Leben ist ein unregelmäßiges Verb - Rolf Lappert - E-Book

Leben ist ein unregelmäßiges Verb E-Book

Rolf Lappert

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Beschreibung

Rolf Lapperts großer Roman über Freundschaft, Verlust und den Trost der Erinnerung.

Eine Aussteiger-Kommune auf dem Land, 1980: Die Behörden entdecken vier Kinder, die versteckt vor der Welt aufgewachsen sind. Ihre Schicksale werden auf Schlagzeilen reduziert, doch Frida, Ringo, Leander und Linus sind vor allem Menschen mit eigenen Geschichten. Aus der Isolation in die Wirklichkeit geworfen, blicken sie staunend um sich. Und leben die unterschiedlichsten Leben an zahllosen Orten: In Pflegefamilien und Internaten, auf Inseln und Bergen, als Hassende und Liebende. Wie finden sich Verlorene in der Welt zurecht? In seinem ganz eigenen zärtlich-lakonischen Ton erzählt Rolf Lappert in diesem großen Roman wie man sich von seiner Kindheit entfernt, ohne sie jemals hinter sich zu lassen.

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»Wir sind niemand, wenn wir nicht zusammen sind. Zu viert sind wir eine Geschichte mit einem Anfang und einem geduldig erwarteten Ende. Einzeln sind wir nur Wörter, unbegreifliche Sätze.« Diese Sätze stehen in keiner Zeitung, dabei gibt es doch so viele Schlagzeilen über die vier Kinder, die im Jahr 1980 in einer Landkommune in Norddeutschland entdeckt werden. Frida, Ringo, Leander und Linus sind ohne Schulbildung aufgewachsen, die Behörden trennen sie und bringen sie in unterschiedlichen Städten unter. Aus der Isolation in die Wirklichkeit geworfen, blicken die vier von nun an staunend um sich. Und leben die unterschiedlichsten Leben an zahllosen Orten: In Pflegefamilien und Internaten, auf Inseln und Bergen, als Hassende und Liebende. Wie finden sich Verlorene in der Welt zurecht?Ist die Vergangenheit jemals vergangen? Was kann jemanden besiegen, der einmal glücklich war? Rolf Lapperts großer Roman ist ein Panorama der vergangenen vier Jahrzehnte voller leuchtender Figuren, Milieus und Szenerien, eine wilde Fahrt durch das Abenteuer, das Leben heißt.

ROLF LAPPERT

Leben ist ein unregelmäßiges Verb

Roman

Carl Hanser Verlag

Für Sonja Maria

eins / einberufung der ameisen

WINNIPEG LOGBUCH

Auszüge 1

Wir stehen da wie Pferde, mit schweren Köpfen, eine Herde von vier. Wir sind müde vom Lernen, verscheuchen die Fliegen. Wir müssen auf der Wiese bleiben, nahe bei den Häusern. Armin sitzt im Schatten und behält uns im Auge. Er bewacht uns. Wir sind Kinder, nicht dumm. Irgendwann legen wir uns ins ungemähte Gras. Die Augen geschlossen, fühlen wir, wie unsere Knochen wachsen. Neben den Käfern sind wir Riesen.

Den ganzen Morgen haben wir zugehört. Fruchtfolge. Mondphasen. Schädlinge. Noch immer summen unsere Gehirne, verkrampfen sich unsere Finger um den Stift, der auf dem Tisch im Schulraum liegt. Wir bebauen die Felder, aber wir sind keine Bauern. Wir verachten die Bauern. In unseren Augen sind sie dumm wie das Vieh, das sie in ihre dunklen Ställe pferchen. Sie lieben die Erde nicht, die sie umpflügen, sie beuten sie aus. Die Alten sind unsere Augen. Sie erzählen uns von den Dingen, die sie gesehen haben, gelesen. Wir sind Gefäße, die sich langsam füllen.

Am Nachmittag sind wir auf den Äckern, sammeln Steine ein und werfen sie in Drahtkörbe, schleppen sie zu zweit zum Weg, wenn sie voll sind. Wir jäten Unkraut, kontrollieren die Schnappfallen, in denen Mäuse und Maulwürfe ihr Ende finden, holen im Wald Brennholz und misten den Stall aus. Viele Tiere haben wir nicht, drei Dutzend Schafe, zwei Dutzend Ziegen, acht Kühe, ein Pferd, das nur gebraucht wird, wenn der Traktor kaputt ist, einen Hund, den zweiten, seit es uns gibt, ein paar Enten und Karnickel, Hühner, nicht zu zählen, und Katzen, von denen es immer mehr gibt, obwohl Armin die Jungen auf den Stallboden schleudert, wenn er das Versteck der Mutter findet.

Zeit für uns allein haben wir nicht, nur in der Nacht oder wenn Armin eingeschlafen ist, weil er sein Zeug geraucht hat. Die anderen Alten sind meistens woanders, auf einem der entfernten Felder, in einem Gewächshaus, in der Scheune beim Vieh oder im riesigen Schuppen, der alles schluckt, das Heu und Stroh, den Jauchewagen, die Werkzeuge und Maschinen und den Traktor.

Dass wir nachts aus dem Fenster klettern, ist verboten und trotzdem unser Recht. Wir sind weder Kühe noch brauchen wir zwölf Stunden Schlaf. Das gerollte Seil liegt unter dem Boden, wir müssen nur mit der Messerklinge das lose Brett anheben und in die Öffnung greifen. Am einfachsten gelingt unsere Flucht, wenn das Haus, die Bäume und das Gras in den Windstößen tausend Geräusche von sich geben, lauter als das Knarren des Fensters, unsere Schritte im Kies, lauter als das Klopfen unserer Herzen.

Wir machen nicht viel aus unserer nächtlichen Freiheit. Der Teich sieht aus wie am Tag, nur kleiner. Manchmal werfen wir mit Steinen nach dem Mond auf dem Wasser. Manchmal spielen wir Verstecken zwischen den Bäumen. Manchmal fangen wir eine Kröte und bringen sie vor Gericht. Wir klagen sie der Hässlichkeit und Verschwörung an, die Beweismittel sind Warzen und Schleim und ein Leben im Verborgenen. Die Kröte weiß um ihre Schuld und zieht es vor, zu schweigen. Wir sind Ankläger, Verteidiger, Geschworene, Richter und Henker. Immer fällen wir das gleiche Urteil. Der Holzstock geht leicht durch ihr Herz. Wir bestatten die Kröte, aber wir beten nicht für sie, wir können gar nicht beten, haben es nie gelernt. Manchmal gehen wir bis zum Fluss und stellen uns die andere Seite vor. Wir sitzen am Ufer und warten auf Tom und Huckleberry. Unsere Welt endet hier, das wissen wir. Aber wir ahnen auch, dass es dort drüben eine zweite gibt, eine größere.

LEANDER

Kapitel I

Ins Helle blinzeln

In den ersten Tagen nach dem Ereignis, das im Radio, in den Zeitungen und im Fernsehen die Befreiung genannt wurde, geschah so viel Neues, Unerwartetes und Furchteinflößendes, dass Leander Selbig sich weigerte, sein Zimmer zu verlassen. Er sprach kein Wort und wollte niemandem zuhören, also ließ man ihn vorerst in Ruhe. Weil er die Hausmannskost, die ihm vorgesetzt wurde, nicht anrührte, ernährte er sich bald ausschließlich von getrockneten Mangos, Papayas und Kiwis, von Datteln und Feigen, von Rosinen und Pekannüssen, von Marzipan, Nougat und Türkischem Honig, von Hefegebäck mit Vanillecreme und Mandelsplittern, von Lakritze und Süßholz und Lavendelbonbons. Sein Heißhunger auf Exotisches ließ nicht nach, wenn es nur weit weg war von gestampften Kartoffeln und Schaffleisch, wenn es ungewohnt war und aufregend für Zunge und Gaumen. Dazu trank er Säfte aus Obst, dessen Existenz man ihm bisher verschwiegen hatte, weil es den Makel des nicht Heimischen trug, Orange, Ananas, Passionsfrucht, jedes erdenkliche fremde Gewächs, das den langen Weg über die Ozeane bis ins Haus seiner Tante in Münster geschafft hatte. Er schüttete die tropischen Flüssigkeiten in solchen Mengen in sich hinein, dass sein Magen regelmäßig rebellierte und er gezwungen war, eine Diät aus Bananen und dunkler Schokolade einzulegen und Tee zu sich zu nehmen, freilich nicht Kamille oder Fenchel, sondern auf fernen Kontinenten wachsende Sorten wie Rooibos, Darjeeling, Jasmin.

Meret Weiss, die unverheiratete ältere Schwester seiner im Gefängnis auf ihren Prozess wartenden Mutter, hatte sich noch bis zum Tag der ersten Begegnung ausgemalt, wie sie den Jungen ins neue, richtige Leben begleiten würde, behutsam und Schritt für Schritt, aber jetzt kam es ihr schon wie ein Erfolg vor, wenn er nicht ständig weinte oder in seinem Zimmer auf und ab lief wie Rilkes Panther. Sie hatte mit ihm ins Kino gehen wollen, auf den Jahrmarkt, ins Museum für Naturkunde und in die Bibliothek, hatte einen Ausflug zu den Seen im Umland geplant und einen an die Küste, damit Leander zum ersten Mal das Meer sah. Nun deutete alles darauf hin, dass es noch Wochen, vielleicht Monate dauern würde, bis ihr aus dem Nichts aufgetauchter Neffe bereit wäre, auch nur das Haus zu verlassen.

