Leben auf Messers Schneide - Arnold Hiess - E-Book

Leben auf Messers Schneide E-Book

Arnold Hiess

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Beschreibung

Ein Historiendrama nach dem Leben von Cartouche, dem Meisterdieb von Paris. Sein Kampf gegen alle Konventionen, aber für die Menschlichkeit und für die Liebe … Basierend auf realen Ereignissen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts schuf der Autor nicht nur einen archaisch-wuchtigen, brillant erzählten Mix aus Survival- und Rachedrama, sondern ein aufwühlendes Sozialepos vor dem Hintergrund des französischen Absolutismus in der ausgehenden Ära von Sonnenkönig Ludwig XIV. Dabei entwickelt sich der Held der Geschichte inmitten aller brutalen Wirren seiner Zeit zu einem hingebungsvollen und leidenschaftlichen Charakter voller Tatkraft für Mitmenschlichkeit und Liebe. Der Autor nimmt den Leser mit auf eine erschreckend gut erzählte Tour de Force: Einmal hineingerissen in das erbärmliche Dasein in den düsteren Armenvierteln von Paris, schnürt einem fast jede Szene gnadenlos die Kehle zu und man wird es schwer haben, vor dem Ende der Geschichte noch einmal in die Normalität des Lebens zurückzufinden … Arnold Hiess erzählt nicht nur die fesselnde, bildgewaltige Geschichte eines Meisterdiebes aus Paris. Er lässt auch die längst vergessene Welt des geheimnisumwitterten Templerordens wieder auferstehen, mit all ihrer weltumspannenden Mystik, ergreifenden Menschlichkeit – und forscht nach dem bereits lange verloren geglaubten Wissen des alten Geheimbundes. Der Glanz und das Elend des höfischen Absolutismus ist auch der Hintergrund einer großen Liebesgeschichte, deren Botschaft klar ist: Der Tod, so grausam er auch die Liebe zweier Menschen entzweien mag, könnte jedoch am Ende wieder zusammenfügen, was zusammen gehört. Vielleicht sogar für die Ewigkeit …

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Vermächtnis der Madame Clarot

Prolog

Kapitel 1: Madame Clarot

Kapitel 2: Die Liebe und der Bettlerkönig

Kapitel 3: Elá und ein toter König

Abschied und Wiederkehr

Der Sonnenkönig

Kapitel 4: Aufstieg und Tod

Der Brief

Die Liebe und der Tod

Fortdauernde Schatzsuche

Voltaire

Die Pest

Verrat

Kapitel 5: Rache und Wiederaufbau

Die Aufzeichnung von Pierre-Francois

Neue Familie

Der endgültige Abschiedsbrief von Madame Clarot

Der Brief

Kapitel 6: Die Tempelritter und des Schicksals tragische Wende

Personenverzeichnis

Worterklärungen

Erklärung von Cartouche zu den Templern und zu Paris

Nachbemerkung und Danksagung

Impressum

Arnold Hiess

Leben auf Messers Schneide

Die Memoiren von Cartouche, dem Meisterdieb

ISBN 978–3–95655–894–8 (E–Book)

ISBN 978–3–95655–893–1 (Buch)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2018 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E–Mail: verlag@edition–digital.de

http://www.edition–digital.de

Vermächtnis der Madame Clarot

Wenn ich durch den Regenbogen gehe

und mein Licht zurückbleibt

in den Augen der Menschen.

Dann weine nicht um mich,

dein Herz muss weiterschlagen

Schau in das Innerste der Menschen,

dort, wo die Seele liegt.

Sie ist eine Schatzkiste

und muss geöffnet werden.

Darin liegt die Liebe, die wahre

die Güte, die wunderbare

das Mitleid, das echte.

Du bist der Schlüssel.

Öffne sie!

Wieder und wieder!

Kämpfe nicht gegen den Sturm,

denn du brichst daran entzwei.

Nutze den Fluss der Zeit,

er kann tragen so manche Last.

Eines Morgens wachst du auf,

wenn die Zeit reif ist.

Und du wirst wissen, was richtig ist.

Madame Clarot, Paris 1710

Paris 1740

Prolog

„Halt! Du verdammter Dieb!“, schrien die Wachen in die kalte und finstere Nacht hinein.

Kurz davor versteckte ich mich in dem Schatten einer verlassenen Schreinerei.

Ich war völlig außer Atem und mein Herz raste, da ich mir eine wilde Verfolgungsjagd mit den beiden geliefert hatte. Nun kamen sie immer näher und näher; ich bemühte mich, so gut es ging, nicht zu atmen, und versuchte, mich nicht zu bewegen. Die Rüstungen der beiden waren schwer und machten furchteinflößende Geräusche. Sie wurden immer lauter. Hecheln und Schnappatmung war mittlerweile zu vernehmen und ich dachte, sie sollen bloß weiterlaufen. Bloß weiterlaufen … Immer und immer wieder.

Ich hatte Glück. Ohne mich und das Haus eines Blickes zu würdigen, liefen sie mit tosendem Getrampel in die Dunkelheit hinein. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag, und ich machte mich auf den Weg in eine nahe gelegene Scheune, in der ich meistens übernachtete.

Gierig packte ich nun den Laib Brot aus, den ich Stunden zuvor bei einem Festmahl der Reichen im Arrondissement Luxembourg in der Nähe des Palastes erbeutet hatte.

Hastig verspeiste ich ihn und biss mir, getrieben von meinem grenzenlosen Hunger, mehrmals in die Zunge.

Tagelang hatte ich nichts mehr zum Essen gehabt; und es war ein Festmahl …

Eigentlich hatte ich eine lustige Kindheit, und ich trieb trotz der Not der einfachen Leute allerlei Schabernack. Wir wohnten etwas außerhalb der Pariser Stadtmauern, und mein Vater war Weinbauer. Er war ein großzügiger, warmherziger und dennoch sehr strenger Mensch. Meine Mutter liebte uns beide über alles – sie war die wichtigste Bezugsperson meines ersten Lebensabschnitts.

Im Jahre 1700 – ich war sieben Jahre alt – bekam ich die Pocken, eine widerliche Krankheit. Ich habe jedoch fast keine Erinnerungen mehr an diese Krankheit, da ich wochenlang fast nur schlief; doch meine Mutter war schwer in Sorge um mich. Viele mit denselben Symptomen starben, doch ich überlebte.

Ein Andenken an diese fürchterlichen Tage zierte von nun an mein Gesicht und Teile meines Körpers: Narben. Überall Narben.

Es schien alles so wunderbar zu sein; doch mein Leben sollte sich an jenem Junitag im Jahre 1705 völlig verändern. Ich ging früh zu Bett und war ein glückliches Kind. Meine Mutter sang mir vor dem Einschlafen noch etwas vor, küsste mich auf die Stirn, und löschte die Kerzen …

„Wach auf!“, schrie meine Mutter mit sich überschlagender Stimme, als sie mit donnerndem Getöse die Türe zu unserem Schlafgemach aufriss. Ganz verschlafen und verwirrt schweifte mein Blick durchs Zimmer, als sie das Fenster öffnete. „Was ist denn los, Mutter?“, fragte ich. Sie beugte sich zu mir herab und weinte.

Die Tropfen kullerten in Strömen über ihre Wangen. „Keine Zeit mehr“, sagte sie mit verängstigter und weinerlicher Stimme, während sie mir über die Wangen streichelte.

„Mein Sohn, du musst gehen. Lauf, so schnell du kannst, und ich hoffe, du verstehst es eines Tages“, fuhr sie fort und drückte mir dabei einen Sack mit Lebensmitteln in die Hand.

In Windeseile zog sie mir Kniehose und Mantel über und zerrte mich ans Fenster.

„Du musst jetzt stark sein“, sagte sie, um kurz darauf „Lauf, so schnell du kannst, LAUF, LAUF, LAUF … “ schluchzend hinzuzufügen, als sie sich fahrig durch ihre volle, kastanienbraune Haarpracht strich.

„Egal, was passiert, egal, was geschieht, und egal, was du hörst – dreh dich nicht um. Lauf!“, sagte sie mit versteinerter Miene und in bestimmendem Ton. „Versprich es mir!“, fauchte sie mich an.

„Ja, Mutter, wie Ihr wünscht“, antwortete ich ihr fast artig, und so kletterte ich durchs Fenster ins Freie.

„Je t'aime, meine Junge. Je t'aime … auf Ewig!“, hauchte sie in die Nachtluft hinein, und schloss weinend und ganz erdrückt das Fenster, als sie mir mit ihren braunen Augen einen letzten Blick zuwarf.

Verwirrt, aber dennoch bei Sinnen befolgte ich die Anweisungen meiner Mutter und ging los.

In dieser Nacht herrschte große Dunkelheit und Stille, kein Mondlicht schien, dennoch konnte ich mir meinen Weg bahnen, und so streifte ich durch die angrenzenden Weingärten.

Ein laues Sommerlüftchen wehte, die Grillen zirpten, und es war noch immer angenehm warm.

Eigentlich schien es wie ein ruhiger Abendspaziergang, als plötzlich verängstigte, weinerliche Schreie und Gewinsel dieses Bild trübten.

Ich war bereits ein paar hundert Meter von unserem Anwesen entfernt, dennoch konnte man abscheuliches Geschrei und widerliches Stöhnen und Weinen vernehmen, ohne einen genauen Wortlaut zu verstehen. Eine dieser Stimmen war aber ganz klar die meiner Mutter. Sie schrie jetzt so laut, so durchdringend und schauderhaft … Die Schreie sollten mich mein ganzes Leben verfolgen.

Trotz aller Bedenken setzte ich meinen Weg fort, schließlich hatte ich es versprochen.

Ich liebte meine fürsorgliche Mutter, ich konnte ihr keinen Wunsch abschlagen.

Außerdem hielt ich in meinem kindlichen Leichtsinn alles bloß für ein Spiel.

Einige Minuten später wurde das grauenvolle Getöse vieler Personen allmählich weniger und leiser. Lag es vielleicht daran, dass ich mich immer weiter und weiter von unserem Haus entfernte, oder kehrte nun Ruhe ein?

