Nach Hause schwimmen - Rolf Lappert - E-Book

Nach Hause schwimmen E-Book

Rolf Lappert

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Beschreibung

Wilbur, gerade mal 1,50 Meter groß, ist wirklich kein Glückskind: Seine irische Mutter stirbt bei der Geburt, sein schwedischer Vater macht sich aus dem Staub, und sein erstes Zuhause ist der Brutkasten. Erst als seine Großeltern ihn nach Irland holen, erfährt er, was Heimat ist. Doch das Glück währt nicht lang: Sein bester Freund kommt in die Erziehungsanstalt, und seine Großmutter Orla stirbt bei einem Unfall. Auch wenn er gern so stark wäre wie Bruce Willis: Er ist und bleibt ein Verlierer. Erst die charmante Aimee bringt ihm etwas anderes bei: Wilbur muss endlich lernen, zu leben - ob er will oder nicht. Rolf Lappert hat einen großen Roman über das Erwachsenwerden eines kleinen, an der Welt verzweifelnden Jungen geschrieben, der durch seine bezwingende Komik mitreißt.

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Hanser eBook

Rolf Lappert

Nach Hause schwimmen

Roman

Carl Hanser Verlag

eBook ISBN 978-3-446-23353-9

Alle Rechte vorbehalten

© Carl Hanser Verlag München 2008

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt Electronic Publishing GmbH, Hamburg

www.hanser.de

www.rolf-lappert.de

Für Petra, wie versprochen.

Und für Anne-Christine Kaemmerer.

Kein größerer Schmerz ist denkbar,

als sich im Unglück zu erinnern an die Zeit des Glücks.

Dante, Die Hölle

1

Heute ist der Tag, an dem ich sterbe. Offenbar versuchen eine Menge Leute, das zu verhindern, doch ich bin so gut wie tot. Ich sehe das Licht, über das ich schon oft gelesen habe. Und mir ist warm. Ich will die Arme ausstrecken, weiß aber nicht, ob ich es wirklich tue. Rinnsale fließen aus meinem Haar. Ich triefe, aus meinen Schuhen tropft es. Meine Augen brennen. Ich presse die Lippen zusammen, zumindest versuche ich es.

Schon als Kind habe ich Wasser gehasst. Stand ewig auf dem Einmeterbrett, erstarrt, die Augen geschlossen. Der Lehrer brüllte mich an, bis ich mich fallen ließ. Ich schwamm wie ein Hund, eher schlechter. Jetzt bewege ich mich. Oder alles um mich herum ist in Bewegung. Ich würde gerne meinen Körper verlassen. Ich mag meinen Körper nicht. In den Artikeln stand, man schwebe über sich. Man könne sich daliegen sehen, die eigene leblose Hülle. Und man sei nicht traurig darüber, gehen zu müssen. Ich bin nicht traurig. Ich gehe, wenn man mich lässt. Ich bin bereit.

Einmal ließ ich mich auf den Beckengrund sinken. Da war nur Stille. Kein Lachen, keine Anfeuerungsrufe, kein Brüllen. Der Lehrer holte mich raus. Er pumpte Luft in meine Lungen, bis ich mich übergab. Elf Jahre alt war ich da, mager und bleich wie keiner in meiner Klasse. Ins Wasser musste ich danach nicht mehr. Richtig schwimmen lernte ich nie. Badewannen habe ich seither gemieden, und sogar beim Duschen befürchtete ich zu ertrinken. In einem Etui trug ich einen Trinkhalm aus Kunststoff mit mir herum. Wenn Flüssigkeit in meinen Körper musste, wollte ich die Kontrolle darüber haben. Freiwillig überquerte ich keine Brücke. Heftiger Regen machte mir Angst.

Oder denke ich mir das alles nur aus? Vielleicht läuft gerade dieser berühmte Film in meinem Kopf ab. Bilder, die in Sekunden ein Leben nacherzählen, egal, wie belanglos es war. Gut möglich, dass mein Hirn diese Autobiografie erfindet, verfälscht. Aufpeppt unter Zugabe von ein paar Macken. Immerhin liege ich im Sterben.

Man berührt mich, hält mich zurück. Dabei will ich dorthin, wo das Licht ist. Es ist nicht mehr so hell wie zuvor. Mir wird plötzlich kalt, ich zittere. Ich will nicht zurück in die Welt. Ich bin nicht traurig, weil ich gehen muss. Ich will am Grund des Beckens liegen und nichts mehr hören. Das Wasser umgibt mich. Es beschützt mich. Wie damals.

The First Deadly Sin 1980

Als er geboren wurde, starb seine Mutter. Es hatte sie ihre ganze Kraft gekostet, ihn sieben Monate und elf Tage in ihrem Bauch zu tragen. Ihn aus sich herauszupressen brachte sie um. Sie schloss für immer die Augen, als er seine zum ersten Mal öffnete. Wie zur Strafe dafür, dass er seine Mutter getötet hatte, schlug ihn der Arzt auf den Hintern. Er schrie und machte den ersten Atemzug, als seine Mutter den letzten tat. Während sie in die Leichenhalle gebracht wurde, legte man ihn in den Brutkasten. Er war zu klein, zu leicht. Er hatte keine Kraft, aber er hörte nicht auf zu schreien. Die Ärzte rätselten darüber, wie seine Lungen es schafften, sich mit so viel Luft zu füllen. Die Schwestern versuchten alles, um ihn zu beruhigen, zu trösten, aber nichts half.

Er war allein. In den fünf anderen Brutkästen lagen keine Säuglinge. Sämtliche Geburten der letzten drei Wochen waren normal verlaufen, bis auf seine. Er spürte, dass etwas fehlte, dass er nicht in diesem Glasbehälter sein sollte. Deshalb schrie er. Und weil ihm die Welt zu hell war, zu weiß. Das Licht drang durch seine geschlossenen Lider, die dünn und faltig waren. Manchmal schien etwas in ihm nachzugeben, und er wurde ruhig. Dann verschwand das Licht. Seine Fäustchen öffneten sich, und im unruhigen Schlaf zitterten seine Finger.

Schwester Lorraine Sadler stickte die Namen der Kinder, die das Licht der Welt im Saint Francis Hospital in Philadelphia, Pennsylvania, erblickten, auf Kissenbezüge aus weißem Baumwollstoff. Sie benutzte dabei Rosa für die Mädchen und Hellblau für die Jungen, weil es Tradition war. Die Eltern durften die Bezüge mit nach Hause nehmen, als Erinnerung. Auch das war Tradition.

Obwohl Schwester Lorraine neununddreißig und noch ledig war, sah sie ihrem vierzigsten Geburtstag mit Gleichmut entgegen. Sie lebte mit einem einfältigen Labrador namens Bob zusammen, hatte alle paar Jahre eine kurze Affäre mit einem Hilfspfleger und nicht vor, noch einmal zu heiraten. Als sie neunzehn war, ließ sie sich von einem doppelt so alten Rodeoreiter, der ohne sie nicht leben wollte, vor den Altar schleppen. Als sie ihn verließ, weil es noch andere Frauen gab, ohne die er nicht leben wollte, war sie zwanzig. Er wurde kurz darauf von einem Bullen zertrampelt, und sie machte eine Ausbildung zur Krankenschwester.

Kam ein Findelkind ins Saint Francis, gehörte es zu Schwester Lorraines Aufgabe, ihm einen Namen zu geben. Sie benutzte dabei eine Liste mit alphabetisch angeordneten Vornamen, die sie der Reihe nach abhakte. Mittlerweile war sie beim Buchstaben W angelangt, und dem winzigen Jungen im Brutkasten, der seit zwölf Tagen entweder schrie oder vor Erschöpfung schlief, fiel der Name Wilbur zu. Sie hatte seine Mutter gesehen, einmal nur und ganz kurz, als diese halb bewusstlos in den Entbindungssaal geschoben worden war. Nach ihrem Tod hatte Schwester Lorraine ihre Kolleginnen gefragt, aber keine konnte sich erinnern, ob die Frau erwähnt hatte, wie sie ihr Kind nennen wollte. Auch der junge Arzt, dem zum ersten Mal eine Frau bei der Geburt weggestorben war und der noch Tage danach mit leerem Blick durch die Flure ging, konnte ihr nicht weiterhelfen. Den Vater des Kindes hatte Schwester Lorraine nie gesehen. Die Frau am Empfang wusste nur, dass er schmal und schüchtern war und vor lauter Sorge um seine Frau geweint hatte. Er habe sich in den Besucherraum gesetzt und dort eine endlos lange Zeit der Ungewissheit verbracht, die um fünf Uhr zwanzig morgens zu Ende war, als man ihm die Nachricht vom Tod seiner Frau überbrachte. Er sei eine Weile stumm dagesessen, als habe er die Tragweite des Gehörten nicht begriffen, dann sei er aufgestanden und gegangen. Der Arzt habe ihm nachgerufen, das Kind, ein Junge, sei am Leben, aber der Mann habe nur kurz gezögert und das Krankenhaus dann rasch verlassen.

