Pampa Blues - Rolf Lappert - E-Book

Pampa Blues E-Book

Rolf Lappert

4,4

Beschreibung

Der 16-jährige Ben sitzt in dem verschlafenen Nest Wingroden fest, wo es nicht viel mehr gibt als eine Tankstelle, den Baggersee und die schöne Friseuse Anna. Als der Visionär Maslow Nachrichten von einem UFO verbreitet, um den Ort in eine Pilgerstätte zu verwandeln, taucht Lena mit ihrer Kamera auf. Maslows Plan scheint zu funktionieren. Doch dann treibt das UFO in den Nachbarort ab, Polizei und Presse kommen wegen eines Mordverdachts, Lena ist gar keine Journalistin - und Ben ist verliebt. In seinem ersten Jugendbuch beschwört Rolf Lappert irgendwo in der Pampa eine Schicksalsgemeinschaft aus schrägen Figuren. Mitten darin: der Held Ben, der die Probleme meistern muss, die das Erwachsenwerden und die erste Liebe mit sich bringen.

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Seitenzahl: 295

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Rolf Lappert

PAMPA

BLUES

Jugendroman

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-23932-6

Alle Rechte vorbehalten

© Carl Hanser Verlag München 2012

Umschlaggestaltung: Marion Blomeyer, Lowlypaper, München

Umschlagfoto: Stephen Mallon/Getty

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

http://www.rolf-lappert.de

In liebendem Andenken an meine Großeltern

Walter und Frieda Metz.

Zuhause ist dort, wo jemand merkt,

dass du nicht mehr da bist.

ALEKSANDAR HEMON, LAZARUS

1

ICH HASSE MEIN LEBEN. In drei Jahren werde ich zwanzig, das ist die Hälfte von vierzig. In acht Jahren ist Karl neunzig, und ich bin fünfundzwanzig und vielleicht noch immer hier. Mit ihm. Das will ich mir gar nicht erst vorstellen. Die Realität reicht mir völlig.

Karl steht vor mir, splitternackt. Schaum liegt auf seinen knochigen Schultern wie Schnee. Er schlottert ein wenig, dabei ist es warm im Badezimmer. Der Spiegel hat sich beschlagen, unter der Decke hängen Dampfschwaden. Ich trockne Karl den Rücken ab, weil er das nicht mehr selber kann. Was Karl alles nicht mehr selber kann, würde ganze Bücher füllen. Karl schwankt und streckt die Arme nach der Wand aus. In fünfundsechzig Jahren bin ich so alt wie er jetzt.

»Hier, dein Gehänge kannst du dir selber abrubbeln«, sage ich und gebe ihm das Handtuch.

»Gehänge ist gut«, nuschelt Karl und kichert.

Manchmal versteht Karl alles, sogar schlüpfrige Sprüche. Dann ist sein Kopf ein altes Radio, in dem die verstaubten Röhren noch einmal aufglühen und auf Empfang gehen. Aber meistens reicht es gerade einmal für die einfachsten Sätze, an schlechten Tagen bloß für einzelne Wörter wie essen oder schlafen oder Kuchen. Mit Karl geht es bergab. Wenn sein Gehirn den Betrieb irgendwann völlig aufgibt, können wir uns überhaupt nicht mehr unterhalten. Ich weiß nicht, ob ich es vermissen werde.

Mit fünfzehn habe ich bei Karl eine Lehre als Gärtner angefangen. Meine Mutter hielt das für eine tolle Idee, aber das war nur eine Notlösung, die einfachste Art, mich nach dem Tod meines Vaters abzuschieben. Karl durfte eigentlich gar keine Lehrlinge mehr ausbilden. Sein Gehirn funktionierte damals zwar noch ziemlich tadellos, aber er war alt, hatte kaputte Knie und werkelte nur noch zum Vergnügen im Garten vor sich hin. Trotzdem schaffte es meine Mutter irgendwie, die Sache mit den Behörden zu regeln. Ich glaube, bei den vielen Schulabbrechern und arbeitslosen Jugendlichen, die es in der Gegend gibt, ist es den Beamten völlig egal, was ich hier so treibe. Hauptsache, ich bin versorgt, lungere nicht rum und nehme keine Drogen.

Karl brachte mir bei, wie man Blumenzwiebeln eingräbt, Rosenbüsche zurückschneidet und Setzlinge umtopft. Von ihm weiß ich, wie man gute Komposterde macht und Blattläuse loswird. Ich kann eine Stein-Nelke von einer Pfingst-Nelke unterscheiden und mit einer Felghacke ebenso gut umgehen wie mit einem Kreil. Was ich hier nicht gelernt habe, ist, wie die Welt da draußen funktioniert und wie sich ein nacktes Mädchen anfühlt.

Meine Mutter hat mich ein Jahr lang jeden Donnerstag in die Stadt zur Berufsschule gefahren, eine Stunde hin und eine zurück. Sie ist Sängerin. In der Zeit ist sie mit Tanzbands bei Partys, Firmenfeiern und Hochzeiten aufgetreten. Aber eigentlich ist meine Mutter Jazzsängerin. Sie tingelt mit einem Quartett durch die Clubs und Kneipen Europas. Piano, Saxophon, Bass, Schlagzeug und sie. Auf dem Pressefoto trägt sie ein langes schwarzes Kleid und schwarze Handschuhe, die bis zu den Ellbogen reichen. Ihre vier Musiker tragen Smokings und Fliegen, und alle lächeln in die Kamera. Unter dem Bild steht in geschwungener Schrift BETTY BLACK & THE EMERALD JAZZ BAND. Der Mädchenname meiner Mutter ist Passlack, Bettina Passlack. Sie fand, das klingt zu sehr nach Neuruppin und zu wenig nach New York. Schilling, den Namen meines Vaters, hat sie nie benutzt. In ihrem Pass steht: Bettina Schilling-Passlack, aber in der Musikszene kennt man sie nur unter ihrem Künstlernamen. Sie kommt viel rum, reist durch ganz Europa, von Palermo bis Helsinki, von Alicante bis Warschau. Für eine große Karriere hat es trotzdem nicht gereicht. Keine Ahnung, warum. Vielleicht fehlt ihr der Ehrgeiz, der richtige Biss. Oder ein tüchtiger Manager. Oder ihre Stimme ist zu durchschnittlich. Und dann Jazz. Ich meine, wer hört sich so was überhaupt an?