Immer weiter und weiter wanderte ich durch die mittlerweile wieder friedliche Dunkelheit, ehe ich zu einem riesigen Baum kam. Eine Eiche. Sie war so groß, dass man meinen mochte, sie wäre ein direkter Zugang zum Himmel. Ich kannte dieses monströse hölzerne Objekt. Hier machte mein Vater mit mir Halt, als wir von einer Geschäftsreise aus St. Denis voriges Jahr zurückkamen. Er war ebenso erstaunt und beeindruckt von diesem Wunder der Natur wie ich.

Zu diesem Zeitpunkt war mein Vater überglücklich und sprach immer davon, dass wir es bald geschafft hätten, wir bald vermögend sein werden. Er lachte und frohlockte tage- und wochenlang.

Im letzten halben Jahr sah ich ihn kaum, denn er arbeitete pausenlos. Wenn er mit uns am Tisch zu Abend aß, wurde er schnell jähzornig, und wenn ich etwas ausgefressen hatte, scheute er sich nicht, mir mehrere Backpfeifen zu verpassen. Dennoch liebte ich ihn sehr.

Nun hatte ich einen Anhaltspunkt, wenn ich mich auf den Rückweg machen würde, doch so weit war es noch nicht, und ich wanderte weiter gen Norden.

Meine Beine wurden immer schwerer und schwerer, ich versuchte aber weiterzumarschieren. Irgendwann brach ich vor Erschöpfung zusammen – und verfiel in einen Schlafzustand.

Am nächsten Morgen – es war schon hell – wurde ich von Hühnergegacker und Hundegebell geweckt. Ich hörte die Rufe der jagenden Sperber, die am azurblauen Himmel kreisten.

Verträumt rieb ich mir meine Augen und wischte mir übers Gesicht. Es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, was geschehen war.

Ich richtete mich auf, war schmutzig vom vielen Umherirren. Ich befand mich auf einer großen Weide samt angrenzendem Bauernhof. Dieser Ort war mir völlig fremd, und so kundschaftete ich weiter meinen Standort aus. Da sah ich sie wieder – die Eiche, sie war nur einige hundert Meter weit entfernt.

Mein Anhaltspunkt war so riesengroß, dass man ihn eigentlich schon von fern sehen konnte.

Nun machte ich mich auf den Weg zu dem Baum, und aß einstweilen etwas Brot, das mir meine Mutter auf diese obskure Reise mitgegeben hatte.

Beim Baum angelangt, setzte ich mich, und legte eine kurze Pause ein. Darf ich zurückkehren? War es nur ein Spiel? Wieso? Viele Fragen schwirrten in meinem Kopf herum, doch ich entschloss mich, zurückzugehen.

Ich musste nachts stundenlang gegangen sein, denn als ich endlich in der Nähe unseres Hauses angelangt war, fiel bereits die Dämmerung ein. Fröhlich pfiff ich die Melodie des Liedes, das mein Vater immer sang, und freute mich, meine Eltern bald wiederzusehen. Doch mein Pfeifen endete abrupt, als ich bereits von weitem Rauch und Qualm aufsteigen sah.

Meine Schritte wurden schneller, und ich begann zu laufen.

Wie in Trance bewegte ich mich zu meinem Heim. Es war verbrannt. Alles verbrannt. Das Feuer züngelte zwar noch immer da und dort, doch es war bereits größtenteils verlöscht. Die Scheune, die Weingärten. Alles zerstört.

„Mutter?!“ „Vater?!“, fragte ich immer und immer wieder mit schluchzender und weinerlicher Stimme. Doch es antwortete niemand.

Schließlich brach ich weinend zusammen und war völlig aufgelöst.

Mein ganzes Leben, meine Existenz schien wie vernichtet.

Meine Eltern? Ich sollte sie nie mehr wiedersehen …

Zwei Tage lang blieb ich bei meinem Haus, in der Hoffnung, es würde sich irgendwie alles zum Guten wenden. Ich war am Boden zerstört, starrte erschüttert immer wieder auf die Trümmer, die vor mir lagen. Ich war fassungslos und ohne Antrieb, hatte keine Ahnung, was mit mir passieren würde.

Doch der Hunger meldete sich, die Lebensmittel meiner Mutter neigten sich dem Ende entgegen.

So raffte ich mich auf, getrieben vom Hunger, mir etwas Essbares innerhalb der Stadtmauern von Paris zu besorgen. Ständig musste ich zurückblicken: Mein altes Heim, Zuflucht und Schutz zugleich. Dies war nun Vergangenheit. Doch was würde vor mir liegen? Angst und Ungewissheit machten sich breit, doch ich musste nach vorne blicken, denn sonst würde ich nicht lange überleben.

Der südliche Teil von Paris war durchsetzt mit Bauernhäusern und Weingärten. Einige Male war ich mit meinem Vater bereits hier gewesen, und so kannte ich mich ein wenig aus.

Ich zog gen Norden dieses Bezirks weiter, denn dort lag ein Markt, auf dem vielerlei Lebensmittel angeboten wurden. Vielleicht könnte ich mir etwas stehlen, dachte ich mir; es wäre nicht das erste Mal gewesen.

Am Markt angekommen, herrschte hektisches Treiben. Frauen und Kinder in teils schönen, bunten Gewändern kauften ein, die Markthändler prahlten mit ihren Waren. So viele Stimmen – man konnte fast nichts verstehen vor Lärm.

Ich schlenderte an den Marktständen vorbei und suchte einfach nach etwas Essbarem, um meinen Hunger zu stillen. Da! Ein Laib Brot! Relativ unbewacht lag dieser in einem Korb hinter einem der Stände. Zügig schnappte ich zu, hoffte, es würde niemand bemerken. Es gelang, und nun versuchte ich in der Menge zu verschwinden, um in sicheren Gefilden das Brot zu verspeisen.

„Halt, mein Junge!“, hallte es zwischen den Menschen hervor, und ich dachte, ich wurde erwischt.

Doch als ich mich zur Seite drehte, um wegzulaufen, stand er vor mir. Gott sei Dank! Es war bloß Laurent, ein Freund meines Vaters. Wir besuchten ihn hin und wieder, und mein Vater und er unterhielten sich dann oft stundenlang.

„Was machst du so alleine hier?“, fragte er mich erstaunt. Und ich entschloss mich, ihm alles zu sagen.

Nachdem ich mit meiner Geschichte fertig geworden war, beugte er sich zu mir herab, und packte mich fest an beiden Armen. Tränen standen in seinen Augen. „Junge, es tut mir so leid …“, seufzte er immer wieder.

„Wenn ich mehr Livre hätte, ich würde dich bei mir aufnehmen und versorgen, doch ich kann mich und meine Frau Marianne kaum selbst über Wasser halten!“, sagte er leise. Nach einer kurzen Pause nahm er meine Hand, und wir gingen los. „Du kommst erst mal mit“, sagte er.

Laurent war ein schmächtiger Mann und immer sehr frisch angezogen, er hatte schwarze Haare, zu einem Zopf zusammengebunden; dazu roch er auch nicht so faulig wie viele andere, die mir bis dahin begegnet waren. Er war immer sehr nett und höflich. Ich mochte ihn.

„Wo sind meine Eltern, Monsieur?“, fragte ich ihn auf dem Weg zu seinem Heim. In dem Moment ließ er meine Hand los und sagte mit ernstem Ton: „Mein Kleiner, das ist schwierig zu beantworten. Ich weiß nicht genau, doch dort, wo sie jetzt sind, geht es ihnen wahrscheinlich viel besser als hier. Eines Tages wirst du vielleicht alles begreifen.“

Doch ich vermutete schon damals, dass sie tot sein würden; vielleicht wäre es leichter gewesen, wenn ich es von jemandem direkt gehört hätte.

Nach ein paar Minuten Gehweg waren wir nun endlich bei seinem Haus angelangt. Er war Weinhändler und daher rührte auch die innige Freundschaft zu meinem Vater, der ihn schon einige Jahre belieferte.

„Besuch?“, erklang es mit lieblicher Stimme aus einem der Fenster heraus. Es war Marianne, die Frau von Laurent. Sie war eine bildhübsche Dame, nett und liebevoll. Sie hatte eine blasse, weiche Haut, einen Porzellanteint, rehbraune Augen und hellblondes Haar. Auch sie mochte ich sehr gerne – ich spürte das – und wusste sofort, bei welch wunderbaren Menschen ich hier gelandet war.

Laurent sagte, ich solle einstweilen warten, während er mit Marianne sprechen würde, und ich gehorchte. Einige Zeit später bat er mich herein. Marianne war nun verändert. Sie war verängstigt, nahm mich aber hingebungsvoll in den Arm, streichelte über mein braunes Haar, und küsste mich immer wieder auf die Stirn. Sie wirkte wie versteinert, dennoch fühlte ich mich auf Anhieb wohl.

Ich durfte bei ihnen bleiben. Einen Platz zum Schlafen fand ich meistens in der Scheune, da das kleine Haus für drei Personen einfach viel zu eng wurde. In den Wintermonaten bat mich Laurent herein, und wir quetschten uns alle in ein Bett. Ohne diese beiden gütigen Seelen … Vermutlich würde ich nicht mehr unter den Lebenden verweilen.

Laurent verdiente mit seinem Weinhandel nur leider sehr spärlich, konnte gerade eben sich und seine Frau mit Essen versorgen. So war ich meistens auf mich alleine gestellt, mir Essbares zu beschaffen.

Ich versuchte einiges, um an Nahrungsgüter und sogar Livre sowie hin und wieder an Wertsachen zu kommen, doch zu Beginn unternahm ich eine kleine Reise in Richtung des Bezirks Île de la Cité.

Unbedingt wollte ich diese wundervolle Kathedrale, von der nahezu jeder, den ich kannte, schwärmte, nun auch mit eigenen Augen sehen.

Ungefähr zwei Wochen nach meiner Ankunft in Paris stürzte ich mich nach Rücksprache mit Laurent nun in dieses kulturelle Abenteuer. Der Bezirk lag ziemlich genau in der Mitte der Stadt und so kam schon ein mittelprächtiger Fußmarsch auf mich zu. Doch dies störte mich nicht, denn so konnte ich mich wenigstens einmal kurz von den Geschehnissen meiner jüngeren Vergangenheit ablenken.

