Was uns wirklich trägt - Walter Kohl - E-Book

Was uns wirklich trägt E-Book

Walter Kohl

4,8

Beschreibung

Zwei Menschen, zwei Lebensläufe, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten: Der eine, in einer prominentenfamilie aufgewachsen, geprägt von Jahren der persönlichen Ausgrenzung und Stigmatisierung sowie der Terrorismusgefahr, persönlich und beruflich durch Tiefen und Krisen bis zum Scheitern gegangen. Der andere früh im Kloster, ging konsequent den Weg monastischer Gottsuche, mit einer scheinbar geradlinigen "Karriere" als Mönch, als erfolgreicher Cellerar, der das einfache Leben ins Zentrum stellt und als weltbekannter Autor und geistlicher Begleiter von vielen gehört wird. Und doch, beide sagen: Wir sind nicht am Ziel. Wir sind auf dem Weg. Beide fragen, was Leben ausmacht, was es gefährdet und was wirklich Sinn stiftet, was ihren eigenen Kurs bestimmt und was anderen helfen könnte..

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Anselm Grün | Walter Kohl
Was uns wirklich trägt
Über gelingendes Leben
Neuausgabe 2019
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Covergestaltung: Designbüro Gestaltungssaal
Covermotiv: © Verlag Herder / Patrick Seeger
Die Bibeltexte sind entnommen aus:
Die Bibel. Die Heilige Schrift
des Alten und Neuen Bundes.
Vollständige deutsche Ausgabe
© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005
E-Book-Konvertierung: de·te·pe, Aalen
ISBN Print     978-3-451-03122-9
Im Andenken an meine Eltern
Anselm Grün
Inhaltsverzeichnis
Einführung
1 – Unsere Herkunft als Mitgift
2 – Die Vorbilder auf dem Weg
3 – Selbstbewusstsein und Selbstachtung
4 – Zugehörigkeit und Eigensein
5 – Von Beziehung und Intimität
6 – Die Macht der Gefühle
7 – Von der Lebenskraft Angst
8 – Von Liebe und Hass
9 – Von Neid und Scham
10 – Widerstände und Konflikte
11 – Die Macht und ihre Motive
12 – Von der Selbstverantwortung und dem eigenen Weg
13 – Lebenshunger und Sehnsucht nach Glück
14 – Vom Haben zum Sein
15 – Von Schicksalsschlägen
16 – Von Gott und vom Glauben
17 – Die Begrenztheit unseres Daseins
18 – Vom Sinn des Lebens
19 – Alles in allem – das Wichtigste im Leben
Die Autoren
Einführung
Zwei Menschen, 50 der eine und 70 der andere, und zwei Lebensläufe, die auf den ersten Blick unterschiedlicher kaum sein könnten. Beide ganz verschieden in Temperament, Herkunft und Prägung. Beide kennen das Leben, aber aus sehr unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungswelten.
Der eine, in einer Politikerfamilie aufgewachsen, geprägt von Jahren der persönlichen Ausgrenzung und Stigmatisierung sowie der Terrorismusgefahr, persönlich durch Tiefen und Krisen bis zum Scheitern gegangen: Scheidung, familiäre Tragödien, Neuanfang als Unternehmer. Das Leben von Walter Kohl brauchte lange, bis es zur Ruhe kam.
Anselm Grün dagegen wusste schon als Kind, dass er Priester werden wollte. Er ging früh ins Kloster und lebt seit nahezu 50 Jahren in der gleichen Gemeinschaft. Er ging konsequent den Weg monastischer Gottsuche, mit einer scheinbar geradlinigen »Karriere« als Mönch, als Cellerar, der das einfache Leben ins Zentrum stellt und als spiritueller Autor und geistlicher Begleiter von Millionen gelesen und gehört wird.
Was verbindet die beiden? Und was ist das Besondere an ihrem gemeinsamen Buch bzw. daran, wie es zustande kam?
