Leben, was du fühlst - Walter Kohl - E-Book

Leben, was du fühlst E-Book

Walter Kohl

4,9

Beschreibung

Glücklich sein trotz schwieriger Lebensumstände. Endlich leben, statt gelebt zu werden. Ist das möglich? Walter Kohl zeigt Wege auf, wie wir uns mit der Kraft der Versöhnung von langjährigen Belastungen befreien und alten Schmerz in neue Energie umwandeln können. Er ist überzeugt: Wenn wir uns unseren schmerzlichen Gefühlen offen und ehrlich stellen, können wir belastende Erlebnisse innerlich heilen und neue Lebensabschnitte friedlich, eigenverantwortlich und in Freude gestalten. Kampf oder Flucht sind typische Reaktionsmuster, um mit belastenden persönlichen Erlebnissen umzugehen. Allerdings halten uns beide Strategien in der Regel in unserem Schmerz gefangen. Doch es gibt noch einen weiteren Ansatz: den Weg der Versöhnung. Walter Kohl war durch sein Leben als "Sohn vom Kohl" und den Freitod seiner Mutter selbst schweren emotionalen Erschütterungen ausgesetzt. Er weiß aus eigener Erfahrung: Versöhnung ist eine starke Quelle neuer innerer Kraft, die einen Menschen zu sich selbst führt und neues Denken, Fühlen und Handeln ermöglicht. Dazu müssen wir aber die Versöhnung in uns entdecken, zulassen und aktivieren. Im Praxisbuch zu seinem Bestseller Leben oder gelebt werden beschreibt er, wie wir lernen, uns unseren Gefühlen zu stellen und die schmerzhaften Episoden der Vergangenheit in neue Kraft zu verwandeln. Wir können aktiv und bewusst inneren Frieden mit unseren alten Schmerzen schließen und damit das Steuer unseres Lebens wieder selbst in die Hand nehmen.

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WALTER KOHL

Leben

was du fühlst

Von der Freiheit, glücklich zu sein Der Weg der Versöhnung

Für Kyung-Sook

1. eBook-Ausgabe © 2013 Scorpio Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München Satz: BuchHaus Robert Gigler, München ePub-ISBN: 978-3-943416-10-7

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.scorpio-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

INHALT

VORWORT

VON DER FREIHEIT, GLÜCKLICH ZU SEIN

Der Mensch bringt täglich seine Haare in Ordnung, warum also nicht auch sein Herz?

Wenn das Leben mit einem spricht, sollte mean auch zuhören

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Wir wissen oft nicht, was wir glauben – und handeln trotzdem danach

Ins Gefühl kommen

Wer frei sein will, muss sich die Freiheit nehmen

DER WEG DER VERSÖHNUNG

Ein Atemholen der Seele

Erster Schritt: Was ist mein Anliegen?

Zweiter Schritt: Alles auf den Tisch

Dritter Schritt: Den Energiewandel erleben

Vierter Schritt: Mein Friedensvertrag mit mir selbst

Fünfter Schritt: Die neue Kraft im Fluss des Alltags nutzen

Für eine Streitkultur der Gelassenheit

Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar

Dank

Anhang

VORWORT

Jeder Mensch ist einzigartig. Und so unterschiedlich wir Menschen sind, so vielfältig sind auch unsere Wege zu innerem Frieden, zur Versöhnung, zur eigenen Kraft, zu Lebensfreude und damit zu unserem Glück.

Mit diesem Buch möchte ich einige meiner persönlichen Erfahrungen auf dem Weg zum inneren Frieden und zum Glück mit Ihnen teilen und Sie zu einem bewussten und liebevollen Umgang mit Ihren eigenen Gefühlen anregen. Es wäre schön, wenn ich damit das Sprechen und Nachdenken über unser Inneres aus der Ecke gefühlter Peinlichkeit und stummer Betroffenheit ein Stück weit herausholen könnte.

Unser Leben sollte zu uns passen – und nicht wir sollten zu einem Leben passend gemacht werden, das letztlich das Leben anderer ist. Was immer dem Leben einen über den Alltag hinausweisenden Sinn und uns selbst innerlich eine Richtung gibt, ist richtig. Fühlen wir uns aufgerufen, unser Leben in Selbstverantwortung, Frieden und Freude zu gestalten! Nicht mehr und nicht weniger.

»Leben, was du fühlst« ist mein eigenes Lebensthema, und das umso mehr, seit mein erstes Buch erschienen ist. Dank des überraschend großen Zuspruchs, den ich seither erhielt, hat sich viel bei mir getan. Ich durfte in beglückender Weise die Wahrheit eines alten Satzes erleben: Wir sind nicht allein auf unserem Weg! Indem wir uns über unsere Erfahrungen und Erlebnisse austauschen, können wir uns gegenseitig Mut machen, uns inspirieren, anspornen und, ja, manchmal auch etwas antreiben. Dass dies nicht immer nur leicht ist, versteht sich von selbst – auch hier spreche ich aus eigener Erfahrung.