Nach dem Bad helfe ich Karl beim Anziehen, dann koche ich uns Mittagessen. Karl deckt den Tisch. Frau Wernicke, die Krankenpflegerin, die einmal pro Woche nach Karl sieht, hat mir gesagt, ich soll Karl kleine Aufgaben geben, damit sein Gehirn etwas zu tun hat. Eine von Karls Aufgaben ist es, dreimal täglich den Tisch zu decken. Frau Wernicke sagt, das sei eine Art Training, um die geistige Leistungsfähigkeit zu steigern, aber in Karls Fall scheint die Sache nicht wirklich zu funktionieren. Meistens vergisst er etwas, einen Löffel, eine Tasse, beide Servietten. Oft liegen zwei Gabeln neben jedem Teller, aber keine Messer, oder er stellt Kaffeetassen hin statt Wassergläser. Manchmal steht er vor dem leeren Tisch und kann sich nicht erinnern, was er tun soll. Dann muss ich für ihn das Geschirr und Besteck rausnehmen und ihm alles zeigen. Wenn er einen besonders schlechten Tag hat und fünf Minuten lang ratlos einen Löffel in den Händen dreht, setze ich ihn auf seinen Stuhl und lasse ihn Papierschnipsel machen. Das verlernt er nie.

Heute hat Karl einen ziemlich guten Tag. Messer und Gabel sind zwar auf der falschen Seite, aber dafür hat er bis auf die Glasuntersetzer und die Servietten nichts vergessen. Er trägt schwarze Socken, eine weite graue Hose und ein weißes Hemd. Wenn er rasiert wäre, würde er direkt passabel aussehen. Ich hole die Servietten aus der Schublade, stopfe Karl eine in den Kragen und kremple seine Ärmel hoch.

»Danke«, sagt Karl. Im Durchschnitt bedankt er sich etwa zehntausendmal pro Tag bei mir, egal, ob ich ihm in die Pantoffeln helfe, Butter aufs Brot schmiere oder die Brille putze.

»Guten Appetit«, sage ich.

»Danke«, sagt Karl. Die Keksdose, die neben ihm auf dem Boden steht, ist voller daumennagelgroßer Schnipsel in zahllosen Blautönen.

Wenn ich am Morgen unausgeschlafen oder am Abend vom Tag genervt bin und Karls Essgeräusche nicht hören will, sein Gepuste und Geschlürfe, sein Kauen und Schmatzen, drehe ich das Radio neben der Spüle an. Aber jetzt um die Mittagszeit läuft auf allen Sendern nur Mist, und ich lasse es bleiben.

»Wochenrückblick«, sagt Karl.

»Was?« Manchmal benutzt Karl Wörter, die ich vorher noch nie von ihm gehört habe. Dann bin ich immer völlig baff und muss daran denken, wie er mir früher immer Geschichten erzählt hat, als sein Gehirn noch kein bröseliger Schwamm war.

»Sagt Selma zu so was. Wochenrückblick.«

Karl kann sich einen Hut aufsetzen und mich drei Sekunden später fragen, wo sein Hut ist. Aber ab und zu berühren sich in seinem Kopf ein paar Drähte, und eine Erinnerung blitzt auf, die jahrelang in einer Ecke verstaubt ist.

»Wir sind hier am Arsch der Welt, nicht am englischen Hof«, sage ich eine Spur zu schroff. Auch ich habe meine schlechten Tage. Heute ist einer. Am Morgen hatte Karl Leim in den Haaren, beim Frühstück ist ihm Eigelb auf die frisch gewaschene Pyjamahose getropft, und als er in die Badewanne sollte, hat er sich geweigert und wie ein kleines Kind aufgeführt.

»Mir schmeckt’s«, sagt Karl. Ironie und Zynismus prallen an ihm ab. Nur wenn ich ihn anschreie, zuckt er zusammen und sieht mich verdattert an. Dann tut es mir jedes Mal furchtbar leid, und ich entschuldige mich bei ihm und schäle ihm einen Apfel oder eine Mandarine.

»Na, da bin ja beruhigt«, sage ich.

Ich kenne meine Großmutter bloß von Fotos. Sie hat Karl verlassen, bevor ich geboren wurde. Warum er ausgerechnet heute an sie denkt, ist mir schleierhaft. Den Ausdruck Wochenrückblick hat er bestimmt nicht erfunden. Das Mittagessen besteht aus Schnitzeln von gestern, Kohl von vorgestern, Reis vom Dienstag und Marmorkuchen von letzter Woche. Wochenrückblick scheint mir eine treffende Bezeichnung dafür zu sein.

»Vergiss deine Pillen nicht«, sage ich und schiebe ihm den Unterteller mit den Tabletten hin.

»Danke.« Karl legt sich eine Kapsel nach der andern auf die Zunge und spült sie mit einem Schluck Wasser runter.