Irgendwann, bei einem Interview zu seinem letzten Buch, hatte Walter Kohl einige Namen genannt, Autoren, deren Texte ihm geholfen hatten, den Weg aus einer persönlichen Krise zu finden, die ihn an den Rand des Suizids geführt hatte. Der stoische Philosoph Seneca aus dem antiken Rom war dabei. Aber auch ein Mystiker wie Nikolaus von der Flüe, der ­politische Wirkung zeigte, gerade als er sich aus der Öffentlichkeit zurückzog. Oder der Begründer der Logotherapie, der KZ-Überlebende Viktor Frankl, Autor des ­Buches »Trotzdem ja zum Leben sagen«. Und dann fiel auch der Name Anselm Grün. Ob er ihn kenne? Ja, vor allem seine Schriften: Besonders »Einreden«, über die alten Weisheiten der Wüstenväter. Auch seine Einführung in die Evangelien der Bibel sei ihm wichtig geworden.
Die Wege der beiden hatten sich schon früher gekreuzt, sie hatten sich im Blick behalten, aber richtig kannten sie sich nicht. Und jetzt zeigte sich auf einmal: Es verbindet sie viel, nicht zuletzt der Blick auf das, was wirklich wichtig ist im Leben. Die Frage für ein gemeinsames Projekt war jetzt: Was trägt sie beide? Wohin zeigt der gemeinsame Kompass? Was wollen sie weitergeben?
Es gab intensive, lange Gespräche im Vorfeld der Erarbeitung dieses Buches. Sie fanden im Kloster Münsterschwarzach statt. Und dann stellte sich heraus, dass an diesem Ort verschiedene Fäden zusammenliefen. Münsterschwarzach und die Gegend um dieses fränkische Kloster waren Walter Kohl seit Langem vertraut. Hans Kohl, der Großvater väterlicherseits, stammt aus Greußenheim, einem kleinen Ort nahe Würzburg. Und der Vater war in der Notzeit unmittelbar nach dem Krieg schon als Jugendlicher hier gewesen, als »Lehrling« in der Landwirtschaft. Später kam er wieder. Mit dabei bei den Besuchen im Kloster auch der junge Walter Kohl, zum ersten Mal als Zwölf-, Dreizehnjähriger, der sich bei den ernsthaften Gesprächen der Erwachsenen in erster Linie langweilte. Walter Kohl selber kam später, nach dem Studium und der Bundeswehrzeit, allein und freiwillig, immer wieder für ein paar Tage. Warum er kam? »Einfach nur, um da zu sein, um zu beten, um zu mir selbst zurückzufinden.« Noch heute erzählen sie im Kloster, wie er – damals schon als Tauchlehrer ausgebildet – einem ohnmächtig gewordenen Mönch im Refektorium professionell Erste Hilfe leistete. In der klösterlichen Goldschmiede entstanden die Ringe für seine erste Ehe. Und auch ein längeres Gespräch mit P. Anselm, der damals sein Büro neben der Goldschmiede hatte, ist zumindest ihm noch ganz deutlich in ­Erinnerung.
Es gab also tiefer reichende Beziehungen, die bei der ­Arbeit an diesem Buch wieder lebendig wurden, die schnell Vertrautheit herstellten, die das Verbindende in den gegenseitigen Erzählungen lebendig werden ließen, die auch an das rührten, was inzwischen geschehen war.
Die 68er Jahre hatten für Walter Kohl lange Schatten ­geworfen, weil die Terrorismusgefahren der 1970er und die Projektionen seines Umfeldes als »Sohn vom…« sein Leben lange belasteten, ihn tief an sich zweifeln ließen und letztlich in eine Krise führten, aus der herauszukommen für ihn entscheidend wurde. Durch diese Krise entstanden Einsichten, Erfahrungen und neue Antworten, die er inzwischen weitergibt. Dass – und warum – die spirituelle Dimension bei diesem Mann »von Welt« so sehr dazugehört, ist das eigentlich Überraschende.