An jedem Montag, Mittwoch und Freitag kam ein Psychiater vorbei, den das Jugendamt schickte und dessen Aufgabe es war, dem Jungen einerseits etwas dem seelischen Heilungsprozess Zuträgliches zu entlocken und ihm andererseits die elementarsten Begriffe menschlicher Koexistenz nahezubringen. Für die Fachleute, die sich mit Leander beschäftigt und der Unterbringung bei seiner Tante zugestimmt hatten, schien gesichert, dass nicht nur das Gemüt des Zwölfjährigen beschädigt worden war und therapiert werden musste, sondern dass auch seine soziale Entwicklung stark gelitten hatte und der von der Wirklichkeit völlig überforderte Junge dringend auf Hilfe beim Umgang mit der von ihm zweifelsohne als bedrohlich empfundenen Welt angewiesen war, oder, in den Worten Dr. Borns, eine umfassende Schulung zum Überleben brauchte.

Bei seinen Besuchen setzte sich Ewald Born, ein schlanker, groß gewachsener Mann Anfang vierzig, auf den Stuhl am Schreibtisch, während Leander mit geschlossenen Augen und über dem Bauch gefalteten Händen auf dem Bett lag. Zu Beginn hatte der Junge sich noch geweigert, den Fremden, der ihm als derMann, der dir helfen wird, zurechtzukommen, angekündigt worden war, in sein Zimmer zu lassen, hatte das Bett und den Tisch vor die Tür geschoben und sich die Finger in die Ohren gesteckt, damit er das sanfte Rufen seiner Tante, Dr. Borns beruhigende Floskeln und das schabende Geräusch nicht hörte, wenn die Möbel behutsam aus dem Weg geräumt wurden.

Es hatte eine Woche gedauert, bis Leander die Sinnlosigkeit seines Barrikadenbaus einsah und es fortan dabei beließ, sich tot zu stellen. Dennoch blieb Dr. Born, nachdem er angeklopft, seinen Namen genannt und die Tür geöffnet hatte, jeweils für einen Moment auf der Schwelle stehen, um dem Betreten des Zimmers zumindest den Anschein eines in beidseitigem Einverständnis arrangierten Treffens zu verleihen, ging dann an seinen Platz am Fenster, zog den Vorhang ein Stück zurück, damit etwas Licht in den Raum drang, und breitete langsam und sorgfältig die Gegenstände aus seiner Ledermappe auf der Tischfläche aus. Sobald alles an seinem Ort lag, drehte er den Stuhl so, dass er den Jungen im Halbdunkel sehen konnte, lockerte den Krawattenknoten, schlug sich eher symbolisch als enthusiastisch mit den Handflächen auf die Oberschenkel und sagte: »Also dann, beginnen wir.« Diesem Ausspruch ließ er jedes Mal sekundenlange Tatenlosigkeit folgen, als zweifle er plötzlich am Nutzen seines Besuchs oder als lähmten ihn die Last der Verantwortung und die nicht geringe Wahrscheinlichkeit des Versagens, die mit dem Fall einhergingen. Aber dann, weil er pflichtbewusst und ehrgeizig war und weil die Frau, die dieses stille Kind beherbergte, ihn nach der Sitzung auf einen Kaffee in die Küche bitten würde, holte er jedes Mal tief Luft, griff nach einem der Bücher oder Notizblöcke auf dem Tisch und schickte sich erneut an, etwas zu erreichen, das man mit viel gutem Willen als kleinen Durchbruch bei der Behandlung des Jungen hätte bezeichnen können.

Während Dr. Born sprach, hielt Leander die Augen geschlossen oder starrte an die Decke. Nur wenn der Mann ihn dazu aufforderte, blinzelte er hinüber und betrachtete teilnahmslos das in ein Heft geklebte Bild eines Fahrrads, eines Autos, einer Straßenbahn, einer Verkehrsampel. Den mit tiefer, ruhiger Stimme vorgetragenen Erläuterungen, Ratschlägen und Warnungen hörte er jedoch nicht zu, schloss die Augen und dachte darüber nach, wie es wohl wäre, tatsächlich tot zu sein.

In immer neuen Anläufen versuchte Dr. Born, Leander in einen Dialog zu verstricken, in dessen Verlauf der Junge sich öffnen und von den Erlebnissen berichten würde, die ihn belasteten. Er bot alles auf, was er im Studium gelernt und sich in zehn Jahren Praxis angeeignet hatte, erzählte von den Ängsten der eigenen Kindheit, von Reisen in entlegene Länder und der Schönheit der Welt, für die es sich lohne, dieses Zimmer und dieses Haus zu verlassen. Doch mit keinem seiner von Geduld und Nachsicht getragenen Monologe, keiner reizvollen Anekdote und keinem noch so leidenschaftlichen Plädoyer für Das Leben schien er bei seinem sich tot stellenden Gegenüber das Geringste zu erreichen. Leander blieb stumm, und auch nach der Handvoll Worte, die er dem Psychiater in der dritten Woche ihrer eigenartigen Zusammenkünfte hinwarf wie hartes Brot einem Schaf, zog er sich wieder hinter die undurchdringliche Mauer seines Schweigens zurück.

»Ich habe immer für den Freispruch der Kröten plädiert.«

Das war der Satz, den Dr. Born verstanden zu haben glaubte. Er schrieb ihn auf und hängte ihn über seinen Schreibtisch im Institut, aber schlau aus ihm wurde er nicht.

Irgendwann hörte Leander auf, die Artikel zu lesen. Eine Weile hatte er gehofft, er würde etwas aus ihnen erfahren, etwas über sich selbst, das ihm verborgen geblieben war. Er hatte gedacht, es gebe vielleicht eine Art Geheimnis, das er allein nicht ergründen konnte, weil ihm die Intelligenz und Bildung fehlten. Die Verfasser der Berichte, zumindest der seriösen, mussten doch, so hatte er angenommen, bestimmte Fähigkeiten besitzen, ein Wissen, das man ihnen, den vier Kindern, nicht beigebracht hatte, wie man ihnen vieles vorenthalten und verweigert hatte. Irgendwo musste doch stehen, was genau ihnen fehlte. Aber es ging den Fachleuten immer nur um die Abweichung von der Norm, um verschobene Schwerpunkte beim Lernen und nicht unterrichtete Fächer, um mangelnde medizinische Versorgung, um kaum vorhandene Sozialkontakte, um so lächerliche Dinge wie Latein, Impfungen und unvorteilhafte Haarschnitte.

Nirgendwo stand, was genau das Leben, das sie geführt hatten, falsch machen sollte, warum es die zwölf Jahre in Winnipeg zu missbilligen und zu korrigieren galt. Keiner machte sich die Mühe, in Erwägung zu ziehen, dass es den Kindern auf dem Land gut gegangen war, dass sie sich in der begrenzten Welt der Kommune wohlgefühlt hatten, dass sie auf ihre ganz eigene, ahnungslose Weise glücklich gewesen waren. Niemand schenkte der erregenden Angst während eines tobenden Sommergewitters Beachtung, dem Stolz über die Verdienste im Krieg gegen die Mäuse. Mit keinem Wort wurde das Belauschen der Grillen erwähnt, das Debattieren über die Notwendigkeit der Sterne, die Entschlüsselung der Sprache der Krähen, das Vorausahnen des Schneefalls, die Entzifferung der Wolken. Niemand kam auf die Idee, den Zustand ihrer gänzlichen Abgeschiedenheit mit etwas anderem gleichzusetzen als ideologischer Inzucht, Einsamkeit und Verwahrlosung.

Statt die Artikel immer und immer wieder nach erhellenden Hinweisen auf verschüttete oder unterentwickelte Fragmente seines Ichs zu durchforsten, beschloss er, Bücher zu lesen. Er redete nach wie vor kein Wort, weder mit seiner Tante noch dem Mann, der ihm Bilder von Dingen zeigte, die es draußen, jenseits des Fensters, angeblich gab. Um an die Lektüre zu kommen, erstellte er eine Liste der Werke, an die er sich erinnern konnte, Romane, die Konrad ihnen vorgelesen hatte, und solche, die sie bei ihren verbotenen Besuchen in den Räumen der Alten gesehen hatten. Nicht alle Titel, die er auf dem Blatt Papier notierte, das Dr. Born für ihn hingelegt hatte, falls er das Bedürfnis verspüre, sich etwas von der Seele zu schreiben, konnte oder wollte Tante Meret für ihn besorgen. Mark Twain, Charles Dickens, Robert Louis Stevenson, Jules Verne und Jack London waren akzeptabel, zumindest jene ihrer Werke, die landläufig als Klassiker der Jugendliteratur galten. Namen wie George Orwell, Ray Bradbury und Samuel Beckett machten sie ratlos, weil sie nichts von ihnen gelesen hatte, zudem ließen Lexikoneinträge wie »… stellt in seinen nihilistischen Dramen und Romanen in sehr einfacher und abstrakter Sprache das menschliche Dasein als absurd und ausweglos dar«Zweifel in ihr aufkommen, ob diese Art von Literatur der Genesung ihres Neffen zuträglich sein konnte. James Joyce fiel bei ihr durch, weil ihr erster Freund, der sie nach einem Monat sitzen gelassen hatte, ein schwärmerischer Bewunderer des Iren gewesen war. Die Russen beeindruckten sie, in den Nachschlagewerken der Bibliothek fand sie Erstaunliches über Dostojewski und Tolstoi. Trotzdem beschloss sie, Leander erst mit Wälzern wie Schuld und Sühne und Anna Karenina zu versorgen, wenn er Die Schatzinsel, Wolfsblut und ähnlich Zumutbares gelesen hatte, ohne dadurch weitere Symptome seelischer Beschädigung zu zeigen.

