Über den Winter - Rolf Lappert - E-Book

Über den Winter E-Book

Rolf Lappert

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Beschreibung

Lennard Salm ist fünfzig und als Künstler weltweit durchaus erfolgreich. Als seine älteste Schwester stirbt, kehrt er zurück nach Hamburg und in die Familie, der er immer entkommen wollte. So schnell wie möglich will er wieder zurück in sein eigenes Leben. Aber was ist das, das eigene Leben? Salms jüngere Schwester Bille verliert ihren Job, sein Vater nähert sich immer schneller der Hilflosigkeit. Einen funkelnden Winter lang entdeckt Salm, dass niemand jemals alleine ist. Er lernt seine Eltern und Geschwister neu kennen. Rolf Lappert erzählt vom Wunder der kleinen Dinge und von dem, was heute Familie bedeutet. Jedes Detail leuchtet in diesem zarten, großen Familienroman.

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Hanser E-Book

ROLF LAPPERT

Über den Winter

Roman

Carl Hanser Verlag

Der Autor dankt der Kulturstiftung Pro Helvetia

für die Förderung dieses Romans.

ISBN 978-3-446-25003-1

© Carl Hanser Verlag München 2015

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München © plainpicture / neuebildanstalt / Rumbach – aus plainpicture Rauschen

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Wangen im Allgäu

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für Lina Muzur, Susanne George

und Walter van Rossum

Und dann war da noch dieses Gefühl, das einen überfällt, wenn man einem Verstorbenen im Sarg zum Friedhof folgt – eine gewisse Ungeduld mit den Toten, eine Sehnsucht, wieder zu Hause zu sein, wo man an der Illusion festhalten kann, nicht der Tod sei der dauerhafte Zustand, sondern das tägliche Leben.

E. L. Doctorow – Homer & Langley

PROLOG

Lost Baggage

In der Unternehmung lag eine Spur von Wahnsinn, in ihrem Anblick ein Hauch von kläglicher Komik; und dieser Eindruck wurde auch nicht zerstreut, als mir jemand an Bord ernsthaft versicherte, dort draußen gebe es ein Lager von Eingeborenen – er nannte sie Feinde! –, die sich irgendwo außer Sichtweite verbargen.

Joseph Conrad – Herz der Finsternis

Seit dem Abend hatte sich das Meer wieder beruhigt. Die Stille war ein unablässiges Innehalten, ein scheinbar endloses Warten. Es gab kein Haus in der Nähe, kein Licht weit und breit, keine lebende, einer Sprache mächtige Seele. Zum nächsten Ort, einer Ansammlung verlassener Hotels, Läden und Imbissbuden, fuhr man Stunden auf der von Sand bedeckten Straße. Trockene Wärme erfüllte die Luft, herübergetragen aus Afrika, das als Ahnung hinter dem Horizont lag. Das Uhrwerk der Insektenbeine, das Fächern der Palmblätter, das Bellen verwilderter Hunde: die Geräusche einer Nacht ohne Menschen. Über allem spannte sich der Himmel, eine tiefschwarze See, aus der Sterne emporstiegen und als eisiges Glitzern auf die Erde herabsanken. Die Welt drehte sich in ihrer eigenen schweren Dunkelheit, Kontinente trieben voneinander weg.

Lennard Salm lag auf dem Rücken im Gras. Wenn er den Atem anhielt, hörte er das leise Rollen der Wellen. Er öffnete die Augen und betrachtete eine Weile das Sternengewirr. Vielleicht war es zehn, dachte er, vielleicht auch schon Mitternacht. Seine Uhr hatte er vor Wochen beim Kartenspiel verloren. Falter stießen gegen den Schirm der Petroleumlampe, deren kümmerlicher Schein den Innenhof kaum erhellte. Wegen des Unwetters hatte er die letzten drei Tage untätig vertrödelt. Jetzt war er müde vom Nichtstun und der Anstrengung, diesem Zustand ein Glücksgefühl abzuringen. Seit Ausbruch des Sturms trank er den Wein nicht mehr, mit dem der Keller, ein Bunker unter dem Küchenboden, gefüllt war. Auch nüchtern blieb der Eindruck, eine Art Ende erreicht zu haben, einen Punkt, an dem es keinen wirklichen Grund zum Bleiben mehr gab und schon gar keine Rechtfertigung für seine Lethargie, die, so redete er sich ein, in einem direkten Zusammenhang mit dem Verlust seiner Uhr stand.