Paris war wunderschön anzusehen, und dabei hatte ich noch nicht einmal viel von dieser prächtigen Stadt zu Gesicht bekommen. Diese Stadt war so lebendig – so etwas hatte ich zuvor noch nicht erlebt. Menschenmassen, Geplauder, enge Gassen, Bäckereien, Metzgereien, Apotheken, Cafés, dazu wundervoll verzierte, bunte Gebäude.

Es war ein Fest der Sinne, doch erst viel später sollte ich diese Stadt in vollem Umfang genießen können, denn es waren viele unentdeckte Orte in dieser schier nicht mehr enden wollenden Metropole anzutreffen. Und so schlenderte ich nun über die Brücke, die nach Île de la Cité führte, und genoss einen kurzen Augenblick den Anblick der Seine, über der an diesem Tag ein leichter Nebelschleier lag – wie ein weißes Tuch, das sich über dem Fluss ausbreitete.

Ein wenig später zog ich weiter, und stand schon kurz darauf vor meinem Ziel.

Notre Dame. Hier stand ich nun und war zutiefst beeindruckt von diesem Bauwerk. 100 Jahre baute man daran, wie mir einst mein Vater erzählte; nun verstand ich, warum. Diese Kathedrale war außergewöhnlich. Mit offenem Mund bewunderte ich die schiere Unendlichkeit der beiden Glockentürme, die Verzierungen, die Dekorationen. Einfach alles. Ich umrundete die Kathedrale einmal – dies sollte länger dauern als mein bisheriger Fußmarsch, von solch monumentalem Ausmaßes war dieses Gotteshaus.

Währenddessen ertönten die Glocken. Ein gewaltiges Ereignis, das ich so bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannte. Dann machte ich mich auf den Weg in den Innenraum der Kathedrale.

Fantastisch, großartig, dachte ich mir, als ich nun das erste Mal die Notre Dame von innen sah.

Das selbe Bild wie außen – ein absolutes Meisterwerk.

Nachdem ich mit dem Bestaunen dieses wunderbaren Bauwerks fertig geworden war, setzte ich mich endlich in eine Kirchenbank, faltete meine Hände, und begann zu beten, so wie es meine Mutter mich gelehrt hatte.

Ich betete für Vater, Mutter und sogar für Laurent und Marianne, die so gütig zu mir waren, und schöpfte viel Hoffnung aus dieser Tat. Währenddessen kamen immer wieder diese fürchterlichen, grausamen Schreie aus jener Nacht in mir hoch und die Tränen flossen in Strömen.

Als die Dämmerung einfiel, machte ich mich auf den Rückweg.

Die engen Gassen waren nun wesentlich weniger bevölkert und Dunkelheit machte sich breit.

Wo tagsüber reges Treiben meiner Mitmenschen herrschte, begegneten mir jetzt fast nur noch Ratten.

Stille machte sich breit, als ich spät abends endlich einige hundert Meter von meinem neuen Zuhause entfernt war. Doch plötzlich rannte mich jemand von einer dunklen Gasse heraus über den Haufen.

Ich fiel zu Boden, und als ich mich von meiner kurzzeitigen Desorientierung erholt hatte, bemerkte ich ein junges Mädchen mit dunkelblondem Haar, ein Mädchen, etwa in meinem Alter, das nun zügig und mit leisem Gekicher davonlief.

Als ich mich danach langsam aufrichtete und den Schmutz von mir abstreifte, bemerkte ich, dass die wenigen Livre, die ich in meiner Tasche hatte, fehlten. Dieses junge Ding musste mich bestohlen haben.

Aber, lieber Leser meiner Memoiren, dieses Mädchen sollte in meinem späteren Lebensverlauf eine unabdingbare Schlüsselrolle einnehmen.

Leicht erschrocken, doch dennoch gefasst, schlenderte ich nun in Richtung meiner Herberge und begab mich ins Heu zur Nachtruhe. Es war trotz dieser merkwürdigen wie denkbar ungünstigen Begegnung am Ende dieses Tages ein schier unfassbares kulturelles Erlebnis gewesen.

Die Tage in jenen Zeiten waren hart, und ich konnte froh sein, wenn ich jeden Tag etwas Essbares ergatterte. Die meiste Zeit arbeitete ich für Monsieur Lavanier, ein kräftiger Mann mit dichtem flauschigen Haar und Bart. Er war Fisch- und Fleischhändler, hatte sein Geschäft, seinen Stand direkt an der Seine aufgebaut, und war ein Freund von Laurent.

Seine Arbeit war kurzweilig und für ihn befriedigend. Die Aufträge, die er mir erteilte, waren meist nur Botengänge, die dennoch so lohnend ausfielen, dass ich mich meistens über Wasser halten konnte; doch an manchen Tagen reichte es trotz allem nicht einmal für ein Stückchen Brot.

An eben jenen Tagen musste ich mir, um zu überleben, Nahrung und sonstige Kostbarkeiten zusammenstehlen, und dieses Verhalten erfüllte mich bereits in jungen Jahren mehr als reelle Arbeit. Aus einem Grund, den ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Worte fassen konnte.

Das Gaunern war nur leider schwieriger, als anfangs geglaubt. Hin und wieder wurde ich ertappt und hatte entweder Wachen oder die wütende Meute an meinen Fersen. Manches Mal entkam ich nur um Haaresbreite.

Aber im Verlauf meiner weiteren Kindheit wurde ich besser und geschickter in diesen Dingen und konnte so sogar Laurent und Marianne hin und wieder etwas von meiner Beute abgeben.

Sie fragten mich nie, von wo ich die Dinge herbekam, so froh waren sie über etwas mehr Münzen in ihrem Klingelbeutel.

Eines Tages rief mich Laurent zu sich, und er frohlockte von einer freudigen Botschaft, die Marianne und er mir mitteilen mussten.

Sie strahlten übers ganze Gesicht, als sie mir erzählten, dass es nun, nachdem sie es jahrelang erfolglos versucht hatten, endlich so weit war. Marianne war schwanger.

Trotzdem, so versicherten sie mir, durfte ich bei ihnen bleiben. Auch aus dem Grund, dass ich mittlerweile durchaus gut darin war, mich mit meinen Straftaten über Wasser zu halten, obwohl ich noch in Kinderschuhen steckte.

Und so vergingen einige Monate und die beiden waren glücklicher als je zuvor. Laurent sang nun viel und streichelte unentwegt Mariannes Bauch. Sie waren volle Vorfreude auf das Geschöpf Gottes, das ihrer großen Liebe entsprang.

Doch ihr neu gewonnenes und mit tiefer Liebe gesegnetes Lebensglück sollte zu diesem Zeitpunkt nur mehr von kurzer Dauer sein.

Laurent belieferte nämlich mit seinem Wein auch den königlichen Hof um König Ludwig XIV., der zu dieser Zeit Dutzende Feste für die Créme de la Créme, die Oberschicht, veranstaltete.

Doch in diesem Jahr war die Weinernte rund um Paris sehr, sehr spärlich ausgefallen, und so geschah es schließlich, dass Laurent mit seinen Lieferungen in Rückstand geriet.

Eines Nachts – ich schlief bereits friedlich in meinem Heugemach – riss mich ein Gepolter und Gebrüll aus meinen Träumen. Ohne dass sie mich sehen konnten, blickte ich auf das Treiben, spähte aus einem Loch in der Scheune auf Laurents Haus hinüber.

Es waren mehrere bewaffnete Wachen des Königs, die immer wieder „Aufmachen! Sofort Aufmachen!“ brüllten, als sie auf die Vordertür hämmerten. Sie trugen wie meistens Kettenhemden und weiße Kniehosen, stülpten blaue Mäntel darüber und hatten Dreispitzhüte auf ihren Häuptern.

Nach einiger Zeit öffnete Laurent die Türe und es entwickelte sich ein kurzer Dialog, den ich nicht genau vernehmen konnte; aber ich verstand so viel, dass ich mir erklären konnte, was hier vor sich ging.

Kurze Zeit später stießen die Wachen Laurent zu Boden, und ich hörte widerliches Geschrei von Marianne. Minutenlanges, klägliches und furchtbares Geschrei hallte aus dem Haus hervor – so schrecklich, dass ich wie versteinert in meiner Scheune kauerte.

Einige Zeit später kamen die Wachen mit allem Wertvollem, was die beiden besaßen, aus dem Haus heraus und brüllten: „Da siehst du, was du davon hast, du Bastard! Einen König lässt man nicht warten!“

Nun zogen sie in die Nacht hinein, und die Lage beruhigte sich.

Einige Zeit später wagte ich mich ängstlich aus der Scheune, um zu sehen, wo Laurent und Marianne geblieben waren. Wo steckten sie bloß?

Anfangs hörte ich leises Gestöhne, und als ich das Haus betrat, sah ich einen der grauenvollsten Anblicke in meinem Leben.

Die gesamte Inneneinrichtung war zerstört, und das ganze Haus war mit Blut verschmiert.

Marianne hatte eine Fehlgeburt. Sie kauerte blutend sowie weinend in einer Ecke des Gebäudes. Laurent, der selbst geschändet war, versuchte, ihr zu helfen und sie zu trösten. Vor ihnen war eine Blutlache. Ihr noch nicht fertig entwickeltes und nicht zum Leben bereite Kind lag darin – das kleine Geschöpf war mit der Nabelschnur umwickelt, rührte sich kein bisschen; der Körper war voller Blut. Marianne und Laurent knieten vor dem Kind, weinten heftig.

Die Wachen mussten das kleine Wesen förmlich aus ihrem Bauch geprügelt haben. Marianne hatte wahrscheinlich das größte Glück überhaupt, denn sie überlebte diese grauenvolle Nacht. Aber wie die beiden, fast zu Tode geprügelt, schluchzend und verletzt auf dieses blutige, kleine Ding starrten, dem die Chance auf ein Leben auf grauenvollste Weise genommen wurde, war ohne jeden Zweifel einer der schlimmsten Anblicke, die ich in meinem Leben ertragen musste.