Um nichts falsch zu machen und weil er sie eindringlich darum gebeten hatte, ihm alles den Jungen Betreffende zu berichten, zeigte Meret Dr. Born bei einer Tasse Kaffee die Liste. Sie hatte die Haare hochgesteckt, mehr Make-up als üblich aufgetragen und viel Zeit vor dem großen Schrankspiegel verbracht, um ein passendes Kleid auszusuchen.

»Er ist zwölf Jahre alt«, sagte sie. »Er kann diese Bücher doch unmöglich begreifen.«

Dr. Born ging die Liste ein zweites Mal durch. Das wenigste darauf kannte er, als Student hatte er medizinische Fachbücher gelesen, keine Literatur. Fiktionales interessierte ihn nicht. Warum, fragte er sich auch heute noch, sollte er Zeit mit der erfundenen Geschichte eines adligen Spinners vergeuden, der auf seinem Gaul durch Spanien reitet und Windmühlen angreift? Er jedenfalls fand es wesentlich sinnvoller, die Artikel von Kollegen zu lesen, auf dem Fundament seriöser Forschungsarbeit und wissenschaftlicher Hingabe entstandene Texte, die ihn beruflich vorwärtsbrachten, anstatt ihn mit fantastischen Konstrukten aus Tagträumereien und absurden Einfällen zu behelligen.

»Wissen Sie, was im Lexikon über diesen Beckett steht?« Meret klopfte mit dem Zeigefinger auf das Blatt Papier.

Dr. Born hob den Kopf. Erst jetzt bemerkte er, dass Meret Weiss etwas mit ihrer Frisur gemacht und Lippenstift aufgetragen hatte, der, soweit er das beurteilen konnte, mit dem Dunkelrot ihres Kleides harmonierte.

Dr. Born räusperte sich. »Nein«, sagte er dann.

Meret zog die Hand zurück und schloss sie um ihre Tasse. »Dass das menschliche Dasein ausweglos sei.«

»Ist es das denn nicht?«

Für einen Moment fiel alle Verliebtheit von Meret ab und wich grenzenloser Verwirrung. Erst nach Sekunden wurde ihr bewusst, dass sie Dr. Born anstarrte. Sie senkte den Blick und sah in ihre Tasse.

»Natürlich müssen wir alles in unserer Macht Stehende tun, um dennoch einen Ausweg zu finden, einen Weg.« Dr. Born lächelte, bemüht, den Schaden in Grenzen zu halten.

Das Telefon klingelte, und Meret ging ins Wohnzimmer, um den Anruf entgegenzunehmen. Es war der Anwalt ihrer Schwester, der sie mit Neuigkeiten zum bevorstehenden Prozess versorgte, guten und schlechten. Als sie in die Küche zurückkehrte, war Dr. Born nicht mehr da. Unter Leanders Bücherliste stand in fremder und doch vertrauter Handschrift ein einziges Wort: GENEHMIGT.

Nach einem Monat weinte Leander kaum noch. Nur manchmal, wenn die Stille im Haus wie ein Gewicht auf ihm lag, drückte er das Gesicht ins Kissen und wartete, bis der Heulkrampf verebbte. Nachts fehlten ihm das Grillenzirpen und Froschquaken, die Rufe der Käuzchen, das Knarren der Äste im Wind, das Flüstern der Kinder. Er vermisste den Geruch im Schlafraum, den Duft nach verschwitzter Kleidung und feuchten Schuhen, nach Erde und Kühen und der Seife, mit der sich alle gewaschen hatten. Auf den Dreck unter den Fingernägeln konnte er gut verzichten, auf das Gewecktwerden im Morgengrauen ebenso, auf das Holzofenbrot und die gelbe Butter und die Milch mit der Haut, auf die Suche nach den letzten Kartoffeln in den sumpfigen Feldern, auf die kalten Steine und die Erdklumpen an den Stiefeln.

Wenn er nicht mehr weinte, fragte er sich, wo die anderen jetzt wohl waren, was sie taten und ob sie so an ihn dachten wie er an sie dachte. In den wenigen Stunden unruhigen Schlafs träumte er vom Teich und vom Wald, vom Stall und den Feldern, als hätte er diese Orte bedingungslos geliebt und würde sich nun nach ihnen sehnen. Träumte er von den Schlachtungen, vom Zappeln und Flattern und Treten, vom Verlöschen der Augen, wachte er auf, gänzlich verwirrt darüber, dass er das Ausbleiben dieser von schrecklicher Unabwendbarkeit geprägten Tage als etwas Fehlendes empfand.

Beim Lesen der ersten drei, vier Bücher weinte er noch, im Kopf Konrads Stimme, das Rascheln des Papiers beim Umblättern, das Knistern des Feuers, das Knacken der Gelenke, wenn ein Kind seine Haltung veränderte. Diese Geräusche wurden nach und nach leiser, verschwanden irgendwann, und dennoch fühlte es sich seltsam, gleichermaßen tröstlich und schmerzlich an, von den Geschichten ein zweites Mal überwältigt und vereinnahmt zu werden. Bei jeder Szene oder Figur, die sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte, hüpfte sein Herz oder drückte es ihm die Kehle zu, und nach jedem gelesenen Buch spürte er neben Geborgenheit auch eine klaffende Lücke des Verlusts.

Nach drei Monaten war er mit allen Titeln auf der Liste durch, auch denen, die Tante Meret anfangs für unangebracht gehalten und dann doch besorgt hatte, von Leanders Beharrlichkeit ebenso beeindruckt wie verstört. Zuerst brachte sie ihm weitere Werke von London, Twain, Dickens und Verne, danach, unter Vorbehalt, einige von Orwell und Bradbury, schließlich, mit dem schlechten Gewissen der unfreiwilligen Hehlerin, die der Russen und, ganz zum Schluss, Franzosen, wenn auch nur das Jugendfreie. Bei all dem zwischen Buchdeckel gepressten Trübsinn, den der Junge verschlang, als wolle er statt sich ans Licht zu kämpfen immer tiefer in Schwermut versinken, hielt Meret es für ihre Pflicht, den freudlosen Brocken ein paar Kinderbücher beizulegen, die sie selbst gelesen hatte und für geeignet hielt, das Gemüt eines depressiven Zwölfjährigen aufzuhellen. Weil sie wissen wollte, ob er die von ihr ausgewählten Bücher las, legte sie winzige Papierfetzen und kurze Garnstücke zwischen die Seiten, die beim Umblättern herausfallen würden.

Tatsächlich schien Leander nichts zu verschmähen, egal, ob von Gogol oder Lindgren, Proust oder Kästner. Wenn die fehlenden Papierschnipsel und Garnfäden nicht täuschten, las er sogar im Bertelsmanns Volkslexikon, oder blätterte zumindest durch die mehr als eintausendachthundert Seiten mit viertausend Abbildungen. Meret deutete diesen Lesehunger und Wissensdurst optimistisch, als Zeichen dafür, dass ihr Neffe sich über die Literatur nach draußen tastete, sich Seite um Seite in die Welt wagte. Dr. Born teilte diese Hoffnung nicht vorbehaltlos, hielt es ebenso für möglich, dass Leanders obsessives Lesen Teil seiner Verweigerung war und die Lektüre mehr und mehr zu einem eigenen Universum heranwuchs, aus dem der Junge irgendwann nicht mehr zurückkehren würde. Das ungebrochene Schweigen, die Apathie und körperliche Verfassung seines Patienten bereiteten ihm zunehmend Sorgen. Leander war mager, seine Gesichtshaut im Kontrast zu den schwarzen Haaren, die er sich einmal im Monat von Meret schneiden ließ, bleich, beinahe weiß. Auf seinem Bett wie in einem Sarg liegend, erinnerte er Dr. Born an Schneewittchen. Ein Arzt hatte das Kind gleich nach der Befreiung untersucht und keine Mangelerscheinungen festgestellt, und jetzt, fast ein halbes Jahr später, nahm der Junge immerhin genug Proteine in Form von Schokoladenjoghurt und Pfirsichquark zu sich, um nicht noch dünner oder so krank zu werden, wie er aussah. Dr. Borns Befürchtung, das Trockenobst und die Fruchtsäfte würden zwar bestenfalls Vitaminmangel verhindern, aber bestimmt nicht zu einem gesunden Gebiss beitragen, erwies sich als unbegründet. Ein befreundeter Zahnarzt fand bei Leander, den man mit heimlich verabreichten Schlaftabletten außer Gefecht gesetzt hatte, nur makellose Zähne vor.

Trotz dieser positiven medizinischen Ergebnisse blieb Dr. Born angesichts der ausbleibenden Fortschritte seines Patienten voller Bedenken. In seinen Rapporten schrieb er zwar von minimalen Erfolgen, die Mut machen würden, von Wortmeldungen des Jungen, die rätselhaft seien, jedoch Anlass zur Hoffnung gäben. Nach einer Weile wurde ihm klar, dass Leander vor allem Sätze aus Romanen zitierte, und er stellte das als kreativen Versuch der Kommunikation hin, als Botschaften, die er von da an eigenwillig und um gute Neuigkeiten bemüht für das Gremium entschlüsselte. Auch sonst schönte der Psychiater seine Berichte, indem er Leander ein wachsendes Interesse an seinen Ausführungen und Fotos attestierte oder notierte, sein Patient bereite sich durch das Lesen unterschiedlichster und äußerst anspruchsvoller Bücher auf seinen baldigen Eintritt in die Welt vor.