Hin und wieder, nicht sehr oft, stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn Karl sterben würde. Ganz selten wünsche ich mir, ihn am Morgen tot in seinem Bett zu finden. Wenn meine Großmutter nicht weggegangen wäre, hätte sie Karl am Hals. Wer behauptet, man könne über sein Leben selber bestimmen, hat keine Ahnung. Und bestimmt keinen senilen Opa, um den er sich kümmern muss.

Am frühen Nachmittag schiebe ich das Tuk-Tuk aus der Scheune. Vor etwa drei Jahren habe ich im Fernsehen einen Bericht über Indonesien gesehen, wo Tausende Tuk-Tuks auf den Straßen fahren. Von Horst, einem der Bauern aus der Gegend, habe ich ein kaputtes Mofa bekommen. Als Gegenleistung musste ich seine Melkmaschine reparieren. Ich bin in technischen Dingen ziemlich gut, das habe ich in Maslows Garage gelernt und aus Fachbüchern. Drei Wochen später habe ich mit dem Tuk-Tuk die erste Probefahrt gemacht. Die Bemalung und Verzierung kam erst später dazu, und noch immer klebe ich alles Mögliche an die Seitenwände und das Dach der Kabine: Münzen, vom Wind und Regen geschliffene Glasscherben, Plastikspielzeug aus Müslipackungen, nutzlose Schlüssel, einzelne Schachfiguren, Schneckenhäuser, Radkappen, den bleichen Schädel einer Maus. Manchmal gibt mir Maslow etwas oder Horst oder Willi oder Otto. Zum Beispiel die rote Abdeckung eines Rücklichts, für das es kein Fahrzeug mehr gibt, einen Kronenkorken aus Italien, einen Manschettenknopf, eine Hundemarke. Anna schenkt mir ab und zu eine mit billigem Strass verzierte Brosche oder eine zerbrochene Haarspange, die im Sonnenlicht glitzert. Jede Woche kommt etwas Neues dazu.

Ich lasse das Tuk-Tuk im Schatten stehen und gehe zurück ins Haus. Karl sitzt auf dem Hocker in der Küche und betrachtet seine Schuhe. Seine Hände liegen auf den Knien, faltig und fleckig, durchzogen von blauen Adern. Ich habe Fotos gesehen, die ihn als jungen Mann zeigen, als kräftigen, coolen Typ mit vollen schwarzen Haaren und klaren Augen, in denen kein Zweifel zu erkennen ist und keine Ratlosigkeit. Die Fotos liegen in einer Schachtel in Karls Schrank, und ich kann kaum glauben, dass sie denselben Menschen zeigen, der jetzt vor mir sitzt und sich nicht erinnern kann, wie man die Schnürsenkel bindet.

Ich versuche, nicht daran zu denken, aber genau das macht mir am meisten Angst: dass ich irgendwann derjenige bin, der auf diesem verdammten Hocker sitzt und sich nicht an sein Leben erinnern kann. Weil ich keins hatte.

»Es ist ganz einfach, sieh her«, sage ich zu Karl, knie mich vor ihn hin und schnüre ihm den linken Schuh.

»Danke«, sagt er.

»Den andern machst du.«

Karl zögert, dann nimmt er die Schnürsenkel in die Finger, kreuzt sie umständlich und weiß nicht mehr weiter. »Und jetzt?«

»Den einen unter dem andern durch«, sage ich.

Karl vollführt im Zeitlupentempo ein paar sinnlose Bewegungen und ächzt, als würde er Schwerstarbeit verrichten.

»Lass gut sein.« Bevor er sich völlig verheddert, nehme ich ihm die Schnürsenkel aus den Händen und mache es selbst.

»Danke«, sagt Karl.

Ich setze ihm den Helm auf den Kopf, ziehe den Kinnriemen fest und trage ihm die Keksdose mit den Papierschnipseln hinterher. Auch dafür bedankt sich mein Großvater.

In der Scheune steht ein alter VW-Bus. Eigentlich ist es nur eine halb verrostete Karosserie unter einer Plane. Die Sitze lehnen an der Wand, von leeren Düngersäcken notdürftig gegen die staubige Erde geschützt, die der Wind durch die Bretterritzen weht. Der Motor liegt in einer Holzkiste wie in einem Sarg. Alle paar Wochen treibt Maslow ein Ersatzteil auf, manchmal kommt monatelang nichts. Wenn es in dem Tempo weitergeht, bin ich dreißig, bis der Bus restauriert ist.

Karl wäre dann fünfundneunzig. Wie er so im Mittagslicht dasteht, den Helm auf dem Kopf und den Blick unbekümmert in die Ferne gerichtet wie ein greiser Astronaut, traue ich ihm ohne Weiteres zu, hundert zu werden.

Ich helfe Karl in die Kabine und stelle die Keksdose zwischen seine Beine.

»Wo fahren wir hin?«, fragt er.

Zwanzigmal hat er mich das heute schon gefragt.

»Zu Anna«, sage ich, und er lächelt, als sei das eine tolle Neuigkeit.

Ich setze mich auf das Moped und trete das Pedal durch. Der Motor kommt beim ersten Mal. Ich weiß nicht, ob ich als Karls Pfleger viel tauge, aber als Mechaniker bin ich nicht übel.

2

ICH HALTE VOR DEM LADEN UND GEHE ZU KARL. Er stellt sich beim Aussteigen noch ungeschickter als sonst an, weil er mit einer Hand die Keksdose hält. Ich nehme sie ihm ab und fasse ihn am Arm, damit er nicht stürzt. Einmal ist er runtergefallen, vor etwa einem Jahr, als ich kurz nicht aufgepasst habe. Seine rechte Hand war danach verstaucht, und er konnte sich einen Monat lang nicht selber die Zähne putzen. Für einen alten Mann hat Karl erstaunlich gute Zähne. Ich wünschte, sein Hirn wäre so gut in Schuss wie sein Gebiss. Maslow hat mir damals die elektrische Zahnbürste verkauft, die schon seit Jahren in einem Regal des Ladens gestanden hat. Zu einem Sonderpreis für Angestellte, sonst hätte ich mir das Ding nicht leisten können.