Auch wenn die großen Lebensfragen für uns alle ähnlich sind, so muss doch jeder für sich selbst seine stimmigen Antworten finden. Es ist nicht immer sinnvoll, nach allgemeingültigen Regeln zu suchen, denn unser persönlicher Alltag verlangt maßgeschneiderte Lösungen. Aber Hilfe anzunehmen und von den Erfahrungen anderer zu profitieren ist erlaubt! Zur Untermauerung meiner These, dass innerer Friede möglich ist und dass Versöhnung hierbei eine wesentliche Hilfe darstellt, nutze ich auch in diesem Buch Erfahrungsbeispiele aus meinem eigenen Leben. Ich hoffe, es wird Ihnen ein willkommener Begleiter, ja, wie ein Freund sein, der vertrauensvoll mit Ihnen spricht und dessen Meinung, auch wenn sie manchmal anders als die Ihre ist, Sie gleichwohl zum Nachdenken bringt. Wie gesagt: Jeder von uns muss seine eigenen Antworten finden, aber bisweilen kann ein Anstoß von außen hilfreich sein. Wenn das hier gelänge, dann war es richtig, dieses Buch zu schreiben. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, viel Freude beim Lesen. Und alles Gute auf Ihrem Weg!

  Ostern 2013

VON DER FREIHEIT, GLÜCKLICH ZU SEIN

Der Mensch bringt täglich seine Haare in Ordnung, warum also nicht auch sein Herz?

Wer selbst keinen Frieden hat,der kann auch keinen Frieden machen.

Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, woher ich dieses Wort habe. Vielleicht von einem lebenserfahrenen Mann, den ich sehr gut kannte. Mein Opa väterlicherseits, Hans Kohl, verlor als Kind seine Eltern bei einem schrecklichen Brand. Er erlebte die Schrecken des Ersten Weltkriegs als Frontsoldat in Frankreich. Auch im Zweiten Weltkrieg musste er wieder Soldat sein und verlor zudem seinen ältesten Sohn Walter, nach dem ich benannt wurde, noch kurz vor Ende der Kampfhandlungen. Gleich doppelt erlebte er die französische Besatzung seiner pfälzischen Heimat, 18 Jahre lang in der Weimarer Republik und zu Beginn des Dritten Reiches und nochmals für drei Jahre vor Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Hans Kohls Lebenslinie war fast in ihrer vollen Länge von Umbrüchen, wiederholtem Neuaufbau und den damit verbundenen Strapazen gezeichnet. Seine innere Einstellung aber entsprach perfekt dem oben zitierten Wort, und sein Sterben beweist, dass dessen Wahrheit tiefer ist, als dass unser Erdenleben mit all seinen Achterbahnfahrten sie erschöpfen könnte.

Im Herbst 1975 muss mein Großvater gefühlt haben, dass seine Kräfte und sein Lebenslicht am Erlöschen waren. Er ging seinen letzten Gang in Würde und Gelassenheit. Ich erinnere mich noch genau an seinen Todestag, es war ein Montag im Oktober. Meine Mutter und ich besuchten ihn und Oma in ihrem Haus in Ludwigshafen-Friesenheim, etwa fünf Kilometer von Oggersheim entfernt. Es war ein ruhiger Nachmittag, und erst schien mir alles wie immer. Opa saß in seinem grünen Lehnsessel, seelenruhig. Doch auf einmal fing er an zu zittern. Selbst ein zwölfjähriger Knirps wie ich spürte sofort, dass jetzt »etwas in der Luft lag«. Opa fror, und das in einem überheizten Raum und obwohl er in mehrere Jacken und Pullover eingehüllt war und zudem noch von einer wollenen Decke gewärmt wurde.

Schon kündigte Mutter mir an, dass ich mit dem Taxi nach Hause fahren würde. Sie bliebe hier. Obwohl von den Erwachsenen immer noch alles als »normal« inszeniert wurde, fühlte ich, ohne zu wissen, warum, einen inneren Aufruhr, als mein innig geliebter Opa mir zum Abschied mit der Hand über den Kopf strich. Dann ging er, gestützt auf meine Mutter, ganz ruhig und gefasst ins Schlafzimmer.

Ich wurde also allein mit einem Taxi nach Hause geschickt, mit aufgewühltem Herzen und dem Kopf voller rätselhafter Gedanken. Später am Abend kam Mutter an mein Bett und erzählte mir, dass Opa eine Stunde nach meiner Abfahrt ruhig in ihren Armen gestorben war. Es war das erste Mal, dass ich dem Tod eines mir nahestehenden Menschen begegnet war, wenn auch noch eine Armlänge davon entfernt, sozusagen.

In seinen letzten Lebensmonaten hat mein Großvater mich wohl besonders gern um sich gehabt. Wir führten für mich unvergessliche Gespräche, die er ganz gezielt nutzte, um Erfahrungen mit mir zu teilen, die mir im Leben nützen sollten. Auch schenkte er mir sein Artilleriefernglas aus dem Ersten Weltkrieg, das ich noch heute in Ehren halte.