Aber ihm war klar, dass er die Fakten, wenn es überhaupt welche gab, die diese Bezeichnung verdienten, eigennützig zurechtbog, und sein unprofessionelles Tun beschämte ihn. Oft saß er bis spätnachts im Institut, brütete über seinen manipulierten Notizen und spielte halbherzig mit dem Gedanken, den Patienten Leander Selbig abzugeben. Das Verdrehen und Uminterpretieren von Analysen wider besseres Wissen und die Unterschlagung besorgniserregender Beobachtungen hätten ihn längst dazu bewegen müssen, bei seinen Vorgesetzten um Entbindung von dem Fall zu bitten, doch ließen ihn seine Skrupel bislang nur den Blick senken, wenn er in den Spiegel sah, zerknirscht wegen der Schuldgefühle, die ihm sein Handeln bescherte. Für ein Weitermachen, ein selbstsüchtiges Festhalten an der Routine sprach, dass es ihm mittlerweile unmöglich schien, nicht auch in Zukunft dreimal pro Woche nach dem Jungen zu sehen, ihm Fotos von Flugzeugen, Telefonzellen und Schwimmbädern zu zeigen, seine Monologe der Welterklärung zu halten und danach hinunter in die Küche zu gehen, um mit Meret Kaffee zu trinken und sie ein für alle Mal davon zu überzeugen, dass er das Leben keineswegs als ausweglos betrachtete, auch wenn er zweiundvierzig und unverheiratet war und noch immer mit seinen drei Geschwistern im riesigen Haus der verstorbenen Eltern lebte.

Seinen Patienten konnte nur ein Wunder retten oder ein erneutes Ereignis von außen, das ihn mit Wucht aus der Bahn warf und zwang, seine verhängnisvolle Abkapselung zu beenden, davon war Dr. Born überzeugt, und ebenso davon, dass man ihm den Fall Kommunenkind Nr. 2, wie Leander in den Akten auch genannt wurde, schon bald wegnehmen würde, ganz unabhängig davon, was er in seinen Beurteilungen schrieb. Die Behörden, vertreten durch eine Expertengruppe, waren der Ansicht, dass der Junge bei seiner Tante bestens aufgehoben sei und den Umzug vom Land in die Stadt, wie sie es formulierten, nach verständlichen Anfangsschwierigkeiten gut zu verkraften schien. Im Gremium herrschte der Tenor, Leander habe nun fast ein halbes Jahr Zeit gehabt, sich an sein neues Umfeld zu gewöhnen, und müsse, sobald das Schuljahr beginne, in die seinem Bildungsstand angemessene Klasse verbracht werden. Leander wurde von offizieller Seite nicht als schwerwiegender Fall angesehen, es gab drängendere Probleme, als vier Kinder zu betreuen, die sich einfach nur ihren veränderten Lebensumständen anzupassen hatten. Letztendlich ging es schlicht um Geld, Steuergeld, das sinnvoll eingesetzt werden musste.

Dr. Born spielte oft mit dem Gedanken, in seinen Berichten Leanders Zustand so zu beschreiben, wie er sich ihm in Wahrheit darstellte. Immer wieder erwog er, die panische Angst des Jungen vor allem, was sich außerhalb des Zimmers befand, ebenso deutlich aufzuzeigen wie die Tatsache, dass die strikte Weigerung, auch nur einen einzigen Blick aus dem Fenster zu werfen, jede Bemühung um eine Eingliederung immens erschwerte, wenn nicht gar unmöglich machte. Die absolute Fixierung auf eine einzelne Sache, in Leanders Fall Bücher, die er bisher nur bei autistischen Kindern beobachtet hatte, erwähnte er in seinen Notizen zwar, um vor seinen Kollegen nicht unqualifiziert zu wirken, beschränkte sich aber auf die Feststellung, sein Patient habe diese Beschäftigung aller Wahrscheinlichkeit nach nur gewählt, weil die vertrauten Geschichten ihm einen sicheren Raum boten, einen Kokon der Unangreifbarkeit in einer plötzlich veränderten, bedrohlichen Welt. Er hätte ein finsteres Bild von Leanders Entwicklung malen und damit vielleicht erreichen können, dass man ihm für weitere Wochen oder Monate die Betreuung des Jungen anvertraute, aber er entschied sich dagegen. Irgendwann würde ihm der Fall sowieso entzogen werden und Leander möglicherweise in einer Klinik landen, wo man Psychopharmaka einsetzte und die traumatisierenden Umstände den Jungen endgültig in Isolation und totale Selbstaufgabe treiben würden.

Er wartete einfach ab, was die oberen Instanzen beschlossen. Leander war längst nicht mehr der einzige Vorwand, Merets Haus zu betreten, und auch wenn ihn die geringe Distanz zwischen dem Zimmer seines Patienten und dem Schlafzimmer der Geliebten leicht irritierte, so genoss er die privaten Besuche doch sehr und schaffte es irgendwann sogar, den penetranten Geruch nach reifem Obst in allen Räumen nicht mehr als störend zu empfinden.

Im Monat vor Leanders erstem Schultag saß Dr. Born an fünf von sieben Tagen im Zimmer des Jungen, schilderte ihm in sanften und dennoch möglichst unmissverständlichen Worten die Lage und wartete dann jeweils wie gewohnt vergeblich auf eine Reaktion. Schon am zweiten Tag des Vierwochenprogramms hatte er die Vorhänge vom Fenster gerissen, damit Sonnenlicht in den Raum drang und ein Teil, wenn auch nur ein winziger, der Welt sichtbar wurde, in die der Junge bald gestoßen würde, ob er wollte oder nicht. Die plötzliche Helligkeit brachte Leander zum Toben und Brüllen, worauf Meret ins Zimmer stürzte und beim Versuch, ihren um sich schlagenden Neffen zu beruhigen, ein blaues Auge verpasst bekam, was zu noch mehr Geschrei und Tränen führte und der Anfang einer zähen, von mickrigen Erfolgen und niederschmetternden Rückschlägen geprägten Phase war, die zwei Wochen dauerte und sowohl die Beziehung Dr. Borns zu Leander als auch zu Meret auf eine harte Probe stellte. Wäre acht Tage vor Schulbeginn nicht ein Plan umgesetzt worden, den Dr. Born als letzte Möglichkeit und Meret als riskant, ja unverantwortlich bezeichnete, wäre Dr. Born mit seinem Latein am Ende gewesen, hätte das Handtuch geworfen und sich wieder einfacheren Kindern gewidmet, Kindern, die sich die Haut ritzten oder von Selbstmord sprachen, statt immer nur zu lesen und zu schweigen und in jedem Sonnenstrahl zusammenzusacken wie ein Vampir.

Die letzte riskante und unverantwortliche Möglichkeit hatte einen Namen: Ringo Eichhorn. Dr. Born kam auf die Idee, mit dem Jungen in Kontakt zu treten, als er abends im Institut saß und die Unterlagen der Kommunenkinder nach Hinweisen durchsuchte, die ihn aus der Sackgasse führen konnten, in der er sich befand. Zwar redete Leander seit Kurzem endlich, aber was er abwechselnd gebrüllt oder geflüstert von sich gab, war immer das Gleiche, nämlich die Weigerung, das Zimmer zu verlassen, eine Schule zu besuchen und das Leben eines normalen bald dreizehnjährigen Jungen zu führen. Bei der Durchsuchung der Häuser waren nur zwei Fotografien gefunden worden, die Kinder zeigten. Auf einer erkannte man Frida und Ringo, von leeren Drahtkörben umgeben am Rand eines Ackers stehend, auf der anderen Frida, Ringo und Leander auf einer Bank vor einer Scheunenwand sitzend, die Hände artig in den Schoß gelegt. Die erste Aufnahme war vor fünf Jahren gemacht worden, besagte eine Notiz auf der Rückseite, die zweite den Gesichtern nach zu urteilen vor vielleicht zwei Jahren. Dr. Born hatte die Bilder vergrößern lassen und betrachtete sie immer wieder von Neuem, suchte in den Mienen nach Anzeichen von Unglück oder Verzweiflung, fand aber lediglich die für Kinder typische Befangenheit vor einer Kamera und gleichzeitig eine Spur von Widerwillen und Ungeduld.

In Ringos Augen glaubte Dr. Born immerhin eine herausfordernde Selbstgewissheit zu erkennen, die den anderen Kindern fehlte. Zudem war Ringo eine Handbreit größer als Leander und kräftiger gebaut, ein Landbursche mit breiten Schultern und kantigem Kinn. Das war, beschloss Dr. Born in einem Anflug von Zuversicht, das Ereignis von außen, das seinen Patienten aus der Bahn werfen würde, der Freund, der Leanders Panzer knacken konnte, einfach indem er auftauchte.