Als ihre Schicht zu Ende war, legte Schwester Lorraine den Bezug, auf dem WILB zu lesen war, in einen Schrank und fuhr nach Hause. Statt wie üblich in den Park ging sie mit Bob nur ein paar Schritte die Straße hinunter. Sie fütterte ihn, trank eine Tasse Kaffee im Stehen und nahm dann ein Bad. Danach zog sie ihr bestes Kleid an, ein ärmelloses schwarzes, das sie nach einem Katalogbild selber geschneidert hatte, ließ sich ein Taxi kommen und zu einem Theater in der Innenstadt fahren.

March And April gefiel Lorraine so gut, dass der Kummer, den der tagelang weinende Wilbur ihr bereitete, für eine Weile verschwand. In dem Stück ging es um eine junge amerikanische Lehrerin namens April Baxter, die im Paris der Jahrhundertwende den exzentrischen englischen Maler Frederic March kennenlernt. Die beiden können sich zu Beginn nicht ausstehen, doch nach neunzig Minuten Irrungen und Wirrungen sind sie ein Paar. Was da auf der Bühne geboten wurde, war weder Broadway noch Shakespeare, aber dank der Extraportion Romantik und Leidenschaft genau das, was Lorraine brauchte.

Nach der Vorstellung blieb sie eine Weile im Foyer und betrachtete die ausgehängten Plakate und Fotos. Ein Mann stellte sich hinter sie, und sein Gesicht wurde vom Glas des Schaukastens reflektiert. Lorraine erkannte den Darsteller des Frederic March und drehte sich so erschrocken um, dass der Mann laut lachen musste. Mit jedem der drei Akte hatte Loraine sich mehr in den Schauspieler verliebt, das warme Gefühl nach dem letzten Vorhang aber als alberne Schwärmerei belächelt, wie sie es auch nach dem Abspann im Kino tat, wenn das Licht sie in die Wirklichkeit zurückholte. Montgomery Field, so hieß der neben der Bühne kleiner und irgendwie verloren wirkende Mann, bot Lorraine eine Zigarette an, und obwohl sie nicht rauchte, ließ sie sich von ihm Feuer geben.

Drei Tage später, als die Theatertruppe weiterzog, ging Lorraine mit. Den Hund, der immer Mittelpunkt ihres privaten Lebens gewesen war, gab sie ihrem Bruder, ihren Hausrat schenkte sie einem wohltätigen Verein. Im Krankenhaus sagte sie allen Adieu und machte einen letzten Besuch auf der Säuglingsstation.

Wilburs von den Glaswänden gedämpftes Schreien hörte sie schon im Flur und war zuerst erstaunt und dann besorgt, als es verstummte, sobald sie die Tür öffnete. Der schrumpelige Winzling mit der durchsichtigen Haut lag in seinem Brutkasten wie ein seltsames Tierchen, das man zu Forschungszwecken an Schläuche und Kabel angeschlossen hatte. Seine Augen waren leicht geöffnet, und Falten standen auf seiner Stirn, als hätte er Kopfschmerzen oder würde nachdenken. Er bewegte sich nicht, nur sein runder, von einem Geflecht aus blauen Arterien durchwachsener Bauch hob und senkte sich im Rhythmus seiner Atemzüge. Lorraine trat an den Kasten heran, löste die Verriegelung an der Klappe und schob ihre rechte Hand durch die Öffnung. Wilburs Kopf war warm und trocken, Flaum aus farblosem Haar stand in alle Richtungen ab. Lorraine strich vorsichtig über den durch die Geburt leicht deformierten Schädel, ständig damit rechnend, dass Wilbur wieder zu schreien anfing. Aber er schrie nicht. Er lag da, den Blick abgewandt, und schien den leisen Worten zu lauschen, die Lorraine an ihn richtete, während sie mit den Fingern sanft über den Wulst fuhr, an dem die beiden Schädelhälften zusammenwuchsen.

Als Wilbur nach Lorraines kleinem Finger griff und ihn mit erstaunlicher Kraft festhielt, traten ihr Tränen in die Augen. Mehrere Minuten blieb sie so stehen, weinte leise vor sich hin und fuhr mit dem Daumen über seine winzigen Knöchel. Sie musste die Fingerchen, die sie so energisch umklammerten, mit der freien Hand lösen und eilte hinaus, ohne sich noch einmal nach dem Kind umzudrehen.

Weil nach Lorraines Weggang keine der Schwestern den Brauch mit den bestickten Kissen weiterführen wollte, blieb Wilbur für unabsehbare Zeit der letzte Säugling, dem diese Ehre zuteil geworden war. Dass auf seinem Bezug nur WILB stand, schien niemanden zu stören. Jeder im Saint Francis nannte ihn so. Wilb. Sogar der Name war zu kurz geraten.

Eine der Schwestern, Edna Porter, machte es sich zum Ziel, dass Wilbur wuchs. Sie badete ihn, puderte seine gerötete Haut, rieb seinen wunden, verschrumpelten Hintern mit Salbe ein und glättete seine störrischen Haare, indem sie etwas Spucke benutzte. Mehrmals täglich gab sie ihm die Flasche, und während Wilburs Kopf an ihrer schweren, unter dem weißen Kittel sich abzeichnenden Brust lag, summte sie Breakfast In America von Supertramp und schaukelte langsam vor und zurück.

Fütterte ihn Edna, starrte Wilbur an die Decke. Nur manchmal, wenn Edna selbstvergessen trällernd ins Leere blickte, sah er sie für Sekunden mit Augen an, in denen so etwas wie Neugier stand. Die klassische Schönheit von Lorraines Gesicht hatte er längst vergessen, jetzt überwältigten ihn Ednas üppige Sinnlichkeit, ihr wogender Körper, ihre großen fleischigen Hände. Sie roch süßlich, und ihre Stimme klang tiefer als die der anderen Schwestern. An dem Tag, an dem Lorraine gegangen war, hatte er aufgehört zu schreien, als habe er begriffen, dass sich dadurch nichts ändern könne. Und seit jenem Tag waren Geräusche, die er zuvor übertönt hatte, zu einem Teil seines Lebens geworden. Die Stimmen der Ärzte und Schwestern, die Laute, die aus den blinkenden Maschinen kamen, Schritte von Gummisohlen auf Linoleum, das entfernte Quietschen der Räder des Gerätewagens, den die Putzfrau durch den Flur schob, dumpf durch die Wände dringendes Telefonklingeln. Alles war neu, verwirrend und beängstigend.

Schön und beruhigend war nur Ednas Stimme. Sang sie, fühlte sich Wilburs Bauch warm an, beinahe heiß. Und wenn sie ihn berührte, nicht zaghaft wie die anderen, die Angst hatten, er könnte zerbrechen, sondern unzimperlich zärtlich, war er so glücklich, wie sein mandarinengroßes Gehirn Botenstoffe losschicken konnte.

Edna bewarb sich um die Stelle als Sprechstundenhilfe bei einem jungen Arzt, der seine erste Praxis eröffnete, wurde genommen und verließ das Saint Francis. In den ersten Tagen, an denen Edna nicht bei Wilbur war, lag der Junge still und fast reglos da und sah an die Decke aus weißen Kunststoffplatten. Er vermisste Edna. Es war nicht die gleiche Sehnsucht, die ihm nach der Geburt die ersten Qualen seines Lebens bereitete. Er merkte ganz einfach, dass etwas von ihm weggenommen worden war, das nichts und niemand zu ersetzen vermochte. Neue Schwestern kümmerten sich um ihn, einige davon dünn und beinahe brustlos, andere weich und füllig. Alle wussten von der engen Bindung, die zwischen Schwester Edna und Wilbur bestanden hatte, und alle versuchten, ihren Platz einzunehmen. Aber etwas, das sich in den kommenden Jahren zu Wilburs Unterbewusstsein entwickeln würde, weigerte sich, seine Liebe erneut an eine Frau zu verschwenden, an ein neues warmes Wesen, dem er sich hingab und auslieferte, nur um irgendwann verlassen zu werden.

Das erste Pferd seines Lebens sah Wilbur im Park des Kinderheims Chestnut Hill in Reading, Pennsylvania, etwa achtzig Kilometer nördlich von Philadelphia. Die alte, aus mehreren Backsteingebäuden bestehende Anlage hatte bis in die fünfziger Jahre als Kaserne gedient, und sie stand weder auf einem Hügel, noch hatte sie auf ihrem bescheidenen Grund auch nur einen einzigen Kastanienbaum vorzuweisen. Den idyllischen Namen hatte sich ein Komitee ausgedacht, das dem traurigen Zweck des Anwesens, Waisen zu beherbergen, etwas Positives gegenüberstellen wollte. Immerhin lag das Heim außerhalb der Stadt, und von den obersten Zimmern im Ostflügel konnte man das Footballfeld einer Highschool sehen, was zumindest den Jungs im Heim lieber war als langweilige Kastanienbäume.

Lawrence Krugshank, der Leiter des Traktes, wo die Jungen im Alter zwischen wenigen Wochen und zehn Jahren untergebracht waren, wickelte Wilbur am Nachmittag in eine Wolldecke und trug ihn in den Park, der an die Weide eines Bauernhofs grenzte. Leute aus der Stadt hatten ihre Reitpferde auf dem Hof einquartiert, und ab und zu kam eines der Tiere an den Zaun, um sich von den Kindern bestaunen zu lassen.