»Damit du immer die richtige Sicht auf die Dinge behältst und nicht nur auf das schaust, was direkt vor deiner Nase ist.«

Ich denke, wenn schon nicht im strikten urheberrechtlichen Sinne, so doch sicher im Geiste, darf ich für das eingangs angeführte Wort durchaus meinen Großvater als Quelle anführen. Zumal die intensive Phase des Zusammenseins mit ihm vor seinem Ableben mir gleich drei Lebensweisheiten bescherte, von denen ich noch heute profitiere: erstens, dass ein Mensch weder sich selbst noch andere glücklich machen kann, ohne inneren Frieden zu besitzen. Zweitens, dass es dabei weniger auf die Umstände seines Lebens ankommt, sondern darauf, wie er sie sieht und was er aus ihnen macht. Und drittens, dass ein Mensch Verantwortung nicht nur für sein Tun, sondern auch für sein Nichttun übernehmen muss.

Echter innerer Friede ruht auf zwei Säulen: Zum einen in dem sicheren Gefühl, schmerzhafte Kapitel der eigenen Lebensgeschichte innerlich befriedet zu haben, also ohne Hader oder heimliche Erwartungen mit der eigenen Vergangenheit leben zu können. Zum anderen in der klaren Gewissheit, sich auf einem sinnvollen und stimmigen Weg zu befinden und auf dem Boden der Gegenwart eine freudvolle Zukunft zu gestalten.

Nur wenn wir diese innere Verfassung erreicht haben, erlangen wir souveräne Ruhe und wirkliche Ausgeglichenheit. Es ist dieses tiefe Einverstandensein mit unserer eigenen Biografie, das alte Wunden heilt und leidige Kraftfresser beseitigt, mit denen wir uns jahre-, vielleicht sogar jahrzehntelang herumgeschlagen haben. Das ist es, was ich das Geschenk der Versöhnung nenne. Die alten Erfahrungen sind – und bleiben – zwar noch Teil unserer Gegenwart und Zukunft, aber sie haben ihren Schmerz ein für alle Mal verloren. Damit blockieren sie uns nicht mehr, denn jegliches »Hätte«, »Sollte«, »Müsste« ist überwunden. Endlich können wir unsere Vergangenheit wertungsfrei annehmen. Und sie hören auf, verzerrte Wahrnehmungen zu produzieren und uns in Zorn oder Angst zu treiben und auch nicht in Fehlentscheidungen, denen wir sonst nur zu leicht unterlagen. Innerer Friede und Versöhnung sorgen also nicht nur für neue Kraft, sondern durch sie sind wir auch imstande, uns für andere Menschen einzusetzen. Die Erfahrung zeigt, dass die Fähigkeit, inneren Frieden zu finden, stärker ist als der Kraftverlust durch den Schmerz und die Widrigkeiten des Lebens. Innerer Friede resultiert stets aus Kraftgewinn.

So viel ist sicher: Das Leben wird uns immer wieder, oft völlig überraschend, vor schwierige Situationen stellen. Doch die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Versöhnung ermöglichen es uns, diese Prüfungen zu meistern und gestärkt daraus hervorzugehen. Die Herausforderungen des Tages können sogar zum wirksamsten Mittel unserer aktiven, kreativen Lebensgestaltung werden!

Doch um so weit zu kommen, ja, um überhaupt die ersten Schritte auf diesem Weg zu machen, bedarf es entsprechender Voraussetzungen. Inneres Wachstum ist immer natürliches und somit organisches Wachstum. Es braucht fruchtbaren Boden für solches Wachstum, und dieser Boden muss bereitet werden, damit auf ihm das Leben gedeihen, damit schließlich Freude, Erfolg und Glück geerntet werden können. Ich spreche von unserem Herzen, von unseren Gefühlen.

Jeder Gärtner kümmert sich um gesunde Erde für seine Beete. Wer pflanzt schon sein Obst und Gemüse freiwillig in einen mit Schwermetallen, Altöl oder anderen Giften belasteten Boden? Und jeder Bauherr prüft, ob der Grund, auf dem er sein Heim errichten will, tragfähig ist. Wer würde seine Kinder auf dem Areal einer ehemaligen Chemiefabrik aufwachsen sehen wollen, ohne dass dieses ordnungsgemäß saniert wurde? Als Gärtner und als Bauherren sind wir ausgesprochen wählerisch in Bezug auf die Grundlagen unseres Unterfangens – doch wie steht es um unsere Sorgfalt und Fähigkeit zur Selbstprüfung, wenn es um jene Grundlagen geht, auf denen wir nichts weniger als unser eigenes Leben aufbauen wollen?

Meine Mutter schenkte mir einmal eine Spruchkarte, auf der stand:

Der Mensch bringt täglich seine Haare in Ordnung, warum nicht auch sein Herz?

