Auf den Inseln des letzten Lichts - Rolf Lappert - E-Book

Auf den Inseln des letzten Lichts E-Book

Rolf Lappert

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Beschreibung

Die zwei Geschwister, Megan und Tobey, sind trotz aller Unterschiede doch einzigartig aneinander gebunden. Eines Tages ist Megan verschwunden, und Tobeys Suche nach ihr wird zu einem lebensgefährlichen Abenteuer: Auf einer winzigen Insel in den Philippinen stößt er auf eine seltsame, im Verfall begriffene Welt. Wissenschaftler und Versuchstiere einer einstigen Forschungsstation für Primaten vegetieren hier vor sich hin, und Tobey kommt einem dunklen Geheimnis auf die Spur, von dem nur Megan die ganze Wahrheit kennt ... Nach seinem preisgekrönten Roman "Nach Hause schwimmen" liefert Rolf Lappert, der Autor aus der Schweiz, erneut ein Meisterwerk der Erzählkunst, das die Absonderlichkeiten des Lebens beschreibt und eine faszinierende fremde Welt eröffnet.

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Rolf Lappert

Auf den Inseln

des letzten Lichts

Roman

Carl Hanser Verlag

eBook ISBN 978-3-446-23614-1

© Carl Hanser Verlag München 2010

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

www.rolf-lappert.de

Für Simone, Anouk und Jonas

Ich will allein sein können, es als bestärkend erleben –

nicht nur als ein Warten.

Susan Sontag, Tagebücher

Two can be as bad as one.

It’s the loneliest number since the number one.

Aimee Mann, One is the Loneliest Number

PROLOG

Nachdem es fast den ganzen Juli hindurch geregnet hatte, brachte der August endlich warmes, trockenes Wetter. Sonnenschein, hatte der Mann im Radio gesagt, und Megan flüsterte das Wort, weil ihr der Klang gefiel. Sonnenschein. So nannte ihre Mutter sie, wenn es ein guter Tag und ihre Stimme ein zärtlicher Singsang war. Megan saß vor der Haustür unter dem Vordach und hielt die mit süßem Tee gefüllte Nuckelflasche fest, auf der bunte Blumen wuchsen. In einem Teller lagen Haferkekse und braun verfärbte Apfelschnitze. Das Gackern der Hühner wehte herüber, hin und wieder schnaubte Sam, der Gaul, wenn ihm die Fliegen zu lästig wurden. Weit weg stieg das Tuckern des Traktors ins unermessliche, blendende Blau. Ein Windhauch schob die heiße Luft von der Veranda und kühlte den verschwitzten Körper des Mädchens ein wenig.

Die Frau im Auto sah zum Haus, ihr Gesicht mit der Sonnenbrille verschwamm in einem Viereck aus gleißendem Licht. Als der Mann den Motor anließ, drehte sie die Scheibe herunter und hob die Hand zu einem zaghaften Winken, aber dann setzte sich der Wagen in Bewegung, fuhr über den leeren, ockerfarbenen Platz und verschwand hinter den Bäumen, die entlang des ausgetrockneten Grabens standen. Während das Motorengeräusch verklang und der Staub sich legte, drang das Weinen des Jungen aus dem Haus, erst wimmernd, fragend, schließlich mit der ganzen Lautstärke und Kraft, die ein Halbjähriger aufzubringen vermag. Eine Weile lauschte Megan, wartete, dass jemand kam und sich um das lästige Wesen kümmerte, doch niemand kam. Nur die sorglose Hühnerschar war zu hören und das Brummen des Traktors, leiser als eine Hummel.

Dann verstummte der Schreihals. Wahrscheinlich lag er da und glotzte an die Decke, die Augen groß wie die Knöpfe an Daddys Mantel, das Gesicht rot angelaufen und fleckiger als das Fell der Katze. Tobey. Krachmacher und Vielfraß, wenn er nicht gerade schlief. Toto. Kleiner Bruder, sagte Mommy immer, wenn Megan ihn ansah und sich wünschte, er würde in den Müll gestopft, zusammen mit der stinkenden Windel und der Rassel, die ihr gehörte, und dem rosafarbenen Tuch, auf dem sie geschlafen hatte, bis er auftauchte.

Megan stellte die Nuckelflasche hin, drehte sich zur Seite, legte ihre Händchen auf die Holzplanken und stemmte sich hoch. Sie wartete, bis sie nicht mehr schwankte, dann bewegte sie sich in Richtung Vordertür, die offen stand wie alle übrigen Türen und Fenster des Hauses. Sie hörte das Jammern des Wesens, das nichts selber tun konnte, außer diese Töne von sich zu geben, das nicht gehen, keine Flasche und keinen Löffel halten und nicht einmal in die Hände klatschen konnte und mit dem Mommy dennoch viel mehr Zeit verbrachte als mit ihr, Megan, Meggie, Sweetie, die nicht mehr ständig herumgetragen und gefüttert werden musste, die sich die Hände waschen konnte und in den Topf machte, wenn man sie daraufsetzte.

Als sie an der Tür war, wurde Megan zurückgehalten. Sie drehte sich um, doch da war niemand. Dann, beim Versuch, die Schwelle zu übertreten, spürte sie den leichten Druck der Riemen an ihrem Oberkörper, den ein dünnes Leibchen bedeckte. Sie machte einen Schritt nach hinten und sah das Seil, das von der Mitte ihres Rückens hing, in einer gekrümmten Linie über die Bodenbretter verlief und an einem der Geländerpfosten endete. Megan betrachtete die Knoten im Seil, tastete mit den Fingern über die Riemen und setzte sich schließlich hin. In ihrem kleinen, warmen Kopf kreisten die Gedanken, kurze, simple Fragen, wie sie in dem Buch gestellt wurden, aus dem ihr die Mutter vor dem Einschlafen manchmal vorlas. Wo schläft der Fisch, wenn er müde ist? Was macht die Sonne nachts? Sie zog an der Leine. Kann aus einem Mädchen ein Hund werden wie aus einem Prinz ein Frosch? An ihrer Hand waren alle Finger. Auch ihre Füße hatten sich nicht in Pfoten verwandelt.

Megan sah über den Platz, auf dem das Sonnenlicht alles ausgelöscht hatte, die Steine, die Schlaglöcher, die Reifenspuren. Es war still, die Hühner dösten irgendwo im Schatten, Sam hatte sich ans andere Ende der Weide getrollt, wo ein paar Bäume standen. Dann, als hätte sie nach ihm gerufen, tauchte der Hund auf.

»Wellie«, sagte Megan leise, erhob sich und ging ein paar Schritte in Richtung der sonnenbeschienenen Verandastufen, bis das Seil gestrafft war. Der Border Collie hörte sie, wedelte mit dem Schwanz und wollte zu ihr, aber die an der Scheunenwand befestigte Kette hielt ihn zurück. Er zerrte daran und bellte, und nach einer Weile setzte er sich hin, trotz der Hitze, die den Boden mit einer Schicht flirrender Luft belegte.

»Wellie«, sagte Megan noch einmal, ein wenig lauter als zuvor. Das nutzlose Wesen im Haus fing wieder an zu weinen, und jetzt weinte auch Megan.

Erster Teil

HITZE

1

Der Schiffsrumpf glänzte, ein dunkles Tier, das sich auf die Seite gelegt hatte, ein riesiger gewölbter Körper, aufgedunsen vom Vergehen der Zeit. In einer gekrümmten Linie verliefen Bullaugen auf der dem Licht zugewandten Flanke, schwarze, kreisförmige Wunden, umrandet von schorfigem Rost. Am Bauch, unter einem Fell aus Tang, bogen sich von Salz zerfressene Stahlrippen. Die Dünung war kaum spürbar, die See ein Theatermeer aus grauem Tuch, in dem sich nichts spiegelte, nicht einmal die im windlosen Himmel stehenden Wolken.

Tobey O Flynn sah dem Boot nach, das ihn auf die Insel gebracht hatte. Er stand auf dem Streifen trockenen Grases zwischen dem Ufer und der sanft ansteigenden Böschung und lauschte dem verklingenden Tuckern des Außenbordmotors. Er hatte die Koffer während der ganzen Fahrt nicht losgelassen und hielt die Griffe auch jetzt noch umklammert. In der Ferne glaubte er Seevögel zu erkennen, winzige auf- und zuklappende Scheren vor einem gelben Horizont. Ein Gefühl der Verlorenheit ergriff ihn so heftig, dass er lächeln musste. Er schloss die Augen und summte die ersten Takte eines Songs, der ihn seit seiner Abreise begleitete. Der Abend brachte endlich Kühlung, die Kleidung löste sich von der feuchten Haut. Obwohl die Koffer schwer waren, setzte er sie nicht ab; das Ziehen in seinen Armen erinnerte ihn vage an richtige Schmerzen. Tobey O Flynn stellte sich vor, ein Schiff zu sein, die brennenden Arme waren Ketten und die Koffer Anker, die den Grund nicht berühren durften, noch nicht.