Für Anselm Grün waren die 68er Jahre auch eine Zeit der Befreiung: Die Krise der Traditionen wurde zur Chance, den Kern des Mönchtums neu zu entdecken, das Feuer unter der Asche wieder freizulegen. Auch für ihn geht es heute darum, Einzelnen zu helfen, ihr Leben zu gestalten, zu sich selber zu finden. Auch er gibt seine Sicht des Lebens an Menschen weiter, die seinen Rat suchen. Dass auch sehr konkrete Lebenskonflikte für ihn im Kern zu spirituellen Fragen führen, wird auch bei ihm immer wieder deutlich.
Was sind die Lebensthemen, denen man nicht ausweichen sollte? Und was fügt die Fragmente unseres Lebens zusammen? Es ist gefährdet, endlich, brüchig – was trägt es trotzdem?
Beide setzen beim Einzelnen an. Wer sein eigenes Leben in Ordnung bringt, trägt auch dazu bei, dass die Welt sich zum Guten verändert. Schon die alten Mönche wussten das.
Weltfremd ist keiner der beiden, auch der Mönch nicht. Der eine war einmal Investmentbanker an der Wall Street und kennt die Realität des Wirtschaftslebens aus verschiedenen Managementstationen seiner beruflichen Laufbahn von innen. Der andere, jahrzehntelang mit den ökonomischen Problemen eines Klosterunternehmens von mehr als 250 Mitarbeitern verantwortlich betraut, steht ebenfalls mitten im Leben. Aber auch in anderen Fragen redeten sie sozusagen aufeinander zu. Und so ist es ein Buch über ein Grundthema geworden: Wie zu leben wäre, um nicht Flugsand zu sein, nicht nur den eigenen Affekten zu folgen oder bloß Spielball für die Interessen anderer zu werden. Und es ist ein Buch auch darüber, was das heißen könnte: einfach zu leben. Beide reden darüber nicht abstrakt, sondern erzählen offen von sich. Und schlagen von der persönlichen Erfahrung die Brücke zu dem, was aus ihrer Sicht generell ein Leben fundieren und halten kann – auch angesichts äußerer Ansprüche und Zumutungen, angesichts auch von Schicksalsschlägen, Scheitern, Risiken. Und im Wissen darum, dass alles endlich ist.
Anselm Grün und Walter Kohl sind überzeugt: Sich selber auf den Grund gehen und die Grenzen des Ego übersteigen, sich selbst annehmen und sich mit dem Leben anfreunden, sich alle Freiheit nehmen und doch verantwortlich leben – das ist nicht etwas nur für spirituell Hochbegabte oder für Glückskinder. Es ist der Weg der Selbstwerdung für jeden, lebenslang. Dieser Weg ist das Ziel – was immer die Herkunft war, was immer der biographische Ausgangspunkt ist …
Rudolf Walter, Herausgeber
1
Unsere Herkunft als Mitgift
Warum ich? Herkunft kann manche Belastungen mit sich bringen. Ist das gut oder schlecht? Ich glaube, dass diese Frage nicht im Vordergrund stehen sollte. Uns ist ein Leben gegeben, und die für mich viel wichtigere Frage lautet: Was können wir aus unserem Leben, aus unserer Herkunft machen?
WALTER KOHL
Eine besondere Situation
Jede Herkunft hat ihre eigenen, ganz besonderen Prägungen und wird zu unserer ganz persönlichen Quelle der Erfahrung. Herkunft ist der Mutterboden, der Humus unserer Entwicklung. Aus ihr kommen wir, ob wir es wollen oder nicht. Herkunft ist schicksalhaft und wer nicht akzeptiert oder nicht versteht, woher er kommt, wird sich auch schwertun, seine Zukunft zu gestalten. Ob man nun dazu neigt, die Vergangenheit zu verklären, sie zu beklagen oder sie gar abzuspalten: Sie war, wie sie war. Was vorbei ist, lässt sich nicht mehr ändern. Wichtig ist nur, wie wir damit umgehen. Erfahrungen, die wir in der Kindheit gemacht haben, Einflüsse der Umgebung, Erwartungen, mit denen wir aufwuchsen und mit denen wir – wie auch immer – umgegangen sind, sie gehören zur Mitgift für unser Leben. Unsere Kindheit kann schwierig gewesen sein und uns lebenslang als verseuchter Boden vorkommen. Sie kann aber auch zu einer Kraftquelle werden. Die Rückbindung kann positiv, aber auch als Fessel erlebt werden. Und nicht immer ist das eine vom anderen leicht zu trennen. Es ist eine Frage unserer ganz persönlichen Einstellung und Entscheidungen.