Eine scheinbar simple Aufforderung, oder? Und es fällt so schwer, sie umzusetzen. Wer prüft schon sein Herz, das doch den Boden unserer Gedanken und Gefühle darstellt, auf Kontamination durch problematische Erfahrungen und toxische Folgen ungelöster Konflikte? Es scheint an der Tagesordnung zu sein, davor zu fliehen, damit nach innen zu gehen, in die Verdrängung – oder die eigenen Probleme nach außen zu verlagern und die durch sie gestellten Lebensfragen mit Kampf und Aggression zu »beantworten«.

Auch ich kenne das alte Patentrezept: schweigen, aushalten, aussitzen, durchstehen. Am Ende steht dann Überforderung. Zu viel hat sich angesammelt, zu lange wurde gewartet, bis gar nichts mehr geht. Burn-out heißt das heute, ein neues Wort für ein altes Phänomen. Aber muss es erst so weit kommen? Wäre es nicht viel besser, wenn wir der Frage gesunder, seelischer Lebensgrundlagen die gleiche Aufmerksamkeit wie der Pflege unserer materiellen Interessen schenken würden? Doch schenkt uns das Leben auch hier keine absolute Freiheit. Es knüpft seine Geschenke an gewisse Bedingungen. Das Glück des schnellen Erfolgs, des Sieges, des Triumphs kann berauschen, so wie schöne Musik. Es ist von einer schier überwältigenden Dynamik. Augenblicke des Erfolgs sind geladen mit prickelnder Energie. Aber so wie auch eine Musik irgendwann verklungen ist, verfliegt das Glücksgefühl bei äußeren Erfolgen – und meist schneller, als wir es uns im Moment des Triumphs vorstellen können oder wollen.

Die Alltagsrealität von heute überlagert schnell den Erfolg von gestern. Schlimmer noch, nicht selten werden vergangene Erfolge zur Bürde der Gegenwart. Oft ist damit, ob direkt oder indirekt, die Aufforderung verbunden, auf keinen Fall wieder hinter das einmal Erreichte zurückzufallen. Oder, mehr noch: es zu übertreffen. Der Erfolg von gestern erscheint heute als Selbstverständlichkeit, und nur eine Steigerung wird, wenn überhaupt, noch wahrgenommen und anerkannt.

Es ist verführerisch und gefährlich, sein Glück einseitig mit persönlichen Erfolgen, mit dem Erreichen äußerer Ziele gleichzusetzen. Es ist ein tragischer Irrtum, Glück auf das bauen zu wollen, was wir haben und zu besitzen glauben. Denn Glück ist ein innerer Zustand, ist eine Form von Sein, nicht von Haben. Auch wenn Glück und Erfolg eng beieinanderliegen (können), sollten wir sie nicht miteinander verwechseln. Äußere Erfolge sind schön und wichtig, aber sie definieren nicht unser wahres Glück. Wirklich glückliche Menschen machen sich nicht vom Erfolg abhängig, vielmehr finden sie ihr Glück in der Art und Weise, wie sie leben, wie sie sind, mit einem Wort: in ihrem Sein.

Nach dem Volkswirtschaftsstudium arbeitete ich für eine New Yorker Investmentbank, in einem typischen Wallstreet-Umfeld, wo nur der messbare Erfolg zählt. Großes Geld, große Härte: So einfach waren dort schon immer die Regeln. Eine Welt des »Fressens oder Gefressen-Werdens«. Am Ende kommt es nur auf eines an: Wer ist der reichste, größte, angesehenste und mächtigste Banker? Aber, wie ich fand, auch eine faszinierende Welt voller Power und Energie! Wenn ich morgens zur Arbeit kam, schien es mir, als ob ich einen Kraftraum voller Hochleistungssportler betrat. Mein Schreibtisch stand in einem der üblichen Großraumbüros eines Wolkenkratzers in Midtown Manhattan. Alle Stockwerke summten und brummten vor Geschäftigkeit. 70 bis 80 Wochenstunden Arbeit im Office waren keine Seltenheit, die Nacht durchzuarbeiten nichts Ungewöhnliches. Ein Leben am Limit, besonders für uns Berufsanfänger, die wir weniger finanziell als durch das Sammeln von Erfahrungen und durch spannende Herausforderungen in diesem Powerhouse entschädigt wurden.

Im ersten Jahr arbeitete ich in einer Industriegruppe mit dem Schwerpunkt Öl und Gas. Danach sollte jeder von uns planmäßig im Rahmen eines zweijährigen Financial-Analyst-Programms in eine neue Gruppe rotieren. Ein banger Moment, denn alle stellten sich jetzt die Frage: Wer wird mich ansprechen? Habe ich mich etablieren können? Packe ich das nächste Jahr? Komme ich in eine gute Gruppe? Würde mich einer der Chefs auf seiner Wunschliste haben – oder müsste ich mich proaktiv bewerben?