Nachdem er eine Weile so dagestanden hatte, öffnete er die Augen, drehte sich um und ging über den Boden aus Sand, Steinen und Schwemmholz zu dem erhöhten Feld, dessen dürres Gras unter seinen Schuhen raschelte. Palmen und Bäume mit unterspülten Wurzeln neigten sich dem Meer zu, andere hatte der Wind landeinwärts gedrückt. Ein Trampelpfad wand sich durch kniehohe braune Halme und verdorrte Büsche. Bald tauchte ein Wald aus glatten, schmalen Stämmen auf. Darin brummte und zirpte es, Käfer stießen im Flug gegen Blätter wie Tropfen eines unentschlossenen Regens. Schwärme stecknadelkopfgroßer Fliegen hingen als zitternde Gebilde in der Luft. Wenn Tobey stehenblieb, hörte er ein leises Knistern und Kratzen unter dem Laub, das den Boden bedeckte. Er schob mit dem Schuh handtellergroße Blätter zur Seite und sah Tausendfüßler und Würmer, dünn wie Zwirn. Ein Krebs verschwand rückwärts in einem Loch. Beim Gehen schlug Tobey mit den Koffern gegen die Bäume. Als er aus dem Wald trat, hob er den Blick. Das Licht sank ins Grau, genug, dass schwach die Form des Mondes sichtbar wurde.

Nach dem Schiffswrack am Ufer waren Benzinkanister und Reifen die ersten Anzeichen von Zivilisation, auf die Tobey stieß. Sie lagen in einer flachen Mulde am Rand des Weges, zu dem der Pfad jenseits des Wäldchens geworden war. In einem der Kanister surrte es, Bienen oder Wespen flogen ein und aus. An einem schiefen Pfahl hing ein Blechschild mit unleserlicher Beschriftung. Die glänzende Fläche, die Tobey für eine Wasserlache gehalten hatte, erwies sich als Windschutzscheibe, über die bleiche Lianen rankten. Fingerdicke Wurzeln wuchsen an den Wänden eines Fasses hoch, Moos umhüllte einen Reifen. Die Natur arbeitete langsam und lautlos, sie überwucherte den Müll, bedeckte ihn mit Blättern, tausenden hellgrünen Planen.

Der Belag unter Tobeys Schuhen wechselte von Sand zu Lehm, der in den Fahrspuren, wo sich während der Regenzeit Wasser gesammelt hatte, dunkel und rissig war. Bäume standen zu beiden Seiten des Pfads, ihre Blätter schimmerten trotz der rasch einsetzenden Dämmerung in zahllosen Grüntönen. Zwischen den Stämmen wuchs Gras, niedergedrückt vom Wind, der in der Nacht geweht und sich am Nachmittag gelegt hatte, der Ausläufer eines Sturms über Indonesien. Tobey blieb stehen und spähte ins Zwielicht des Tunnels, in den der Weg mündete, lauschte auf Geräusche und hörte Zirpen und gedehntes Summen und, weit entfernt, das Meer, das in einem von Ewigkeit gewiegten Takt Wellen gegen das Ufer warf.

Der Tunnel führte zu einem Platz, einem mit dürrem Gras bedeckten Feld, an dessen Rand ein Wellblechschuppen vor der dunklen Front des Waldes aufragte. Geborstene Betonplatten legten eine Fahrspur zu dem Gebäude. Wo der Platz endete und die ursprüngliche Vegetation die Rückeroberung der Parzelle betrieb, zerfiel ein Traktor in der salzigfeuchten Luft. Als habe die Fassade des Schuppens das Tageslicht gespeichert, schien sie schwach zu leuchten, eine Leinwand, vor der Insekten wirbelten. Falter schwebten aus der Dunkelheit herab, langsam wie schwere Schneeflocken, immer wieder in die Höhe getragen von einem Windstoß, den es nicht gab. Tobey stellte die Koffer ab, seine Arme brannten. Die Melodie kreiste unablässig in seinem Kopf. Der Gedanke, keine Waffe bei sich zu tragen, beunruhigte ihn für einen Moment, dann hob er einen Stein auf und schleuderte ihn gegen das Wellblech.

Der Himmel wurde dunkelblau. Das letzte Glimmen, schwach wie ein Feuer auf einer weit entfernten Insel, floss hinter den Bäumen ins Meer und verging. Tobey hatte den Versuch aufgegeben, die riesige Schiebetür an der Vorderfront zu öffnen, und war durch eines der Seitenfenster in den Schuppen eingestiegen. Er hatte zwei Taschenlampen dabei, den Lichtstrahl der größeren richtete er in alle Winkel der Halle, sich wie ein Leuchtturm drehend. Schränke standen schief an einer Wand, die Türen teilweise offen, entlang einer anderen reihten sich Werkbänke, offene Blechfässer, Kisten und Teile einer Karosserie. Unter dem Dach lagen Vogelnester auf den Eisenträgern, am Boden musterten weiße Kotspritzer die rohen Bretter. An einer Stelle des Giebels klaffte ein Loch, durch das Tobey den Nachthimmel sehen konnte. Seile hingen von den Querbalken des Dachstuhls, an einem war ein geflochtener Korb befestigt, in dem eine Handvoll rostiger Nägel lag. Ein Kühlschrank ohne Tür stand auf Bausteinen aus Zement, in einer Ecke türmten sich leere Flaschen, das Glas stumpf von braunem, pudrigem Staub.

Tobey schob eine Werkbank ein Stück von der Wand weg, an der Ameisen hochliefen, wischte sie mit einem Stofflappen so gut es ging sauber und breitete die Isoliermatte darauf aus, die, flach wie eine gefaltete Straßenkarte, in einem der beiden Koffer gelegen hatte. Der Verkäufer im Outdoorladen in Manila hatte ihm zu einem monströsen Rucksack geraten, aber Tobey war nicht von der fixen Idee abzubringen gewesen, seine Habseligkeiten weiterhin in den beiden Koffern zu transportieren. Obwohl er nur ein Moskitonetz und einen Schlafsack hatte kaufen wollen, war er eine Stunde später auch noch mit der Isoliermatte, einem Gaskocher, Geschirr und Töpfen, zwei Taschenlampen und einem Wasseraufbereitungs-Set ins Hotel zurückgekehrt. Er hatte alles, was er seit London mit sich schleppte, auf dem Bett ausgebreitet und dann eine Daunenjacke, ein Paar Lederschuhe, ein Flanellhemd und ein Badetuch aussortiert und den Rest auf die zwei Koffer verteilt. Die Jacke, das Hemd und die Schuhe schenkte er dem Nachtportier, der darüber eher ratlos als erfreut schien. Das Tuch knüllte er zusammen und warf es aus dem Fenster im achten Stock, nur um zu sehen, wie es in den Hinterhof schwebte.

Draußen riefen zwei Vögel einander zu, die Dachbalken knackten fast unhörbar. Tobey rollte den Schlafsack auf dem Tisch aus und bereute, die Isolier- statt der Schaumstoffmatte gewählt zu haben, nur weil sie weniger Platz brauchte. Ihm kam der Gedanke, er könnte sich auf der harten Tischplatte unruhig hin und her wälzen und herunterfallen, aber die Vorstellung, auf dem Boden zu schlafen, wo im Schutz der Dunkelheit bestimmt allerlei Getier kriechen würde, erschien ihm weitaus unangenehmer. Er baute den Kocher zusammen und machte im kleineren der beiden Töpfe einen Teil des Wassers heiß, das er in zwei Plastikflaschen mitgenommen hatte. Während er wartete, aß er gesalzene Erdnüsse der Singapore Airlines und lauschte den Geräuschen der Nacht. Er musste an das Messer denken, das er im Laden in der Hand gehalten und schließlich zurückgelegt hatte, damit sein Gepäck nicht noch schwerer wurde. Ein Messer wäre eine kluge Anschaffung gewesen, fand er jetzt, angestrengt auf ein leises Kratzen am Wellblech horchend. Andererseits bezweifelte er, dass es als Waffe viel taugte. Um einem Angreifer die Klinge ins Fleisch zu stoßen, musste man ihn auf Armeslänge an sich heranlassen; eine Distanz, die Tobey entschieden zu gering war.

Als das Wasser kochte, machte er sich einen Becher Fertignudeln und eine Tasse Pulverkaffee. Das Kratzgeräusch war nicht mehr zu hören, jetzt summte ein dicker Käfer durch die Halle und stieß ab und zu gegen eine Wand. Tobey verschlang die Nudeln mit Heißhunger, danach trank er den Kaffee und aß einen Keks aus einer Packung, auf der ein chinesischer Drachen abgebildet war. Er setzte sich auf die Tischplatte, zog die Schuhe aus und stellte sie ans Fußende, Geschichten von Skorpionen im Kopf, die sich nachts eine Bleibe für den Tag suchten. Hemd und Hose rollte er zusammen und benutzte das Bündel als Kissen. Der Käfer, ein kleiner schwarzer Hubschrauber, surrte über ihm. Vielleicht suchte er das Loch im Dach, den Weg hinaus ins Offene, wo jetzt ein Wind zu wehen begann.