Bei mir war das nicht anders. Geboren bin ich 1963, zwei Jahre vor meinem Bruder Peter. Das Besondere an meiner Geschichte: Ich wuchs in einer politisch sehr aktiven Familie auf. Mein Vater war 1963 schon Fraktionsvorsitzender im Landtag von Rheinland-Pfalz. Wahrgenommen habe ich zunächst nur, dass zu Hause immer viel los war. Als kleines Kind konnte ich nicht verstehen, was da genau um mich ­herum passierte. Aber anscheinend war es normal, dass bei uns andauernd Leute kamen und gingen, Menschen, die ich nicht kannte. Bei den Familien in der Nachbarschaft gab es das nicht. Warum? Das verstand ich nicht. Die Welt der ­Erwachsenen erschien mir mysteriös. Sie sprachen über offensichtlich wichtige Dinge, doch ihre Welt blieb mir verschlossen. Es war, als ob in unserem Haus zwei Welten neben­einander existierten: die der Erwachsenen mit ihren Gesprächen und die von uns Kindern. Zwischen beiden Welten gab es eine zwar unsichtbare, aber jederzeit erkennbare Trennlinie. Wenn wieder einmal einige dieser fremden Leute zu Besuch kamen, wurde kurz mit uns gesprochen, und dann wurden wir zum Spielen geschickt, je nach Wetterlage in den Garten oder in unser Zimmer im ersten Stock. Mein Eindruck als Kind war: Diese Fremden kamen zu allen Tages- und Nachtzeiten. Sie bestimmten den Rhyth­mus und das Leben unserer Familie. Sie waren wichtig, ihre Themen interessant. Wenn sie kamen, hatten wir Kinder zurückzutreten. Ihnen gegenüber, das wurde mir mit der Zeit klar, waren wir Kinder zweitrangig.
Private Gespräche mit Parteifreunden, mit Journalisten, manchmal auch mit Menschen aus einem anderen politischen Lager gehören zum Leben eines Politikers. So werden Netzwerke gebildet. Und solche Kontakte stellen einen zentralen Baustein für politische Karrieren dar. Und es sind diese Gesetze der Karriere, die die Wirklichkeit und die Prioritäten vieler Familien bestimmen. Auch die der unseren haben sie bestimmt. Die Menschen, die da kamen, das waren für mich – als Kind im Vorschulalter – einfach unbekannte Erwachsene. Sie strömten in einem schier endlosen Strom in unser Haus, machten sich in unserem Wohnzimmer breit und schienen unser Familienleben zu beherrschen. Schon früh musste ich anerkennen: Die Politik hat Priorität. Sie bestimmt unser Leben als Familie, ihr haben sich alle unterzuordnen.
Aber es gab noch etwas, was bei uns besonders war. Es gab Igo, einen Deutschen Schäferhund von stattlichen Ausmaßen, ein großes, manchmal auch wildes Tier. Dieser Rüde war unser wichtigster und vertrautester Spielkamerad in der Zeit vor der Schule. Er war erst wenige Monate alt, als er kurz vor meiner Geburt in unsere Familie kam. Meine Mutter hat mir später oft von ihren großen Ängsten erzählt. Würde der Hund auf das neue Familienmitglied eifersüchtig sein oder mich gar im Kinderwagen angreifen? Aber schon in den ersten Wochen meines noch sehr jungen Lebens adoptierte Igo mich förmlich.