»Sieh mal, Wilbur, ein Pferd«, sagte Lawrence und nahm Wilburs Hand, damit sie die zarten weißen Nüstern berühren konnte. Aber Wilbur zog die Hand zurück und fing an zu weinen. Lawrence drückte ihn an sich, ging zurück ins Gebäude und schaukelte den Jungen in den Armen, beruhigend auf ihn einredend. Kinder grüßten ihn auf den Fluren, und er lächelte und zwinkerte ihnen zu. Zwei Jungen, die ihn daran erinnerten, dass er mit ihnen im Hof Baseball spielen wollte, vertröstete er auf später. Er bemühte sich, allen seinen Schützlingen gleich viel Aufmerksamkeit und Zuneigung entgegenzubringen, aber es war ein offenes Geheimnis, dass er an Wilbur einen Narren gefressen hatte.

Während Wilburs ernste Züge die meisten Betreuer verstörten, sah Lawrence darin etwas, das er scherzhaft infantile Weisheit nannte. Er war sicher, dass dieses Kind einen Grund dafür hatte, eine solche Miene aufzusetzen. Er nahm sich vor, Zeuge zu sein, wenn Wilburs Gesicht zum ersten Mal eine Gemütsregung zeigte, die Zufriedenheit, vielleicht sogar Glück ausdrückte. Und er setzte alles daran, diesem Glück auf die Sprünge zu helfen.

Vierzig Tage war es jetzt her, dass die Sozialarbeiterin aus Philadelphia den kleinen Jungen in die Obhut des Heims gegeben hatte, wo er so lange bleiben sollte, bis die vorgeschriebene Frist abgelaufen war, während der Verwandte des Kindes das Sorgerecht beantragen konnten. Wilburs Vater hatte sich nicht mehr im Saint Francis gemeldet, und eine Suchaktion, bei der die Polizei, lokale Zeitungen und Fernsehstationen beteiligt gewesen waren, verlief ergebnislos. Der Mann, dessen Name in den Akten mit Lennard Arne Sandberg angegeben war, schien vom Erdboden verschwunden zu sein. In einer Zeitungsmeldung vom elften April 1980 wurde ein Beamter der Polizei von Philadelphia mit der Vermutung zitiert, Lennard Sandberg habe sich aus Gram über den Tod seiner Frau das Leben genommen.

Bei seiner Ankunft in Chestnut Hill war Wilbur gesund gewesen, aber noch immer zu klein und zu dünn. Er lag in einer Trage, für die man im Krankenhaus gesammelt hatte, und sein Kopf verdeckte die auf das Kissen gestickten Buchstaben W, I, L und B. Seine Augen waren groß und dunkelbraun, und Warren Clarence Rush, der Direktor des Heims, war versucht, Resignation darin zu erkennen.

Wilbur, inzwischen fast drei Monate alt, legte dank eines neuen Speiseplans stetig an Gewicht zu. Hatten die Schwestern im Saint Francis ihn noch ausschließlich mit der Flasche gefüttert, so wurde er hier auch mit Getreide- und Obstbrei, Vitamintropfen und Lebertran aufgepäppelt. Die Flasche, an der Wilbur scheinbar gelangweilt nuckelte, während er die Decke musterte, gab es nur noch zweimal pro Tag. Lawrence besorgte vom benachbarten Bauern Stutenmilch, die besonders nahrhaft war und die er mit eigenem Geld bezahlte. Er ließ nie locker, bevor Wilbur alles gegessen und getrunken hatte, wog den Jungen und ließ seine Frau das Gewicht in eine Liste eintragen, stolz, dass täglich ein paar Gramm dazukamen.

Alice Krugshank war mit einem Meter vierundachtzig drei Zentimeter größer als ihr Mann und überragte sämtliche weiblichen Kräfte in Chestnut Hill um mindestens zehn. Sie hatte rötliches Haar, und ihre Haut war von einer Helligkeit, die Lawrence verliebt perlmuttern und alabastern, sie selber aber einfach bleich nannte. Ihre Körperlänge und ihr sicheres Auftreten, das mit einer dunklen, festen und gleichzeitig warmen Stimme einherging, kaschierten geübt ihre tiefe Traurigkeit, von der niemand in ihrem Umfeld etwas ahnte und nur Lawrence wusste. Aber nicht einmal ihr schlafender Mann bemerkte es, wenn ihr Körper neben ihm zu zittern begann, wenn sie die Finger ins Laken krallte und die Tränen niederkämpfte. Er hörte sie nicht, wenn sie darauf wartete, dass das Toben in ihrem Brustkorb verebbte, und sie leise die Namen der Mädchen aufzählte, die gerade in Chestnut Hill lebten.

Vor zweieinhalb Jahren hatte Alice von ihrer Krebserkrankung erfahren. Eine Woche später wurde alles, was sie ihrer Meinung nach zur Frau machte, aus ihr herausgeschnitten. Der letzte Gedanke, den sie vor der Operation fassen konnte, war, dass sie nicht mehr aufwachen wollte. Sie hatte Lawrence in der Suppenküche in Newcastle, Delaware, kennengelernt, wo sie beide an den Sonntagen als freiwillige Helfer arbeiteten. Schon damals, während sie den Obdachlosen die Teller füllten, hatte er ihr vorgeschwärmt, wie groß seine Familie einmal sein würde. Lawrence war ein Mann, der den Sinn des Lebens darin sah, mit der Frau, die er liebte, mindestens fünf Kinder zu haben. Alice war diese Frau, und obwohl sie die Zahl der Sprösslinge auf drei reduzieren wollte, heirateten die beiden, nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hatte. In den Flitterwochen plagten Alice Unterleibskrämpfe, und sie ging zum Arzt. Als der nichts finden konnte und die Schmerzen stärker wurden, schickte er sie zu einem Spezialisten.

Sie wollte Lawrence zuliebe sterben. Er würde eine andere Frau finden, das musste er ihr versprechen. Er verbot ihr, so zu reden, und als sie aus der Narkose aufwachte, erzählte er ihr von seinen Plänen, in einem Waisenhaus zu arbeiten. So werde er ständig mit Kindern zusammen sein und es überhaupt nicht vermissen, keine eigenen zu haben. Alice gab vor, ihm zu glauben, aber sie wusste, dass er nicht glücklich sein konnte. Und dass sie schuld daran war.

Zum ersten Mal hatte Lawrence von Adoption gesprochen, als er Alice dabei zusah, wie sie Wilbur die Fingernägel schnitt. Sie tat das mit großer Sorgfalt und Vorsicht, gleichzeitig aber mit einer Selbstverständlichkeit, wie Lawrence sie aus Kindertagen von seiner Mutter kannte. Obwohl Wilbur demonstrativ an die Decke sah und kein Interesse daran zu haben schien, was mit ihm gemacht wurde, redete Alice die ganze Zeit sanft auf ihn ein, als müsse sie ihm versichern, dass ihm nichts passieren konnte. Ihre dunkle, sonore Stimme löste etwas in Wilbur aus, von dem er nicht wusste, woher es kam. Etwas Verschüttetes, Vergessenes wurde halbwegs freigelegt, an das sich nicht sein Hirn erinnerte, sondern sein Bauch.

Jetzt badete Alice Wilbur, und wieder sprach Lawrence von der Möglichkeit, den Jungen zu adoptieren. Alice, die ihren Mann eben noch getadelt hatte, weil er mit Wilbur so lange in der Kälte gestanden hatte, nur um ihm das Pferd zu zeigen, antwortete nicht gleich. Von einer Beamtin der Adoptionsbehörde, bei der Lawrence jede Woche anrief und seinen Charme spielen ließ, wussten sie, dass Wilbur Verwandte hatte. Wer diese Menschen waren und wo sie lebten, durfte die Frau ihnen nicht sagen, ebenso wenig, ob sie sich um das Sorgerecht für Wilbur bemühten. Lawrence hatte in Erfahrung gebracht, dass Maureen Sandberg, geborene McDermott, fünf Tage nach ihrem Tod kremiert worden war, wie es ihre Eltern veranlasst hatten. Wo Wilburs Großeltern wohnten, hatte er nicht herausfinden können, aber er meinte, sie seien bestimmt zu alt, um ihren Enkel bei sich aufzunehmen, und weder die Verstorbene noch der verschwundene Vater schienen Geschwister zu haben.

Alice hob Wilbur aus der Wanne und trocknete ihn ab. Sie liebte dieses wunderliche, ernste Geschöpf, und der Gedanke, es weggeben zu müssen, brach ihr das Herz. Aber sie wollte sich nicht verletzen lassen, wollte das Verstreichen der Frist abwarten und dann den Adoptionsantrag stellen. Das sagte sie ihrem Mann auch jetzt wieder, und Lawrence, der so viel mehr gedankenlose Zuversicht besaß als sie, nickte. Besser als irgendjemand verstand er, warum es für sie unmöglich war, sich auf eine neue Hoffnung und das unsichere Glück mit Wilbur einzulassen.

Erst vor einem halben Jahr hatte Alice damit begonnen, nicht mehr nur das Sekretariat zu leiten, sondern sich nach Feierabend und an den Wochenenden auch um die Kinder zu kümmern, deren Akten sie führte. Davor hatte Lawrence sie regelmäßig und möglichst beiläufig gefragt, ob sie ihm mit dem einen oder anderen Jungen helfen könne, bis sie irgendwann, seine Absicht ahnend, eingewilligt hatte. Erst sollte sie einem Achtjährigen zur Hand gehen, der unbedingt ein Pferd zeichnen wollte. Einer hatte sich vorgenommen, heimlich stricken zu lernen. Einem anderen brachte sie bei, eine Krawatte zu binden.