Einen Tag danach beerdigten wir dieses unvollendete Geschöpf hinter dem Haus.

Laurent und Marianne waren schockiert und traurig, so am Boden zerstört, dass ich nichts Näheres zu diesem Vorfall nachfragte.

Auch für mich sollte dieses schicksalhafte Ereignis im Spätherbst 1708 ein Wendepunkt in meinem Leben bedeuten, denn ich machte mir immer und immer wieder Vorwürfe, fragte mich, ob ich nicht doch die Wachen hätte aufhalten können. Irgendwie brachte ich es nicht mehr übers Herz, den beiden in die Augen zu blicken. Ihre Augen waren nämlich voller Leere, Kälte und völliger Emotionslosigkeit.

So entfernte ich mich immer mehr von diesen gütigen Menschen, die mir einst vielleicht das Leben gerettet hatten. Nur hin und wieder kam ich zurück zu ihrem kleinen Anwesen.

Ab jetzt begann für mich die Zeit des professionellen Stehlens, und so komisch es auch klingen mag, es erfüllte mich mit unglaublicher Freude, weil ich damit eventuell Leid lindern konnte. Der Hass, den ich in mir trug, richtete sich hauptsächlich gegen die gepuderte Oberschicht mit ihren feinen Mänteln und Gewändern sowie ihren glänzenden Häusern. Sie waren es, die armen Bürgern wie Laurent und Marianne das letzte Fünkchen Hoffnung im Leben raubten. Sie ließen ihre eigenen Mitmenschen im Stich. Was für eine Schande!

So begann ich alles, was ich erbeutete, auch aufzuteilen – zum Beispiel mit den Bettlern, aber auch Laurent und Marianne brachte ich ab und zu immer noch Wertvolles.

Im Bettlerbezirk Cour de Miracles, dem schäbigsten und heruntergekommensten Teil von Paris, hielt ich mich nun am häufigsten auf. Bettler und Arme gaben sich hier die Klinke in die Hand, nur Baracken gab es in diesem Bezirk – und Ratten, viele Ratten.

Dieser Teil von Paris war übersät von Leid, Schmerz, Armut sowie völliger Hoffnungslosigkeit.

Ständiges Jammern, Flehen und vor Schmerzen schreiende Menschen trübten das sonst so liebliche Bild von dieser Stadt ganz massiv.

Geprägt von diesem Elend, plante ich meine ersten Raubzüge. Es ging meistens in Richtung der Arrondissements Cité und Île de la Saint Louis.

Nahrungsgüter und Livre, aber auch goldene Schmuckstücke und weitere Kostbarkeiten waren Objekte meiner Begierde.

Livre war übrigens die französische Währung zu meinen Lebzeiten. Goldene Münzen, auf denen das Haupt unseres Monarchen, König Ludwig der XIV., prangte.

Ich beobachtete viel, und schlug zu, sowie eines meiner Opfer unachtsam war.

Schnell wie der Blitz ergriff ich meine vorher ausgespähte Beute, und verschwand in den sich tummelnden Menschenmassen. Leider war ich zu dieser Zeit in meinen Fähigkeiten noch ziemlich eingeschränkt, und so konnte ich weder in Häuser vordringen noch in die riesigen Paläste; somit beschränkte ich mich auf das Notwendigste und Einfachste – Taschendiebstähle.

Erwischt wurde ich zwar noch hin und wieder, doch zu meinem persönlichen Erstaunen konnte ich mich regelmäßig aus etwaigen prekären Lagen befreien, und flüchten.

Fürs Erste war ich aber vollends zufrieden damit, das Leid der Unterschicht, auch wenn es meistens nur eine Handvoll Bürger war, zu lindern.

Eines Abends schlenderte ich durch den Cour de Miracles, als mir ein kleines Mädchen mit feurig rotem Haar, etwa acht Jahre alt, ins Auge stach. Ich hatte sie zuvor noch nie hier gesehen, sie war völlig zerzaust, schmutzig und schäbig gekleidet.

„Was machst du hier?“, fragte ich sie. Zitternd und mit weinerlicher Stimme antwortete sie mir, dass sie nicht wüsste, wo sie ist. Sie streife schon seit Tagen durch die Gassen von Paris und hungere.

Als ich sie nach ihren Eltern fragte, begann sie fürchterlich zu weinen, und ihr Blick wendete sich von mir ab. Kurze Zeit später bekam ich dann doch eine Antwort. Mit versteinerter Miene und schauderhaftem Gesichtsausdruck sowie leiser Stimme berichtete sie mir, dass ihre Mutter vor einigen Tagen bei lebendigem Leib verbrannt wurde. Am Place de Gréve, dem Platz für Hinrichtungen in Paris. Vermutlich wurde sie als Hexe zum Tode am Scheiterhaufen verurteilt.

Dieses kleine unschuldige Ding musste alles mitansehen. Ihren Vater kannte sie nicht.

Tief betroffen drückte ich das Mädchen an mich, und nahm sie mit zu meiner Schlafstätte, mitten im Bettlerbezirk gelegen. Hier sollte sie nun einige Zeit übernachten. Mein gesamtes erbeutetes Diebesgut übergab ich ihr, und alles, was ich in nächster Zeit erbeuten sollte, sollte ebenfalls ihr gehören.

Die meiste Zeit schlief das Mädchen – doch wenn sie einmal nicht träumte, war sie so in Gedanken versunken, dass man meinen konnte, sie träume noch immer. Vermutlich war sie geschockt und völlig überfordert mit dem Schicksal, dass das Leben für sie bereithielt.

Hin und wieder erwachte sie aus ihren Träumen. Schreiend und schweißgebadet, fing sie lauthals an zu weinen. Ich versuchte immer sie zu beruhigen, doch es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder gefangen hatte. Dieses zerbrechliche Geschöpf war in einem ganz schlechten Geisteszustand, den ich so zuvor noch nicht erlebt hatte.

Alles Kostbare, was ich auf meinen Streifzügen durch Paris ergatterte, gab ich nun der kleinen Claire – so hieß sie nämlich, wie sie mir einmal aus freien Stücken erzählte.

Wochenlang häufte ich einen Vorrat an Lebensgütern und Wertsachen an, doch als ich eines Morgens aufwachte, war sie plötzlich spurlos verschwunden. Ich sollte sie nie mehr wiedersehen.

Bis heute frage ich mich, was wohl aus ihr geworden ist; aber zumindest die Wertsachen nahm sie alle mit …

Bereits hier wurde mir klar, dass man im Leben nur auf Momente zählen sollte, denn Zukünftiges war nur schwer beeinflussbar.

Nun stand ich also da, mit leeren Taschen und leerem Bauch, da ich alles diesem unschuldigen Wesen geopfert hatte, und so entschloss ich mich, mir etwas Essbares zu besorgen.

Mit gerade einmal 16 Jahren versuchte ich nun, bei einem der unzähligen Festmähler im Arrondissement Luxembourg mir den Bauch vollzuschlagen, doch ich war noch nicht so gut im Stehlen, und so trieben mich die Wachen quer durch Paris. Und das alles geschah nur, weil ich einen Laib Brot stibitzte, wie ich am Anfang meiner Geschichte bereits erwähnte …

Bist du bereit für meine Geschichten, werter Leser?

Bist du bereit für die Abenteuer und Geheimnisse von Cartouche?

Ja? Dann begleite nun den König der Diebe auf seiner Lebensreise …

Kapitel 1: Madame Clarot

Am nächsten Morgen war ein herrlicher Tag in Paris. Es herrschte angenehme Wärme, aber es war nicht zu heiß, da ein laues Sommerlüftchen wehte. Man erblickte einen strahlend blauen Himmel, wolkenlos; der Tag schien mild zu werden. Ich kann mich gerade deswegen so genau an die Witterungsbedingungen dieses Tages erinnern, da an eben jenem sich für mich noch mehr ändern sollte.

Zuerst stattete ich Laurent einen kleinen Besuch ab; er war noch immer von einem Mantel der Traurigkeit umgeben, der seinesgleichen suchte.

Später wandte ich mich meinen Pflichten im Cour de Miracles zu, denn dort warteten viele Menschen auf mich, die auf fremde Hilfe angewiesen waren.

Nachdem ich einigen Bettlern ihre Wunden verbunden und ihnen etwas Trost gespendet hatte, wollte ich mich nun – endlich – auf Beutefang begeben.

Ich wollte heute abermals Richtung Palais de Luxembourg gehen, denn dieser Bezirk war voller Reichtümer, die ich mir aneignen konnte. Auf halbem Weg wurde mein Vorhaben aber abrupt beendet, denn hinter einer Hausmauer zischte eine Frau jüngeren Alters etwas hervor: „Psssst, Pssst, mein Junge“, zischte sie in flüsterndem, aber bestimmendem Ton. Zuerst wollte ich mich abwenden, doch irgendein Gefühl sagte mir, dass ich zumindest mit ihr sprechen sollte – und somit ging ich vorsichtig auf sie zu. Sie war eine bildhübsche Frau, die so ganz und gar nicht in das Leben der Unterschicht passte.

Sie hatte blondes, langes Haar, offen getragen, das sich im Wind bewegte wie ein Weizenfeld vor der Ernte. Ihre blauen Augen waren so hell und klar, dass sogar ein Bergsee vor Neid erblassen müsste; dazu trug sie Kleidung von den feinsten Schneidern aus Paris, und der Duft von Kirschblüte umgab sie.

Zuerst war ich so erstaunt, dass ich kein Wort aus meinem Mund herausbekam – so verblüfft war ich über dieses anmutige Geschöpf in einer ganz und gar nicht anmutigen Umgebung.

„Du bist der Kleine, der sich Cartouche nennt, richtig?“, fragte sie mich und schmunzelte.

Ich nickte, denn meinen wahren Namen benutzte ich schon seit langer Zeit nicht mehr. Nur Laurent und Marianne wussten, dass ich der kleine Louis-Dominique Bourguignon war.

„Du bist ein gewiefter und talentierter Bursche!“, fuhr sie fort, um nach einem kleinen Knicks „Ich bin Madame Clarot“ hinzuzufügen.

Sie sagte mir, ich solle doch so nett sein und sie begleiten, denn sie beobachte mich schon des längeren – und betört von ihrem Antlitz, gehorchte ich ihr.