Ringo lebte in einem Vorort von Gießen bei einer Pflegefamilie, die sich neben den beiden eigenen noch um zwei weitere Kinder kümmerte. Dr. Born kannte diese Art der Unterbringung von Jugendlichen gut und misstraute ihr. Seiner Meinung nach waren die Ehepaare oft mit der Aufgabe überfordert oder nur auf das Betreuungsgeld vom Staat aus, und nicht selten schien ihm beides der Fall zu sein. Nach einem kurzen Briefwechsel mit dem Gremium sowie mehreren Telefonaten mit Ringos Psychiater wurde Dr. Born erlaubt, Ringo bei der Pflegefamilie abzuholen und in Merets Haus zu bringen. Er unternahm die Fahrt in einem goldbraunen Mercedes Baujahr 62, einem Erbstück aus dem Nachlass seiner Eltern, das er sich mit seinen beiden Brüdern und der Schwester ebenso teilte wie das Haus, den Garten und die Erinnerungen an eine nahezu sorglose Nachkriegskindheit. Das Auto war wie neu, hatte die meiste Zeit in der Garage gestanden und erst jetzt, da es regelmäßig gefahren wurde, den Fabrikgeruch verloren und ein paar Kratzer abbekommen. Ringo und seine Pflegemutter warteten im Garten vor dem Haus auf ihn. Als er anhielt und ausstieg, erhoben sich beide von der Holzbank und kamen auf ihn zu. Die Frau war korpulent und groß, und vielleicht erschien ihm der Junge neben ihr nur deshalb schmal, schmaler jedenfalls, als er angenommen hatte. In der Begrüßung schwangen Argwohn und Befangenheit, und Dr. Born war froh, als die Frau keinerlei Interesse an einer Unterhaltung zeigte, ihnen eine gute Fahrt wünschte und ins Haus ging. Er wollte Ringo das Gepäck abnehmen, einen für diese Reise lächerlich großen Koffer und einen mit Schnur umwickelten Schuhkarton, aber der Junge trug beides selbst zum Auto, legte den Koffer auf den Rücksitz und behielt den Karton in den Händen. Von sich aus redete er kein Wort, aber wenn Dr. Born ihn etwas fragte, antwortete er ohne Scheu, laut und deutlich und oft in ganzen Sätzen. Ja, er wolle vorne sitzen, zum Beispiel, oder nein, ihm werde beim Fahren nicht schlecht.

In den vier Stunden, die sie für die Strecke benötigten, stellte Dr. Born Ringo so viele Fragen wie möglich. Um ihn nicht zu bedrängen oder zu überfordern, erzählte er zwischendurch von seinen Geschwistern und streute wie nebenbei Informationen über Leander ein, erwähnte Merets Haus, das exotische Obst und sogar die Bücher, allerdings ohne deren fatale Auswirkungen auf Leanders Verhalten anzusprechen. Es beruhigte ihn, dass Ringo in Leanders Ungewöhnlichkeit nichts Alarmierendes zu erkennen schien, nichts, das ihn erschreckte oder verstörte und ihn davon abbringen konnte, seinen alten Freund wiederzusehen. Alles, was Dr. Born von Leander preisgab, nahm Ringo scheinbar ungerührt zur Kenntnis. Ab und zu nickte er nachdenklich, und einmal lachte er sogar, als er hörte, wie Leander versucht hatte, unters Bett zu kriechen, nachdem Dr. Born die Vorhänge von den Fenstern gezerrt hatte.

»Das hat er schon gemacht, als er noch ganz klein war, wenn es geblitzt und gedonnert hat. Da hat er sich auch immer unter der Bettdecke verkrochen.« Ringo stieß einen leisen, ganz und gar unspöttischen Lacher aus und schüttelte den Kopf.

»War er auch sonst ängstlich?«

»Er war der größte Schisser von uns allen.« Ringo drückte seit Fahrtbeginn beide Hände auf den Schuhkarton, als müsse er etwas darin davon abhalten, den Deckel anzuheben und zu entweichen.

»Wovor hatte er Angst?«, fragte Dr. Born. »Außer Gewittern.«

»Vor so einigem. Kühen. Schweinen. Spinnen.« Ringo drehte den Kopf und sah aus dem Seitenfenster auf die flache Landschaft, die an ihnen vorüberzog. Falls die einsamen Bauernhöfe ihn an die Kommune erinnerten, zeigte er es nicht. »Wasser mochte er nicht besonders. Feuer auch nicht.« Er kratzte sich am Kinn und legte die Hand zurück auf den Deckel. »Auf Bäume klettern schon. Er konnte stundenlang auf einem Baum hocken und lesen oder gar nichts tun.«

Es fing an zu regnen, und Dr. Born betätigte ein paar falsche Schalter, bevor er den richtigen für die Scheibenwischer fand. Ringo rutschte tiefer in den Sitz und legte den Kopf ans Seitenfenster. Für ein paar Kilometer fuhren sie neben einem Güterzug her, später einem Fluss. Weil der Regen stärker und das Prasseln auf dem Dach lauter geworden war, schwieg auch Dr. Born. Erst kurz vor dem Ziel wandte er sich wieder an seinen Beifahrer.

»Freust du dich, Leander zu sehen?«

Ringo setzte sich gerade, rieb sich die Wange. »Freut er sich denn, mich zu sehen?«

Die Wahrheit war, dass Leander von nichts wusste. Dr. Born hatte lange darüber nachgedacht, ob er seinen Patienten auf die Begegnung vorbereiten sollte, und sich dagegen entschieden. Der heilsame Schock, den er sich von Ringos Auftritt erhoffte, war nur möglich, wenn Leander überrumpelt wurde, wenn der Schlag der Konfrontation ihn wie aus dem Nichts traf.

»Ja«, sagte er. »Er freut sich sehr.«

Dr. Born hatte wie immer angeklopft, gewartet, die Tür geöffnet, seinen Namen genannt, erneut gewartet und dann das Zimmer betreten. Er hatte sich einen Eindruck von Leanders Tagesform verschafft, die dem Durchschnitt entsprach, und dann ohne Umschweife den Besuch eines alten Freundes angekündigt und das Zimmer verlassen. Eine Weile bleib er noch vor der Tür stehen, um eingreifen zu können, falls Leander auf Ringo ähnlich reagierte wie auf plötzliche Helligkeit, verkniff es sich jedoch, zu lauschen, und ging schließlich hinunter in die Küche, um mit Meret abzuwarten, wie das Experiment, so nannte Meret es in Sorge um ihren Neffen, verlaufen würde. Die beiden saßen am Tisch und horchten angestrengt auf Geräusche von oben, aber es war nichts zu hören, nicht einmal das Knarren des Holzbodens. Die absolute Stille löste ein Bild zweier erstarrter Jungen vor Dr. Borns geistigem Auge aus, er konnte ihre Gesichter sehen, gleichmütig das eine, verwirrt und erstaunt das andere. Er glaubte Leanders Herz klopfen zu hören, doch es war nur das eigene. Meret schob ihre Hand über den Tisch, und er tätschelte sie abwesend. Alles würde gut, hörte er sich sagen, unsicher, ob er diese Hoffnung wirklich laut ausgesprochen hatte. Über ihnen war Stille, er lauschte ihr wie dem Lärm eines Kampfes.

Draußen nieselte es, das Licht im Zimmer war grau wie der Himmel. Auf dem Nachttisch stand eine kleine pilzförmige Lampe, aber sie brannte nicht. Die Vorhangschiene über dem Fenster war verbogen, die Vorhänge selbst fehlten, sie waren nicht mehr aufgehängt worden, nachdem Dr. Born sie heruntergerissen hatte.

Ringo lehnte an der Tür, drückte den Schuhkarton mit beiden Händen gegen den Bauch.

»Weißt du noch, wer ich bin?«

Leander nickte.

»Wie geht’s?«

Leander, der auf dem Bett saß, zuckte mit den Schultern.

»Hab gehört, du redest nicht.«

Wie um zu beweisen, dass das stimmte, schwieg Leander.

Ringo seufzte, sah sich um und setzte sich dann auf den Stuhl, den sonst Dr. Born benutzte. Den Karton stellte er auf den Tisch.

»Stimmt es, dass du nichts anderes isst als dieses Zeug?« Ringo deutete auf die Teller und Schüsseln mit Obst.

Leander betrachtete die Früchte. Es schien, als müsse er überlegen, warum sie da waren. Nach einer Weile nickte er.

Ringo lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und streckte die Beine aus. Er trug schwarze Lederschuhe, Jeans, einen dünnen roten Pullover und eine braune Cordjacke. Seine Haare waren so kurz geschnitten, dass man die Locken nicht mehr sehen konnte.

Eine Zeit lang saßen die beiden Jungen einfach nur da und starrten aneinander vorbei. Irgendwann nahm Ringo das oberste Buch von einem der Stapel und blätterte darin.

»Gelesen?«

Leander kniff die Augen zusammen, dann nickte er kurz.

Ringo legte das Buch zurück, schürzte die Lippen und nickte ebenfalls, langsam, wie im Takt einer Melodie in seinem Kopf.

»Ich zähle jetzt bis zehn, und wenn du dann den Mund nicht aufmachst, gehe ich.« Ringo begann zu zählen.

Bei acht sagte Leander: »Nein.«

»Nein was?«

»Geh nicht.«

»Warum?«

Leander sah auf seinen nackten rechten Fuß, mit dem er über den Boden scharrte. Er trug eine sandfarbene Hose und ein weißes T-Shirt, das auf der Vorderseite schmutzig war. Eine Tür des Schranks stand offen und gab den Blick frei auf gestapelte Kleidungsstücke und paarweise geordnete Schuhe.

»Neun …«

»Was ist mit Linus und Frida?« Leander hielt den Fuß still, hob den Kopf und sah Ringo zum ersten Mal, seit dieser das Zimmer betreten hatte, länger als eine Sekunde in die Augen.