Er war müde, aber schlafen konnte er nicht. Die Männer, in deren Boot er gekommen war, hatten ihn in radebrecherischem Englisch vor der Insel gewarnt. Einer hatte von Lichtern erzählt, die in manchen Nächten zu sehen waren, von Schmugglern, islamischen Extremisten und Piraten. Der Älteste der drei hatte gar nichts gesagt. Er hatte schwarzes Kraut in gerolltem Zeitungspapier geraucht und Tobey nur angesehen, wie man jemanden ansieht, der verloren ist und es weiß und nichts gegen sein drohendes Ende unternimmt.

Tobey setzte sich auf und schaltete die Taschenlampe ein, deren Licht innerhalb von Sekunden hunderte kleiner Mücken anzog. Es war still im Schuppen, der Käfer war fort oder ruhte sich irgendwo aus. Tobey erwog, das Moskitonetz aufzuhängen, aber die Balken verliefen hoch oben, und er hatte vergessen, Schnur mitzunehmen. Der Alte fiel ihm wieder ein. Bestimmt bedachte er jeden, der leichtsinnig genug war, an Deck seines Bootes zu kommen, mit diesem Blick, in dem verschlagene Weisheit lag, und, ein Blinzeln später, dumpfe Beschränktheit. Die Tatsache, dass der Mann immer wieder und ohne ersichtlichen Grund grinste oder die Hände verwarf und vor sich hin murmelte, als würde er beten, mit seinem schäbigen Kahn nicht abzusaufen, legte sogar die Vermutung nahe, er sei verrückt oder ein Trinker oder beides. Vielleicht hatten die Männer ihn nur einschüchtern wollen; sie verstanden nicht, was ein bleicher europäischer Jüngling hier verloren hatte, hunderte Kilometer von Manila und dem nächsten annehmbaren Hotel entfernt. Sie hatten gestaunt und gescherzt über ihren seltsamen Passagier, sich möglicherweise wirklich um sein Wohlergehen gesorgt, aber sein Geld für die Überfahrt hatten sie trotzdem genommen, und auch den Vorschuss dafür, dass sie ihn in drei Tagen wieder abholten.

Tobey schlüpfte in die Schuhe, kramte die Zahnbürste aus dem Koffer und putzte sich die Zähne. Mit einem halben Becher spülte er den Mund aus, das restliche Wasser aus dem Topf trank er, obwohl es noch lauwarm war. Plötzlich hörte er Stimmen, und für Sekunden setzte sein Herz aus. Er atmete nicht, bewegte sich nicht, dann erst wurde er sich des Lichtscheins bewusst, in dem er saß, und machte die Taschenlampe aus. Zwei Männerstimmen, die Tagalog sprachen, drangen durch die Blechwände. Einer der Männer rief seine Sätze in hohen, melodischen Tönen, fast singend, der andere brummte gelegentlich zurück, tief und lustlos. Tobey rührte sich noch immer nicht. Der Puls hämmerte so laut in seinem Kopf, dass er überzeugt war, man könne die Schläge hören in den kurzen Augenblicken der Stille, wenn keiner der beiden Männer etwas sagte und das Geräusch ihrer Schritte vom weichen Boden geschluckt wurde. Er suchte die Bodenbretter nach der Eisenstange ab, über die er vor einer Weile gestolpert war und die ihm als Waffe tauglich schien, tauglicher jedenfalls als ein Messer. Die hohe Stimme drang ein paar Meter entfernt durch das Blech, das Brummen war noch näher, klang noch gelangweilter. Die beiden Männer bewegten sich an der Außenwand entlang, gemächlich, während die Insekten schwiegen und die Bäume ihr Rauschen unterbrochen hatten und die Ruhe vollkommen war, gestört nur vom Plappern des Mannes, der möglicherweise ein halbes Kind war, der Sohn des Brummenden. Vater und Sohn, dachte Tobey erleichtert eine Sekunde lang, blieb jedoch sitzen und starrte auf die armlange Eisenstange, die wenige Schritte vor ihm lag, vierkantig, schwarz gestrichen, wirklich gefährlich aber nur in der Hand von jemandem, der nicht zögerte, einen Schädel damit einzuschlagen.

Irgendwann waren die Stimmen verschwunden. Nach einer Weile setzte das Knarzen und Zirpen der Insekten wieder ein, der Käfer hob zu einem neuen Flug an und pochte gegen die Blechwand. Tobey saß minutenlang still, dann schlich er zum Fenster, hob die Eisenstange auf und sah hinaus in die Nacht. Von den beiden Männern war nichts mehr zu hören, die Geräusche der Natur erfüllten die Luft. Winzige Fliegen umschwirrten Tobeys Gesicht, eine flog in seinen Mund und er spuckte sie aus, schüttelte den Kopf. Er kletterte ins Freie, stand einige Atemzüge lang an die Wand gepresst da, horchte und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Einmal um den Schuppen herumgehen würde ihn beruhigen, redete er sich ein und ging los.

Die letzten Vögel hatten ihr Rufen aufgegeben; nur das metallische, leicht an- und abschwellende Sirren der Zikaden und Grillen war noch zu hören und, wie das Echo eines einzigen Lautes, Froschquaken aus einem Tümpel irgendwo zwischen den Bäumen. Das Gebäude zu umrunden schien ewig zu dauern, das langsame Gehen mit angespannten Muskeln anstrengender, als wenn er gerannt wäre. Neben dem Fenster, aus dem er geklettert war, setzte er sich auf einen Baumstrunk und zog das T-Shirt aus. Er dachte an die gewaltigen Sommerregen zu Hause und daran, wie sein Vater, mit dem museumsreifen Traktor auf einem halbgemähten Feld stehend, die jähen Wetterumschwünge verflucht hatte. Er versuchte, sich an den ersten Schnee seines Lebens und eine Motorradfahrt in durchnässten Kleidern zu erinnern, aber es gelang ihm nicht. Fledermäuse glitten vorbei; ihr Flügelschlag war leiser als das Geräusch der Fächer und Zeitungen, mit denen die Frauen in Manilas öffentlichen Bussen wedelten.

Es war still und von den Männern nichts mehr zu hören. Tobey schätzte die Zeit auf Mitternacht. Obwohl er in allen Gliedern heftige Müdigkeit spürte, erhob er sich. Es kostete ihn seine letzte Kraft, die Metallstange aufzuheben, zurück zum Schuppen zu gehen und durch das Fenster zu klettern. Er tastete sich zur Werkbank und legte sich hin. Nach einer Weile vernahm er das Surren des Käfers und war froh, nicht alleine zu sein.

