga werden, weil die Bayern zu stark seien und der Punktabzug aus dem Spiel mit dem kaputten Holztor zu schwer wiege. Und immer wieder sah man diesen blonden Kerl mit den wehenden langen Haaren im Fernsehen. Der gefiel mir. Erstens mochte ich ihn schon deshalb, weil er einfach blond war. Das war ich auch. Zweitens trug er, wenn er kein Trikot anhatte, Hosen mit Schlag und seine Antworten auf sicherlich inhaltlich bescheidene Reporterfragen klangen irgendwie anders, irgendwie geschmeidiger als das, was andere Fußballer so von sich gaben. Ein faszinierender Typ! Nur wenn ich in der Schule mit anderen Buben über Fußball redete, dann fiel sein Name seltsamerweise so gut wie nie. Die redeten alle nur von Müller, von Libuda oder von Beckenbauer. Seeler kam damals schon deutlich aus der Mode, obwohl er noch aktiv war und für den HSV Bundesligaspiele bestritt. Wenn ich dann einmal behauptete, Netzer sei aber besser als Libuda, dann erntete ich entweder Unverständnis oder Gelächter.
Deutscher Meister wurden übrigens doch noch die Gladbacher in ihren strahlend weißen Trikots mit dem eleganten Längsstreifen. Am letzten Spieltag hielt der Westen Deutschlands nämlich gegen den Süden zusammen. Duisburg besiegte die Bayern mit 2:0 und die Gladbacher gewannen 4:1 gegen Frankfurt. Damit war der Punkterückstand doch noch aufgeholt und erstmals hatte es ein Bundesligist geschafft, seinen Meistertitel zu verteidigen.