Madame Clarot schlenderte nun mit mir durch die Gassen von Paris und es schien, wie wenn die Zeit stehengeblieben wäre; so erhaben war ihre Ausstrahlung und ihre Art, sich fortzubewegen.

Sie sagte, ihr Haus wäre in der Nähe der Notre Dame gelegen, und alles weitere würde sie mir später erklären. An diesem Tag herrschte reges Treiben auf den Straßen von Paris. Als wir zu einer größeren Menschenmenge kamen, fasste sie mich an der Hand, und wir drängten uns blitzschnell durch die sich tummelnde Masse.

„Dummer Bauer, das hast du nun davon, wenn du dem König verdorbenes Getreide lieferst!“, war von einem der Wachen in lautem Ton zu vernehmen, als wir am anderen Ende der Menschenmenge angekommen waren. Ein bärtiger und blutverschmierter Mann wurde auf offener Straße von den Wachen des Königs schikaniert und gequält. So wie er aussah, wurde er schon seit geraumer Zeit gefoltert, denn sein nackter Oberkörper war übersät mit Hämatomen und Blut. Ein Häufchen Elend, übel zugerichtet, kauerte nun unter Tränen und vor unseren Augen auf dem Boden. Die Wachen schlugen allerdings immer noch auf diesen armen Kerl ein, und den Menschen rund um uns herum gefiel dieses schreckliche Schauspiel. Ein abartiger Anblick! Doch im Laufe meines Lebens musste ich immer wieder mitansehen, wie viel Freude es den eigenen Mitmenschen bereitete, wenn sie sich am Leid anderer ergötzen konnten. Erbärmlich …

„Stopp! Aufhören! Ihr niederträchtigen Halunken! Seht ihr denn nicht, wie dieser Mann leidet?“, brüllte nun Madame Clarot wie eine Löwin aus vollem Halse und in bestimmendem Tonfall. In diesem Augenblick veränderte sich etwas in der Menschenmenge – es wurde leiser.

„Was willst du denn, Schnepfe? Auf Geheiß unseres Monarchen König Ludwig XIV. müssen wir diesem Bauern seine gerechte Bestrafung zuteil werden lassen!“, entgegnete ihr einer der Wachen.

Fuchsteufelswild ging sie nun auf den Bauern zu und versuchte, ihm auf die Beine zu helfen.

„Du verdammtes Weibsstück! Wir sind hier noch nicht fertig!“, raunzte eine der anderen Wachen.

„Ihr werdet diesen Mann nun in Ruhe lassen! Er hat genug gelitten, und das alles wegen so einem Nonsens. Diese Männer arbeiten hart, können sich kaum selbst über Wasser halten, nur damit euer König und sein Hof noch mehr Lebensmittel verderben lassen. Ihr in euren prunkvollen Bauten bekommt doch nicht mal mit, dass auf den Straßen hier unzählige Menschen verhungern. Dieser Mann kommt nun mit mir!“, fauchte Madame die Wachen an. Nach kurzer Stille wollte einer der Handlanger des Monarchen der Madame eine Backpfeife verpassen, doch ein anderer hielt ihn zurück, packte ihn an den Armen. Ohne weitere Worte zogen die Männer des Königs überraschend ab, und auch die vor Freude tobende Meute rund um mich herum löste sich nun, da die Folterei ein Ende hatte, langsam auf.

Madame Clarot und ich stützten den geschundenen Mann, so gut es eben ging, und nahmen ihn mit zu ihrem Heim. Er humpelte, das linke Bein schien gebrochen zu sein. Blut tropfte aus Mund und Nase. Außerdem fehlten an seinen Händen mehrere Finger.

„Danke! Vielen Dank, Madame!“, hauchte der Bauer ganz leise, ehe er danach wieder in argwöhnische Wortkargheit verfiel. Man konnte es ihm jedoch gar nicht verübeln, denn er bekam nur sehr wenig Luft und atmete sehr schwer. Womöglich waren auch mehrere seiner Rippen gebrochen.

Als die Dämmerung einfiel, standen wir dann endlich vor den Toren ihres Anwesens. Es war ein auffällig großes Haus, farblich in sonnengelb gehalten und sehr, sehr nobel. Madame war eine sehr wohlhabende Frau, das wurde mir in diesem Augenblick erst so richtig bewusst.

Ich konnte mir bis dato niemals vorstellen, jemals so ein wunderschönes Haus zu betreten – doch das Schicksal wollte es anders.

Im Erdgeschoss setzten wir den Mann auf ein Bett, und als sich Madame um seine Wunden kümmerte, staunte ich noch immer über das prunkvolle Innenleben dieses Gebäudes. Viele Gemälde hingen an den Wänden. Gold, Silber und Schmuckstücke verzierten die Möbel und die Wände, die weiß gestrichen waren. Holzparkett befand sich unter meinen Füßen, und links neben dem Eingang entdeckte ich eine Marmortreppe, die ins Obergeschoss führte – ich konnte noch immer nicht fassen, dass ich in einem Haus der Oberschicht stand …

Madame sagte etwas später zu dem Bauer, dass er sich erholen solle und er gerne so lange bleiben könne, bis er gesund wäre. Morgen würde sie auch einen Doktor zu sich holen, der sich seiner Verletzungen annehmen solle. Der Mann nickte und lächelte sogar ein wenig, als er versuchte, sich auszuruhen. An seiner Mimik konnte man klar ablesen, dass er sich nun sicher und geborgen fühlte; und das machte auch mich irgendwie glücklich. In dieser Sekunde wurde mir das erste Mal klar, welchen Menschen ich hier getroffen hatte. Madame Clarot wollte Leid lindern, Schmerz stillen und andere Menschen glücklich machen. Ich fühlte mich geborgen wie der geschundene Bauer, fühlte mich gut wie schon lange nicht mehr in meinem Leben.

„Komm mit nach oben“, sagte sie leise zu mir und lächelte mich freundlich dabei an. Sie hatte ein sehr sonniges Gemüt, und jedes Mal, wenn ich ihr bildhübsches Gesicht erblickte, stockte mir der Atem; ich war so etwas ja gar nicht gewohnt.

Auch im ersten und zweiten Stock war dieses Gebäude sehr, sehr prunkvoll eingerichtet, und ich fragte mich immer mehr, was so eine Frau bloß von mir wollen würde.

„Setz dich, junger Mann“, sprach sie, und gab mir eine Tasse Tee und ein Stück Weißbrot. Ich bedankte mich artig bei ihr, und gehorchte ihrem Anliegen, setzte mich auf einen gepolsterten Stuhl.

„Du wirst sicherlich wissen wollen, warum ich dich hierher geholt habe?“, fragte sie mich, und ihr Lächeln war dabei so strahlend hell, dass sie damit die Nacht fast zum Tage machte. Ich nickte bloß, denn die Aura von Madame machte mich wortkarg und verlegen – Madame war ein Wesen, das ich selten in meinem Leben bestaunen durfte.

„Cartouche, du bist ein besonderer Bursche. Ich beobachte dich bereits seit geraumer Zeit, und wir haben dasselbe Ziel: Wir wollen den Menschen helfen und ihnen ein Stück Lebensfreude zurückgeben; denn wir leben in einer Zeit, in der viele Bürger einfach auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Ich würde dir gerne helfen, deine Fähigkeiten in allen Bereichen des Lebens zu verfeinern, denn du bist in meinen Augen ein Rohdiamant, der noch geschliffen werden muss, der aber dann zu außergewöhnlichen Dingen fähig ist, die ich noch bei keinem anderen je gesehen habe. Deswegen bitte ich dich, eine Weile bei mir zu bleiben. Ich verspreche dir, dass du es nicht bereuen wirst. Ich will dir nichts Böses, junger Freund“, fuhr Madame nun fort, und in ihren wunderbaren Augen war dabei ein Feuer, eine Flamme der Begeisterung zu sehen, die mich sofort mitriss. Obwohl ich leichte Zweifel hegte, bejahte ich ihr Angebot, ohne zu zögern.

Sie lächelte und strich mir gefühlvoll über die Wange. „Junger Mann, ich begrüße deine Entscheidung“, sagte sie nun, begutachtete dabei meine Gesichtsnarben und fragte mich dann, ob ich die Pocken gehabt hätte und wo meine Eltern denn eigentlich steckten. Sie war mir ein wildfremder Mensch, und dennoch spürte ich ein Vertrauen zu ihr, wie wenn ich sie schon mein ganzes Leben gekannt hätte. Und so erzählte ich ihr alles, was mir bisher in meinem Leben widerfahren war. Sie war eine wunderbare Zuhörerin. Während meiner Geschichte kam keine Silbe über ihre vollen roten Lippen, nur bei der einen oder anderen Stelle veränderte sich kurz ihre Aura und Mimik, auch wenn sie geschickt darin war, sich nichts anmerken zu lassen.

Als ich fertig war, nahm sie mich ohne zu zögern in den Arm, und küsste mich unentwegt auf die Stirn. „Du hast viel durchgemacht, doch das Leben kennt kein Erbarmen und verläuft nicht immer rosig. Du wirst gestärkt aus all diesen Erlebnissen hervorgehen. Ich werde dir dabei behilflich sein“, hauchte sie nun in mein linkes Ohr und wünschte mir eine gute Nacht, nachdem sie mir mein Bett gezeigt hatte, das im ersten Stock stand. Ihr Schlafgemach befand sich übrigens im zweiten Stock, und wenn ich ein Problem hätte, könnte ich jeder Zeit nach oben kommen, versicherte sie mir ganz vertrauensvoll.

Während ich mich von meinen schmutzigen Gewändern befreite, musste ich die ganze Zeit über dieses magische Wesen grübeln. Madame Clarot war außergewöhnlich: Sie konnte einem mit ihrem Äußeren auf unglaubliche Weise bezirzen, aber was mir viel wichtiger erschien, war, dass sie es mit ihrem sonnigen Gemüt und ihrer Ausstrahlung schaffte, den Ernst des Lebens für einen kurzen Moment vergessen zu können. Und mit ihren Worten hauchte sie einem so viel Selbstvertrauen ein, dass man nur staunen konnte. Eine unfassbare Erscheinung!