Nachricht von Megan

Ich habe Cait gesehen. Sie ist in einen Supermarkt gegangen, und ich bin ihr gefolgt. Nach all den Jahren kam sie mir kleiner vor, aber das ist bestimmt so, weil ich größer geworden bin. Der Supermarkt war ein riesiger strahlender Palast, ein Tempel voller leuchtender Dinge. Über uns schwebte Musik. Du würdest den Song erkennen, obwohl man ihn für die entrückt durch die Gänge latschenden oder an den Regalen vorbeihastenden Konsumenten eingepoppt hat. Sie kaufte das übliche Zeug ein, du weißt schon, Brot und Wein und Konserven und Haarspray, und warf alles in den Wagen und ging zur Kasse, wo sie an den Fingernägeln kaute und so traurig und verloren wirkte, dass ich für ein paar Sekunden Mitleid mit ihr hatte. Ich wette, wenn man auf sie runter schaut, sieht man den braunen Haaransatz, die elende Vergangenheit, die immer wieder nachwächst. Wahrscheinlich mögen die Männer, von denen sie gerne beachtet werden möchte, Blondinen. Ich habe meine Haare übrigens abgeschnitten. Mick Kavanagh würde sagen, ich sehe aus wie ein Kerl, und vielleicht fände mich nicht mal mehr Barry schön. Wo bist du, Tobey? Spielst du noch Gitarre? Ich war auf einem Konzert, R. E. M., es hat geregnet und wir wurden klatschnass und unsere Füße versanken in der Erde. Aber ich mag so viele Menschen auf einem Haufen nicht, es macht mir Angst. Es war ein Gedränge und Geschiebe, unsere Körper haben gedampft, über der Menge waberte eine Wolke im Flutlicht. Vielleicht sehe ich dich irgendwann im Fernsehen, wie du auf einer Bühne stehst und ein Solo spielst. Deine Band heißt Otter Club oder Boys on Booze, und die Masse singt die Refrains mit, und ein wunderschönes Mädchen sitzt auf den Schultern ihres Freundes, hebt ihr T-Shirt und zeigt dir ihre Brüste, nur dir allein. Ich werde dich erkennen, Tobey, auch wenn du jetzt ganz anders aussiehst und dich noch verändern wirst. Cait erschien mir alt und unglücklich im heiligen Licht des Supermarkts, enttäuscht vom Ausbleiben der großen Ereignisse, die sie sich für ihr Leben erhofft hatte. Aber vermutlich kommt mir das nur so vor, weil ich ihr genau das gewünscht habe, Enttäuschung und Unglück. Auf dem Parkplatz hat sie sich in den Schatten einer Werbetafel gestellt und eine Zigarette geraucht, und als am Himmel ein Flugzeug erschien, sah sie ihm nach wie ein Kind. Dann warf sie die Kippe auf den Boden und zertrat sie sorgfältig mit ihrem roten Stöckelschuh, als könnte der Parkplatz Feuer fangen, und legte die Einkäufe in den Kofferraum des Wagens, der so gar nicht zu einer Blondine passt, nicht mal zu einer gefärbten. Ich dachte, irgendwann bin ich auch so eine Frau, müde und leicht weggetreten und überzeugt, dass alles nur noch schlimmer wird. Sie verschwand zur Hälfte im dunklen Maul des Kofferraums und kam wieder daraus hervor, die Sonne war so groß wie der ganze Himmel, und aus irgendeinem Grund fiel dieser Handschuh auf den Boden, ein weißer Baumwollhandschuh, und sie bemerkte es nicht, stieg ein und blieb sitzen, als habe sie vergessen, wie man ein Auto startet. Da wäre ich fast zu ihr hingegangen. Ich wollte den Handschuh aufheben und ihr geben, durch das offene Fenster, ohne ein Wort und ohne die Sonnenbrille abzunehmen. (Eben ist ein Pferd am Fenster vorbeigegangen, ein schneeweißes!) Den Handschuh habe ich eine Weile mit mir herumgetragen, zusammengeknüllt in der Hosentasche. Manchmal, wenn es mir egal war, dass ich mich vor mir selber blamierte, habe ich ihn übergestreift. Er war schmutzig, voller Flecken, und am Ringfinger klaffte ein Loch. Wahrscheinlich hat sie ihn benutzt, wenn sie ein Rad wechseln musste, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass sie so etwas jemals selber gemacht hat. Weißt du noch, wie Dad mein Fahrrad gebaut hat? Den Rahmen aus den Rohren eines Absperrgitters, den Lenker aus dem alten Heuwender, die Schutzbleche aus Regenrinnen, die Griffe aus Gartenschlauch. Den Rest hat er vom Sperrmüll zusammengesucht, die Räder, die Kette, die Pedale. Dreckige Hände waren ihm egal. Er hat es mir einfach so geschenkt, nicht an meinem zehnten Geburtstag, nicht zu Weihnachten, mitten im Sommer stellte er es neben mein Bett, damit ich am Morgen dachte, ich würde noch träumen. Aber mir beigebracht, wie man mit dem Rad fährt, hat er nie, das musstest du tun, Brüderchen. Du warst auch dafür zuständig, mir zu zeigen, wie man auf einen Baum klettert und wieder runterkommt, wie man bei Tesco Kaugummi klaut, ohne erwischt zu werden, wie man eine Bierflasche mit einem Geldstück öffnet und wie man auf einem Hügel sitzt, die Welt ihr Ding machen lässt und einfach mal die Klappe hält. Den Handschuh habe ich irgendwann verloren. Dad hat nie Handschuhe getragen, seine Haut war rauh und voller Risse, aus denen Farne wuchsen und Efeu. Warum sie ihn wohl geheiratet hat? Nur damit ich nicht unehelich zur Welt kam? (Das Pferd ist wieder da, du solltest es sehen, es ist der alte Sam, zurückgekehrt im weißen Leichenhemd, eine strahlende Schönheit!) Bist du glücklich, Tobey? Erinnerst du dich, als wir ans Meer gefahren sind, ich zum allerersten Mal? Einen gelben Strohhut hatte ich auf und eine Sonnenbrille aus Pappe und getönter Plastikfolie. Onkel Aidan hat uns nach Glenbeigh gebracht in seinem Auto, und ich habe einen Eimer mit Muscheln gefüllt, als müsste ich den ganzen Strand davon befreien. Am Abend habe ich im Bett gelegen und ein Schneckengehäuse verschluckt, ein winziges, zerbrechliches Kunstwerk, gedreht wie die Eiskrem, die es aus einer Maschine beim Parkplatz gab. Verschluckt, weil ich wusste, das Gehäuse würde kaputtgehen oder ich würde es irgendwann verlieren. Für eine Sekunde spürte ich das Salz auf der Zunge, dann war alles vorbei, das Gefühl, der Tag am Strand, der Sommer. Was ist dein Lieblingssong? Vermisst du mich manchmal? Hasst du mich für das, was ich getan habe? Wenn ich alleine bin und alles still ist um mich herum, höre ich, wie du meinen Namen durch das Haus, über den Hof, über ein Feld blökst. Dann tut es mir einen furchtbaren Stich ins Herz und ich flüstere: Toto … Bevor ich anfange zu heulen und dummes Zeug zu schreiben, höre ich besser auf. Ich schicke diesen Brief, wie die anderen auch, an Barry und hoffe, sie erreichen dich.

Wer liebt dich?

Megan!

2

Tobey hatte kaum geschlafen. Seine Knochen taten weh vom Liegen auf der harten Werkbank, etwas hatte ihn gestochen, und der linke Handrücken war geschwollen und juckte. Immerhin war es ein wenig kühler geworden, eine Brise strich über die Insel und ließ die Baumwipfel leise rauschen. Während Tobey die Schlafmatte zusammenfaltete, fragte er sich, ob die beiden Männer noch in der Nähe waren. Er dachte an die helle, unbekümmerte Stimme des Jungen und den monotonen Bass des Alten und redete sich ein, sie seien Fischer und hätten die Insel schon vor Sonnenaufgang verlassen und würden, wenn überhaupt, nicht vor Einbruch der Dunkelheit zurückkehren. Er stellte die Koffer in einen Schrank, bedeckte sie mit einigen der löchrigen Jutesäcke, die herumlagen, und drückte die schief in den Angeln hängenden Türen zu. Dann hob er die Eisenstange auf und kletterte aus dem Fenster.

Der Himmel war an manchen Stellen heller als an anderen, eine frisch gestrichene Wand, die rasch trocknete. Tobey legte den Kopf in den Nacken und sah eine Weile ratlos nach oben. In Irland hatte er immer genau gewusst, wie sich das Wetter entwickeln würde, welche Wolken Regen brachten und welche nur über die Hügel landeinwärts zogen, wann der Wind harmlos bleiben und wann er zu einem Sturm anwachsen würde, ob man die Auswirkungen eines Tiefdruckgebiets einen Tag oder eine Woche ertragen musste. Seine Stimmung schwankte mit dem Luftdruck, etwas in seinem Schädel reagierte auf meteorologische Veränderungen mit der Genauigkeit eines hochentwickelten Apparats. Tobey wusste zwanzig Stunden im Voraus, wenn eine Gewitterfront nahte, spürte Hagel, der über dem County Cork niederging, und Schnee, der sich auf die MacGillycuddy’s Reeks legte. An strahlend blauen Nachmittagen hatte er manchmal mit seiner Schwester gewettet, dass am Abend ein Orkan die morschen Äste von den Bäumen brechen würde, und jedes Mal recht behalten. Er hatte sich unter den erstaunten Blicken seiner Freunde eine Zeitung auf den Kopf gelegt, Sekunden bevor aus dem vermeintlich klaren Himmel dicke Tropfen eines Platzregens fielen. Und er hatte heimlich über seinen Vater gelacht, der nach dem Frühstück das halbe Scheunendach abdeckte, um es zu reparieren, obwohl es noch vor dem Mittagessen wie aus Eimern schütten würde.

Aber in diesem Erdteil funktionierte Tobeys Apparat nicht. Hier erwachte er morgens mit demselben dumpfen Gefühl im Kopf, mit dem er sich abends hinlegte. Hier konnte er sich auf die Farbwechsel des Himmels keinen Reim machen, wusste mit dem Aufbrausen und Abflauen des Windes nichts anzufangen und las die Wolken wie ein Fünfjähriger das Alphabet.

Das Licht ließ ihn blinzeln. Er rieb sich die Augen und ging auf die schattig dunkle Öffnung im Wäldchen zu, in die der Weg hineinführte. Von den Tieren, die während der Nacht die Insel mit einem Klangteppich belegt hatten, war nichts zu hören. Gelegentlich krächzte ein Vogel, dem Tobeys Anwesenheit missfiel, oder das Surren von Insektenflügeln drang durch die Blätterwand. Alles übrige Leben schien zu ruhen, ermattet von der Hitze. Der Boden, auf den kaum ein Sonnenstrahl traf, war weich und feucht und roch süß nach Fäulnis.

Noch bevor er die Lichtung erreichte, hörte er das Gackern von Hühnern. Er blieb stehen und lauschte, und für einen Moment sah er den Hof vor sich und das Haus und die Scheune, und er sah Megan, die zwischen dem Federvieh herumhüpfte und Lieder sang. Er hörte ihre trällernde, immer leicht heiser klingende Stimme und die hohen Laute der Hennen, falsche Töne in einer simplen Melodie. Tobeys Herz krampfte sich zusammen, und er merkte, wie die Tränen in ihm aufstiegen. Er lehnte sich gegen einen der dunklen, glatten Stämme und schloss die Augen. So stand er eine Weile da, atmete tief ein und aus und wartete, bis der Druck in der Brust nachließ und Megans Singsang verklungen war.