Er setzte sich auf und schlüpfte in die Plastiklatschen, die er kurz nach seiner Ankunft am Strand gefunden hatte, eine rote, brettharte von der Dicke eines Steaks und eine gelbe, dünn wie ein Stück filetierten Fischs, vom Meerwasser spröde geworden. Dann ging er ins Badezimmer und wusch sich die Hände und das Gesicht mit Wasser, das lauwarm war und nach den modrigen Wänden des Betontanks roch, aus dem es gepumpt wurde. Er drehte den Hahn zu und betrachtete sich im Spiegel, hielt eine Weile seinem Blick stand, der fest war, nur leicht getrübt von einem Schleier vagen Zweifels an etwas, das er nicht benennen konnte. Seine Haut war kaum brauner geworden, nur trockener unter dem struppigen Bart, der seinem Gesicht nichts verlieh außer einer gleichgültig hingenommenen Verwahrlosung.

Im Schlafzimmer zog er sich eine saubere Hose und ein frisches Hemd an. Auf dem Bett sitzend, schüttelte er Sand aus den Schuhen, über deren dunkelblauen Segeltuchstoff verwischte weiße Linien aus Meersalz liefen. Nachdem er die Taschenlampe aus der Küche geholt hatte, verließ er das Haus. Entgegen Wielands Anweisung, die Tür immer zu verriegeln, zog er sie auch jetzt nur zu. Dann folgte er der schulterhohen Mauer, die das Grundstück und den einstöckigen Bau umgab.

Das Licht des Mondes und der Sterne ließ den Boden gerade so hell schimmern, dass Salm die Taschenlampe nicht brauchte. Er kannte den Pfad und jede Vertiefung, jeden Stein und jede armdicke Wurzel, die ein längst toter Baum auf der Suche nach Wasser geschlagen hatte. Obwohl der Weg leicht abschüssig war, konnte Salm das Meer nicht sehen, dafür die flache Düne, hinter der sich während des Sturms die Wellen mit einem bis zum Haus vernehmlichen Grollen gebrochen hatten.

Sobald er den höchsten Punkt des mit Sträuchern und zähen Grasbüscheln bewachsenen Damms erreicht hatte, lag die schwarze Wasserfläche vor ihm. Er lauschte eine Zeit lang dem regelmäßigen Atem der See, ließ den Blick über den Strand gleiten und dann über den kaum zu erkennenden Strich des Horizonts, auf dem er in kindlicher Erwartung die Umrisse eines Schiffes auszumachen hoffte. Aber die Leere vor ihm war vollkommen, und er wandte sich nach rechts, wo in der Ferne die üblichen vier, fünf Lichter der Ferienhaussiedlung flimmerten.

Die gewaltigen Wellen hatten den Sand bis nahe an die Düne heran planiert. Das Schwemmgut lag ungewöhnlich weit hinten, fast am Dünenfuß, wo es sich mit altem Treibholz, Tang und Müll vermischte. Salm lief den flachen Hang hinunter und leuchtete mit der Taschenlampe über den Saum aus Ablagerungen, den das vom Sturm aufgewühlte Meer hinterlassen hatte. Plastikflaschen schimmerten im Lichtstrahl, Apfelsinenkisten und Styroporbrocken, dazwischen, Planeten eines verheerten Universums gleich, losgerissene Bojen und Schwimmer von Treibnetzen. Überall waren Kleidungsstücke verstreut, mehr als jemals zuvor. Die Ärmel einer weißen Stoffjacke schlangen sich um ein Brett, eine blaue Hose hing wie zum Trocknen in den Ästen eines entwurzelten Baums. Farbige Socken, Mützen, Schals und Unterwäsche sprenkelten die straßenbreite Bahn, durch die Salm sich langsam zum Wasser hin bewegte. Stieß er auf einen Koffer, packte er ihn am Griff und schleuderte ihn in Richtung Düne. Mit der eigentlichen Arbeit würde er im Licht des nächsten Tages beginnen. Der Gedanke daran, einen Teil dieser schrecklichen Bescherung zu erkunden, löste in ihm ein Gefühl mulmiger Vorfreude aus.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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