Nachdem ich meine Gedanken – endlich – fürs Erste gesammelt hatte, ging ich zu Bett. Es war das erste Mal, dass ich in so einem Bett der Oberschicht schlafen durfte, und ich fühlte mich wie im siebenten Himmel. Eine Nachtruhe, wie ich sie mir nie zu erträumen wagte, wartete nun also auf mich.

„Cartouche, Cartouche! Wach auf, mein Junge!“ Mit diesen Worten in sanftem Ton weckte mich Madame Clarot am nächsten Morgen. Verträumt rieb ich mir die Augen. Ach, was war das für ein wunderbares Gefühl, in so einem Bett zu schlafen, und nicht in irgendwelchen Holzbaracken, auf Bänken oder in Heuhaufen.

„Junger Mann, auf dem Tisch stehen Kaffee und Frühstück für dich bereit“, strahlte Madame mich an. „Du wirst dich sicherlich wundern, Cartouche, denn ich habe kein Gesinde – meine Besorgungen erledige ich lieber selber. Ich vertraue nur sehr wenigen Menschen, und das hat auch seine Gründe. Ich brauche weder Diener noch Zofen. Ich hole einstweilen einen Doktor für unseren Gast! Bis nachher …“, fuhr sie fort und verschwand in Windeseile, aber mit einem Lächeln auf den Lippen aus dem Haus.

Meine Gewänder waren ebenfalls verschwunden. Stattdessen hatte sie mir eine neue und edle Kniehose sowie einen Mantel auf einem Stuhl bereitgelegt. Irgendwie konnte ich dies alles noch immer nicht fassen und fühlte mich wie in einen Tagtraum versetzt. Nachdem ich mit Anziehen und Essen fertig geworden war, begab ich mich ins unterste Stockwerk. Auch der Bauer hatte Frühstück von Madame bekommen, und als ich mich ihm näherte, aß er hastig vom matt glänzenden Klostergebäck. Ich für meinen Teil hatte bis dahin nur hin und wieder, zu feierlichen Anlässen, das Vergnügen, mir mit diesem gut schmeckenden Backwerk den Bauch vollschlagen zu dürfen. Zu teuer war es für den normalen Verzehr. Dem Bauer schien es ähnlich zu ergehen, denn er genoss jeden Bissen dieser Speise.

Als auch er mit dem Essen fertig geworden war, kam ich kurz mit ihm ins Gespräch, und er berichtete mir, dass er, bevor wir ihn aufgesammelt hatten, schon mehrere Tage im Gefängnis verbrachte und man ihn dort aufs Übelste gefoltert hatte. Seine Frau wartete zu Hause auf ihn – er musste schnellstmöglich zu ihr zurückkehren. Außerdem musste sie krank vor Sorge um ihn sein, wie er befürchtete, weil er schließlich schon einige Tage nicht zurückgekehrt war.

Meine Gedanken kreisten einstweilen nur um den König und seine Gefolgsleute. Mein Hass, mein Zorn, mein Ekel vor solchen Menschen wurde dadurch mehr und mehr geschürt. Dennoch konnte man nur wenig – vielleicht gar nichts – gegen den Monarchen ausrichten. Zu mächtig war der königliche Hof.

Ein paar Minuten später kam Madame zurück, und an ihrer Seite befand sich einer dieser ominösen Heiler oder „Quacksalber“, wie ich immer über diese Gestalten zu sagen pflegte.

Auch er war wie seine Kollegen ganz in schwarz gekleidet und mit dieser Schnabelmaske ausgestattet. Eben jene wurde zu Zeiten der Pest eingeführt. Sie hatte einen schnabelartigen Fortsatz für Mund und Nase. In ihm befanden sich, entsprechend den in den Pestregimina zusammengefassten Empfehlungen, geruchsstarke Kräuter und Essigschwämme, die die Einatmungsluft filtrierten. Die Augen wurden durch eine Glasbrille geschützt, und dazu trug er Lederhandschuhe und leichte Lederstiefel.

Der Arzt begutachtete den Mann eine Weile. Später verband er ihm seine Wunden und gab ihm einige Heiltränke und Salben, um so die Schmerzen zu lindern. Die Rechnung beglich Madame Clarot.

Zwei Tage verweilte der Bauer noch bei uns, bis er sich schließlich auf den Heimweg zu seinem geliebten Eheweib machte. Bevor er ging, bedankte er sich höflich bei uns und versicherte, dass er uns das nie vergessen würde. Gott solle uns schützen! Madame war überglücklich, wieder etwas Gutes getan zu haben.

Eigentlich wollte ich sie zu diesem Zeitpunkt fragen, weshalb sie so vermögend sei und ob sie Mann und Kinder hätte. Doch irgendwie traute ich mich nicht, sie jetzt schon mit so persönlichen Dingen zu belästigen, und so schwieg ich fürs Erste.

Madame Clarot war aber keineswegs nur wunderschön und charakterstark, sondern sie war auch so gebildet und belesen, wie ich es nie wieder in meinem Leben bestaunen durfte. Tag für Tag lehrte sie mich Dinge wie Lesen und Schreiben sowie Historik, Politik und allerlei andere Dinge, auf die ich später noch eingehen werde. Nur durch sie kann ich heute diese Memoiren verfassen, die dem, der sie lesen möge, mein Leben näher bringen wird. Ohne sie würde ich keine einzige Zeile der Nachwelt hinterlassen können.

Wir übten jeden Tag und sie hatte dabei eine Geduld mit mir, die seinesgleichen suchte. Sie wollte unbedingt, dass ich eine gewisse Bildung, einfach Kenntnis erhalte, und so war ihr es auch vollkommen egal, wenn ich etwas länger brauchte, als sie es vielleicht in dem einen oder anderen Punkt vorsah.

Eines Tages öffnete sich die Türe zu meinem neuen Heim. Wir sprachen gerade über Königshäuser und Politik in anderen Ländern. Als sich unser Besuch bemerkbar machte, wusste ich sofort, dass ich diese Person bereits einmal getroffen haben musste. Ich erkannte die Stimme sofort wieder. Als sie bei uns im ersten Stock ankam, wusste ich auch schon, um wen es sich hierbei handelte. Sie … Sie war es! Das dunkelblonde Mädchen, das mich vor Jahren auf meiner Heimreise von Notre Dame beklaut hatte. Sie stand nun vor uns, und schon damals hatte ich ein Gefühl, wie wenn ich sie schon ewig gekannt hätte, so als ob man seinen Seelenverwandten treffen würde. Sein Zuhause. Zuflucht. Schutz. Geborgenheit. All diese Dinge fühlte ich in ihrer unmittelbaren Nähe. Äußerlich hatte sie sich natürlich auch verändert: Sie war eine Frau geworden. Eine bildhübsche Frau. Ihre dunkelblonde Mähne, ihre braunblauen Augen, dazu ihre grazilen und anmutigen Bewegungen sowie ihr Lächeln. Dieses Lächeln! In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so etwas Wunderbares gesehen. Ihr gesamtes Wesen, ihre Art, ihre Aura und Ausstrahlung. Ich fühlte es … Nur wusste ich damals noch nicht, was es war. Es war Liebe. Liebe auf den allerersten Blick.

Mein Mund blieb zu diesem Zeitpunkt stumm, doch ich erkannte an ihrem Blick, an ihrer ganzen Gestik und Mimik, dass sie ähnlich fühlte und dachte. Wie sie mich ansah! Es gab nur eine Person auf dieser Welt, die mich so ansah wie sie … glänzende Augen, leicht geöffneter Mund und eine Leidenschaft in ihrem Gesichtsausdruck, so als ob sie sagen wolle: „DU! Nur DU!“ Doch dieser kurze Moment wurde jäh gestört, denn Madame Clarot fragte sogleich, was denn los sei. Das Mädchen wollte weg aus Paris, denn ihr Bruder im Elsass war schwer erkrankt; sie musste zu ihm – so schnell wie möglich. Sie zeigte Madame Clarot einen Brief; Madame zögerte nicht lange und bereitete alles für eine Reise vor. Bereits nach kurzer Zeit war sie fürs Erste verschwunden. Zwei Herzen, die sich gefunden hatten, wurden abrupt getrennt, ohne auch nur jemals ein Wort miteinander gewechselt zu haben. Dennoch wussten wir beide bereits zu diesem Zeitpunkt, was wir füreinander empfanden, und das Schicksal sollte uns eines Tages wieder zusammenbringen. Eines Tages …

Nachdem sich meine Auserwählte auf die Reise gemacht hatte, erzählte mir Madame Clarot, dass das Mädchen Elá hieß und sie ursprünglich aus dem Elsass stammte. Sie und ihre Eltern waren Frankreichs Kriegsgefangene aus den Schlachten mit dem Elsass. Ihre Eltern saßen im Gefängnis, der Conciergerie, im Westen Île de la Cités gelegen. Elá befand sich zu Beginn ebenfalls hinter Schloss und Riegel, doch Madame Clarot kaufte die damals Vierjährige frei. Für ihre Eltern hatte sie leider nicht genug Geld übrig. Ihr Bruder war alleine in der einstigen Heimat zurückgeblieben und führte dort einen Bauernhof. Dieses Wesen, Elá, wurde ebenso wie ich von Madame Clarot aufgenommen und geschult, sie verbrachte aber die meiste Zeit damit, sich bei ihren gefangenen Eltern aufzuhalten. Doch nun musste sie zurück in die Heimat, sie musste sich um ihren kranken Bruder kümmern …

Madame Clarot war aufgelöst, völlig fertig, weil sie ihre Elá gehen lassen musste; doch sie hoffte darauf, dass sie zurückkommt. Ich persönlich hoffte ebenfalls, sie wiederzusehen, denn ich konnte mir ab diesem Zeitpunkt nur mehr vorstellen, bei ihr zu sein. Ich träumte von ihr, nachts, aber auch tagsüber. Ich dachte nur an sie, sie hatte sich mir in die Seele gebrannt. Später wurde mir auch bewusst, dass diese Frau die Liebe meines Lebens war, nur zu diesem Zeitpunkt wäre ich bereits froh gewesen, wenn ich sie wiedersehen könnte, denn damals verstand ich noch nicht ganz, wer sie für mich sein könnte, was sie mir bedeutete und was ich für sie fühlte. Zu eben jener Zeit konnte ich nicht in Worte fassen, wer mir hier begegnet war, und so betete ich jeden Tag zu Gott, dass ich sie wiedersehen durfte, nur um ihr zu sagen und zu zeigen, was ich für sie empfand. Ich hoffte nur, dass es noch nicht zu spät war. Mon dieu! Bitte, lieber Gott, lass sie zurückkehren, damit ich ihr sagen kann, wie sehr ich sie liebe. Dies waren meine Gedanken – alles drehte sich in dieser Zeit nur um sie.