»Keine Ahnung. Die Typen vom Amt geben keine Auskunft. Mir geht’s übrigens gut, danke der Nachfrage.«

Leanders Mundwinkel verzogen sich zu einem schrägen, verlegenen Grinsen. Ringo nahm sich eine Banane, schälte sie und biss ein Stück ab.

»Bleibst du jetzt für den Rest deines Lebens hier drin?«

Leander sah sich um, als müsse er über diese Frage erst nachdenken. Dann zuckte er mit den Schultern.

»Der Doktor sagt, du willst nicht rausgehen.«

Leander schwieg, zupfte Fetzchen von den Nagelhäuten.

Ringo warf die Bananenschale in eine mit Obstabfällen gefüllte Schüssel, nahm den Schuhkarton vom Tisch, öffnete den Knoten und entfernte die Schnur.

»Hab was mitgebracht.«

Leander betrachtete den Karton und wartete.

»Kann’s dir aber nur draußen zeigen.«

Unwillkürlich schlang Leander die Arme um den Oberkörper und machte einen Buckel. Er senkte den Blick und begann wieder mit dem Fuß zu scharren.

Ringo erhob sich, ging zum Schrank und holte ein Paar Schuhe daraus hervor, die er vor Leander fallen ließ. Dann nahm er eine blaue Regenjacke vom Bügel und warf sie aufs Bett.

»Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf …«

»Ich gehe nicht raus.«

Ringo setzte sich aufs Bett, hob den Deckel des Kartons ein wenig an und ließ Leander hineinsehen. Auf einer Schicht aus feuchtem Laub hockten reglos zwei Kröten. Zwischen ihnen lag ein geschälter, an einer Seite angespitzter Ast.

»Beide zum Tod verurteilt.«

»Es hat gar keine Verhandlung gegeben.«

»Doch. Ich war der Richter.«

»Das geht nicht.«

»Kannst sie ja begnadigen. Aber nur, wenn du rauskommst.«

Leander schüttelte den Kopf.

»Das Urteil wird im Garten vollstreckt.« Ringo machte eine Kopfbewegung zum Fenster, unter dem das gemähte, von Büschen und einer Backsteinmauer eingefasste Rasenstück lag.

»Das geht nicht«, sagte Leander noch einmal.

Ringo erhob sich. »Wirst es ja sehen.« Er ging zur Tür. »Sechs. Sieben. Acht. Neun.« Er legte die Hand auf die Klinke, wartete.

Leander blieb sitzen. Beide Füße scharrten über den Boden, vor und zurück. Er presste die Lippen zusammen.

»Zehn.« Ringo öffnete die Tür, verließ das Zimmer und schloss die Tür. Seine Tritte brachten die Holztreppe zum Knarren, dann war es wieder still.

Leander ballte die Fäuste, legte die Stirn auf die Knie, krümmte sich wie unter einem heftigen Wind.

Wir haben uns gegen den Regen gestemmt. Wir haben gebrüllt, die Tropfen wie tausend Hände voll Kies auf der Haut. Uns war die Erde schon immer lieber als der Himmel. Einen Löwen haben wir nie gesehen, und doch hatten wir sein Herz und das vom Hasen auch. So viele Wörter haben wir gelernt, und so viele fehlen uns jetzt. In jedem Traum sitzen wir zusammen und schreiben sie auf. Pubertät. Motivation. Vitaminpräparat. Notfallnummer. Fußgängerübergang. Lösungsvorschlag. Krankheitsbild. Wir verschlafen so viele Stunden, dass wir immer müder werden. Und immer ist es Nacht.

Dr. Born und Meret hörten Schritte auf den Treppenstufen und hielten den Atem an. Es war nur ein Junge, der herunterkam, langsam, als wolle er dem zweiten die Möglichkeit geben, ihn einzuholen. Durch das Küchenfenster sahen sie Ringo, der durch die Hintertür in den Garten ging, den Schuhkarton in beiden Händen haltend, noch immer bedächtig einen Fuß vor den anderen setzend, den Kopf gesenkt wie ein Ein-Mann-Trauerzug. Sie schauten ihm zu, wie er bei den Haselsträuchern stehen blieb, sich hinkniete und den Karton ins Gras stellte. Meret fragte, was in der Schachtel sei, wo Leander bleibe, ob Ewald nicht nach ihm sehen wolle. Dr. Born, die langsamen Bewegungen Ringos übernehmend, hob die Hand und legte sie an die kühle Scheibe, das Trommeln des stärker werdenden Regens floss durch das Glas in seine Fingerspitzen.

In dem Augenblick, in dem Ringo den Deckel zur Seite legte, wurde sein Name gerufen. Meret wollte nach oben eilen, aber Dr. Born griff nach ihrer Hand und drückte sie noch fester, als auf der Treppe Gepolter ertönte und Sekunden später Leander über den nassen Rasen rannte, barfuß und ohne Jacke und im trüben Nachmittagslicht so schmächtig, dass Meret beinahe Angst hatte, die Regentropfen könnten ihn niederstrecken. Sie flüsterte aufgeregt, den Blick keine Sekunde von den beiden Jungen lösend, während Dr. Born sie an sich zog und beide Arme um sie legte und sie stumm zusah, wie ihr Neffe sich neben den fremden Jungen kniete, in die Schachtel griff und einen Gegenstand in die Büsche schleuderte, den sie für einen großen Bleistift hielt.

Erst viel später erfuhr sie, was die beiden Jungen so behutsam aus der Schuhschachtel gehoben und zum Laubhaufen neben dem Geräteschuppen getragen hatten. Jetzt war sie nur Beobachterin einer sonderbaren Szene im strömenden Regen, verwirrte Zeugin eines Rituals, dessen Geheimnis selbst Dr. Born nicht für sie lüften konnte, wie sehr er sich auch bemühte.

RINGO

Erste Auskunft

Dass es mich noch gibt, ist ein Wunder. Manchmal frage ich mich, wie ich es bis hierher geschafft habe. Wenn ich den Aufzeichnungen aus Winnipeg trauen kann, und das muss ich, weil keine amtlichen Dokumente existieren, bin ich fünfzig Jahre alt. Ein halbes Jahrhundert. Sehe ich die Zahl irgendwo, versetzt sie mir einen leichten Stoß, es fühlt sich an wie früher, wenn ein Kalb mir seinen Kopf gegen die Brust rammte. Spreche ich sie laut aus, verschlägt es mir den Atem, den ich zum Lachen bräuchte.

Ich sitze in der Küche und warte, dass es sieben Uhr wird. Heute treffe ich mich zum ersten Mal mit der Frau, die mir drei Briefe geschrieben hat, in denen sie mich auf drei verschiedene Arten bittet, ihre Fragen zu meiner Kindheit und der Zeit danach zu beantworten. Vor allem das Danach scheint sie zu interessieren, denn über meine Zeit in der Kommune, die wir nie Kommune genannt haben, sondern Winnipeg, habe ich schon so oft gesprochen, dass es mir inzwischen schwerfällt, meine tatsächlichen Erlebnisse von den Artikeln zu unterscheiden, die über mich, die über uns geschrieben wurden.

Ich habe fünf Pappkartons auf dem Schrank in meinem Schlafzimmer, alle gefüllt mit Zeitungsausschnitten, Fotos und Briefen. Auf Tonbandkassetten sind Radiosendungen, in denen über meine Kindheit diskutiert wird, manchmal mit meiner Beteiligung, manchmal ohne. Ich wurde herumgereicht wie die bärtige Frau auf den Jahrmärkten, ich wurde ausgefragt und bestaunt, durchleuchtet und bemitleidet. Ich bin Gegenstand einer Doktorarbeit, über mich wurden Mutmaßungen angestellt und Unwahrheiten verbreitet, aus Mangel an Tatsachen wurden Lügen in die Welt gesetzt. Dreimal war ich im Fernsehen, danach kamen die Briefe, hunderte, gezählt habe ich sie nicht.

Lieber Ringo, ich erlaube mir das Du, weil ich in Dir einen Seelenverwandten erkenne, einen Schicksalsgenossen. Auch ich habe eine schreckliche Kindheit durchlitten und sehne mich nach innerem Frieden. Würde ich meine Qualen niederschreiben, hätte dieser Brief kein Ende. Wollen wir uns treffen und unsere Erinnerungen, unsere finsteren Jahre teilen und uns gegenseitig Hoffnung spenden? Ich hoffe auf Deine baldige Antwort und schließe Dich in meine Gebete ein. Alles Gute …