Es muss im August 1963 an einem heißen Tag gewesen sein, als meine Mutter mich im Kinderwagen auf die schattige Terrasse stellte – und vergaß, den Hund wegzusperren. Mit Entsetzen sah sie auf einmal von der Küche aus, wie der Hund sich mit den Vorderpfoten auf dem Kinderwagen abstützte und seinen großen Kopf in den Kinderwagen hineinsteckte. Wegen der Hitze war ich nur mit einer Windel bekleidet und lag ausgestreckt im Kinderwagen. Als meine Mutter schmatzende Geräusche hörte, erwartete sie das Schlimmste, stürzte heraus – und sah: Der Hund leckte mich von Kopf bis Fuß herzhaft ab, und mir schien dies große Freude zu bereiten, denn ich lachte über das ganze Gesicht. Nachdem sie sich von ihrem ersten Schreck erholt hatte und offensichtlich keine Gefahr im Verzug war, ließ meine Mutter den Hund gewähren. Nach einer Weile ließ er von mir ab und legte sich demonstrativ vor den Kinderwagen. Der Neuankömmling Walter gehörte nun auch zu seiner Familie, und Igo fühlte sich fortan persönlich für meinen Schutz verantwortlich. Ein Schäferhundrüde als Hundemama, das gibt es nicht so oft. Als dann zwei Jahre später mein Bruder auf die Welt kam, wiederholte sich das Ritual. Nun hatte Igo zwei Jungs, um die er sich »kümmern« durfte.
Wohl selten hat sich ein ausgewachsener Schäferhund so viel von Kindern gefallen lassen. Wir konnten ihn an den Ohren ziehen, mit unseren kleinen Händen tief in seinen Rachen greifen oder uns an seinem Langhaarfell festkrallen, sodass er uns über den Boden zog. Igo wurde zu meiner wichtigsten Lauflernhilfe. Und wir blieben bis zu seinem Tod, rund zwölf Jahre später, unzertrennlich. Eine Freundschaft, der auch Fremde nichts anhaben konnten.
Dieser Schäferhund übernahm oft auch den Schutz meiner Mutter, wenn sie alleine mit uns Kindern zu Hause war. Erst Jahre später wurde mir bewusst, warum mein Vater ­einen, wie er es ausdrückte, »scharfen« Wachhund im Haus haben wollte. Seine politische Tätigkeit sorgte schon in den 1960er Jahren, also lange vor dem Ausbruch des RAF-Linksterrorismus, für Sicherheitsprobleme. Als Kind ahnte ich natürlich nichts von alledem.
Meine Mutter war eine wahre »Hundeflüstererin«, auch wenn wir damals dieses Wort noch nicht kannten. Selbst scharfe Wachhunde des Bundesgrenzschutzes wurden zu Schmusetieren, wenn sie anfing, mit ihnen zu sprechen und zu spielen. Oft haben wir gelacht, wenn der Hundeführer peinlich berührt danebenstand und erleben musste, wie sein vermeintlich so furchterregendes Tier in den Händen meiner Mutter förmlich zahm wurde und sie ganz entspannt mit ihm spielte. Sie war es auch, die uns lehrte, wie man mit Hunden umgeht und dass man vor ihnen keine Angst haben musste.
Dank Igo fühlten wir Brüder uns unangreifbar. Wenn er an unserer Seite war, wagten sich die Kinder von den Blocks am anderen Ende der Straße, unsere damaligen Angstgegner, nicht in unser Versteck. Es war, als ob wir unser eigenes Schlachtschiff dabeihätten. Eine tiefe Liebe für Tiere, besonders für Hunde und Katzen, ist mir geblieben. Noch heute kann ich an kaum einem Hund vorbeigehen, ohne ihn anzusehen, etwas zu pfeifen oder ihn zu streicheln.