Unterdessen half mir Madame Clarot weiterhin, meine Bildung zu verbessern; doch eines Tages schnappte sie mich und wir gingen unter die Menschen. Sie erklärte mir, dass es nun– endlich – an der Zeit wäre, auch meine praktischen Fähigkeiten zu fördern. Denn nur wenn ich mein Geschick beim Stehlen verbessern würde, könnte ich nachhaltig der Unterschicht das geben, was sie dringend brauchte: Essen, Wertsachen, Livre, Kleidung. Diese Menschen hatten nichts, gar nichts, oft nicht mal ein Zuhause, und so waren sie auf die Güte anderer angewiesen. Es gab dabei nur ein Problem: Fast allen gut betuchten Mitbürgern unserer Zeit war es völlig egal, was mit den ärmeren Menschen passierte. Die meisten Menschen spuckten noch auf sie, zeigten mit den Fingern auf sie und lachten über sie. Abscheulich!

Somit kämen wir ins Spiel, wie Madame mir erklärte. Wir – und in erster Linie ich – sollten das zurückholen, von dem die Oberschicht zu viel besaß, um es den Bettlern, den Waisen, den Obdachlosen und den Armen zurückzugeben. Einfach, um das Leben für diese Menschen vielleicht peu á peu besser zu machen.

Sie sagte mir, ich hätte einzigartige Fähigkeiten: Beobachtungsgabe, Geschick, Teile des sechsten Sinns, schauspielerisches Talent, Redekunst und noch vieles mehr. Das Wichtigste für sie war aber, dass ich manche Dinge früher erfassen konnte als die meisten anderen Menschen, und das machte mich in ihren Augen so besonders – denn dadurch konnte ich prekäre Lagen viel schneller begreifen und mich rasch aus ihnen – sofern nötig – befreien.

Madame musste mich wirklich intensiv beobachtet haben, und schön langsam kam ich mir vor wie ein Auserkorener. Ein Auserwählter. Vielleicht gab sie mir aber dadurch auch nur den nötigen Rückhalt und das Selbstvertrauen, um das zu verwirklichen, was sie mit mir scheinbar vorhatte.

Sie zeigte mir, wie man am geschicktesten in den Menschenmassen verschwinden konnte, wie man Verstecke findet, wie man Aufmerksamkeit von sich, aber auch auf sich lenkte, wie man das gesamte Umfeld nutzen konnte, um quasi unsichtbar zu werden. Alles, wirklich alles war ihr Spielplatz. Man musste es nur sehen, spüren und begreifen. Wie sie sich bewegte, war einfach famos. In Windeseile tauchte sie unter, verschwand im Nichts und löste sich buchstäblich in Luft auf. All diese Dinge musste ich nun nachmachen. Immer wieder, denn nur Übung machte den Meister, wie sie mir erklärte, und jeder sollte mit kleinen Dingen beginnen, bevor er zu den größeren übergeht. Als wir am Abend mit den Schulungen fertig geworden waren, fragte ich mich wie bereits so oft, wie sie das nur alles kannte und konnte, aber ich scheute weiterhin das Nachbohren zu ihrer Vergangenheit wie der Teufel das Weihwasser.

Die Tage wurden jetzt von Madame so gestaffelt, dass es vormittags Bildung für mich gab, und nachmittags Training. Dazwischen streute sie jedoch immer wieder Gespräche ein, die meinen Lebensalltag so enorm erhellten, dass ich hin und wieder mein Glück gar nicht fassen konnte, in ihrer Nähe zu sein. Besonders! Ja, sie war ein besonderer Mensch für mich.

Mit der Zeit wurde ich immer besser und besser. Ich lernte fleißig und befolgte jeden Ratschlag, den Madame mir erteilte. Mittlerweile konnte ich blitzschnell gefährliche Lagen erfassen und mich, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, aus ihnen befreien. Mein gesamter Bewegungsapparat veränderte sich in nur wenigen Wochen. Ich konnte mich mittlerweile lautlos fortbewegen, mich nahezu geräuschlos an jemanden heranschleichen, auf Dächern und anderen Hindernissen problemlos balancieren. Ich konnte klettern wie eine Eidechse. Das Wichtigste überhaupt war aber, dass ich zu einem Meister der Tarnung wurde. In dem einen Moment noch für alle sichtbar, doch kurz darauf einfach verschwunden. In nur wenigen Sekunden konnte ich mittlerweile erfassen, wie und wo man am besten untertauchte.

Madame Clarot war hocherfreut über die Tatsache, dass ich all diese Dinge so schnell begriff, und sie strahlte so hell wie nie zuvor. Ich war froh darüber, sie glücklich zu sehen, denn so konnte ich ihr wenigstens etwas zurückgeben; immerhin hatte sie mich aufgenommen und lehrte mich all diese überlebensnotwendigen Feinheiten.

Ich war jetzt schon zwei Monate bei Madame Clarot. Während ich meinen Horizont und meine Fähigkeiten verfeinerte und erweiterte, musste ich fortdauernd an Elá denken. Jeder Augenblick, in dem ich an sie dachte, war kostbar. Sie gab mir Kraft. Sie gab mir Halt. Sie gab mir das untrügliche Gefühl, geliebt zu werden. Zwar war dieses liebreizende Ding weit entfernt, doch dennoch war sie ständig an meiner Seite. Ich spürte sie, sah sie. Unentwegt … Ihre ovale Gesichtsform, die großen braunblauen Augen, der Schmollmund, die kleine Stupsnase, die volle dunkelblonde Mähne – sie war das Schönste, was auf dieser Welt für mich existierte.

Bei der zweiten Lektion, die auf mich wartete, wurde es nun erheblich schwieriger, denn nun musste ich meine neu gewonnene Fähigkeit des Verschwindens auch einsetzen, um Kapital daraus zu schlagen. Wir begannen mit dem, was ich bereits die Jahre zuvor gemacht hatte: Taschendiebstähle. Bei der Notre Dame waren ebenfalls immer einige vermögende Bürger auf den Straßen unterwegs, und so musste ich dort beginnen, denn die nobleren Gegenden waren noch zu schwierig, wie Madame klarstellte. Sie erklärte und zeigte mir, wie man an Wertvolles herankam, ohne dass die erspähten Opfer davon Wind bekämen; danach sollte ich blitzschnell untertauchen – und verschwinden.

Es funktionierte! Es funktionierte sogar so gut, dass ich am ersten Tag kein einziges Mal erwischt wurde. Niemand bemerkte, wie ich mich lautlos in den Trauben der Menschen heranschlich, meine Beute ergriff und quasi wie ein Adler davonflog. Fantastique! Grand! Mit diesen Fähigkeiten hatte ich von nun an keinerlei Probleme mehr, um auf den Straßen von Paris an Wertsachen zu kommen – doch mir standen noch viele weitere Lektionen bevor.

Als Erstes schickte mich Madame alleine los, um an diesem Tag eine gewisse Menge Livre zu erbeuten. Ohne Hilfe. Ohne ihr Zutun. Selbstständig musste ich meine Opfer erspähen und nach Mitteln und Wegen suchen, um an meine Beute zu gelangen. Ich hatte freie Hand bei meinen Vorgehensweisen, und meine klebrigen Finger huschten durchs Gewühl, fanden ihre Ziele – Börsen, Schmuck, Kleinkram. Von einem Gefühl der Freiheit getragen, ergatterte ich viel mehr, als mir aufgetragen wurde, und der Blick von Madame Clarot verriet es mir in jener Nacht: Sie war stolz auf mich. Alles Erbeutete teilten wir unter den Bettlern im Cour de Miracles auf. Nun wurde es erst richtig ernst, denn jetzt brachte sie mir bei, wie man in Häuser eindringen konnte.

Am nächsten Morgen brachen wir auf, gingen in eine nahe gelegene Schmiede, um dort einzukaufen. Die Schmiede, an deren Vordertür ein Glockenzug hing, war schlicht eingerichtet; man hörte das Hämmern des Schmieds und seiner Gehilfen, hörte ein lautes Zischen, als heißes Eisen in Wasser getaucht wurde, und der Geruch von erwärmten Eisen machte sich in der kleinen Stube breit. Der Schmied selbst war ein bärbeißiger Mensch mit einem flauschigen, braunen Bart und verschwitzter Glatze. Madame Clarot schien ihn aber gut zu kennen. Sie kaufte Werkzeug, Messer und mehrere Dietriche. Diese Dietriche, die ich zu diesem Zeitpunkt das erste Mal sah, sollten mir mein ganzes weiteres Leben gute Dienste erweisen.

Auf dem Rückweg hörten wir – ganz plötzlich – die Stimmen zweier Männer, die bei einer Metzgerei verweilten und tuschelten: „Siehst du sie?! Madame Clarot mit ihrem neuen Lustknaben. Wenn das nur ihr Mann noch sehen könnte. Dreckiges Flittchen!“ Schallendes Gelächter machte sich breit. In diesem Moment drehte sich Madame Clarot um, ging wutentbrannt auf die Männer zu, und brüllte: „Euch Schlappschwänze kenne ich doch! Große Klappe auf offener Straße, wenn ihr aber zu Hause bei euren Frauen seid, könnt ihr nicht mal mehr bis fünf zählen. Hütet eure erbärmlichen Zungen über mich, meinen Mann, über mein Tun und Handeln, denn sonst könnte es passieren, dass ihr ohne euer liebstes Stück nach Hause kommt.“ Plötzlich zückte Madame ein Messer, deren Klinge im Licht der Sonne aufblitzte, und hielt es einem der Männer genau zwischen die Beine.