Innerhalb weniger Wochen lernte Alice alle Jungen kennen und hatte plötzlich ein Gesicht, eine Stimme, meistens sogar eine Geschichte zu den Namen. Wenn sie jetzt eine Akte anlegte oder neue Einträge in bestehende machte, kannte sie das Kind, das dahinterstand. Jetzt wusste sie, woher der kleine Rodney Summers kam und warum er sich im Geräteschuppen versteckte, wenn ein Auto auf den Vorplatz fuhr. Warum Jimmy Barrett Häuser ohne Dächer malte und kein Huhn aß. Sie erfuhr, dass Alan Warchowski in einem kleinen blauen Buch eine Liste der Dinge führte, die er liebte, und in einem schwarzen diejenigen, die er hasste. Dass Jeffrey Green den Kopfstand machen und dabei eine Flasche Limonade trinken konnte. Dass Paul Hewitt in Sarah Morton verliebt war und Gedichte für sie schrieb, die er ihr nie zeigte.

Die Mädchen in Chestnut Hill verfolgten staunend und neidisch, wie sich Mrs. Krugshank plötzlich um die Jungen kümmerte. Wenn die in ihren Augen riesige und außerirdisch schöne Frau mit ein paar besonders mutigen Jungs im leeren Speisesaal Walzer übte, standen die Mädchen auf Schemeln hinter den Türen und beobachteten durch die Oberlichter das seltsame und wunderbare Treiben. Als Alice einer Gruppe von Jungen auf dem Vorplatz zeigte, dass sie das Hufeisenwerfen seit ihrer Kindheit nicht verlernt hatte, drückten sich die Mädchen an den Fensterscheiben die Nase platt. Alice war mit ihrer neuen Aufgabe so beschäftigt, dass sie die sehnsüchtigen, vorwurfsvollen und manchmal feindseligen Blicke der Mädchen nicht wahrnahm. Erst als eines Tages die fünfjährige Ruby Fletcher mit einem zerfledderten Stoffhasen im Arm in ihr Büro trat und fragte, ob Alice sie nicht leiden könne, wurde ihr klar, dass sie ihre Zuwendung ungerecht verteilt hatte.

Noch am selben Abend las sie den Mädchen im Aufenthaltsraum seitenweise aus einer Illustrierten vor, die eine Kollegin im Büro abonniert hatte und die überquoll vor Klatschgeschichten über Hollywoodstars, Musiker und Sportler. Die Mädchen lauschten den Skandalen und Romanzen begeistert und ignorierten dabei die grimassenschneidenden Köpfe der Jungs hinter den Oberlichtern. Am nächsten Tag brachte Alice den Mädchen bei, wie man Lockenwickler benutzte, am Tag danach, wie man Jungs auf sich aufmerksam machte und die allzu aufdringlichen loswurde. Natürlich waren es jetzt die Jungen, die sich vernachlässigt fühlten, und Alice beschloss, ihre Stunden aufzuteilen. Am Montag, Mittwoch und Freitag war sie für die Jungen da, Dienstag, Donnerstag und Samstag gehörte sie den Mädchen. Den Sonntag hielt sie für Lawrence frei. Und für Wilbur.

Was ein Sonntag war, wusste Wilbur nicht. Für ihn war es einfach eine wundersam in die Länge gezogene Zeit, während der dauernd etwas passierte, er ständig herumgetragen, durch die Gegend gefahren und hochgehoben, öfter als üblich abgeküsst und nie alleine gelassen wurde. Er spürte, dass einmal in der Woche beinahe alles stimmte, dass das, was er vermisste, für eine Weile ersetzt wurde durch etwas, das er mochte. Schien die Sonne, wurde er rittlings und mit einem Hut auf dem Kopf in einen Korb gesteckt, der an einem Fahrradlenker befestigt war. Dann ging es aufs Land, wo er zum ersten Mal riesige Kühe sah und Mähdrescher. Er saß auf Alices Schoß in einem Ruderboot, und Fische schwammen durch sein Spiegelbild, in dem er sich nicht erkannte. Über ihnen flogen Vögel, nach denen er griff, als störten sie die Leere seines Himmels. In den Wiesen, in denen sie zu dritt lagen, gelang es ihm überzeugend, sein Interesse an Ameisen, Käfern und Schmetterlingen zu verbergen. Doch obwohl Wilburs scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber allem, was sie zusammen unternahmen, Alice und Lawrence Sorge bereitete, sah der Junge immer, wenn er hochgehoben wurde, in strahlende Gesichter. Diese Sonntage waren angefüllt mit Lachen und Singen, dem quäkenden Ton der Fahrradhupe, Kirchenglocken und Vogelzwitschern, den Geräuschen des Glücks.

Alice trocknete Wilbur ab und zog ihm den Schlafanzug an. Wenn sie ihr Gesicht über seines brachte, sah der Junge an ihr vorbei an die Decke. Am Anfang hatte sie das wütend gemacht und traurig. Jetzt akzeptierte sie es, weil sie wusste, dass er ihr irgendwann in die Augen sehen, ihren Blick erwidern und die unermessliche Liebe darin erkennen würde. Dann würden seine Pupillen aufleuchten und sich weiten vor wahrhaftigem Erstaunen, und er würde lächeln. Nur ein wenig, aber genug, um ihr das Leben zu retten.

2

Warum mussten sie mich zurückholen? Warum konnten sie mich nicht einfach gehen lassen? Ich war beinahe fort. Im Licht. Ich war nicht traurig, im Gegenteil. Ich will zu meiner Mutter. Sie wartet auf mich. Sie ist mir nicht böse, dass ich sie umgebracht habe.

Vor ein paar Stunden lag ich auf einem Bett im Flur eines Krankenhauses. Notaufnahme. Ärzte schrien die Namen von Medikamenten, Unfallopfer vor Schmerzen. Leute rannten herum. Von draußen wehte ab und zu Sirenengeheul herein, wenn ein Ambulanzwagen blutige Körper ablieferte. Schwestern und Krankenpfleger schoben Rollbahren an mir vorbei und verschwanden in Fahrstühlen. Aus Kunststoffbeuteln tropfte Blut oder Kochsalzlösung durch Schläuche in die Venen der Unglücklichen. Einige jammerten, als könnten sie ihr Los noch nicht fassen, manche brüllten, bis eine Droge sie zum Schweigen brachte, während andere das zweifelhafte Glück hatten, bewusstlos zu sein. Ich kam mir vor wie in der Szene einer Fernsehserie. Ich hätte gerne eine Fernbedienung gehabt, um das alles auszuschalten, mich eingeschlossen.

Warum musste mich jemand aus dem Wasser fischen? Wer war der Kerl überhaupt? Ich versuche mich an irgendetwas zu erinnern, aber es gelingt mir nicht. Ich habe Kopfschmerzen. Kann sein, dass ich irgendwo aufgeschlagen bin, bevor ich im Wasser landete. Dann war ich auf dem Weg zum Grund. Diese Erinnerung lege ich mir jetzt einfach zu. Wie das alles passiert ist, spielt im Moment keine Rolle. Ich bin reingefallen und versunken. So etwas nennt man Schicksal. Da pfuscht man nicht dazwischen. Schon gar nicht riskiert man sein eigenes Leben, um jemanden vom Sterben abzuhalten. Es war still da unten, glaube ich. Wie damals auf dem Grund des Schwimmbeckens. Bis mich dieser Mistkerl im Trainingsanzug rausholte.

Ich lag in durchnässten Kleidern auf einem Flur, und mir war kalt. Ich schmeckte das Salz in meinem Mund. Ich war durstig. Jemand steckte mir eine Kanüle in die Armbeuge und sagte etwas, aber ich verstand nichts. Ich wurde schläfrig. Ich wartete auf das Licht, doch stattdessen kam von irgendwoher Dunkelheit.

Ich liege auf einem Bett in einem Zimmer, durch dessen Fenster schwaches Licht fällt. Man hat mir die feuchte Kleidung ausgezogen und mich in ein Krankenhausnachthemd gesteckt. Ein Arzt sitzt an meinem Bett. Er ist vielleicht fünfzig, trägt eine Brille und schreibt etwas in ein Heft, das auf seinen Knien liegt. Ich sehe an die Decke. Ich habe noch kein Wort gesagt, seit mich jemand aus dem Meer gezogen hat. Man hat mir zu trinken gegeben, vermutlich in der Hoffnung, dass ich dann sprechen würde. Aber ich habe nur an die Decke gestarrt, als gäbe es da etwas zu sehen außer dem weißen Verputz. Der Arzt spricht leise. Bestimmt denkt er, ich stünde unter Schock, sei traumatisiert oder etwas in der Art. Immerhin war ich eine Weile unter Wasser. Der Sauerstoffmangel könnte Teile meines Gehirns zerstört haben, kurzfristig oder dauerhaft. Ich frage mich, was mir lieber wäre.

»Wissen Sie, wie Sie heißen?« Er spricht mit einem Akzent.