Die Idylle zerplatzte mit meinem nächsten Lebensabschnitt. Mit dem ersten Schultag war ich in einer neuen Welt angekommen, in der ich oft genug für meine Herkunft regelrecht abgestraft wurde. Viele meiner Mitschüler, aber auch manche Lehrer behandelten mich jahrelang wie einen Aussätzigen. Zumeist war ich für sie nur »der Sohn vom Kohl«. Ich fühlte mich als Fremdkörper, als Spielball mir unbe­kannter Mächte, als ein Anderer unter Gleichen. Ich wurde gemobbt, gehänselt, ausgegrenzt und geprügelt. Manche meiner Mitschüler wurden regelrecht von ihren Eltern aufgehetzt. »Hau dem Kohl mal eine aufs Maul« – das war noch eine der harmloseren Spielarten. Ich wurde mehrfach blutig zusammengeschlagen, nicht nur auf dem Pausenhof.
Als ich 2013 mit einem Produktionsteam für den WDR einen Film über mein Leben drehte, führte ich das Team für eine Szene in die Toilette meines Gymnasiums in Ludwigshafen. Dort war ich wiederholt so brutal zusammengeschlagen worden, dass ich schließlich halb ohnmächtig und am Kopf blutend im Urinal lag. Gerade im Rahmen meiner heutigen Versöhnungsarbeit war es mir wichtig, zu zeigen, dass man an solche Orte alten Schmerzes in Ruhe zurückkehren kann.
»Warum?« Oder vielleicht besser: »Warum ich?« Als Kind und später auch als Jugendlicher konnte ich keine Antworten auf diese Fragen finden. Die Folge: Ich nahm die Welt zunehmend als feindlich wahr. Unruhe, Unsicherheit, Selbstzweifel und Hektik überwältigten mich. Ich hatte doch überhaupt nichts Böses getan. Ein Acht- oder Zehnjähriger kann politische Zusammenhänge oder Kontroversen nur schwer begreifen. Aber ich wurde Gegenstand von Projektionen und wurde zum Blitzableiter für Aggressionen, die eigentlich auf meinen Vater gerichtet waren. Es war damals ein seltsames Lebensgefühl: Ich spürte, dass ich anders behandelt wurde als die anderen Kinder. Ich merkte, dass ich für Dinge bestraft wurde, die ich nicht getan hatte. Und das Schlimmste war meine wachsende innere Sprachlosigkeit. Immer weniger konnte ich über meine Gefühle sprechen, immer mehr zog ich in mich zurück. Ich hatte niemand, dem ich sie hätte anvertrauen können.
Mit der Einschulung ins Gymnasium im Sommer 1973 wurde die Lage noch schwieriger. Alle meine Freunde aus der Grundschule wechselten ins Max-Planck-Gymnasium; außer mir wurde nur ein weiteres Kind aus meiner vierten Klasse ins Carl-Bosch-Gymnasium eingeschult. Jetzt war ich völlig isoliert. Daheim lebten wir inzwischen in einem Hochsicherheitstrakt mit Schulanschluss. Der Trommelschlag der Tagespolitik und die Sicherheitsbelange angesichts der RAF-Bedrohung gaben den familiären Lebensrhythmus vor. Besonders während der Unter- und Mittelstufe des Gymnasiums blieb ich jahrelang ein isolierter Fremdkörper, einsam in der Gruppe.
In den Hochzeiten des Terrorismus verboten Eltern ihren Kindern, mit mir zu spielen, weil sie Angst um deren ­Sicherheit hatten. Jahrelang wurde ich zu keinem Klassenkameraden eingeladen – nicht einmal für einen Nachmittag und auch nicht zu einer Geburtstagsfeier. Daheim, in Oggersheim, war mein Radius eng auf unser Grundstück sowie das unbebaute Nachbargrundstück beschränkt. Polizeibeamte wurden zu unseren wichtigsten Spielkameraden. Das änderte sich erst in der Oberstufe, Ende der 1970er Jahre. Damals begann ich, eigene Entscheidungen zu treffen und mich gegen Vorschriften durchzusetzen. Zeitgleich flaute die Terrorangst nach dem Höhepunkt des »Deutschen Herbstes« 1977 langsam ab. Aber das gefühlte Gefängnis der 1970er Jahre hatte tiefe Spuren in meinem Herzen hinterlassen.