Sie hatte recht. Es waren wirklich nur Großmäuler, denn sie murmelten Entschuldigungen und gingen verstört ihres Weges. Madame Clarot schüttelte sich kurz, und kam dann erhobenen Hauptes zu mir zurück. „Bitte Cartouche! Vergiss nie, wie man mit einer Dame umgeht, und wenn du jemals so etwas wie das hier sehen solltest, hilf ihr, denn nicht immer gehen solche Sachen so glimpflich aus wie hier und heute.“ Ich versprach ihr, dass ich alles, was in meiner Macht stand, unternehmen würde, wenn mir jemals eine solch wüste Rüpelei unter meine Augen kommen sollte.

Sie nickte und lächelte. „Du bist ein guter Junge!“, hauchte sie mir danach mit seufzender Stimme ins Ohr, und wir zogen zu ihrem Anwesen weiter.

Dort angekommen, machte mich Madame Clarot nun mit Werkzeug und Dietrichen vertraut. Mit den Dietrichen war es kinderleicht, verschlossene Türen, Truhen oder sonstige Gegenstände zu öffnen. Sie sollten mir später dienlich sein, um in Häuser, Paläste und sogar Residenzen ein- und vorzudringen. Anfänglich tat ich mich richtig schwer und ich zerbrach mehrere Dietriche; doch Madame hatte wie immer eine Menge Geduld mit mir, und so hatte ich das richtige Zeitgefühl, um Schlösser zu knacken, irgendwann dann doch intus. Wir übten in ihrem Haus. An Truhen, Türen, Toren. Alles musste ich mehrmalig für sie aufbrechen, ehe sie zufrieden damit war. Endlich würde ich geschickt genug sein, um auch an schwierigere Beute heranzukommen.

Wenige Tage danach gab sie mir meinen ersten richtigen Auftrag: Ich sollte eines der Cafés im Arrondissement Île de la Saint Louis plündern. Im ersten Moment beschlich mich riesige Angst, denn so etwas hatte ich noch nie zuvor getan. Madame schaffte es jedoch wie immer, mir mit ihren guten Worten genügend Selbstvertrauen einzuhauchen, sodass meine Panik verstummte.

Spät abends war es nun so weit; mein erster richtiger Raubüberfall stand bevor. Ich war in schwarze Kleidung gehüllt und begab mich im Schutze der Nacht in die Richtung des Cafés. Die Nacht war klar, ein zunehmender Mond stand schon am Himmel, hell und strahlend wie eine Sichel aus feinstem Silber, auch etwas Wind huschte durch die Straßen. Die Gassen schienen leer gefegt zu sein, nur einige Ratten waren noch auf den Beinen.

Beim Café angekommen, kundschaftete ich zuerst die Lage aus. Ich lauschte. Große Stille. Als ich zum Entschluss kam, dass die Luft rein war, machte ich mich gleich an die Arbeit. Vorsichtig knackte ich mit einem Dietrich die Hintertür, und schlich mich dann ins Innere des Gebäudes. Es schien alles friedlich zu sein. Doch plötzlich! … Es war nur ein Windstoß, der meinen Herzschlag stark erhöhte. Leicht erschrocken begab ich mich nun auf die Suche nach allerlei Wertvollem, was mir eben ins Auge sprang. Das Wichtigste war aber, die Einnahmen des Cafés zu plündern, und siehe da, mein Gefühl täuschte sich nicht. In einem der hinteren Räume, in dem sich ein großer, hölzerner Arbeitstisch, Bücherregale und opulente Wandteppiche befanden, stand sie – eine Schatulle – vollgefüllt mit Livre. Hastig stopfte ich nun alles in einen Leinensack und verschwand – auf leisen Sohlen – aus dem Gebäude.

Mein erster größerer Raubüberfall – er war gelungen! Es war aber auch nicht wirklich schwer, ein menschenleeres Haus mitten in der Nacht auszurauben. Im Verlaufe der Zeit hatte ich wesentlich schwierigere Herausforderungen zu meistern, dennoch war ich stolz wie schon lange nicht mehr, dass es mir gelungen war, meine Fähigkeiten so zu verbessern und meinen ersten Auftrag erledigt zu haben.

Alles Erbeutete teilten wir wie immer unter den Menschen in den ärmeren Bezirken auf. Diesmal war ein hübsches Sümmchen zusammengekommen. Marianne und Laurent stattete ich ebenso einen Besuch ab und übergab ihnen dabei einen Teil meiner Beute. Sie versuchten es zwar zu verbergen, aber ich sah es in ihren Augen: Sie waren noch immer tief getroffen und am Boden zerstört, weil man ihnen ihr Kind auf so abscheuliche Art und Weise entrissen hatte. Tiefe Trauer umgab die beiden. Ich versuchte, mir so wenig wie möglich anmerken zu lassen, und ging zurück zu Madame Clarot. Ich schaffte es nicht, länger als nötig bei ihnen zu bleiben. Ich konnte einfach nicht. So leid es mir heute auch noch tut – damals hatte ich diese grausamen Bilder aus jener prägenden Nacht noch längst nicht verarbeitet. Auf meinem Herzen lag große Schwermut.

In dieser Nacht träumte ich intensiv, aber dieses Mal nicht von meiner angebeteten Elá. Nein, ein schlimmer Albtraum verfolgte mich. Ich träumte von Mutter. Von Vater. Von unserem Haus. Alles schien friedlich zu sein, als sich plötzlich der Himmel verfinsterte und es zu regnen begann. Wie aus dem Nichts kamen in schwarz gekleidete Männer auf Pferden zu unserem Anwesen. Sie zerstörten alles, verbrannten alles und schändeten die Körper meiner Eltern. Mich würdigte dabei niemand eines Blickes. Ich konnte sie nicht aufhalten, stand wie angewurzelt da, musste alles mitansehen. Die Schreie meiner Mutter – sie waren klar zu vernehmen. Kläglich. Weinerlich. Schmerzerfüllt. Ihr Körper wurde auf die schlimmste Art und Weise geschändet und malträtiert. Ein Horrorszenario, das ich mitansehen musste, ohne etwas dagegen machen zu können. Als sich die schwarzen Männer umdrehten, sah ich ihre Gesichter. Skelette. Wandelnde Skelette waren für all dies verantwortlich. In diesem Moment des Schocks erwachte ich schweißgebadet und völlig angsterfüllt aus meinem Traum.

In den darauffolgenden Tagen war ich komplett verstört – bei allem, was ich tat. Ich befand mich zwar erst wenige Monate in der Obhut von Madame Clarot, aber ihr fiel sofort auf, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte. Als sie mich um Aufklärung meiner Verwirrtheit bat, erzählte ich ihr von meinem Traum, der mich emotional völlig aufgewühlt hatte.

Sie zuckte nur kurz; setzte direkt danach wieder ihr hellstes Lächeln auf, und nahm mich in den Arm. Schockerlebnisse werden nie gänzlich verschwinden, man muss sie aufarbeiten, erklärte sie mir. Irgendwann wird dein Geist, deine Seele, dein Charakter und deine Person stark genug sein, um in diesen Traum einzugreifen. Wie lange ich dafür brauchen würde, hinge ganz von mir selbst ab, aber peu à peu würde ich den Traum verändern können, meinte sie. Ich hatte zwar Zweifel, mein Vertrauen zu ihr war jedoch mittlerweile so grenzenlos geworden, dass ich ihr das glaubte.

„Cartouche? Du wirst deinen eigenen guten Kampf führen und diesen eines Tages gewinnen. Du wirst schon sehen. Hör aber nie auf, deinen Weg zu gehen, hör nie auf, deinen Kampf zu kämpfen“, sagte Madame in diesen Zeiten mehrmals. Sie erzählte mir auch von drei griechischen Wörtern für die Liebe – Agape, Eros, Philia – und später im Leben sollte ich noch begreifen, wie sie das mit den drei Wörtern und dem guten Kampf meinte. Fürs Erste brachte sie mir nur eine Atemübung bei, bei der ich die Augen schließen, meine Hände ausbreiten, und mich konzentrieren musste. Sie zeigte mir, wie man die Agape durch seinen Körper fließen lässt und somit die Energie und Liebe aufnimmt, die in unserer Welt vorhanden ist. Nach wenigen Stunden schon beherrschte ich diese Atemübung und war begeistert davon, wie leicht und stark man sich danach fühlte. Mein Geist war von Liebe und Energie erfüllt – die Agape durchflutete meine Seele. Weiteres zu diesen Wörtern und dem guten Kampf sollte mir das Leben selbst im Laufe der Dauer übermitteln, ich musste nur mein Leben leben.

Am Abend des gleichen Tages bat sie mich in ihr Schlafgemach, in dem ein riesiger, ovaler Spiegel stand, der mit Gold und Edelsteinen verziert war. In nächster Zeit musste ich meine schauspielerische Gabe sowie Redekunst verbessern, sogar Reimen und Dichten stand auf meinem Aufgabenplan. Viele Stunden verbrachte ich in diesen Zeiten vor diesem Spiegel, musste mich selbst betrachten und ihre teils vorgesagten, gezeigten und geschriebenen Texte üben. Redekunst, Mimik und Gestik wurde hier bis zum schieren Erbrechen mit mir durchgenommen. Im Verlaufe meines Lebens wurde mir aber klar, dass mich ihre Unterweisungen massiv weiterbrachten. Ich bin ihr bis heute noch unendlich dankbar dafür, denn es war in vielen Situationen schlicht von Nöten, sich exzellent artikulieren und in verschiedene Rollen schlüpfen zu können. Madame Clarot schaffte es immer mehr, den Rohdiamanten zum Glänzen zu bringen …

Eines Tages sagte sie zu mir, dass auch die Romantik nicht zu kurz kommen sollte. Ich sollte wissen, wie ich eine Frau im Sturm erobern konnte, sollte wissen, wie man das Herz einer Frau für sich gewinnt. Wegen meiner Narben hatte ich einen gewissen Nachteil, auch wenn ich durchaus schnuckelig aussah, wie sie meinte.