McDermott, könnte ich ihm antworten. So hieß meine Mutter, bevor sie heiratete. Man kann das Gedächtnis verlieren und sich trotzdem an Dinge in der fernen Vergangenheit erinnern. Ich sehe mich auf einem grasbewachsenen Erdhaufen sitzen, der den Namen Hügel nicht verdient, aber ich weiß nicht, wie ich ins Meer gefallen bin. Ich heiße Wilbur, könnte ich antworten. Aber ich sage nichts. Da sind Risse im Deckenverputz. Feine Linien, verästelt. Ich stelle mir die Decke als Karte vor. Eine Landkarte aus einem einzigen weißen Fleck. Terra incognita, unbekanntes Land, durchzogen von Flüssen. Das wird mich eine Weile beschäftigen.

»Erinnern Sie sich an den Unfall?«

Es war am Meer. Wäre das eine Feststellung oder eine Vermutung? Eine etwas dunklere Stelle an der Decke mache ich zum Meer. Da fließen die Flüsse hin.

»Können Sie mir sagen, wo Sie wohnen?«

Langsam geht er mir auf die Nerven. Sieht er nicht, dass ich Passagen zum Meer entdecken muss? Ich wohne im Hotel, fällt mir ein. Mein Zimmer geht zur Straße. Tagesdecke und Vorhänge riechen nach Zigarettenrauch. In die Bibel hat irgendein Spaßvogel ein pornografisches Bild gelegt. Auf den Tapeten sind Blumen. Blaue Blumen, vielleicht auch gelbe. Aber ich sage nichts. Ich sage nie mehr etwas.

Der Arzt erklärt mir, wo ich mich befinde, und ab und zu nicke ich, um zu verbergen, dass ich ihm nicht zuhöre. Schließlich hält er mir ein Klemmbrett hin, auf dem ein Formular befestigt ist. Er sagt, wenn ich hierbleiben wolle, müsse ich diese Einverständniserklärung unterschreiben. Er reicht mir einen Kugelschreiber, und ich setze meine Unterschrift an die vorgesehene Stelle. Vielleicht ist es ein Vertrag, mit dem ich eine hundertbändige Enzyklopädie bestelle, vielleicht verkaufe ich gerade meine Organe oder bevollmächtige die Klinik, neue Medikamente an mir zu erproben. Es ist mir egal. Ich kritzle meine Signatur hin, in der vom Arzt erhofften schlafwandlerischen Mechanik, eine nach oben und unten hektisch ausschlagende Tintenspur, ein Seismogramm meiner kümmerlichen Seele, gedrängt, unleserlich. Der Arzt betrachtet sie und verbirgt Ratlosigkeit und Enttäuschung, lächelt, verabschiedet sich und geht.

Die ganze Nacht liege ich halbwach da. Draußen, weit entfernt, fahren Autos. Ab und zu dringt ein verwehtes Hupen an meine Ohren, als läge ich an Deck eines Schiffes, dem ein anderes durch den Nebel zuruft. Meine Zunge schmerzt. Ich bewege sie und spüre, dass sie dicker ist als sonst, geschwollen. Vielleicht habe ich auf sie gebissen, als ich ins Wasser fiel. Mit der rechten Hand taste ich den Kopf ab. Eine Beule sitzt darauf wie ein kleiner alberner Hut.

Ich stelle mir vor, wie ich aufstehe und das Krankenhaus verlasse. Aber ich bin müde. Arme und Beine fühlen sich zu schwer an, als dass ich sie bewegen könnte. Außerdem bin ich so gut wie nackt. Meine Kleider und Schuhe hat man mir abgenommen, was ich sonst dabeihatte, weiß ich nicht. Und eigentlich will ich gar nicht weg. Wohin sollte ich denn gehen? Das Hotel war schäbig und bevölkert von alten Männern. Dorthin will ich nicht zurück.

Eine Schwester, von der ich nur den unglaublich dicken Körper wahrnehme, betritt das Zimmer und stellt sich ans Fußende des Bettes. Ich starre an die Decke. Wenn ich nie mehr rede, lässt man mich vielleicht in Ruhe. Die Schwester sieht, dass ich nicht schlafe. Bestimmt hat man ihr gesagt, ich sei der Stumme aus dem Meer. Jedenfalls geht sie weg, ohne ein Wort an mich zu richten. Ihr Duft, Desinfektionsmittel und Schweiß, bleibt da.

Ich fahre durch einen hellen Tunnel. Schliefe ich, würde ich erwachen. Es ist still. Licht fließt an den Scheiben vorbei. Der Hund liegt am leuchtenden Rand der Straße, sein Fell bewegt sich im Wind. An seinem Hals erkenne ich ein rotes Band, vielleicht ist es auch Blut. Ich rufe dem Fahrer zu, er solle anhalten, aber er hört mich nicht, aus meinem Mund kommen keine Worte. Alles wird weiß, immer weißer, als falle Schnee. Wir fahren weiter, hinein ins blendende Herz. Wäre ich wach, würde ich die Augen schließen. Ich erkenne Dinge und versuche mich an ihre Bedeutung zu erinnern. Alles liegt weit zurück, viele Atemzüge, viele Jahre. Der Körper des toten Hundes löst sich auf, sein gleißender Rand wandert in die Mitte und schmilzt. Ich sehe ihm nach und forme einen Namen, schreibe ihn an die Scheibe, spiegelverkehrt, verschwindend.

Als ich aufwache, ist es noch immer dunkel. Das Geräusch meines Atems füllt den Raum. Ich spüre den Druck auf meiner Blase, ein leichtes Stechen, heftiger als die Kopfschmerzen. Wasser will meinen Körper verlassen, was gut ist. Der Gedanke, dass wir zu achtzig Prozent aus Flüssigkeit bestehen, ist mir zuwider. Ich taste nach einem dieser Plastikgefäße, in die man sich erleichtern kann, finde aber nichts, auch nicht auf den Regalen der Kommode, die neben dem Bett steht.

Den Mann nehme ich erst wahr, als er sich aufrichtet. Er ist ein schwarzer Berg, auf dessen Kuppe eine kurz gehaltene Wiese steht. Statt erschrocken bin ich empört über seine plötzliche Anwesenheit. Ich frage mich, seit wann er im Zimmer ist. Wurde er samt Bett hereingerollt, als ich schlief? War er schon vor mir da, verborgen von einem Vorhang, der zurückgezogen wurde? Ich lege mich wieder auf den Rücken, unterdrücke den Drang, Wasser zu lassen, und sehe an die Decke. Der Mann ächzt, vielleicht ist es auch sein Bettgestell.

»Bist du wach?« Seine Stimme ist tief und rasselt ein wenig, als würden die Worte durch einen Stollen aus grob gehauenem Stein kollern. Er räuspert sich, wartet.

»Ich weiß, dass du wach bist.«

Ich habe weder mit dem Arzt noch einer der Schwestern gesprochen und nicht vor, mit diesem Kerl zu reden. Ich schließe die Augen, obwohl mir klar ist, dass er es nicht sehen kann.

»Warum bist du hier?«

Weil man meine Abreise verhindert, mich in letzter Minute aus dem Flieger geholt hat. Weil meine Aufenthaltsbewilligung noch nicht abgelaufen ist, die Formalitäten mit dem Jenseits nicht geklärt sind. Weil jemand mutig war und selbstlos und schwimmen konnte. Weil ich Pech hatte.

Ein Seufzer dringt an mein Ohr. Vielleicht liegen da noch mehr Männer. Einer neben dem anderen, in einer endlosen Reihe von Betten. In einem Saal, dessen Dimension mir erst bewusst wird, wenn Tageslicht durch die Ritzen der Jalousie sickert.

»Ich weiß, warum.«

Ich warte, dass er noch etwas sagt, aber er schweigt. Ich höre, wie er sich wieder hinlegt, das Kissen zurechtknetet und ausatmet. Dann höre ich kein Geräusch mehr, nicht das leiseste. Es ist, als ob der Mann neben mir ausgeatmet hat und nun keine Luft mehr holt. Als ob er weggelegt wurde, wie die Puppe eines Bauchredners nach der Vorstellung weggelegt wird.

Ich lasse die Augen geschlossen. Draußen ist es jetzt so still wie im Zimmer. Der Harndrang fühlt sich an, als läge ein schweres Buch auf meinem Bauch. Ich gleite an farbigen Lichtern entlang. Ich drehe mich im Kreis. Meine Mutter heißt Maureen. Sie winkt mir zu und ruft meinen Namen.

Der Mann ist samt Bett verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Da, wo ich ihn zu sehen glaubte, ist nichts. Links von mir, wo jetzt die neue Schwester steht und meinen Puls misst, sind es keine fünfzig Zentimeter bis zur Wand. Neben der Kommode wäre genug Platz für ein Bett, aber er ist leer. Ich würde die Schwester fragen, will aber mein Vorhaben, nicht mehr zu sprechen, auf keinen Fall aufgeben. Die Schwester ist alt und ihre braune Haut faltig. Ihr Geruch erinnert mich an etwas. Seife und Hühnersuppe. Aber landet man nicht immer bei Seife und Hühnersuppe, wenn man nach den Ursprüngen eines Geruchs sucht? Sie bettet meinen Arm zurück auf die Decke, trägt etwas in eine Liste ein und schiebt sie in die Halterung am Fußende des Bettes. Dann klappt sie den Deckel des Wasserkrugs hoch, sieht, dass er voll ist, murmelt etwas auf Spanisch und verlässt das Zimmer.