Zu meiner großen Erleichterung sprach mich einer der Managing Directors an. Brian leitete ein neues Team im Bereich Projektfinanzierungen und Privatisierungen und suchte Verstärkung. Er führte ein kurz-knackiges Gespräch mit mir und bot mir spontan an, in seine Gruppe einzutreten. Ich war begeistert, denn der Mann war in der Firma eine lebende Legende. Mit über 25 Jahren Berufspraxis gehörte er zu den Top-Bankern, ein Veteran großer Deals. Menschlich verstanden wir uns sofort. Er war von einer erfrischenden Natürlichkeit im Umgang und konnte herzlich lachen. Damit entsprach er so gar nicht dem Stereotyp des unnahbaren, knallharten Wall-Street-Egomanen.

Er nahm mich oft mit zu seinen Meetings. Dort sollte ich einfach nur zuhören und mich auf unsere spätere, interne Analyse des Gesprächsergebnisses und die daraus abzuleitenden nächsten Schritte vorbereiten. In unseren Diskussionen hörte er mir sehr aufmerksam zu, und ich musste mich höllisch anstrengen, seiner Ungeduld und seinen hohen analytischen Anforderungen gerecht zu werden. Außerdem musste ich alle Protokolle schreiben und mich um die Follow-ups für die Kunden kümmern. So wurde ich zu seinem Assistenten, zum Zuarbeiter für den Chef. Dadurch verbrachten wir ungewöhnlich viel Zeit miteinander, und aus irgendeinem Grund erzählte er mir immer wieder Episoden aus seinem ungewöhnlichen Leben.

Während des Börsenbooms der Achtziger hatte Brian einen dreistelligen Millionenbetrag verdient. Er residierte in einem luxuriösen Penthouse an der Park Avenue, mit Blick auf die Skyline von New York. In den Hamptons besaß er ein Sommerhaus, das für meine Begriffe eher einem Schloss glich. Natürlich gab es da auch noch eine »kleine« Wohnung in Vail, Colorado, denn man konnte ja nie wissen, wann sich die Gelegenheit für einen spontanen Skitrip bot. Ansonsten jettete er um die Welt, um Transaktionen anzubahnen. In der Tat: ein Leben wie in einem Film! Brian, so erschien es mir damals, war ein glücklicher, weil wohlhabender, angesehener und erfolgreicher Mann. Ein Mann, der alles »hatte«. Ein Mann, der alles »bekam«, was er nur wollte. Mir schien klar, so sieht ein glückliches Leben aus.

Allerdings: Wie fast alle Mitarbeiter der Bank jenseits der Stufe Vice President – also die eigenverantwortlich Handelnden – war auch Brian geschieden. Zu seinen Kindern hatte er fast keinen Kontakt mehr, sie lebten bei der Mutter, Tausende von Meilen entfernt. Und er selbst war immer unterwegs, rastlos auf der Jagd nach dem nächsten Deal. Ein moderner Nomade, und dabei immer First Class. Ein charismatischer Gesprächspartner, ein exzellenter Kommunikator. Er führte ein prall gefülltes Telefonbuch, hatte ungeheuer viele »friends« – doch hatte er auch wirkliche Freunde?

Nach einigen Monaten zogen Gewitterwolken über unserer Gruppe auf. Brian kam unter Druck. Im Vorstand der Bank tobte ein Machtkampf, in den auch er verwickelt war. Er hatte sich mit bestimmten Protagonisten verbündet, am Ende wohl aber mit den Falschen, nämlich den Verlierern. Als kleine Mitarbeiter wussten wir nur wenig über diese Auseinandersetzungen, die offiziell ja gar nicht stattfanden. Aber der Flurfunk erging sich in immer neuen Gerüchten. Wir hielten einfach nur still, denn selbst Stellung zu beziehen war undenkbar, alles spielte sich hinter einer undurchdringlichen Nebelwand von Informationen aus zweiter und dritter Hand und nicht überprüfbaren Gerüchten ab.

Eines Morgens wurde es jedoch offiziell, sehr offiziell sogar. Um zu meinem Arbeitsplatz zu gelangen, musste ich immer an Brians Office vorbei, das als Chefbüro eine eigene, abgeschlossene Räumlichkeit bildete, mit einer breiten Fensterfront und fantastischem Ausblick auf die Skyline Manhattans. Direkt davor, im fensterlosen inneren Bereich des Wolkenkratzers, wo selbst noch mittlere Angestellte in mit halbhohen Stellwänden voneinander abgetrennten work boxes arbeiteten, hatte seine Sekretärin ihren Platz. Ich begrüßte sie, wie immer mit dem formlos-fröhlichen »Hello, good morning. How are you doing?«, das hier üblich war. Doch diesmal erhielt ich keine Antwort. Ich trat näher und schaute über die Abtrennung, die ohnehin so gut wie keine Privatsphäre bot. Da saß sie, mit versteinertem Gesicht und verweinten Augen. Ich wagte nichts zu sagen, sondern schaute sie nur fragend an: Was ist denn los?