Die meisten Briefe waren freundlich, aus einigen sprachen große Traurigkeit und Verzweiflung. Die allerersten habe ich noch beantwortet, habe den Menschen zurückgeschrieben, dass meine Kindheit keineswegs so furchtbar gewesen sei, wie sie von den Medien dargestellt wurde, und dass es mir gut gehe, was immer das bedeuten mochte. Ich habe nie ein schlechtes Wort verloren über Winnipeg, das ich Fremden gegenüber nicht Winnipeg nannte, sondern den Hof oder das Leben auf dem Land. Je mehr ich beteuerte, weder Kindersklave noch Missbrauchsopfer gewesen zu sein, desto absurder wurden die Unterstellungen der Journalisten. Sagte ich, dass ich auf dem Hof nichts vermisst hatte, schrieben alle, das gänzliche Fehlen von Kontakten zur Außenwelt hätte es für uns unmöglich gemacht, Wünsche und Sehnsüchte zu entwickeln, einer nannte uns in einem besonders reißerischen Artikel gar empfindungslose Subjekte. Antwortete ich auf die Frage, ob ich nach der Befreiung glücklich gewesen sei, ich hätte mich nie als Gefangener und als unglücklich empfunden, schrieben alle, ich würde lügen, verdrängen, verleugnen und dass es sich dabei aufgrund der jahrelangen Isolation um eine zu erwartende Strategie handele, der man mit therapeutischen Mitteln begegnen müsse. Man wollte wissen, warum wir uns trotz unserer Herkunft und unseres geringen Alters so vollendet artikulierten, worauf ich von Konrad und den Romanen erzählte und davon, wie wir die Sätze aus den Büchern als die Sprache betrachteten, die irgendwo außerhalb unserer Erfahrungswelt gesprochen wurde, als die Sprache, die Menschen benutzten, die auf Schiffen fuhren und an Orten lebten, wo es mehr Häuser gab als Steine auf unseren Feldern, als die Sprache, in der Wörter vorkamen, die uns fremd waren und die wir auswendig lernten, obwohl wir uns nicht vorstellen konnten, sie jemals woanders zu benutzen als in unserem eigenen, abgeschotteten Universum. Wir seien geistig einseitig ernährt worden, hieß es dann, hohe Literatur und Ackerbau, Puschkin und Rüben. Man machte aus mir gleichzeitig ein Wunderkind und einen Bauerntrampel, einen abgerichteten Hofhund, der gelernt hatte, auf zwei Beinen zu gehen, Pirouetten zu vollführen und mit Messer und Gabel zu essen, ein hochsensibles Kind und abgestumpftes Opfer, eine leere Wand, auf die man alles Mögliche projizieren konnte.

Ich gehe früher los und sitze schon um sechs Uhr an einem Tisch im hinteren Teil des Lokals, in dem ich mit der Journalistin verabredet bin. Der Kellner ist so alt wie ich oder älter, klein und übergewichtig, er hat große Ohren und eine Knollennase, was ich als angenehm empfinde, auf eine Weise anheimelnd, die ich nicht erklären kann, weil er niemandem ähnlich sieht, den ich kenne. Er lässt mir lange Zeit, die Speisekarte zu lesen, und nimmt dann meine Bestellung entgegen, Kartoffelsuppe, ohne sich anmerken zu lassen, ob diese schlichte Wahl ihn befremdet. Wahrscheinlich wird die Journalistin mich fragen, ob ich hungrig sei, und dann werde ich Nein sagen und mich mit einem Tee begnügen. Ich esse gerne allein, es strengt mich an, mich mit der Nahrungsaufnahme zu beschäftigen und gleichzeitig zuzuhören, nachzudenken und zu sprechen, ohne dabei mein einziges vorzeigbares Hemd zu ruinieren. Außerdem wird alles kalt, wenn man redet, statt zu essen. Ich hasse kaltes Essen, entweder man isst es heiß oder lässt es ganz.

Ich hoffe, die Frau von der Zeitung erwartet von mir kein Gejammer. Ich habe mich nie beklagt, und ich beklage mich auch jetzt nicht. Die Suppe, die mir der Kellner bringt, wird sie bezahlen, und im Gegenzug werde ich ihre Fragen beantworten. Eintausend Euro hat sie mir angeboten, in bar auszuhändigen, bei jedem Treffen zweihundert. Natürlich wird sie sich längst eine Meinung über mich gebildet haben, basierend auf dem, was sie aus allen möglichen Quellen und Kloaken geschöpft haben. Sie wird diskret sein, professionell wie mein ergrauter Kellner, aber wenn ich in meiner Tasse rühre, wird sie mich ansehen und in meinem Gesicht nach etwas suchen, von dem sie glaubt, dass ich es vor ihr verberge.

Trifft man Ringo Eichhorn zu einem Gespräch und erwartet ein traumatisiertes Kind, einen vom Aufwachsen in der berüchtigten Landkommune im Kampstedter Bruch gezeichneten Jungen, so wird man vom Erscheinungsbild und Auftreten des Dreizehnjährigen äußerst positiv überrascht. Da nimmt ein adrett in Cordanzug, Hemd und Krawatte gekleideter junger Mensch am Tisch Platz, und zwar erst, nachdem er einem die Hand geschüttelt und gewartet hat, bis man selber sitzt. Er bleibt höflich stumm, und wenn er gefragt wird, spricht er ruhig und in ausgesucht reifen Worten, die erneut auf das Angenehmste überraschen. Sachlich, fast emotionslos erzählt er von seinen Erlebnissen, zumindest von jenen, die preiszugeben er bereit ist. Die breiten Schultern und großen Hände verraten viel über die harte Arbeit auf dem Hof und den Feldern, die rastlosen, nie lange auf dem Gegenüber ruhenden Augen einiges über das Schlimme, wohl Unaussprechliche, das dem Jüngling in den wenigen Jahren seines Lebens bereits widerfahren ist. Versuche, tiefer ins Innere des besonnen berichtenden Knaben vorzudringen, scheitern an seinem disziplinierten Schweigen. Ein Schweigen, das umso beharrlicher wird, je mehr die verstörenden Einzelheiten des Kommunenalltags, die es zweifelsfrei gegeben haben muss, von der Verfasserin dieser Zeilen angesprochen werden …

So und auf ähnlich melodramatische Weise wurde in der Klatschpresse über mich berichtet. Und ich habe es zugelassen, habe die Aufmerksamkeit genossen und das Geld genommen, ohne lange zu überlegen. Ein Journalist nannte den Medienrummel um mich Ausbeutung und meinte, meine Kindheit sei nach den Jahren in der Kommune zum zweiten Mal zerstört worden. Aber ich wusste zu jener Zeit nicht, wie eine Kindheit zu verlaufen hatte, die gemeinhin als normal bezeichnet wird. Inzwischen habe ich immerhin eine Ahnung. Dennoch lässt sich unmöglich sagen, was aus mir geworden wäre, wäre ich statt in Winnipeg in Bremen oder Heilbronn aufgewachsen. Ich weiß es nicht, niemand kann es wissen. Dass ich meine Kindheit vermarktet habe, war mir damals nicht bewusst, meine Realität war eine andere, die richtige Welt begriff ich nicht. Ich bekam für die Interviews Geld, nicht viel, und musste alles meinen Pflegeeltern abgeben, die mir jede Woche fünf Mark Taschengeld auszahlten und den Rest für mich anlegten, wie sie behaupteten. Dreimal wohnte ich für einen Tag im Hotel und fühlte mich nachts, schlaflos in den Lärm der Stadt gehüllt, wie jemand, den ich nicht kannte und von dem ich nicht wusste, ob ich so sein wollte wie er. Eine Frau, die mich in einem Fernsehstudio gefragt hatte, ob ich mir vorstellen könne, jemals ein normales Leben zu führen, küsste mich in einem nach Parfüm und Zigaretten riechenden Zimmer auf den Mund und stieß mich heftig von sich, als an die Tür geklopft wurde. Der Inhaber eines Reisebüros versprach mir eine Weltreise, sobald ich volljährig wäre, ließ Fotos machen, auf denen er mir ein überdimensionales Flugticket überreichte, und gab mir, als ich mit achtzehn bei ihm aufkreuzte, hundert Mark, damit ich verschwände. Ich wurde fotografiert und gebeten, meinen Namen in Notizbücher, auf Zettel und Unterarme zu schreiben. Menschen, die ich nie zuvor gesehen hatte, umarmten mich, gaben mir Stofftiere, hängten mir selbstgebastelte Ketten um den Hals. Eine Firma schenkte mir ein blaues Fahrrad, eine andere ein Paar Schuhe für jede Jahreszeit, ein Laden in München überreichte mir vor Publikum eine Lederjacke, weil ich bei einem Interview im Freien nur einen Pullover getragen hatte. Ein halbes Jahr lang war ich berühmt, danach nur noch ein Dreizehnjähriger mit einer außergewöhnlichen Geschichte, für die sich niemand mehr interessierte, ein Schüler mit schlechten Noten, ein Kerl, der sich manchmal mit Fäusten wehrte, ein aus Umgangssprachmangel Tolstoi zitierender Spinner, ein Befreiter aus dem für alle Schaulustigen fremden und dank der Artikel dennoch vertrauten Kampstedter Bruch, ein Geretteter, dessen Vergangenheit in tausenden Köpfen umgedacht wurde, verdreht, verformt und zermalmt.

Sie erkennt mich, obwohl wir uns noch nie begegnet sind. Bestimmt ist sie im Besitz sämtlicher Fotografien, die jemals von mir gemacht wurden, auch derjenigen, die mich vor der eindrucksvoll verkohlten Fassade des Altenheims zeigt. Dieser Mann war ich einmal, schießt es mir durch den Kopf, während sie auf mich zukommt, eine Hand zum Gruß erhoben, lächelnd. Als ich aufstehe und ihre Hand ergreife, bin ich das Kommunenkind, das monatelang berühmt ist und dann in der Versenkung verschwindet, und während ich mich eine Begrüßung murmeln höre, fühle ich mich so lächerlich wichtig wie der Kerl, der viele Jahre später ein paar Greisen den Tod erspart und dadurch erneut in die Schlagzeilen gerät, ob es ihm passt oder nicht.