Karl hat Angst vor dem summenden Gerät gehabt und sich geweigert, den Mund aufzumachen. Erst habe ich ihm gut zugeredet, aber das hat nichts gebracht. Irgendwann habe ich ihn angebrüllt, er soll sich nicht wie ein kleines Kind benehmen. Da hat er die Augen zugemacht und den Mund aufgesperrt. Die Prozedur hat ihn so erschreckt, dass er völlig erstarrt ist. Er sah aus wie ein Irrer, ein Epileptiker, dem Schaum aus dem Mund quillt. Am nächsten Tag habe ich ihm wieder mit der elektrischen Bürste die Zähne geputzt, und auch da hat er sich aufgeführt, als wollte ich ihn umbringen. Etwa zwei Wochen ging das so. Dann kam diese Werbung im Fernsehen, wo eine Frau sich mit einer elektrischen Zahnbürste die Zähne putzt, und von da an fand er es in Ordnung. Als das Ding zum ersten Mal in seiner Hand brummte, erschrak er ein wenig, aber dann kicherte er und sah fasziniert zu, wie die Zahnpasta in der Gegend rumflog.

Der Lebensmittelladen von Wingroden ist zugleich auch Friseursalon und Postannahmestelle. Im Schaufenster steht das verstaubte Modell eines Vergnügungsparks mit Buden, Bahnen, Riesenrad und einem gemalten See, auf dem kleine Ruderboote und tote Insekten liegen. Auf der Scheibe ist in gelber, teilweise abgeblätterter Schrift zu lesen: LEBENSMITTEL MASLOW und POSTSTELLE. An der Tür klebt ein handgeschriebenes Plakat: HAARSCHNITT AUF ANFRAGE.

Im Laden gibt es Konserven, Tütensuppen, Glückwunschkarten, Kerzen, Nägel, Bleistifte, Spaten und tausend andere Dinge, die jemand, der hier lebt, vielleicht irgendwann brauchen könnte. Auf den Regalen stehen auch einige nutzlose Artikel: Wegwerfkameras und aufblasbare Nackenkissen, wie man sie auf Flugreisen benutzt. Keiner im Dorf verreist jemals.

Über der Tür hängt eine Glocke, die leise klingelt, wenn man den Laden betritt. Karl hebt jedes Mal den Kopf und lächelt die Glocke erstaunt an, als habe er ihren Klang noch nie zuvor gehört.

»Danke«, sagt er, und ich weiß nie, ob er sich bei mir für das Öffnen der Tür bedankt oder bei der Glocke für das Bimmeln.

»Bin gleich da!«, ruft Anna aus dem Lagerraum, in den man durch eine Tür hinter der Verkaufstheke gelangt.

Niemand kennt Annas Alter. Ich glaube, sie ist etwa fünfunddreißig, aber Maslow behauptet, das reicht nicht. Für Alfons und die anderen Bauern ist sie blutjung, nur ist für die jeder Mensch unter fünfzig ein Kind. Jojo ist es egal, wie alt Anna ist. Er sagt, er würde sie auch lieben, wenn sie achtzig wäre. Das ist natürlich Blödsinn. Andererseits weiß man bei Jojo nie.

Karl zeigt auf das Glas mit den Nougatbrocken und sieht mich an. Er kann kaum ordentlich den Tisch decken und weiß zwischendurch nicht mehr, wie er heißt, aber dass er bei jedem Friseurbesuch einen Nougatbrocken kriegt, daran erinnert er sich wie ein Elefant. Manchmal habe ich den Verdacht, dass Karl nur so tut, als ob er immer vergesslicher wird. Aber dann finde ich ihn am Morgen in seinem Zimmer, nackt und fröstelnd, weil er den Schlafanzug ausgezogen hat und sich nicht daran erinnern kann, dass seine Kleider im Schrank liegen. Oder er sitzt auf der Veranda und weint vor sich hin, weil die Tür klemmt und er meint, ich hätte ihn ausgesperrt. Dann weiß ich, dass er nicht spielt. Es ist ihm jedes Mal furchtbar peinlich, wenn ich ihm zum tausendsten Mal zeigen muss, wo seine Unterwäsche, die Socken, Hosen und Hemden sind. Wenn ich ihn auf der Veranda finde, strahlt er mich immer an, als würde ich ihm alle seine Fehler und all den Mist, den er dauernd anstellt, verzeihen und ihn wieder aufnehmen.

In solchen Augenblicken weiß ich nie so recht, was ich für Karl wirklich empfinde. Einerseits ist er mein Großvater und so ziemlich der einzige Verwandte, den ich habe. Ich müsste ihn eigentlich lieben und mich freuen, dass es ihn gibt. Andererseits ist er der Grund dafür, dass ich in diesem Kaff festsitze und Koch geworden bin, Chauffeur und Pfleger und überhaupt das verdammte Mädchen für alles. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich Karl liebe, aber um ihn wirklich zu hassen, habe ich ihn vermutlich noch nicht lange genug am Hals. Am ehesten ist es Mitleid, was ich spüre. Mitleid und ein Rest an Zuneigung für einen alten hilflosen Mann, den Vater meines Vaters.