Wortlos wendete sie den Kopf und nickte in Richtung der angelehnten Tür des Chefbüros. Ich zögerte, denn normalerweise hätte ich nie gewagt, Brians Reich unaufgefordert zu betreten. Heute Morgen aber erschien plötzlich alles anders. Ich öffnete die Tür und blickte hinein. Alles war wie immer perfekt aufgeräumt, doch ein Gegenstand störte massiv: ein großer, brauner Umzugskarton, der rücksichtslos auf die Schreibtischplatte gestellt worden war. Ich erschrak, denn das war ein unmissverständliches Zeichen.

Brian befand sich gerade auf dem Rückflug aus Europa, wir erwarteten ihn nur wenige Stunden später zurück. Doch der Karton war jetzt schon da. Ein klares, ja ein brutales Signal: You are fired! Sie sind entlassen! Solch ein Karton war die Methode quick and dirty – der harte Weg, um einen Mitarbeiter öffentlich bloßzustellen und damit allen zu zeigen: Jetzt ist Schluss, das war es! Das Tischtuch ist zerschnitten. Pack deine Sachen und geh. Damit gab es kein Zurück mehr. Ich war fassungslos.

Sprachlos ging ich zu meinem Desk und saß einfach nur da. Offensichtlich war ganz oben eine Richtungsentscheidung gefällt worden. Die Konsequenzen für meinen Chef waren glasklar. Doch was bedeutete das für uns, die Mitarbeiter seiner Gruppe? Besorgt flüsterten wir miteinander, während die Blicke der anderen auf uns lagen, teils neugierig, teils mitfühlend, teils wohl auch hämisch. Die Zeit wollte nicht vergehen. Immer wieder schaute ich auf die Uhr, aber das quälte nur noch mehr. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, gearbeitet wurde an diesem Morgen so gut wie nichts. Brian gefeuert, die Gruppe womöglich in Auflösung! Wir fürchteten um unsere Existenz, meine eigene Kündigungsfrist betrug nur zwei Wochen. Was würde geschehen?

Endlich kam Brian den Gang herauf. Er sah übernächtigt aus nach dem langen Flug und wirkte wie ein Soldat nach der Schlacht. Wortlos ging er in sein Zimmer, schloss die Tür hinter sich, und ein mehrstündiger Telefonmarathon begann. Die Kiste hatte er auf den Boden neben seinen Schreibtisch gestellt, während er ohne Ende telefonierte, so viel konnte ich durch die längliche Scheibe neben seiner Bürotür sehen. Alles andere blieb vorerst sein Geheimnis.

Schließlich rief er uns zu sich. Er erklärte uns, was wir natürlich schon erwartet hatten: dass er mit sofortiger Wirkung die Firma verlassen würde. Diese Entwicklung der Dinge habe er schon seit einiger Zeit kommen sehen, doch habe er uns nicht beunruhigen wollen und deshalb geschwiegen. Jetzt, nachdem die Würfel gefallen waren, sei noch ein letztes Thema zu klären gewesen: unsere neuen Jobs innerhalb der Firma. Daher seine endlosen Telefonate am Nachmittag.

Wir saßen sprachlos um ihn herum. Nein, er hatte uns nicht vergessen, er hatte sich auch in diesem für ihn so schweren Moment um sein Team gekümmert! Tränen standen uns in den Augen, als er in aller Ruhe einem nach dem anderen eröffnete, wo sein neuer Arbeitsplatz sein würde und welche Chance das für seine Zukunft in der Firma bedeuten könnte. Selbst im Moment der eigenen Niederlage hatte dieser Mann sich verantwortungsbewusst gezeigt. Die ganze Zeit blieb er souverän und gefasst. Ich bewunderte ihn für diese Haltung. Als alles gesagt war, schickte er uns hinaus und bat darum, ihn allein zu lassen.

What a difference a day makes! Morgens ist die Welt noch in Ordnung – und am Abend fühlt man sich wie nach einem Wirbelsturm. Mein Kopf glühte, meine Gedanken wirbelten durcheinander wie ein Schwarm Wespen. Schon nächste Woche sollte ich mich bei meiner neuen Chefin in der Gruppe für Börseneinführungen melden. Es galt nur noch wenige Vorgänge abzuwickeln und unsere bisherige Tätigkeit an eine andere Gruppe, die von einem der Gewinner des Machtkampfs geleitet wurde, zu übergeben. Die Sieger übernahmen die Kunden, die Verlierer hatten das Feld zu räumen. So verhält es sich in der Welt des Investmentbanking: Das eigene berufliche Schicksal kann genauso volatil werden wie der Derivatehandel.