Bestimmt wird gleich der Arzt kommen. Er wird mir wieder Fragen stellen, und es ist Zeit, dass ich mir eine Strategie zurechtlege. Wenn ich stumm bleibe, werde ich dieses Bett eine Weile behalten können. Ich erinnere mich an das Hotelzimmer, sehe den Kleiderschrank vor mir, schwarz und scheinbar bodenlos, ein Schacht, in dem Drahtbügel hängen wie Skelette von Fledermäusen. Das Fenster sehe ich und die Hauswand dahinter, die Leitungen und Rohre, die zugemauerten Öffnungen und die Tauben, die paarweise darin hocken. Und ich kann das abgegriffene Bild sehen, das ich nur deshalb fand, weil ich die Bibel aus der Nachttischschublade genommen und auf den Flur gelegt habe, so wie andere Gäste ihre Schuhe vor die Tür stellen.

Dorthin will ich nicht zurück, lieber bleibe ich hier. Nachts drang Musik aus billigen Radios durch die Wände und das Husten alter Männer. War es einmal still, hörte ich das Ächzen der Stahlseile, die den Aufzug durch die Stockwerke schleiften. Im Geist zähle ich alle Dinge auf, die meinen Koffer, der unter dem Hotelbett liegt, nicht einmal zur Hälfte füllen.

Meine Zunge liegt trocken im Mund, pelzig, wie aufgeplustert. Ich schlüpfe aus dem Bett. Auf der Kommode steht ein Glas Wasser. Ich schütte den größten Teil davon zurück in den Krug und trinke die Tropfen aus dem Glas, wiederhole den Vorgang, bis ich nicht mehr durstig bin. Der Boden unter meinen nackten Füßen ist kühl, meine ersten Schritte sind unsicher, als ginge ich auf spitzem Kies. Das Hemd, hinten aus irgendeinem Grund offen und nur von zwei Bändeln zusammengehalten, geht mir bis über die Knie. Zum Glück hängt nirgends ein Spiegel. Ich betaste die Beule und fühle erst jetzt die verkrustete Stelle, die sich darauf gebildet hat.

Der Flur vor dem Zimmer ist leer. Ich ziehe die Tür hinter mir zu und gehe nach links. Nach rechts kann ich nicht, da ist nur eine Wand mit einem Fenster, weit oben, unerreichbar. Auf beiden Seiten des Flurs sind Türen. Beim Gehen fühle ich die volle Blase als dumpfen Druck. Meine Beine sind steif und taub, die Füße stecken in unsichtbaren Stiefeln, an denen schwere Erde klebt. Ich stakse den Gang entlang, biege um eine Ecke, komme an ein Treppenhaus. Ich gehe hinunter, glaube, Stimmen zu hören. Um nicht zu fallen, greife ich mit beiden Händen das Geländer, bewege mich seitwärts. Musik, wie sie in Kaufhäusern gespielt wird, weht nach oben.

Plötzlich schwappt bleierne Müdigkeit durch meinen Körper, aber statt mich hinzusetzen, tappe ich weiter. Am Ende der Treppe betrete ich taumelnd ein Schiffsdeck. Mir ist kalt, das muss die Müdigkeit sein. Bunte Fische schwimmen vor meinen Augen. Ein einfältiges Lied, eine Girlande aus hohen Tönen, legt sich neben das dumpfe Pochen in meinem Kopf.

Mir ist heiß, ich zittere mit kalten Füßen. Der Boden hebt und senkt sich unter den Wellen. Ein Mann, leuchtend in seinem gelben Hemd, kommt auf mich zu. Sein Gesicht ist freundlich, und trotz seiner kräftigen Statur wirkt er nicht bedrohlich. Dass ich mittlerweile auf dem Boden sitze, merke ich erst, als ich zu dem Mann aufblicke. Er sagt etwas, aber ich verstehe ihn nicht. Die Augen fallen mir zu, die Musik und die Schmerzen verlassen meinen Kopf, meine Blase entleert sich.

The Verdict 1982

Die Wellen schienen gegen die Mauern zu schlagen, aber es war nur der Wind, der in Böen Regen ans Haus warf. Wilbur lag in seinem Bett und sah ins Dunkel, wo Balken knarrten, wenn das Dach sich anzuheben schien unter dem Druck einer besonders mächtigen Luftwoge. Ein dickes Kissen begrub das Kind unter sich, dessen Kopf hervorschaute wie aus einer Schneewehe. Es war Nacht, und er hätte gerne die leuchtende Blume gesehen, die auf dem Lampenschirm neben der Tür blühte, aber sie lag nicht in seinem Blickfeld.

Als unweit des Hauses die von einem heftigen Windstoß aufgerissene Scheunentür gegen den Rahmen krachte, fing Wilbur an zu weinen. Wenn es draußen so laut toste, dass sein dünnes Stimmchen darin unterging, wartete er und schrie in der kurzen Pause, die der Sturm zum Atemholen brauchte. Nahm der Lärm erneut für einen Moment ab, schrie er nochmals, und meistens hörte er in der darauffolgenden Lücke die dunkle Stimme, die ihm Angst machte, und die helle, die er liebte. Dann weinte er wieder, aber nur, um augenblicklich damit aufzuhören, sobald sie die Tür öffnete, ihn unter der Decke hervorzog und in die Arme nahm. Nach einem letzten Schluchzer war er still und lauschte ihrer Stimme. Er schmiegte den Kopf an ihre Brust und gab sich mit geschlossenen Augen dem Schaukeln ihres Oberkörpers hin und dem Singsang, der flüsternd das wütende Toben des Sturms ausblendete.

Im Spätsommer des letzten Jahres hatte Eamon McDermott in Begleitung eines Anwalts seinen Enkelsohn aus Chestnut Hill geholt. Nach einem langen Papierkrieg mit den amerikanischen und irischen Behörden zu müde, um sich als Sieger zu fühlen, war er vor dem Heim aus einem Taxi gestiegen und auf Lawrence Krugshank zugegangen, abwartend, ob der Mann ihm die Hand entgegenstrecken würde. Krugshank musste für diesen Gruß alle Kraft, die ihm noch geblieben war, aufbringen, schüttelte Eamons Hand und die des Anwalts und führte die Männer durch einen leeren Flur zu dem Büro, wo die letzten Formalitäten erledigt wurden. Warren C. Rush und eine Mitarbeiterin des Sozialamtes warteten auf die beiden. Eamon sprach während der ganzen Prozedur kein Wort. Er nickte, wenn sein Anwalt ihm etwas erklärte, setzte seine Unterschrift dorthin, wo es verlangt wurde, und wollte dann so rasch wie möglich den Jungen holen.

Alice Krugshank brachte es nicht fertig, den Mann zu sehen, der ihnen ihr Kind wegnahm. Sie saß auf dem Bett im Schlafzimmer ihrer Wohnung, die in einer der ehemaligen Offiziersunterkünfte etwas abseits des Hauptgebäudes lag, knetete einen Wollfäustling, den sie für Wilbur gestrickt hatte, und starrte auf den Fleck an der Wand, an der eben eine halbvolle Kaffeetasse zerschellt war. Als sie den Motor des Taxis hörte, kippte sie seitlich auf das Bett, zog die Knie an und weinte.

So fand ihr Mann sie, als er zwei Stunden später den Raum betrat und Wilbur auf dem Weg zum Flughafen war.

Als Eamon in Sligo aus dem Zug stieg, der ihn und eine Handvoll Leute, vor allem amerikanische Touristen auf der Suche nach ihren Wurzeln, von Dublin in den Nordwesten gebracht hatte, fühlte er sich noch immer nicht als Sieger. Auch nicht, als er seine Frau sah, die die lange Fahrt mit dem Bus auf sich genommen hatte, um ihren Enkel willkommen zu heißen. Wilbur hatte im Taxi vor dem Heim angefangen zu weinen und, mit wenigen Unterbrechungen, in denen er rot verfärbt und schweißnass wegdämmerte, bis zu seiner Ankunft in Dublin nicht wieder aufgehört. Kaum auf irischem Boden gelandet, verstummte er jedoch, was Eamon als Zeichen deutete, dass der Junge spürte, wohin er gehörte.

Im Bus konnte Eamon den mit blauem Nylonstoff eingefassten Tragekorb, den Lawrence Krugshank ihm aufgedrängt hatte und in dem Wilbur lag, seiner Frau auf den Schoß stellen. Froh, die Reise endlich hinter sich zu haben, hielt er sich an seinem Koffer fest, in dem, eingewickelt in einen Pullover, die Urne mit Maureens Asche lag. Orla schälte den Jungen aus den Tüchern und Decken, prüfte den Zustand der Windeln, die eine Stewardess der Aer Lingus über Neufundland gewechselt hatte, herzte ihren neuen Schatz und ließ nicht von ihm ab, bis der Bus auf dem Dorfplatz von Kindrum hielt.