Schließlich stand er am Ausgang des Tunnels, wo Licht ins düstere Grün drang. Ein Lufthauch strich über sein Gesicht, kaum stark genug, um die äußersten, von der Sonne beschienenen Blätter zu bewegen. Er blieb im Schutz der Bäume und blickte über die Fläche trockener Erde, an deren mit Grasbüscheln bewachsenen Rand eine Handvoll Hühner scharrte und pickte, magere braune Tiere, jedes für sich eingehüllt in einen zarten Schleier aus Staub. Ihre glucksenden Laute klangen wie Selbstgespräche, einsilbige Klagen über die Hitze, das karge Futterangebot und das Leben im Allgemeinen. Eine tief eingefahrene Reifenspur zog sich über den Platz, an dessen Ende, etwa hundert Meter von Tobey entfernt, ein Holzmast aufragte, die Spitze gekrönt von einer Antenne, einem zerfledderten Baum mit dürren, rostroten Ästen. Daneben stand eine Hütte, der die Tür und die Fensterscheiben fehlten. Ein umgeworfener Stuhl lag vor der Behausung, unter Gras und Sträuchern verschwand ein schiefer Zaun.

Als sich auch nach einigen Minuten keine Menschenseele blicken ließ, trat Tobey in die Helligkeit, überquerte hastig den Platz und kauerte sich neben den Mast. Er hob einen Stein auf, warf ihn durch eine der Fensteröffnungen und wartete. Er war durstig und dachte an das Wasseraufbereitungsgerät und die Tabletten, die er im Schuppen gelassen hatte. Irgendwo auf der Insel gab es Süßwasser, davon war er überzeugt. Die Frösche, deren Quaken er gehört hatte, mussten in einem Teich leben oder zumindest in einem Tümpel. Den Worten des Verkäufers im Outdoorladen zufolge und laut der Bedienungsanleitung ließ sich sogar aus einer brackigen Pfütze Trinkwasser gewinnen, und Pfützen hatte Tobey auf der Insel schon mehrere gesehen, Überbleibsel der letzten Regenfälle. Beim Gedanken an einen Becher Tee schluckte er, und seine ausgedörrte Kehle schmerzte.

Die Hühnerschar hatte ihn entdeckt, verstummte und nahm ihn, enger zusammenrückend, genauer in Augenschein. Nach einer Weile, während der sie sich Gedanken über seine Gefährlichkeit zu machen schienen, fuhren die Tiere damit fort, die Erdschicht aufzukratzen und nach Grassamen und Insekten zu suchen. Dabei verfielen sie erneut in monotones Gackern, struppige, lehmbraune Federbündel, über ihr Schicksal lamentierend in einem bitteren, spöttischen Monolog, einem nie endenden Schluckauf. Tobey hörte sich das eine Zeitlang an, dann warf er einen Stein nach ihnen. Krächzend stoben die Hühner auseinander und verschwanden im Dickicht, wo sie lautlos verharrten, während der Staub sich auf ihre Köpfe senkte.

Tobey umschloss die Eisenstange mit der Faust und betrat die Hütte, die bis auf ein paar zerbrochene Flaschen, verkohltes Papier und die Rückenlehne des Stuhls, der draußen im Gras lag, leer war. Jemand hatte mit Erde oder Schlamm die Buchstaben M, P und P auf eine der Wände geschmiert. Unter dem Giebel, an einem der rohen, armdicken Stämme, die das Wellblechdach trugen, klebte ein verlassenes Wespennest. Durch mehrere Löcher, die, so vermutete Tobey mit einem mulmigen Gefühl, von Projektilen stammten, drang Tageslicht. Mit dem Fuß schob er die angesengten Papierfetzen und rußbedeckten Glasscherben auseinander. Ein walnussgroßer Käfer rannte über den Plankenboden, kehrte nach einem halben Meter um und grub sich zurück in den aschgrauen Haufen, aus dem er geflüchtet war. Tobey kauerte sich hin und versuchte den maschinengeschriebenen Text auf einem kleinen, halbverbrannten Stück Papier zu entziffern.

Er hörte das Knarren der Bretter und wollte sich aufrichten, aber da traf etwas seinen Kopf, und der Boden vor seinen Augen zerstieb in Millionen Splitter und wurde zum schwarzen Loch, in das er stürzte, tiefer und tiefer in einem endlosen Fall, bis er endlich am Grund aufschlug und sein Körper von immenser Wärme durchflutet wurde.

Nachricht von Megan

Als Kind habe ich die Nacht gehasst, Tobey. Ich wollte nicht in meinem Zimmer im Bett liegen und schlafen, während die Welt sich weiter drehte und Millionen Dinge passierten, ohne mich. Ich hielt das Stillliegen in der Dunkelheit kaum aus, ertrug das Geräusch meines eigenen Atems nicht, das Schlagen meines Herzens, das leise Knarren des Bettgestells, wenn ich mich auf die andere Seite drehte, um endlich einschlafen zu können. Jetzt ist mir die Nacht die liebste Zeit. Wenn draußen das Geschiebe und Gedränge verebbt und der heillose Krach sich legt, sitze ich am Küchentisch und lese. Fast jeder der vierzig Quadratmeter meiner Wohnung ist mit Büchern gefüllt, sie stapeln sich an den Wänden bis zur Decke, sie liegen auf den Fenstersimsen, auf den Küchenschränken, unter dem Bett, zwischen den Kleidern. Besuchern würde sich bestimmt der Eindruck vermitteln, ich sei verrückt, zumindest sehr, sehr seltsam. Aber es kommen keine Besucher. Ich habe keine Freunde. Eine Handvoll Menschen sehe ich regelmäßig, aber in meiner Wohnung war noch keiner von ihnen. Der Einzige, der es betreten hat, seit ich hier lebe, ist ein kleiner dicker Klempner. Der arme Kerl musste die Toilettenspülung reparieren und war ziemlich verwirrt, als er den Flur betrat, einen Tunnel aus Büchern, der ihn zwang, den Werkzeugkasten vor dem Bierbauch zu tragen, weil links und rechts kein Platz war. Er war so klein, dass ich auf seine mit roten Flecken übersäte Glatze sehen konnte. Er machte kurze, watschelnde Schritte und sprach kein Wort, und spätestens beim Anblick der mit Büchern gefüllten Badewanne schien ihm klar zu sein, dass er die Welt einer Irren betreten hatte. (Denk jetzt nicht, ich vernachlässige meine Körperhygiene! Ich gehe jeden Tag ins öffentliche Schwimmbad, absolviere meine fünfzig Längen und dusche danach!) Durch das Badezimmerfenster konnte ich das Firmenlogo auf seinem Lieferwagen sehen, eine riesige Rohrzange, deren Griffe rennende Beine waren. Ich bot ihm eine Tasse Tee an, aber er lehnte dankend ab. Vermutlich hatte er Angst, ich würde ihn vergiften und aus seiner Haut Einbände für die Bücher machen. Er erledigte die Reparatur schnell und schweigend und floh dann geradezu aus der Wohnung. Ich habe das Badezimmerfenster den ganzen Tag offen gelassen, um den Geruch des Mannes loszuwerden. Bis vor kurzem bin ich zweimal pro Woche zum Chinesen an der Ecke gegangen, immer am frühen Nachmittag, wenn kaum Gäste an den fünf Tischen saßen. Der Koch und die Kellnerin kamen aus Ungarn, das einzige Asiatische an ihnen waren ihre Armbanduhren. Sie haben die Kneipe von einem echten Chinesen übernommen, der damit genug Geld verdient hat, um in Shanghai ein Transportunternehmen zu gründen. So erzählt man es sich hier jedenfalls. Das Essen im Golden Dragon war nicht besonders, aber Nudeln oder Reis mit Gemüse und Tofu bekam Nandor gerade noch so hin. Wenn sie nichts zu tun hatte, setzte sich Lilly, Liliana, an meinen Tisch und redete mit mir. Sie trank dabei immer riesige Mengen von Wasser, weil sie in einer Frauenzeitschrift gelesen hatte, Michelle Pfeiffer trinke pro Tag drei Liter Wasser. Sie redete in kurzen Hauptsätzen, was alles irgendwie gewichtig klingen ließ. Zum Beispiel sagte sie: Froh Gesicht wenn traurig ist einfach. Katze in Szolnok lassen ist schwer. (Erst dachte ich, das sei die holprige Übersetzung eines ungarischen Sprichworts, aber dann wurde mir klar, dass sie ihre Katze bei den Eltern in der Stadt Szolnok zurücklassen musste.) Lilly hatte einen Traum: Sie wollte im Hotel Inter Continental Park Lane arbeiten, als Kellnerin. Stell dir vor, Tobey, eine Kellnerin, die nicht etwa davon träumt, Schauspielerin oder Sängerin oder zumindest Besitzerin eines Lokals zu werden, sondern davon, weiterhin eine Kellnerin zu sein, nur an einem anderen, in ihren Augen besseren Ort. Ich bin mal hingegangen. Eine Weile saß ich einfach in der Lobby und sah mir diese Kühlkammer behüteten Wohlstands an, dieses mondäne Museum antiquierter Rituale, dann musste ich raus an die Luft und in die wirkliche Welt. Einige Tage später, als ich im Golden Dragon essen wollte, hing ein Zettel an der Tür: Nicht mehr da, weil Welt schlecht. (Wäre das nicht eine tolle Inschrift für einen Grabstein?) Zwei Männer hatten das Lokal überfallen, die Tageseinnahmen geklaut und Nandor mit einer Holzlatte zusammengeschlagen. Lilly hatten sie nichts getan, so stand es jedenfalls im Lokalteil der Zeitung. Ich habe die beiden nie wieder gesehen. Das Lokal wurde verkauft oder neu vermietet, wird jetzt von Rumänen geführt und heißt Shanghai. So schließt sich der Kreis. Manchmal denke ich noch immer daran, ins Inter Conti zu gehen, wo Lilly inzwischen möglicherweise arbeitet, ließ es aber bleiben. Lilly und Nandor sind auch Geschwister, er ist ihr großer Bruder. Vielleicht bist du in London, Tobey, nur ein paar Straßen von mir entfernt, und wir wissen es nicht. Vielleicht hast du mich vergeblich im Telefonbuch gesucht. Vielleicht vermisst du mich so wie ich dich, vielleicht auch nicht. Und vielleicht fragst du dich, warum ich dir das alles erzähle, warum ich dir von Lilly und Nandor erzähle und von einem kleinen dicken Klempner. Während ich dir schreibe, Tobey, sitzen wir nebeneinander auf dem Hügel und sehen den Wolken zu und den Autos, den wenigen, die weit weg wie Spielzeug durch das Grün rollen und kurz aufblitzen, wenn ein Sonnenstrahl sie trifft. Wir essen die Schokolade, die ich zum Geburtstag bekommen habe, und ich zeige auf den Hühnerfalken, der über uns seine Kreise zieht. Ich bin sieben und du fünfeinhalb, und ich weiß, dass der Raubvogel dort oben vom Aussterben bedroht ist, und du kennst den Preis, den ein schlachtreifes Rind auf dem Markt erzielt. Wir reden aneinander vorbei, wir sagen Sätze daher, vor dem Einschlafen gemurmelte Formeln, in denen, so glauben wir, unsere Zukunft anklingt. Wir sprechen, damit wir wissen, dass wir da sind. Weit, weit weg funkeln Regentropfen, und ich behaupte, es seien Tausende von Heringen, die auf die Felder und Wiesen fallen, und du weißt nicht, ob du mir glauben sollst. Wir reden über die Schule und den Kindergarten und was wir auf der Straße und im Radio aufgeschnappt haben, und über Briona und Dad und über den lieben Gott, der wohl zu beschäftigt ist, um unsere törichten Gebete zu erhören. Wir reden nie über Cait, als hielten wir uns an eine Abmachung. Wir sind Kinder, geschlagen mit der Weisheit von Erwachsenen. Man nennt uns die armen Kleinen von Seamus O Flynn, hinter unseren Rücken tobt ein Lärm aus Flüstern und Gerüchten und Lügen. Cait hat uns berühmt gemacht, indem sie für immer gegangen ist. Nur Briona ist in der Gegend noch bekannter, und Malcom Carrick, der im Pub sein Glasauge rausnimmt und über den Tisch rollen lässt, wenn er besoffen ist. Auf unserem kümmerlichen Berg sind wir weit weg von den Idioten und ihrem dummen Getratsche. Dort oben können uns alle gestohlen bleiben. Manchmal rennen wir nach Hause, weil sich der Himmel über unseren Köpfen schwarz färbt und ein Wind unsere schönen Sätze zerzaust. Wir stolpern den Hügel hinab, in den Ohren das Klatschen der Fische, die hinter uns auf die Erde prasseln. Ich schreibe dir, damit ich bei dir bin, Toto. Habe ich erwähnt, dass ich mich einsam fühle, manchmal?