Obwohl die Erleichterung bei allen im Team spürbar war, hinterließ die Art und Weise, wie man Brian abserviert hatte, doch ein flaues Gefühl der Verunsicherung. Uns war überdeutlich gezeigt worden, »wo der Hammer hängt«. Und was für kleine Rädchen im großen Getriebe wir doch eigentlich nur waren. Irgendwie kam man sich vor wie ein lebloses Stück Bühnenkulisse, das ohne viel Federlesen von A nach B zu verschieben war. Und das alles, ohne ein einziges Wort mit unserem großen Regisseur zu wechseln: Ein simples Symbol, ein schlichter Karton, hatte genügt, und schon war sogar für ihn alles anders geworden. Wenn er sich nicht selbst noch in letzter Minute darum gekümmert hätte – wie wäre man wohl mit uns, seinen Komparsen, verfahren? Auf einen Schlag hatte das Glamourbild, das ich mir von einer Karriere in dieser Welt gemacht hatte, herbe Kratzer bekommen.

Einige Wochen später traf Brian mich zu einem Abendessen. Ich staunte nicht schlecht, als ich ihn sah. Im Restaurant saß nicht mehr der selbstbewusste, dynamische und smarte Senior Investmentbanker, den ich gekannt und bewundert hatte. Mir gegenüber saß da ein scheuer, mir fast fremder Mann. Wie ein General ohne Sterne und Truppen, schoss es mir durch den Kopf. Wir blickten uns an, und eine fast beklemmende Stille entstand, die wir anfänglich mit Small Talk zu überbrücken suchten.

Nach einer Weile begann unser Gespräch fast peinlich oberflächlich zu werden. Das spürten wir wohl beide, denn plötzlich machte Brian eine für ihn typische Handbewegung, wie um etwas wegzuwischen und damit eine entschlossene Ansage vorzubereiten:

»Cut the crap! Hör auf mit dem Scheiß!«

Ich musste grinsen. Endlich, das war der alte Brian, den ich kannte. Nun begann er Tacheles zu reden. Es wurde ein langer, sehr langer Monolog. Aber alles andere als langweilig für mich. Er schilderte mir fast sein ganzes berufliches Leben: wie er in Harvard seinen MBA gemacht hatte, seine Jahre in der US Army, seinen Eintritt in die Firma. Er erzählte mir von seiner rasanten Karriere, wie er in Rekordzeit befördert worden war, internationale Büros für die Bank aufgebaut hatte und schließlich einer der jüngsten Partner wurde. Der große Geldregen kam für ihn mit dem Börsengang.

»Weißt du«, bilanzierte er mit belegter Stimme und einem traurig-schiefen Lächeln, »damals war ich einer der größten Aktionäre aus dem Management. Ich habe viel, sehr viel Geld verdient. I was a happy man.«

Ja, er schien nach wie vor stolz zu sein auf seine Karriere, seine Erfolge, seinen Reichtum. Das spürte ich, aber ich fragte mich doch gleichzeitig: Hatten ihn all diese Jahre auch nur ein einziges Mal wirklich glücklich gemacht? Und ich fühlte, dass er nur einen winzigen Schritt davon entfernt war, diese Frage sich selbst zu stellen. The elephant is in the room, sagen die Amerikaner: Der Elefant ist mitten im Zimmer. Er überschattet alles andere, doch niemand will ihn sehen … So blieb die entscheidende Frage zunächst im Raume stehen. Keiner von uns beiden wagte sie aufzugreifen, denn die Antwort wäre sehr ernüchternd ausgefallen. Unser Gespräch stockte.

»Und wie geht es jetzt mit dir weiter?«, forschte ich schließlich nach.

»Ich weiß es nicht«, war die offene und ehrliche Antwort. »Um noch einmal bei einer anderen Bank anzufangen, bin ich zu alt. Geld muss ich keines mehr verdienen. Aber was soll ich nun mit meinem Leben machen?«

Viele der sogenannten Freunde hatten sich sofort zurückgezogen, manche hatten ihn gar öffentlich als Verlierer gebrandmarkt. Verlierer zu sein ist eine unverzeihliche Sünde im Zirkel der Top Guys dieser Branche. Es beschert ein Leben im materiellen Überfluss und mit viel, viel Zeit. Aber auch ein Leben in Vergessenheit. Nun saß Brian also einsam und verlassen in seinen teuren, schönen Wohnungen. Und gar manches, wofür er jahrzehntelang gekämpft und gerackert hatte, erschien ihm plötzlich so fremd, so sinnlos.

»Ich fühle mich wie ein Profifußballer, der durch eine schwere Verletzung plötzlich nicht mehr aufs Feld kann.«

Der Vergleich schien mir ein wenig zu hinken, hatte er doch eine glänzende Karriere hingelegt. Auch war er körperlich kerngesund.