In einer Ecke summt leise ein Kühlregal. Ein Plakat warnt vor Tollwut. An einer Wand ist ein Holzregal befestigt, das in zwanzig Quadrate aufgeteilt ist, kleine Briefkästen, weil die Post hier schon seit Jahren nicht mehr ausgetragen wird. Über jeder Öffnung ist ein Namensschild angebracht: KURT, WILLI, HORST, OTTO, ANNA/GEORGI, JOJO, KARL/BEN. Die restlichen dreizehn Fächer sind leer, an einem steht noch HERMANN, aber der ist schon seit fünf Jahren tot. Als ich ein Kind war, gab es fast für jedes Fach einen Besitzer. Achtzehn Fächer, fünfundzwanzig Einwohner. Damals war Otto noch verheiratet, und es gab eine Kiesgrube mit Besitzer samt Familie. Die Grube ist mittlerweile ein See, an den Ufern liegen verrostete Förderbänder und zusammengefallene Holzhütten. Im Sommer, wenn ich es vor Langeweile und Hitze nicht mehr aushalte, fahre ich hin und plansche ein bisschen herum. Am Grund des Sees liegt eine Baggerschaufel, die mit ihren gezackten Rändern wie das Maul eines Ungeheuers aussieht.

Als kleiner Junge habe ich den größten Teil der Schulferien bei meinem Großvater verbracht. Frühling, Sommer und Herbst. Zu der Zeit war die Gärtnerei noch in Betrieb und für einen Knirps aus der Stadt ein riesiger Abenteuerspielplatz. Es gab einen Holzschuppen voller Maschinen und Werkzeuge, ein mit Brettern abgedecktes Wasserloch, durch das man nach Australien tauchen konnte, und ein Gewächshaus, das zum abgestürzten Flugzeug wurde, zum Piratenversteck oder zum Kerker in einer Festung. Und es gab Großvater, der je nach Bedarf ein feindlicher Soldat, ein Urwaldmonster oder der Sheriff von Nottingham war.

Selma, meine Großmutter, war damals schon fort, und Henriette, Karls Schwester, half von April bis Oktober im Garten und Haus mit. Die Wintermonate über wohnte sie bei Kurt auf dem Hof, kochte für ihn und wusch seine Wäsche. Henriette hat mich immer verwöhnt wie einen Prinzen, hat jeden Morgen Pfannkuchen gebacken, mir aus grünem Filz ein Robin-Hood-Käppi genäht und aus leeren Waschmittelkartons Astronautenhelme gebastelt. Sie war groß und rund wie der Baum neben dem Schuppen, von dem aus ich mit Karls Fernglas bis nach Kirgisien und auf den Indischen Ozean sehen konnte. Sie ist vor langer Zeit an einem geplatzten Blinddarm gestorben, aber ich vermisse sie noch immer.

Anna kommt aus dem Lagerraum und stellt einen Pappkarton auf die Theke. Obwohl sie immer müde und irgendwie traurig aussieht, ist sie sehr schön. Vor ein paar Jahren war ich in sie verliebt, wie ein kleiner Junge eben in eine ältere Frau verliebt sein kann, aber das hat sich inzwischen gelegt. Ich werde jedes Mal ein wenig nervös, wenn ich sie in ihrem hellblauen Kittel sehe, nur stammle ich nicht mehr und kriege auch keine Schweißausbrüche. Das überlasse ich Jojo, der in einer anderen Welt lebt, einem Film, wo Anna seine Frau ist und nicht die von Georgi, dem verrückten Russen.

Manchmal frage ich mich, warum Anna nicht von hier verschwindet. Sie ist die einzige Frau in diesem elenden Kaff und hat etwas Besseres verdient als diesen verstaubten Laden und den armen Georgi, der zu Hause hockt, dauernd trinkt und sich mit einem Messer in die Haut schneidet. Maslow sagt, der Sinn der Ehe ist es, dass man zusammenbleibt, auch wenn es Probleme gibt. Aber Maslow war nie verheiratet, also was weiß er schon von der Ehe?

»Hallo, ihr beiden.« Anna nimmt einen Nougatbrocken aus dem Glas und gibt ihn Karl.

»Danke.« Karl dreht den Brocken in den Händen und betrachtet ihn ehrfurchtsvoll, bevor er die Augen schließt, die Lippen spitzt und vorsichtig an einer Ecke zu knabbern beginnt. Ich muss dann immer woanders hingucken, weil Karl dabei wirklich dämlich aussieht. Wie ein verschrobener, unterbelichteter Einsiedler, dem die gute Fee aus dem Märchen einmal pro Jahr den Wunsch nach seiner Lieblingsspeise erfüllt. Oder wie ein seltsames Nagetier, das einen besonderen Leckerbissen gefunden hat.

Anna schließt den Vorhang, der den Laden von der Friseurecke abtrennt, und wäscht sich die Hände. Karl setzt sich auf den Stuhl. Erst jetzt bemerke ich, dass ich vergessen habe, ihm den Helm abzunehmen, und hole es nach.

»Und, Karl, was macht das Bein?«, fragt Anna, während sie ihm einen Kragen aus weißem Papier umlegt.

»Ja«, sagt Karl.

Ich glaube, wenn er an seinem Nougatbrocken lutscht, setzt sein Hirn völlig aus.

»Es geht«, antworte ich für ihn.

Anna kichert. Sie verhüllt Karl mit einem farbigen, wild gemusterten Umhang, den sie in seinem Nacken verschnürt. Sie sieht mich an, als warte sie auf etwas. »Das Bein. Es geht.« Sie lächelt, dann macht sie eine fahrige Bewegung mit der Hand, wie um ein lästiges Insekt zu verscheuchen.