Da war diese Frau vom Land,

die in der Großstadt verschwand,

sie liebte das Lesen,

doch war am Verwesen,

als man nach Wochen sie fand.

Wer liebt dich?

Megan!

3

Tobey versuchte die Augen zu öffnen, aber es gelang ihm nicht. Seine Lider fühlten sich an, als wögen sie so viel wie er selber, jede einzelne Wimper war schwerer als ein Arm. In seinem Schädel steckte ein Messer, jemand zerrte daran, um es herauszuziehen. Blitze entluden sich auf seiner Netzhaut, Feuerwerke gewaltigen Schmerzes. Er lag am Boden, die Arme seltsam verrenkt. Die Schritte, die er zu hören glaubte, waren der eigene Herzschlag, der seinen Schädel beinahe platzen ließ. Er dämmerte weg, versank in Düsternis, wo Bilder trieben wie in tiefem Wasser, verschwommen und die Farben stumpf im fehlenden Licht. Er saß im Boot mit dem alten Mann, vor ihnen lag eine Insel in der spiegelglatten See. Sie fuhren auf die Insel zu, ohne ihr näher zu kommen. Eine Frau stand winkend am Ufer, ihr Kleid war weiß und ihr Haar kurz geschnitten. Tobey wollte aufstehen und zurückwinken, aber er konnte nicht. Der Himmel war leer bis auf einen riesigen, in seinem Kern von Gewittern erhellten Mond. Der alte Mann sagte etwas, das Tobey nicht verstand. Das Boot fuhr auf der immergleichen Stelle, und die Frau winkte, während der Mond zur fahlen Scheibe wurde, um dann langsam zu verlöschen.

Als Tobey erneut zu sich kam, konnte er die Augen öffnen. Wenn eben noch ein Messer in seinem Kopf gesteckt hatte, waren es jetzt tausend Nadeln, die unter Strom standen, ein zufälliger Schaltkreis aus Stichen und kurzen, glühenden Krämpfen. Er wollte sich aufrichten und merkte, dass seine Arme auf den Rücken gedreht und an den Handgelenken gefesselt waren. Der Wangenknochen, mit dem er auf dem rohen Bretterboden lag, tat weh, sein Genick war steif und fühlte sich heiß an vor Schmerz. Er überlegte, wo er war, und der einzige Ort, der ihm nach einer Weile einfiel, war die Holzhütte mit dem von Kugeln zerschossenen Wellblechdach. Seine Handgelenke brannten, er bewegte die tauben Finger, bis sie kribbelten. Dann drehte er sich auf den Rücken und sah nach oben. Das Dach ragte über ihm auf, ein verschwommenes Firmament, in dem die Sterne der Einschusslöcher funkelten.

Die Erkenntnis, dass jemand ihn niedergeschlagen und gefesselt hatte, ließ ihn beinahe auflachen. Stattdessen drang ein Ächzen aus seiner Kehle, und Sekunden später weinte er, überwältigt vom Gedanken, sterben zu müssen. Draußen stiegen die Geräusche der Tiere in den Himmel, ein leichter Wind ließ die Bäume rascheln.

Als Tobey Schritte hörte, setzte sein Herzschlag einen Atemzug lang aus. Er warf sich herum, zerrte an den Fesseln und spürte, wie das Seil die Haut von seinen Handgelenken scheuerte. Er wurde unter den Armen gepackt und über die Bodenbretter geschleift. Er wand sich, wollte schreien, aber sein Mund war ausgetrocknet, mehr als ein Krächzen kam nicht heraus. Erst als er saß und sein Rücken die Wand berührte, konnte er den Kopf heben. Der Mann, den er sah, war jung, trug Sandalen, eine weite schwarze Hose und ein dunkles Leibchen, auf dem in heller Schrift etwas stand, das Tobey nicht entziffern konnte. Sein schmales Gesicht war ausdruckslos, als er Tobey musterte. Tobey atmete noch immer heftig, sein Kopf fühlte sich unendlich schwer und zerbrechlich an, ein dünnwandiges Gefäß, in dem ein Ozean schwappte. Wo er gefesselt war, brannte die Haut, die kleinste Bewegung tat weh.

Der Mann griff in die Dunkelheit hinter sich und holte eine Flasche mit Wasser hervor. Er schraubte sie auf und setzte sie an Tobeys Lippen. Weiße schiefe Zähne standen in seinem Mund, um den ein schütterer Bart wuchs. Der erste Schluck strengte Tobey so an, dass er würgte und hustend nach Luft rang, die Lungen voller Nägel. Der Mann wartete, das Gesicht noch immer ohne Regung. Schließlich trank Tobey die halbe Flasche aus. Seine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlicht, jetzt sah er den Stoffbeutel, der am Boden lag und aus dem der Mann ein Fladenbrot nahm, um es ihm vor den Mund zu halten. Tobey schüttelte den Kopf. Der Mann legte das Brot auf den Beutel, setzte sich hin und musterte sein Gegenüber. Tobey schätzte ihn auf achtzehn oder zwanzig; der Bart und die unebenmäßigen Zähne machten ihn älter. Sein T-Shirt war erstaunlich sauber, BARNABY & PHELBS BOOKSHOP LONDON stand in weißer geschwungener Schrift quer über der Brust.