»Es tut mir leid, ich bin zu spät«, sagt die Frau, deren Nachnamen ich mir aufgeschrieben hatte und an den ich mich trotzdem nicht mehr erinnern kann. »Sind Sie schon lange hier?«

»Nein«, sage ich und warte, bis sie den Mantel ausgezogen und Platz genommen hat. Ich setze mich ebenfalls, obwohl ich plötzlich lieber gehen würde. Wir bestellen beim Kellner Tee, dann sehe ich zu, wie die Frau einen Schreibblock, einen Kugelschreiber, ein Handy und ein Aufnahmegerät auf den Tisch legt. Draußen in der Kälte würde ich rennen und mich verfluchen. Meine Füße unter dem Tisch scharren wie die Pfoten eines träumenden Hundes, wie Leanders Füße, als ich zu zählen begonnen hatte. Für Sekunden sehe ich sein bleiches Gesicht vor mir und bilde mir ein, die reifen Früchte in seinem Zimmer zu riechen.

»Ist das in Ordnung?«, fragt die Frau und drückt, als ich nicke, einen Knopf am Aufnahmegerät. »Ich kann es natürlich jederzeit ausschalten.« Sie lächelt, und ich frage mich, was für Geständnisse sie von mir erwartet.

»Wie sollen wir vorgehen? Wollen Sie einfach von sich erzählen, wer Sie sind, wie es Ihnen geht?«

Der Kellner bringt den Tee, und sie schiebt den Block zur Seite, um Platz zu schaffen für die Kännchen und Tassen und den Zuckerstreuer, danach lässt sie das Smartphone in die Handtasche fallen, die an ihrer Stuhllehne hängt.

Ich warte, bis der Kellner gegangen ist, dann sage ich, es sei mir lieber, wenn sie mir Fragen stellen würde. Sie nickt und überfliegt ihr Gekritzel. Dabei spielt sie mit dem Kugelschreiber, schlägt einen Takt in die Luft. Es sind Gäste gekommen, aber die sind weit weg, zu einem einzigen Geräusch reduziert, einem an- und abschwellenden Summen und dem hellen Klang von Besteck auf Geschirr.

»Wie darf ich Sie nennen? Ist Ringo in Ordnung?«

»Ja, natürlich.«

»Ich bin Elif.« Sie streift sich eine Strähne schwarzen Haars hinter das Ohr und lächelt. »Frau Sayar klingt irgendwie … na ja.« Sie zuckt mit den Schultern und senkt den Blick, liest in ihren Notizen.

»Elif«, wiederhole ich und frage mich, ob sie das Zittern meiner Hand bemerkt hat, als ich mit dem Löffel Zucker in meinen Tee geschaufelt habe.

»Wissen Sie, wie diese Namensfindung zustande gekommen ist?«

»Sie nicht? Stand doch in allen Zeitungen.«

Elifs Stirn legt sich in Falten, während sie etwas notiert. Sie ist etwa Mitte dreißig, vielleicht Anfang vierzig. Unter ihrem rechten Auge verläuft eine Narbe, eine helle dünne Linie, leicht gekrümmt und vier, fünf Millimeter lang.

Elif blättert durch die Seiten. »Ich kenne nur die Version, dass Ihre Mutter die Beatles mochte, besonders den Schlagzeuger.«

»Das ist schon alles«, sage ich. Ich könnte ihr die Geschichte erzählen, die mir meine Mutter erzählt hat, vom Englischen Garten in München im Sommer 67 und meinem Vater, der im Gefängnis ist, Untersuchungshaft, Widerstand gegen die Staatsgewalt, von A Day in the Life aus einem Kassettenrekorder, vom dicken Bauch meiner Mutter, den irgendein Kerl berührt, ein Typ mit schiefem Gesicht und Schnurrbart, der diese junge Frau unter einem Baum sitzen sieht und stehen bleibt, weil sie weint, und der ihre Kugel berührt, in der ich schwimme, und der aus lauter Hilflosigkeit It’s gonna be alright sagt und dann verschwindet, unerkannt, ein kleiner Kerl mit Sonnenbrille und buntem Hut.

»Schade.« Elif trinkt einen Schluck Tee.

Ich sage nichts. Ich könnte ihr erzählen, dass ich zuerst Burkhard hieß. Dass Burkhard ein großer, bärtiger Mann war, der in Winnipeg von dem Baum erschlagen wurde, den er fällte. Dass meine Mutter mich nach ihm benannte, um sein Andenken zu bewahren. Dass sie ein Bild von Ringo Starr sah und in dem Gesicht den Kerl vom Englischen Garten wiederzuerkennen glaubte und dass sie das für ein Zeichen oder was auch immer hielt und mich ab da Ringo nannte, als könnte das damals zwei Jahre in der Vergangenheit liegende, zwei Sekunden dauernde Handauflegen eine Art Magie bewirkt haben, eine Art Zauber, der mich und meine Mutter und unser beider Dasein zu etwas Besonderem machte.

Dass es sowieso keine Rolle spielte, wie uns die Alten in Winnipeg nannten, könnte ich ihr erzählen, weil wir weder getauft noch irgendwo registriert wurden, weil es keine Behörde gab, die Kenntnis von unserer Geburt hatte, keinen Fetzen Papier, auf dem wir mit beglaubigten Namen existierten. Aber das weiß sie sowieso längst, es stand ja in allen Artikeln.

»Was haben Sie in den letzten sechzehn Jahren gemacht?«

»Sie meinen, seit dem Feuer?«

»Ja. Sie sind aus Hamburg weggegangen. Warum?«

»Es wurde Zeit.«

Elif sieht mich an, und ich weiß, dass ich mehr sagen muss als das. An den vorderen Tischen wird gelacht, jemand applaudiert, und ich schließe für einen Moment die Augen.

Der Makel an meiner Heldentat war, dass es sich bei den acht Menschen, die ich aus dem brennenden Gebäude gerettet hatte, um alte Männer handelte. Wären sie jünger gewesen, hätten sie mir bis an ihr Lebensende danken, mich ab und zu besuchen und anrufen und mir Fotos schicken können von Kindern, die es ohne mich nicht gegeben hätte. An jedem Jahrestag hätten sie sich zum zweiten Mal geboren gefühlt und mir eine Karte geschrieben, die Schrift zittrig vor Ergriffenheit. Einer von ihnen hätte vielleicht eine schöne Schwester gehabt, die sich in mich verliebte, weil ich so selbstlos war und weil sie glaubte, ich würde mich vor dem Tod nicht fürchten. Aber es waren arme, einsame Kerle gewesen, die ich durch die Flammen ins Freie getragen hatte, schlaflose, senile Greise, Trinker, die im Bett rauchten. Einen Scheintoten nach dem anderen hatte ich auf den Rasen vor dem Heim gelegt, lauter Vergessene, Abgeschobene, achtzig-, neunzigjährige Witwer und Waisenknaben.

Kinder wären am besten gewesen, denke ich manchmal, das hätte mich zum ewigen Helden gemacht, so gut wie unsterblich. Sogar Katzen wären besser gewesen als diese verwahrlosten Alten, die im Gras gelegen hatten wie schrumpelige Mumien, einige in ihre Bettlaken gewickelt, hustend und röchelnd, dem Tod schon lange vor dem Brand näher als dem Leben. Aber dann fühle ich mich schlecht, sehe mir das Gruppenfoto an, auf dem ich mit den Geretteten posiere, und lese die Zeitungsmeldungen, die meinen Mut preisen und meine Selbstlosigkeit. »Acht auf einen Streich« hatte ein Hamburger Blatt getitelt. Ein Foto des ganzseitigen Artikels zeigt das größtenteils ausgebrannte Gebäude, ein zweites mich, Ringo Eichhorn, Kleidung und Gesicht rußgeschwärzt, die Augen weit geöffnet, als starrte ich nicht in das Objektiv einer Kamera, sondern noch immer in eines der lodernden, rauchverhangenen Zimmer, in die Hölle selbst.

»Es wurde Zeit, sagen Sie.«

Ich öffne die Augen, versuche zu lächeln. »Ja.«

Ich müsste ihr sagen, wie leid ich es war, mich vor Schulklassen zu stellen und über meine heroische Tat zu sprechen, wie satt ich es hatte, mir zuzuhören, wenn ich den Kindern weismachte, keine Sekunde gezögert zu haben, als es darum ging, in die Flammen zu gehen und das Leben dieser Männer zu retten. Ich müsste damit herausrücken, wie sehr ich mich dafür verachtete, in Vereinsräumen, Bibliotheken, Feuerwachen und Turnhallen zu stehen und von dem Moment, in dem du nicht nachdenkst zu schwafeln und dabei zu verschweigen, dass es nicht Adrenalin und Löwenblut war, das in meinen Adern floss, sondern der billigste Rotwein aus dem Tankstellenshop.

»Zeit wofür?«

»Zum Weggehen.«

»Warum wollten Sie weg?«

»In Hamburg habe ich die letzten Tage meines Ruhms erlebt. Ich trat bei der Eröffnung eines Baumarkts auf, der Filialchef drückte mir einen Feuerlöscher in die Hand und ließ mich sagen, auch Helden brauchen Hilfe, und dann wurde ich fotografiert und habe ein paar Autogramme gegeben und das rechte Hosenbein hochgekrempelt und meine Brandwunde hergezeigt. Davor gab es kaum noch Buchungen, mein Feuerchen war bereits am Verlöschen, acht auf einen Streich, damit konnte nach drei Monaten niemand mehr etwas anfangen.«

»Wohin sind Sie gegangen?«

»Nach Wertheim.«

»Warum gerade Wertheim?«

Ich rühre in meinem Tee. Ich kann die Theke sehen, vorne beim Eingang, die Flaschen, ihr Funkeln.