»Oh. Ja. Das Bein geht. Verstehe.« Ich lächle zurück, aber Anna hat sich schon umgedreht und nimmt Kamm und Schere von einem Regal. Ich setze mich mit einer Illustrierten auf einen Stuhl am Fenster und tue so, als würde ich lesen. Anna erzählt Karl eine Geschichte, irgendetwas aus der Zeitung, die hier immer mit zwei Tagen Verspätung ankommt. Sie weiß, dass Karl nichts davon begreift, aber sie redet trotzdem auf ihn ein, ruhig und beinahe zärtlich und viel zu leise für seine alten Ohren. Karl sitzt da wie ein Ölgötze. Er hat sich den Rest des Nougatbrockens in den Mund geschoben und gibt ab und zu einen tiefen, summenden Ton von sich.

Hermann Lüders, der Besitzer der Kiesgrube, hatte eine Frau, die Ilse hieß, und eine Tochter. Jette, ein Jahr jünger als ich, war dünn und gemein, aber weil wir die einzigen Kinder im Ort waren, verbrachten wir in den Ferien viel Zeit zusammen. Auf dem Gelände der Kiesgrube durften wir nicht spielen, und so blieb uns eigentlich nur die Gärtnerei. Ich zeigte Jette die Verbindung zur anderen Seite der Welt, den Aussichtsbaum und das Flugzeugwrack, aber sie machte sich nicht gern dreckig und fand es albern, sich in eine leere Regentonne zu setzen und so zu tun, als würde sie von Kannibalen gekocht. Ihre Lieblingsrolle war die einer Stewardess, die den Flugzeugabsturz im Dschungel überlebt hat und sich um den verletzten Piloten kümmern muss. Der verletzte Pilot war natürlich ich. Sie verband mir den Kopf, einen Arm oder ein Bein, und sie wollte, dass ich vor Schmerzen stöhnte, damit sie mir gut zureden konnte. Das hatte sie nämlich so in Filmen gesehen. Ich lag nicht gerne verletzt herum und ließ mir einen Ärmel oder ein Hosenbein hochkrempeln, und ich mochte es nicht, wenn Jette mir mit ihrem Taschentuch die Stirn abtupfte. Damals konnte ich nicht ahnen, dass ich in all den Jahren danach kein einziges Mädchen küssen würde, sonst hätte ich vielleicht einen Versuch bei ihr unternommen. Obwohl Jettes Lippen schmal und rissig waren und ich sie eigentlich gar nicht leiden konnte.

Manchmal träume ich von Jette Lüders. Es ist immer der gleiche Traum: Wir sind mit dem Flugzeug im Dschungel abgestürzt, genauso wie wir es immer gespielt haben. Ich liege am Boden, und Jette tupft mir mit ihrem Taschentuch die Stirn ab. Dann taucht hinter ihr eine Schlange auf. Ich will Jette warnen, aber aus meinem Mund kommt kein Ton, und die Schlange wickelt sich um Jettes Hals. Ich kann meine Arme nicht bewegen, um Jette zu helfen. Ihre Augen werden immer größer, und ihr aufgerissener Mund ist plötzlich eine Höhle, ein schwarzer Schacht, in den ich stürze. Ich spüre, wie ich falle, und kurz bevor ich unten aufschlage, erwache ich.

In der Illustrierten steht nichts, was mich interessiert. Dauernd heiraten irgendwelche berühmte Menschen und lassen sich wieder scheiden. Ständig benimmt sich ein Promi daneben, fährt betrunken Auto oder schmeißt einen Fernseher aus dem Hotelfenster. Ab und zu lese ich eine Zeitung, vielleicht zweimal im Monat. Ich finde, das reicht. Es passiert sowieso immer das Gleiche. Wir in Wingroden müssen nicht auf dem Laufenden sein, die Welt dreht sich auch ohne uns weiter. Außerdem gibt es Fernsehen. Wenn irgendwo ein Meteorit einschlägt oder ein Krieg ausbricht, wird einem drei Minuten später alles brühwarm in der Glotze serviert. Karl hat einen Fernseher, der schon bei ihm im Wohnzimmer stand, als ich fünf war. Er ist schwarz und riesengroß, und man muss sich ganz nahe an ihn heransetzen, damit das Bild nicht flimmert. Bei einem Gewitter oder wenn Schnee auf der Antenne liegt, spinnt er völlig, dann kommt keiner der drei Sender richtig rein. Ich fürchte, dass er bald endgültig den Geist aufgeben wird, bestimmt noch bevor meine Mutter das neue Gerät bringt, das sie mir vor etwa zwei Jahren versprochen hat.

Ich höre Georgi erst, als Anna den Kamm und die Schere auf die Ablage unter dem Spiegel legt. Ich sollte mich mittlerweile daran gewöhnt haben, aber das Geheul jagt mir jedes Mal von Neuem einen Schrecken ein. Sogar Karl, der eigentlich ein Hörgerät braucht, sieht mich mit seinem Weltuntergangsblick an. Wenn eine Glühbirne mit einem Knall ausgeht, der Wind ein Fenster aufdrückt oder ein Blitz ins Feld neben dem Haus einschlägt, sieht er mich auch immer so an. Als würde er darauf warten, dass ich etwas unternehme, die Birne ersetze, das Fenster schließe, das Gewitter ausschalte.

»Tut mir leid«, sagt Anna und geht hinaus, wo Georgi die Straße entlanggewankt kommt, immer wieder die gleichen beiden Sätze auf Russisch ruft und dabei mit den Armen in der Luft herumfuchtelt.

Anna, die Russisch spricht, hat mir mal erzählt, was die Sätze bedeuten. »Lauft weg!« und »Versteckt euch!« Georgi war im Krieg in Tschetschenien, und seither ist er nicht mehr richtig im Kopf. Alle im Dorf fragen sich, wie Anna es mit ihm aushält.