Sie sahen einander an. Vor der Hütte zirpte ein Insekt, es klang wie eine winzige Trillerpfeife aus Metall, in die ein sanfter Wind blies.

»Was wollen Sie?«, fragte Tobey so ruhig wie möglich. Schmerzen rannen an der Innenseite seines Schädels hinab, ein Schaudern und Stechen, das ihn blinzeln ließ.

Der Mann sah ihn unbewegt an. Seine kurzgeschnittenen Haare waren schwarz und glatt. Unter seinem rechten Auge prangte ein dunkles, erbsengroßes Muttermal. Er roch nach Schweiß und Holzrauch.

»Sprechen Sie Englisch?« Auf den Philippinen sprach fast jeder Einheimische Englisch, einige sehr gut, andere nur ein paar Brocken. In einem Straßenlokal in Manila hatte ein Mann sich neben Tobey gesetzt und als arbeitsloser Lehrer vorgestellt, lächelnd und geschwätzig und zu nervös, um zu merken, dass Tobey in Ruhe gelassen und Zeitung lesen wollte. Tobey hatte dem Mann eine Suppe und einen Fleischspieß bestellt, das Gleiche, was er selber aß. Als der Mann ihm einen Rundgang durch den Stadtteil und den Besuch eines Kinderheims vorschlug, lehnte Tobey mit der Begründung ab, er hätte gleich eine geschäftliche Verabredung. Während der Mann, der mit verzweifelter Redseligkeit kaum die Scham über seinen Hunger zu verbergen vermochte, die Suppe löffelte, ging Tobey ins Lokal, beglich die Rechnung, verschwand durch einen Hinterausgang und ließ sich von einem Taxi zurück ins Hotel fahren.

»Englisch?«, wiederholte Tobey, aber der Mann starrte ihn nur mit einem Gesichtsausdruck an, der teilnahmslos sein mochte, arrogant oder einfach nur dumm.

Das Trillern des Insekts wurde lauter und langgezogener. Tobey wollte schreien, diesen stumpfsinnig glotzenden Kerl anbrüllen, aber er hatte keine Luft in den Lungen. Er schloss die Augen. Sein Hinterkopf berührte die Wand, etwas sickerte durch seine Nackenmuskeln, rieselte die Wirbelsäule hinab und löste sich auf.

Tobey öffnete die Augen, blinzelte in die Helligkeit. Seine Beine fühlten sich taub an. Er bewegte die Füße. Erst jetzt merkte er, dass er lag, seine rechte Gesichtshälfte berührte den Boden. Er musste an Spinnen denken und Skorpione und wollte den Arm ausstrecken und sich aufrichten, aber er schaffte es nicht, weil seine Hände auf den Rücken gefesselt waren. Eine Weile lag er in Seitenlage da und atmete so gleichmäßig wie möglich ein und aus, dann begann er sich von der Wand weg in Richtung Tür zu wälzen. Als er mitten im Raum verschnaufte, sah er ein Stück Fladenbrot, auf dem sich Ameisen tummelten. Er hatte also nicht geträumt, dachte er, den Mann gab es wirklich; er hatte ihm Brot gebracht und Wasser, hatte ihn angestarrt und war wieder gegangen. Und er würde zurückkommen, daran zweifelte Tobey keine Sekunde. Seine Schultern schmerzten so sehr, dass ihm Tränen in die Augen traten, und er blieb eine Zeitlang auf dem Bauch liegen und sah den Ameisen zu, die, eine blassrote Kolonne bildend, Krume für Krume das Brot wegtrugen.

Megan konnte stundenlang irgendwo sitzen und Tiere beobachten. Einmal verbrachte sie vier Tage vom frühen Morgen bis zum späten Abend in der Scheune, um nicht zu verpassen, wie die Hühnerküken schlüpften. Sechs Jahre alt war sie da und wusste bereits alles über die Wunder der Natur, wie aus Kaulquappen Frösche und aus Raupen Schmetterlinge wurden, erkannte hoch am Himmel kreisende Greifvögel an ihrer Form und bestimmte Vogeleier anhand von Farbe und Größe. In Einmachgläsern verfolgte sie die Wandlung einer Köcherfliegenlarve und das Wachstum von Flohkrebsen und hielt ihre Erkenntnisse in einem Schulheft fest, illustrierte sie mit Zeichnungen und las sie nachts in ihrem Zimmer, laut und mit getragener Stimme, als spreche sie zu einer Gruppe von Wissenschaftlern und Forschern.

Wie gerne er jetzt eine ihrer Reden gehört hätte, dachte Tobey. Sein linkes Bein, das er sowieso nicht mehr spürte, hätte er hergegeben, um ihrem Referat zum Jagdverhalten der Zwergohrfledermaus zu lauschen, mit dem sie beim Wissenschaftsprojekt ihrer Schule den ersten Preis in der Kategorie Natur und Tiere gewonnen hatte. Voller Scham erinnerte er sich daran, wie er mit einer Steinschleuder auf ihre Studienobjekte geschossen hatte, drei Tiere, deren Schlafplätze an der Scheunenwand unter dem Dachgiebel waren, und wie er eins von ihnen traf und wie es auf die Erde fiel. Die Flügel hatten sich angefühlt wie der Stoff, mit dem das Kästchen ausgeschlagen war, in dem seine Mutter ihre Sachen aus einer glücklicheren Zeit aufbewahrt und das sie damals vergessen oder zurückgelassen hatte, als seien die Dinge darin für sie plötzlich wertlos geworden.

Eine Ameise kam auf ihn zu, und er blies sie weg. Seine Zunge lag ausgetrocknet im Mund, wenn er zu schlucken versuchte, knackte es nur in den Ohren. Er rollte weiter, fast bis zu dem Rechteck aus Licht, das durch die Tür auf den staubigen Boden fiel. Draußen war es still, aber vielleicht, dachte er, war es der Druck in seinem Schädel, der ihn nichts hören ließ. Die Blätter einer Palme wogten im leichten Wind, der Himmel strahlte blau und leer. Tobey stöhnte auf, so sehr bewegten ihn der Anblick und die Tatsache, dass er am Leben war.

Wimmernd wälzte er sich ein letztes Mal um die eigene Achse bis zur Türöffnung. Eine Brise strich ihm über das Gesicht. In Bauchlage ruhte er sich aus und überlegte, wie lange es dauern würde, sich zu dem Wäldchen zu rollen, durch das er gekommen war. Dass die Hühner sich nicht blicken ließen, beruhigte ihn; er brauchte keine Zuschauer. Er atmete tief ein, die Luft roch nach Gras und Hitze. Er drehte sich auf die Seite und blickte mit zusammengekniffenen Augen in den Himmel. Die dürre Antenne thronte auf dem Mast wie ein Fischskelett, das jemand aus Jux dort oben befestigt hatte.

Megan war nicht hier, das wusste Tobey nun. Niemand war auf dieser Insel, bis auf das bärtige Kind und den Alten mit der tiefen Stimme, möglicherweise der Vater des Wahnsinnigen. Vielleicht kamen nachts weitere Männer und schliefen in einem der leeren Gebäude. Alles, was Tobey bisher gesehen hatte, schien vor Jahren verlassen worden zu sein. Dass es noch irgendwo Forschungslabore und eine feudale Villa gab, wie sie der alte Professor in Manila beschrieben hatte, glaubte er so wenig, wie dass hier eine Menschenseele lebte, die bereit war, ihm zu helfen. Er musste sich von den Fesseln befreien, einigermaßen zu Kräften kommen und zum Strand gehen. Wenn er vor Erschöpfung und Angst noch nicht jegliches Zeitgefühl verloren hatte, würden die Männer mit dem Boot am Abend kommen, um ihn abzuholen, sicher jedoch am nächsten Tag. Sicher, dachte Tobey. Das Wort war ein solcher Witz, dass er beinahe lachen musste.

Dann sah er den Affen. Er erschrak mit einer Heftigkeit, die wie ein Stromschlag seinen Körper erstarren ließ. Es war ein Bonobo, so viel wusste Tobey, auch wenn er sich mit Kühen, Rindern und Schafen besser auskannte als mit Primaten. Er trat aus dem Wäldchen, bewegte sich über die kahle Fläche und hielt auf die Hütte zu. Als er Tobey bemerkte, blieb er stehen. Erst jetzt sah Tobey, dass er eine Hose und ein Hemd trug, dunkelblau wie eine Uniform. Er setzte sich hin, starrte herüber. Wegen des hohen Grases konnte Tobey nur noch den Rumpf und Kopf des Tieres erkennen und wollte sich aufrichten, aber ihm fehlte die Kraft dazu. Der Bonobo hob den langen dünnen Arm und bewegte zaghaft die Hand hin und her, dann winkte er plötzlich ungestüm, ließ den Arm wieder sinken und stützte in einer nachdenklichen Geste das Kinn auf beide Hände.