»Aber du hast doch alles erreicht. Du musst ja gar nicht mehr raus und deine Knochen hinhalten. Jetzt bist du die Arbeit endlich los. Du bist frei, du bist gesund. Du musst dir keine Geldsorgen machen. Jetzt kannst du doch eigentlich das Leben genießen. Die Welt steht dir offen!«

Ich sprach diese Worte, ohne zu bemerken, dass sie eigentlich auch an mich selbst gerichtet waren, als einem ernsthaften Kandidaten für ein Leben auf der Überholspur. Das aber dämmerte mir selbst dann noch nicht, als Brian sich immer weiter öffnete:

»Genau das ist das Problem, Walter«, fügte er hinzu. »Ich wollte immer nur arbeiten, arbeiten, arbeiten. Dabei habe ich verlernt zu leben. Ich war immer unterwegs, ständig auf dem Sprung, wie ein Raubtier auf der Jagd. Mehr als ein halbes Leben nur Kampf, Kampf, Kampf. Ich habe vergessen, was es heißt, wirklich zu leben. Was es heißt, wirklich glücklich zu sein. Funktionieren ja, aber leben: Wie geht das? Und jetzt – jetzt ist keiner da, mit dem ich mein Dasein teilen kann.«

Ich wusste nicht so recht, was ich darauf entgegnen sollte. Der Mann hatte in meinen Augen doch alles erreicht, und nun hockte er hier wie ein Häufchen Elend. Das konnte doch nicht sein! Ich war tief verwirrt. Brian brach die Stille und nahm den Gesprächsfaden wieder auf.

»Weißt du«, bemerkte er leise und sah mich ernst an, »ich habe viele Erfolge gehabt, habe manchen Triumph gefeiert, aber glücklich war ich eigentlich nie. Was nützt dir ein Erfolg? Hast du in diesem Jahr ein Riesenergebnis, dann wollen sie im nächsten das Gleiche, möglichst sogar noch mehr. Und im darauffolgenden Jahr darf’s dann schon aus Gewohnheit bitte nochmals etwas mehr sein. Dieses Mehr-und-immer-Mehr macht dich kaputt. Du wirst abhängig vom Erfolg. Es ist wie eine Sucht. Du rennst und rennst, und nach 25 Jahren fragst du dich, wohin und warum eigentlich? Und in all diesen Jahren hast du dich nie gefragt: Ist es tatsächlich das, was mich glücklich macht? Bin ich das? Deine Entschuldigung dafür, dass du dieser Frage ausweichst, ist sehr einfach: Du hast schlicht keine Zeit dafür.«

Er verfiel in ein beredtes Schweigen. Auch ich schwieg, allein mit meinen Gedanken. Dann durchbrach sein bitterer Satz die Stille:

»Aber all das wurde mir schlagartig klar an dem Tag, an dem sie mich rausgeworfen haben.«

Ich schluckte, war zugleich berührt und verunsichert. Es wurde mir mulmig zumute. Ohne dass es mir jetzt voll bewusst geworden wäre, schwante mir so langsam, dass es hier auch irgendwie um mich ging. Nicht um mich in dieser Situation, aber um den Walter der Zukunft.

»Na, dann ist es wohl noch nicht zu spät«, versetzte ich mit einem wohl leicht gequält wirkenden Lächeln. Brian sah mich überrascht an und zeigte auf einmal sein breites amerikanisches Grinsen … Ja, und dann hatten wir wirklich einen sehr geselligen, allerdings auch ungewöhnlich nachdenklichen Abend miteinander. In der Folge trafen wir uns mehrmals, doch mit der Zeit trennten sich unsere Wege, und schließlich verloren wir uns aus den Augen.

Jedoch etwas blieb bei mir hängen. Auch wenn ich dies erst viele Jahre später voll bewusst wahrnahm. An jenem Abend mit meinem ehemaligen Chef ereilte mich zum ersten Mal eine Ahnung von der Freiheit, glücklich zu sein. Eine leise Ahnung nur, aber es blieb doch eine Erinnerungsspur zurück. Allerdings war ich noch viel zu beschäftigt mit dem Aufbau einer eigenen Karriere, mit der Suche nach Erfolg und Anerkennung – und Glück. Ein halbes Jahr später war mein Vertrag in New York erfüllt. Ich beschloss, nach Deutschland zurückzukehren, und ich schlug tatsächlich einen anderen beruflichen Weg ein. Immerhin hatte ich erkannt, dass eine Karriere auf diesem Gebiet nicht mein Weg sein konnte.

Aber Karriere wollte ich machen, also ging ich in deutsche Großunternehmen mit dem Ziel, dort an die Spitze zu kommen. Meine Erinnerungen an New York verblassten mit der Zeit und die Erfahrung mit Brian wurde zur Episode. Als Jäger nach dem trügerischen Glück äußeren Erfolgs wurde auch ich zum Getriebenen – zum Gefangenen des Hamsterrads – in dem man immer nur rennt und rennt, ohne jemals wirklich irgendwo anzukommen. Doch irgendwann konnte ich einfach nicht länger vor mir selbst davonlaufen. Ich musste mich den gleichen Fragen stellen wie seinerzeit Brian: Was heißt es eigentlich, erfüllt zu leben? Was ist der Sinn meines Lebens? Hat es überhaupt einen Sinn?

Und, letztlich: Was macht mich wirklich glücklich?