»Sie kommt gleich zurück«, sage ich und lächle Karl zu, damit er nicht mehr dreinschaut wie ein Ochse, wenn es donnert.

Karl nickt, dann lutscht er weiter an seinem Nougatbrocken und betrachtet sich dabei im Spiegel.

Anna und Georgi sind sich vor acht Jahren in Hamburg begegnet, wo Anna als Krankenschwester gearbeitet hat. Eigentlich ist sie gelernte Friseurin, aber irgendwann wurde ihr das zu öde, und sie machte eine Ausbildung zur Pflegerin, zuerst in Altersheimen und später in der Mariahilf-Klinik. Georgi ist aus Russland abgehauen, über Lettland und die Ostsee, und ist in Hamburg gelandet. Eine Zeit lang hat er im Hafen gearbeitet, schwarz natürlich, und eines Tages hat er sich die Hand gebrochen und musste behandelt werden. Er wollte nicht ins Krankenhaus, weil er illegal in Deutschland war, aber seine Kollegen haben ihn trotzdem hingefahren. Als die Hand verheilt war, musste er das Land verlassen, und da hat Anna ihn geheiratet, damit er bleiben konnte. Sie sagt, dass er im Krieg schreckliche Dinge erlebt und deshalb mit dem Trinken angefangen hat. Am Anfang war es noch nicht so schlimm, sagt Anna, da waren sie und Georgi sogar ziemlich glücklich. Aber mit dem Gedächtnis ist das so eine Sache: Einige Menschen vergessen im Lauf der Zeit die schlimmen Erlebnisse, und andere erinnern sich mit jedem Jahr stärker an sie.

Ich stelle mich ans Fenster und schaue hinaus. Anna versucht Georgi zu beruhigen, nimmt ihn am Arm und redet auf ihn ein. Einen Moment lang sieht Georgi sie stumm an, dann macht er sich los und stolpert weiter. Wenig später brüllt er wieder seine beiden Sätze. Dass die Straße bis auf ihn und Anna leer ist, bekommt er gar nicht mit, so weggetreten ist er. Anna geht ihm nach, obwohl sie weiß, dass sie Georgi nicht helfen kann, und nach einer Weile sind beide aus meinem Blickfeld verschwunden.

Ich drehe mich um. Karl lutscht noch immer an dem Nougatbrocken, der kleiner geworden ist und seine Backe kaum noch ausbeult. Es wäre sinnlos, auf Annas Rückkehr zu warten, damit sie Karl die Haare fertig schneidet und ihn rasiert. Das haben wir schon einmal gemacht. Fast eine Stunde saßen wir herum, bis Anna wieder da war, und dann hat sie so heftig gezittert, dass sie Karl mit dem Rasiermesser in die Wange geschnitten hat.

»Komm, Karl, wir gehen«, sage ich, nehme ihm den Umhang ab und hänge ihn an den Haken neben dem Waschbecken. Ich knipse das Licht über dem Spiegel aus und ziehe die Ladentür hinter uns zu. Absperren muss man hier nicht. Nach Wingroden kommt kein Schwein, nicht einmal ein Einbrecher.

3

ICH STELLE DAS TUK-TUK IN DEN SCHATTEN VON MASLOWS Abschleppwagen und helfe Karl beim Aussteigen. Als er steht, drücke ich ihm die Keksdose in die Hand. Er bedankt sich, dann überqueren wir den geteerten Vorplatz. Karl macht kleine tapsige Schritte und lächelt. Von der schäbigen Umgebung scheint er nichts zu bemerken. Er umschlingt die Keksdose mit beiden Armen und presst sie an seine Brust. Dabei lächelt er, als würden wir auf ein tolles Hotel in einer großartigen Stadt zugehen und nicht auf eine heruntergekommene Tankstelle am äußersten Rand der Zivilisation.

Je länger ich hier bin, desto deprimierter macht mich dieser Anblick. Die einstmals blaue, ausgeblichene und kaum noch lesbare Schrift GARAGE MASLOW auf dem hellen Verputz. Die bunten Plastikwimpel an den Schnüren zwischen dem Flachdach und der einsamen Straßenlampe. Die verbeulten Blechschilder, die für Motorenöl und Reifen werben. Der weiße Volvo Kombi, Baujahr 1992, der neben den Zapfsäulen steht. Das Werkstattgebäude, der Schuppen und Jojos Wohnwagen, der aussieht wie ein riesiger Käfer mit silbernem Panzer. Der Schaukasten an der Wand neben dem Tor, in dem eine Karte hängt, die vom Sonnenlicht so ausgebleicht ist, dass man nichts mehr darauf erkennen kann.

Wenn es einen Hund gäbe, würde er neben den Zapfsäulen liegen und auf Kundschaft warten. Aber es gibt keinen Hund. Sokrates ist seit vier Jahren tot, und Maslow will keinen neuen. Kundschaft gibt es auch keine mehr. Seit die Bundesstraße eröffnet wurde, kommt hier kaum noch jemand vorbei. Man muss sich schon gewaltig verfahren, um in Wingroden zu landen.

Ich halte Karl die Tür auf, dann betrete ich hinter ihm den Laden, der eine Mischung aus Imbissbude, Kiosk und Videothek ist. An den Wänden hängen Werbeplakate für Motorenöle, Getränke, Zigaretten und Filme. Ein Regal ist voller Chipstüten, Schokoriegel und Zeitschriften, in einem anderen stehen Scheibenwischblätter, Eiskratzer und eingeschweißte Duftbäume. Wenn das Verfallsdatum abgelaufen ist, kriegen Jojo, Karl und ich die Lebensmittel. Aber ich kann schon lange keine Käsecracker oder Gummibärchen mehr sehen, und Jojo isst nur Sachen, die seiner Meinung nach gesund sind, also nichts aus diesem Laden. Dafür stopft Karl sich mit dem Zeug so voll, dass man meinen könnte, ich würde ihm zu Hause nichts zu essen geben. Danach ist ihm dann immer schlecht, und er jammert, aber das ist mir egal, denn es bedeutet, dass ich am Abend nicht mehr kochen muss.