Tobey zog die Beine an und mühte sich auf die Knie, aber als er endlich atemlos und schwankend aufrecht stand und über die Grasfläche blickte, war der Bonobo weg. Die Schultern taten ihm weh, die aufgeschürfte Haut an den Knöcheln und Handgelenken juckte. Weit weg flogen Vögel durch das matte Blau des Himmels, eine langgezogene Linie flirrender Punkte. Aber der Bonobo blieb verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.

Nachdem er sich ein wenig ausgeruht hatte, hüpfte Tobey zurück in die Hütte, schob mit dem Fuß eine Glasscherbe aus dem Aschehaufen, manövrierte sie in eine Lücke zwischen zwei Bodenbrettern, klemmte sie dort fest und legte sich so hin, dass er die Fußfesseln an der Scherbenkante scheuern konnte. Immer wieder löste sich die Scherbe, und er musste sie mit dem Absatz des Schuhs zurück in die Spalte drücken. Er schwitzte, sein ganzer Körper tat weh. Bei jedem Geräusch, das von draußen in die Hütte drang, zuckte er zusammen und blieb minutenlang bewegungslos liegen. Er stellte sich vor, wie Megan mit der Hand über seinen Kopf und durch sein schmutziges Haar fuhr. Er war fünf Jahre alt und lag seit Tagen mit einer Sommergrippe im Bett. Das Fenster stand offen, von Hitze und Staub gesättigtes Licht drang durch den Vorhang. Megan saß auf einem Holzschemel, sang ihre Lieder und strich ihm ab und zu eine feuchte Strähne aus der Stirn. Ihre Stimme summte in seinem glühenden Schädel wie ein Käfer im Einmachglas. »Mary hatte ein kleines Lamm, ihr Vater schoss es tot. Jetzt liegt Marys kleines Lamm zwischen zwei Scheiben Brot.« Er biss große Stücke von dem Brot ab, füllte seine Backen damit, kaute gierig. Das Fleisch war saftig, die Butter süß. Er lief über das Feld hinter dem Haus, warf mit Erdbrocken nach den dumm stierenden Schafen und kletterte auf das Scheunendach, um den Wolken noch näher zu sein. Die ersten Tropfen fielen, groß und schwer wie reife Kirschen. Jetzt öffnete der Himmel seine Schleusen, das Prasseln auf dem Wellblech wurde zum Höllenlärm, und Tobey sah zu, wie die Welt versank, unterging mit allem, was er hasste. Ein riesiger Bussard trug Megan davon, und er selber wurde auf dem Scheunendach aufs Meer hinausgespült, weit fort, durch eine sternenfunkelnde Nacht und hinter den Horizont, wo er den Strand einer namenlosen Insel betrat und Megan aus den Wolken fiel und in seinen Armen landete und ihn küsste, wie keine Schwester ihren Bruder küsst.

Als die Scherbe sich erneut löste und Tobey sah, dass der Strick noch nicht einmal zur Hälfte durchgewetzt war, drehte er sich auf die Seite, schloss die Augen und versuchte, nicht zu weinen. Megan hatte nie geweint. Wurde auf dem Hof ein Tier geschlachtet, rannte sie auf einen Hügel und schrie ihren Schmerz so laut in die Welt hinaus, dass Feargal Walsh, dessen Hof fast zwei Kilometer entfernt lag, die Fenster schloss und das Radio aufdrehte.

Ihre Finger tasteten über den Strick, mit dem seine Handgelenke zusammengebunden waren, dann streichelten sie wieder seinen verschwitzten Kopf. Nach einer Weile hatte Tobey sich beruhigt. In seiner Kehle erstarb ein Schluchzen, und er öffnete die Augen. Diesmal erschrak er nicht, als er den Bonobo sah. Der Affe hockte neben ihm und zog langsam die Hand von Tobeys Kopf zurück. Seine aus dunkelblauen Hosen ragenden Beine waren angewinkelt, die Knie berührten die von einem zugeknöpften Hemd im selben Stoff bedeckte Brust. Er blickte ihn an, schürzte die Lippen und gab einen Laut von sich, leise und fragend. Schließlich erhob er sich und ging davon, in aufrechter Haltung, wie ein Mensch. Tobey wollte ihm nachrufen, er solle bei ihm bleiben, aber er brachte keinen Ton hervor, und der Affe ging weiter, ohne sich umzudrehen.

Nachricht von Megan

Warst du mal in einem Schlachthaus, Tobey? Ich ja. Da ist alles sehr sauber, du musst dir ein riesiges Badezimmer mit grünen Fliesen vorstellen. Schweinehimmel nannte der Chef den Raum, wo die Tiere als erstes reinkommen, wenn sie von den Lastwagen angeliefert werden. Um sechs Uhr früh geht es los, es ist Winter und eisig, und wenn die Ladeklappen auf die Rampe knallen, fangen die Schweine an zu quieken und brüllen, und du bist wach und kalt bis in die Knochen. Dann wird die Luke geöffnet, durch die es nur einen Weg gibt, an einer Absperrung aus Metallstangen entlang in die Wartebucht. Die Schweine sind erschöpft von der langen Fahrt durch die Kälte und verängstigt. Fast in jeder Fuhre gibt es verletzte Tiere, und kommt eins tot an, musst du hinein in den Anhänger und den Kadaver begutachten. Du schreibst Herzversagen oder Kreislaufkollaps auf dein Formular, das ist Tagesordnung. Manchmal scheuchen die Bauern ihre Tiere selber durch die Luke, aber meistens macht das der Treiber. Heute heißt er John und ist ein netter Kerl, nicht allzu helle, aber er gibt dir eine Zigarette und erzählt dir von seinen Kindern und der Garage, die er baut, und von dem Film, den er am Samstag gesehen hat. Er hat ein Stück Gartenschlauch in der Hand, etwa einen halben Meter lang, damit schlägt er auf die Schweine ein, die zu langsam über die Rampe gehen. Dazu johlt er, du solltest ihn hören, du würdest seine Stimme nie mehr vergessen, seine Stimme und die Schreie der Tiere und das Getrampel der Hufe auf der Metallrampe, nie mehr im Leben würdest du das vergessen. Manchmal flucht John, wenn die vorderen Tiere im Gang stehenbleiben. Aber meistens macht er seinen Job ruhig, wie jeder hier, routiniert und müde und gelangweilt und so abgestumpft, dass er der Sau, die sich bei einem Fehltritt zwischen Ladeklappe und Rampe ein Bein verletzt und sich hingesetzt hat, auf den Kopf drischt, bis sich das Tier erhebt und den anderen hinterherhumpelt. Es ist noch nicht lange her, da hatten die Treiber Elektroschockgeräte, aber die sind inzwischen verboten. John bedauert das, er sagt, die Arbeit sei wieder so anstrengend wie früher. Aber es hält auch warm, sagt er und lacht, und du lachst auch, denn nach zwei Tagen hier drin bist du nicht mehr du, sondern jemand in einem Traum, jemand, der Schweinen zusieht, wie sie zurück in Richtung Luke wollen und dabei gegen die Absperrung springen, wo John steht und auf sie einprügelt. Du siehst ihnen zu, weil du die ersten beiden Wochen hier verbringen musst, weil du Tierarzt werden willst, weil du das Praktikum machen musst und weil die Leute Fleisch essen. Du machst an der Rampe die Erstbeschau, du bückst dich über tote Schweine und sterbende Kühe, du weichst den Hufen des Stiers aus, der in der Box um sich tritt, bis Callum, Brian oder Dariusz ihm den Bolzenschussapparat an die Stirn setzt und abdrückt. Draußen ist die Welt und alles, was du kennst, du gehst an einer Schule vorbei und an einem Buchladen, und auf der Straßenbank sitzt ein Mann, der seinen Hund streichelt, und im nächsten Augenblick betrittst du dieses Gebäude und verlässt die Welt. Du ziehst dich um, du bist die Nummer 38, in deinem Spind hängt ein Foto, das etwas Schönes zeigt. Du gehst durch den hellen Flur, trägst drei Schichten Kleidung und einen weißen Helm und eine weiße Schürze und Gummistiefel, und du frierst. Es ist die Vorhölle, die dich schluckt, die grün geflieste, wo die Ankunft stattfindet, das Warten und der Abschied. Die eigentliche Hölle wartet im nächsten Raum auf dich. Dort schweben sie herein, kopfunter an Ketten hängend, manche noch nicht tot und brüllend und mit den Beinen schlagend, und ihr Blut flattert wie ein breites rotes Band im Raum, der am Morgen blitzsauber ist und dessen Boden und Wände am Abend bedeckt sind mit den Spuren des Tötens, einem Film aus Blut und Fleisch und Fett und Exkrementen. An deinem ersten Tag in der Hölle wirst du dich übergeben, das geht fast jedem so, du wirst in das Loch kotzen, in das die Männer die Abfälle werfen, die Klauen und Geschlechtsteile und alle Eingeweide außer Herz und Leber, Lunge und Zunge. An deinem ersten Tag darfst du noch zusehen, wie die Tiere zerlegt werden, wie den Kühen, Stieren, Rindern und Kälbern die Hufe abgeschnitten werden, die Hörner und Ohren, wie ihnen die Augen herausgedreht und ins Loch geworfen