Was Wilbur von seiner neuen Welt sah, war umstellt von Mauern. Regnete es nicht und war es nicht zu kalt, wurde er auf eine Wolldecke in die Mitte der asphaltierten Fläche gesetzt, die man durch die Küchentür erreichte. Die Mauern waren unverputzt und hätten die Wände eines Anbaus sein können, dessen Errichtung man vertagt oder verworfen hatte. Zwei Holzstühle, ein Ascheimer und ein schwarzes Fahrrad standen in ihrem Schatten, in einer Ecke lagerte gestochener Torf unter einer Plane, Heizmaterial für den Winter. Auf dieser Decke hatte Wilbur gelernt, auf allen vieren zu kriechen und wie man auf zwei wackligen Beinen steht.

Auf dieser Decke saß er jetzt, hielt mit beiden Händen einen geschnitzten Holzesel fest, sah auf die Mauer, hinter der das Meer lag, und wartete auf sie. Er hörte, wie die Wellen an die Küste rollten, ein sanftes Rauschen, dazwischen riefen Möwen, die manchmal, vom Wind hergetragen, hoch über seinem Kopf auftauchten. In den ersten Wochen hatte Wilbur nach ihnen gegriffen, doch irgendwann die Vergeblichkeit seiner Bemühungen eingesehen und aufgehört. Stattdessen rieb er den Kopf des Holzesels auf dem Asphalt, bis Nüstern und Maul abgeschliffen waren.

Wenn sie endlich kam, warf er den Esel in die Luft, worauf sie jedes Mal jubelnd in die Hände klatschte. Dann hob sie ihn hoch und trug ihn in die Küche, wo sie ihn auf den Schoß nahm, ihm zu essen gab und scheinbar wahllos drauflos erzählte, Geschichten aus Büchern, Zeitungsmeldungen, Witze, Horoskope, Wetteraussichten, Nachbarstratsch, Hochzeiten, Geburten, nie Todesfälle. Sie redete ohne Punkt und Komma, die Worte kamen aus ihr heraus, als müsste sie den Jungen in möglichst kurzer Zeit mit möglichst vielen davon versorgen, als seien sie Bestandteil seiner Ernährung.

Orla McDermott war eine Frau, der man auch nach zweiundsechzig Jahren noch hätte ansehen können, dass sie einmal sehr schön gewesen war. Aber hier draußen, mehr als zwanzig Kilometer von Kindrum und einen Steinwurf vom Meer entfernt, gab es niemanden, der sich für den warmen Glanz in ihren schwarzen Augen oder die sinnliche Form ihrer Lippen interessiert hätte. Niemandem fielen ihre schmalen Hände auf, in deren Fingerspitzen Zärtlichkeit schlief, niemandem die hohen Wangenknochen, über die sich sonnenbraune, von unzähligen haarfeinen Fältchen geriffelte Haut spannte.

Früher blieben die Männer in Galway auf der Straße stehen, wenn sie an ihnen vorbeiging, mit federndem Schritt und einem Lächeln im Gesicht, das spöttisch war für die dreist Glotzenden und ermunternd für die verschämt Schmachtenden. Ihre Familie, deren Wurzeln mütterlicherseits in Spanien lagen, besaß zwei Fischkutter, die Alicante und die Galway Grace. Drei Männer, einen Onkel und zwei Cousins von Orla, hatte das Meer genommen im Tausch gegen einen Teil seines Schatzes, der die Schiffsbäuche mit zappelndem Silber füllte. Reich wurden die O’Learys mit dem Fischfang nicht, aber es reichte, um die älteste Tochter auf eine gute Schule in England zu schicken.

Hätte ihr Vater, der sich nach Tagen auf See stundenlang mit Seife abschrubbte, um den Fischgeruch loszuwerden, geahnt, dass Orla nicht vorhatte, ihr in den drei Exiljahren erworbenes Wissen jemals für etwas anderes anzuwenden, als ihrer Mutter beim Lösen von Kreuzworträtseln zu helfen, hätte er sie gleich in seinen Laden gesteckt, hinter dessen Verkaufstheke sie glücklich war. Er betrachtete es als Verschwendung von Talent, als verpasste Gelegenheit, ja als Sünde, dass seine intelligente Tochter Makrelen und Kabeljau verkaufte, statt in London oder Paris zu studieren. Wenn Orla mit Touristen französisch sprach oder einem Kunden erklärte, dass der Name Thunfisch auf das griechische Wort thýnnos zurückgehe, schüttelte er den Kopf, konnte sich dabei aber ein stilles Lächeln nicht verkneifen, froh darüber, dass seine geliebte Tochter nicht mehr bei den Engländern war. Würde er eben abwarten und sehen, ob Deirdre, die Jüngere, ihre Nase lieber in Bücher oder Berge toter Fische steckte.

Orla erzählte Wilbur gerade von den beiden Schafen, die vom Deck einer Fähre gefallen waren und sich in Meerjungfrauen verwandelt hatten, als Eamon die Küche betrat. Er murmelte einen Gruß, goss Tee aus einem Thermoskrug in seine schwarze Tasse, lehnte sich gegen das Spülbecken und trank schlürfend und laut atmend. Wilbur hasste dieses Geräusch. Er hasste es, weil es schrecklich klang und weil es bedeutete, dass Orla verstummte. War der dunkle, nach Torf und feuchtem Stoff riechende Mann anwesend, versiegte der Fluss aus Tönen, dem er so hingebungsvoll gelauscht hatte und der ihn mehr wärmte als Kleidung und Decken. Warum gab es diesen Riesen überhaupt, der sich zwischen ihn und die Sonne stellte? Wer war dieser Berg, der beim Trinken Geräusche von sich gab, als würde in seinem Mund Papier zerrissen? Was wollte er hier, außer Schlürfen, Schweigen und Schnauben?

Eamon McDermott war siebzehn Jahre und dreiundzwanzig Tage alt, als sein Leben sich für immer änderte. Er lag im Bett unter dem Dach seines Elternhauses und stellte sich vor, wie es wäre, in New York zu leben und beim Bau der Häuser zu helfen, die so hoch waren, dass man sie Wolkenkratzer nannte. Vom Postboten wusste er, dass in der Neuen Welt Männer gesucht wurden, die kräftig und schwindelfrei waren, fähig, zwischen Himmel und Erde auf schmalen Stahlträgern zu balancieren. Seit Wochen lernte Eamon, seine Furcht vor Höhe abzulegen, indem er auf Bäume kletterte und von Klippen in den Abgrund blickte. Erst vor ein paar Tagen hatte ihn ein Nachbar vom Dach seiner Scheune gescheucht, dessen First er mit seitlich ausgestreckten Armen entlanggegangen war.

Eamon wollte nicht Schafe züchten wie sein Vater und sein Großvater. Er wollte nichts mit den dummen, stinkenden Tieren zu tun haben, wollte ihnen nicht im Nebel nachtrotten, nicht mit ihnen über Hügel stapfen oder mit ihnen unter Büschen hocken, vergeblich auf das Ende des Regens wartend. Er hasste die Gerichte, die mit ihrem Fleisch gekocht wurden, hasste die Pullover, deren fettige Wolle ihm die Luft zum Atmen nahm, und er hasste ihr Blöken, das einfältig und klagend war wie das Jammern der alten Weiber vor der Kirche. Er wollte nicht bis ans Ende seiner Tage unter diesen Kreaturen ausharren und irgendwann, genährt von ihrem Fett und eingehüllt in ihr Haar, zu ihresgleichen werden. Nach New York wollte er, über den Atlantik in ein neues Leben, am liebsten mit dem nächsten Schiff.

Daran dachte Eamon, als das dumpfe Bollern vom Strand her zu ihm heraufdrang. Erst hörte er es einmal, dann wieder, schließlich im gleichmäßigen Takt der ankommenden Wellen. Es klang wie Holz, das gegen Stein schlug, ein hohler Ton, ein leeres Fass vielleicht oder ein losgerissener Kahn. Eamon stand auf und ging ans Fenster. Als er zum Meer hinuntersah, schob der Wind eine einzelne Wolke vom Mond weg, der die Bucht beleuchtete wie eine Bühne. Das Boot lag mit dem Bug im groben Kies, die Brandung stieß das Heck mit sanfter Regelmäßigkeit gegen einen Fels. Eamon öffnete das Fenster, streckte den Kopf in die Kälte. Das Mondlicht brachte die Luft zum Glühen, bedeckte jeden Gegenstand. Von der Gestalt, die scheinbar bewusstlos über die Ruderbank gestreckt dalag, konnte Eamon nur die Beine erkennen, schwarze Hosen und weiße Schuhe. Er schloss das Fenster, zog sich an, steckte das Taschenmesser ein und schlich aus dem Haus.

In Stiefeln, groben Hosen und einer Strickweste aus der Wolle seiner Feinde über dem Hemd ging Eamon die fünfzig Meter hinunter zum Strand. Bevor er an das Boot herantrat, bekreuzigte er sich. Der Mann, in dessen Gesicht er blickte, war nicht alt und nicht jung, trug außer der schwarzen Hose einen blauen Pullover und darüber eine Jacke aus grünem Stoff, die schmutzig war und versengt. Als Eamon sich über ihn beugte, bemerkte er den Geruch nach Rauch und Öl, der von ihm ausging. Er hob den Mann, der erstaunlich leicht war, aus dem Boot, trug ihn dorthin, wo der Kiesstrand in zähes Gras und schließlich eine löchrige, mit Steinen und Felsbrocken durchsetzte Wiese überging, und legte ihn hin.