In einer Ecke steht auf einem Holzpodest das Modell einer Pferderennbahn. Maslow hat es selbst gebastelt, vor etwa sechs Jahren, als er auf dem Feld neben der ehemaligen Bushaltestelle eine richtige Rennbahn anlegen wollte. Er hat dauernd neue tolle Ideen. Dann redet er von nichts anderem mehr, zeichnet Pläne und baut Modelle aus Pappmaschee. Nur dass nie etwas aus den Projekten wird, weil sich seine dubiosen Partner plötzlich zurückziehen oder die Banken keine Kredite mehr geben. Oder weil ihm etwas noch Besseres eingefallen ist, womit man Wingroden aus der Bedeutungslosigkeit holen kann.

Auf der Theke neben dem Getränkeautomat stehen eine Registrierkasse und ein Postkartenständer. Es gibt drei verschiedene Postkartenmotive, eine mit einer Luftaufnahme von Wingroden, eine mit der Dorfkneipe und eine mit der Eiche auf Willis Acker. Maslow hat sie drucken lassen, und von ihm stammen auch die Texte auf der Rückseite: Wingroden, ein zum Abheben himmlischer Ort. – Das Gasthaus Schimmel in Wingroden, wo aus Fremden Freunde werden. – Die Wingrodener Eiche – im Land verwurzelt seit 200 Jahren. Die Karten sind total vergilbt, und obwohl sie nur dreißig Cent das Stück kosten, verkaufen sie sich noch schlechter als die T-Shirts mit dem Aufdruck ICH WAR IN WINGRODEN UND KOMME ZURÜCK! für fünf Euro. Irgendwo stehen auch noch ein paar Kisten mit Gläsern und Aschenbechern herum, in die Glasbläserstadt Wingroden – Lebendige Tradition eingraviert ist. Ein Wunder, dass Maslow keine Baseballmützen hat herstellen lassen, auf denen Wingroden – Pulsierende Metropole Europas steht.

Hinter der Theke sitzt Jojo in einem ausgeleierten Polstersessel und sieht sich zum tausendsten Mal Harry und Sally, Die Brücken am Fluss, Jenseits von Afrika oder einen der unzähligen anderen Liebesfilme aus seiner Sammlung an. Er trägt Kopfhörer und ist so in das Geschehen auf dem Bildschirm vertieft, dass er Karl und mich nicht bemerkt hat. Man könnte den Laden komplett ausräumen, ohne dass Jojo etwas davon mitkriegen würde. Man könnte sogar die Tür aushängen und die Regale abschrauben, Jojo würde seelenruhig in seinem Sessel hocken und die Lippen synchron mit den Schauspielern bewegen, deren Dialoge er auswendig kennt.

Ich gehe um die Theke herum und winke. Jojo zuckt zusammen, setzt sich aufrecht hin und nimmt die Kopfhörer ab.

»Hallo«, sage ich und lächle, obwohl mir nach der Sache mit Georgi nicht sonderlich danach zumute ist.

»Tag, Ben.« Jojo verzieht ebenfalls die Mundwinkel, aber sein Lächeln fällt noch kläglicher aus. Auch jetzt, wo er steht, ist er einen halben Kopf kleiner als ich. Offiziell arbeitet Jojo hier, aber eigentlich sieht er sich den ganzen Tag nur Filme an. Liebesfilme. Je trauriger, desto besser. Dabei ist Jojo schon traurig genug. Weil er Anna liebt, die ja mit Georgi verheiratet ist. Vermutlich sieht sich Jojo deswegen diese Filme an. Damit er sich einreden kann, es gebe noch andere unglückliche Liebesgeschichten, nicht nur die von ihm und Anna. Das macht ihn zwar nicht fröhlicher, aber ich glaube, es hält ihn davon ab, etwas richtig Dummes zu tun.

»Doktor Schiwago«, sagt Jojo. Seine Stimme klingt müde. Das Bild auf dem Fernsehschirm ist eingefroren: ein Zug mit Dampflok in einer schneebedeckten Landschaft.

Ich nicke. Ich weiß nicht, worum es in dem Film geht, aber den Fehler, Jojo zu fragen, habe ich nur einmal gemacht und mir dann eine Stunde lang die Geschichte von Casablanca anhören müssen. Auf einer Holzkiste neben dem Sessel stehen ein Krug und ein Glas. Daneben liegt das Gerät, mit dem Jojo sich jeden Tag stundenlang die Kopfhaut massiert. Es ist etwas größer als ein Stück Seife, hat Gumminoppen, ein Kabel und eine Schlaufe, in die man seine Hand hineinschiebt. Im Krug ist Jojos Zaubertrank, der bewirkt, dass seine Haare schneller wachsen. Jojos Haare sind etwa zwei Millimeter lang. Wenn sie vier Millimeter lang sind, geht er zu Anna und lässt sie schneiden. Der Krug ist fast leer. In den Ablaufrinnen von Kuhställen habe ich Flüssigkeiten gesehen, die eine appetitlichere Farbe hatten als Jojos Gebräu, aber er schwört auf die Wirkung.

»Sind die Ersatzteile gekommen?«, frage ich Jojo. Seit über einer Woche warte ich auf den Anlasser, die Lichtmaschine und den Keilriemen für Ottos Traktor.