Die Kiste bemerkte er erst, als er das Boot aus dem Wasser zog und so weit nach oben schleifte, dass die Brandung es nicht mehr erreichte. Dann kniete er sich neben den Bewusstlosen, berührte zögernd dessen rußgeschwärztes Gesicht, legte ihm das Ohr an die Brust und spürte, dass sie sich kaum merklich hob und senkte. Erleichtert darüber, dass der Mann am Leben war, rannte Eamon zum Haus, um Hilfe zu holen.

Als er im Flur vor der Schlafkammer seiner Eltern stand, die Hand erhoben, um anzuklopfen, hielt er mitten in der Bewegung inne. Eine Weile verharrte er in der Dunkelheit, hörte das Schnarchen seines Vaters und das Klopfen des eigenen Herzens, ließ die Hand schließlich sinken, drehte sich um und ging hinaus.

Der Mann lag da, wie Eamon ihn hingebettet hatte. Ab und zu bewegten sich seine Lippen, seine Finger und Augenlider zuckten. Er hatte kurzes blondes Haar, und an einem Arm, unter zerrissener Kleidung, war helle Haut zu sehen. Er hätte aus einem der Orte hier stammen können, auch wenn er dazu nicht genug nach Schafmist roch. Eamon deckte ihn mit der grauen Decke zu, die er im Boot fand, und machte sich dann daran, die Kiste über die Bordwand zu hieven.

Die mit Eisenbeschlägen versehene Holztruhe erwies sich als so schwer, dass Eamon das ganze Boot zur Seite kippen musste, damit sie auf die Steine rutschte, wo sie mit dem Boden nach oben liegen blieb. Das Rumpeln und kurze Krachen ließen Eamons Puls rasen. Für einen Augenblick kauerte er mit angehaltenem Atem neben dem Boot und sah zum Haus hoch, darauf wartend, dass der Schein der Öllampe aufflammte und sein Vater ins Freie trat. Doch im Haus blieb es dunkel, und auch der Matrose wachte nicht auf. Das monotone Schwappen der Wellen beruhigte Eamon, und nachdem er ein paar Mal tief ein- und ausgeatmet hatte, machte er sich mit dem Taschenmesser am Vorhängeschloss zu schaffen.

Weil eher die Klinge abgebrochen als das Schloss aufgesprungen wäre, begann Eamon, im Holz des Kistenbodens zu stochern. Manchmal, wenn der Matrose wie im Traum den Kopf bewegte oder mit den Füßen wackelte, setzte Eamon das Messer ab, rieb sich die kalten, schmerzenden Finger oder fuhr mit einem Stein über die Klinge, zwanzigmal auf der einen, zwanzigmal auf der anderen Seite. Er hätte in der Scheune den Schleifstein holen können, der zum Schärfen der Sense benutzt wurde, aber er wollte den Mann mit der Truhe nicht allein lassen. Ginge er für ein paar Minuten weg, so redete er sich ein, wären bei seiner Rückkehr Mann, Boot und Kiste weg. Dass das unmöglich war, wusste er, und trotzdem blieb er sitzen und schabte Stunde um Stunde mehr Holz aus dem Kistenboden.

Seine Finger waren taub vor Kälte und Anstrengung, als endlich ein Loch entstanden war, in das er die flache Hand stecken konnte. Was er ertastete, fühlte sich weich an, wie etwas Kostbares, für seine rauhen Fingerkuppen Verbotenes, der Stoff vom Gewand einer Königin, die Haut eines Mädchens. Griff Eamon danach und schloss die Faust, konnte er die Hand nicht mehr zurückziehen, und so stocherte er mit einem Ast in der Öffnung, bis er den Stoff anheben und mit zwei Fingern hervorziehen konnte. Er hatte noch nie Samt gesehen, nicht einmal davon gehört. Der leuchtend rote Stoff gehörte zu einem Beutel, der zu dick war, als dass er durch das Loch gepasst hätte. Ungeduldig und müde und in der ständigen Angst, der Matrose könne zu sich kommen oder der Vater vor dem Haus auftauchen, schnitt Eamon den Beutel auf.

Das einzige Buch, das er jemals in den Händen gehalten hatte, war die Bibel seiner Eltern. Er konnte nicht lesen, war nie weiter als bis Donegal Town gekommen, er wusste nicht, dass die Erde sich um die Sonne drehte und warum Automobile fuhren. Er lebte wie der Knecht seiner Eltern, die ihm dieselbe innige, derbe Zuneigung entgegenbrachten wie ihren Schafen und dem Hund, der sie zusammentrieb. Er hatte keinen Bruder mehr und keine Freunde, und wäre nicht der Postbote gewesen, der ihm alle paar Wochen ein Geheimnis verriet, hätte er nie geahnt, dass die Welt am Horizont nicht aufhörte und dass es Länder gab und Kontinente, die größer waren als das Königreich seines Vaters.

Er hatte noch nie Gold gesehen, aber als er eines der schweren, mattgelb glänzenden Nuggets in der Hand hielt, durchströmte ihn die brennende Gewissheit, dass er alles, was er hasste oder wofür er nach so langer Zeit nicht mehr genug Liebe aufbrachte, bald hinter sich lassen würde.

Am Horizont stieg Morgenlicht auf. Der Mond war verschwunden. Die Wolken, die jetzt über dem Meer standen, hatten graue, zerfranste Säume. Wind kam auf, strich über das zähe Gras und bewegte die kahlen Äste der wenigen Bäume. Auch in den Matrosen schien jetzt Leben zu fahren. Wie tastend bewegte er die Hände, und in seiner Brust rumorte etwas, das gelegentlich als Röcheln aus seiner Kehle drang. Eamon hatte acht Beutel voll Goldstücke, fünf glitzernde Steine, von denen er nicht wusste, dass es Diamanten waren, einige Gold- und Silbermünzen und zwei Umschläge mit bedrucktem Papier, das er für Geldscheine hielt, aus der Kiste geholt. Alles lag auf dem Stück Tuch, in das die Münzen eingewickelt gewesen waren. Die langen krummen Hörner, die Eamon nicht als Stoßzähne von Elefanten erkannte, den schweren Revolver und die Schachteln mit Patronen, das Fernrohr aus Messing und dunklem Holz und das verzierte Messer mit den zwei Klingen, tausendmal schöner und edler als das eigene, legte er in die Truhe zurück, nachdem er die Dinge eine Weile bestaunt hatte.

Er verknotete das Tuch und trug den Beutel in das Versteck, in dem seine anderen, jetzt wertlos gewordenen Schätze lagen. Dann schleppte er die Kiste vom Strand weg über eine flach ansteigende Hügelkuppe und schob sie in das Loch eines längst verlassenen, hinter Gras und Stechginsterbüschen verborgenen Dachsbaus, in dem er sich als kleiner Junge vor seinem Vater und den Schafen versteckt hatte.

Als Eamon endlich ins Haus ging, war es beinahe hell. In der Küche machte er Feuer, setzte Wasser auf und nahm die Tassen aus dem Regal an der rohen Steinwand. Er wusste, wo der Pocheen war, der selbstgebrannte Whiskey, tat Zucker in eine Tasse und füllte sie halb mit dem Schnaps und halb mit heißem schwarzem Tee. Damit und mit einem Kanten Brot ging er zur Bucht, setzte sich ins Gras und wartete, bis entweder der Matrose oder sein Vater wach wurde. Das leise Blöken der Schafe, die die Nacht im Schutz der Felsen und Büsche am Fuß des Hügelzuges verbracht hatten, wehte zu ihm herüber. Er hielt die dampfende Tasse mit beiden Händen umfasst, und wäre er nicht so müde und voller Angst gewesen, hätte er gelächelt.

Eamon blies vor jedem Schluck in die Tasse. Er schlürfte den Tee auch dann in sich hinein, wenn dieser fast kalt war, und kniff dabei die Augen zusammen, als befürchtete er, sich Lippen und Zunge zu verbrühen. Orla sah ihm dabei schon seit Jahrzehnten nicht mehr zu. Dass sie ihn hörte, genügte ihr.

»Du verwöhnst ihn.« Die Stimme kühlte Wilburs warmen Bauch aus.

»Ja«, sagte Orla. Sie schob Wilbur einen weiteren Löffel Bananenbrei in den Mund, den es zum Nachtisch gab. Bananen waren in ihrer Kindheit nicht einmal in Dublin zu haben gewesen. Noch immer musste sie mit dem Bus bis Letterkenny fahren, um welche zu kaufen, aber jetzt lagen sie in den Supermärkten wie selbstverständlich neben Kiwis und Mangos und anderen Früchten, die aus Ländern kamen, deren Namen sie vor den Regalen leise hersagte. Tansania. Ecuador. Costa Rica. Sie hätte die Namen Wilbur gerne ins Ohr geflüstert, in diese kleine rosa Muschel, durch die das Sonnenlicht drang und blaue Äderchen aufleuchten ließ.

»Das ist nicht gut.« Eamons Schlürfen klang wie das Wasser, das nach dem Baden kreiselnd im Abfluss verschwand.

»Ist es wohl«, sagte Orla ruhig, und nur Wilbur spürte die in ihren Worten verborgene Kälte.