Zu Hause dominierte die Politik weiter unser Leben. Sehr früh lernte ich die »Innenpolitik« einer Volkspartei kennen – die andauernden Machtkämpfe, das ewige Neuausbalancieren der Interessen, das Hin und Her der einzelnen Parteigliederungen, eine nicht enden wollende Abfolge von Parteiveranstaltungen. All das gehörte zum familiären Alltag wie Essen und Trinken. Die Bedeutung des Kalauers »Freund, Feind, Parteifreund« konnte ich anhand vieler ganz aus der Nähe erlebter Beispiele schon mit zwölf Jahren gut nachvollziehen.
Zwar war und bin ich schon immer sehr an politischen Themen interessiert, aber diese besondere Form der Intrigen und der konfliktträchtigen Parteiarbeit war mir seit frühester Jugend suspekt. Schon als Teenager wurde mir klar und nach einem Helferjob auf dem CDU-Parteitag 1978 in Ludwigshafen war es mir ganz deutlich: Mit diesem Milieu wollte ich nichts zu tun haben. Mein Vater konnte diese ­negative Haltung nie verstehen. Sicher ist dieser Meinungs­unterschied ein Faktor, der zu unserer Entfremdung bei­getragen hat. Für ihn war und ist die Partei sein wichtigstes Lebenselixier. Mein Ideal von einer sachorientierten Politik ohne den Primat der Parteien in Deutschland hat er ­immer belächelt. Und auch ich selber weiß, dass das wohl ein Wunschtraum bleiben wird.
Was ich von meinen Eltern an Positivem mitgenommen habe
Meine Mutter lebte uns Verantwortung für andere Menschen vor. Als Landesmutter von Rheinland-Pfalz wurde sie Anfang der 1970er Jahre zur Anlaufstelle für Menschen in Not. An eine Begebenheit erinnere ich mich heute noch, als ob es erst gestern wäre. Ich muss etwa zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, als es eines Abends, kurz bevor ich ins Bett musste, an der Tür schellte. Draußen war ein nasskalter Herbstabend, ein richtiges »Sauwetter«. Zusammen mit meiner Mutter öffnete ich die Haustür. Vor uns stand, flankiert von zwei Polizeibeamten, eine alte, gebeugte Frau. Sie erzählte, dass sie aus Koblenz für ihr letztes Geld mit der Bahn nach Oggersheim gefahren war, weil sie nicht mehr weiterwusste. Dann schaute sie meine Mutter flehend an. Die sagte nur: »Jetzt kommen Sie erst einmal rein« und nickte den Polizeibeamten zu. »Alles okay, ich übernehme«, bedeutete ihr Blick. Dann zu mir: »Nimm der Dame bitte den Mantel ab.« Ich weiß noch ganz genau, dass sie »Dame« sagte, nicht »Frau«. Ich verstand, dass jetzt etwas Besonderes passierte, etwas, das mir imponierte. Auftragsgemäß hängte ich also den nassen Mantel in der Garderobe auf, und wir trafen uns alle wieder in der Küche. Die Frau war erschöpft und stützte sich den Kopf, während sie am Küchentisch saß. Ich konnte sie kaum verstehen, bis mir klar wurde: Sie hatte keine Zähne mehr. Mutter nahm die Situation beherzt in die Hand. Als Erstes wurde ein heißer Tee aufgesetzt. Dann ging sie zum Herd und kochte frischen Kartoffelbrei. Ich ging ihr zur Hand. Sie sagte nur: »Das ist heiß und jetzt genau das Richtige.«
Nachdem die Frau aufgegessen hatte, begann sie, ihre Geschichte zu erzählen. Meine Mutter unterbrach sie nach wenigen Minuten, vorgeblich um mich schnell ins Bett zu bringen, in Wahrheit wohl eher, um mir diese traurige Geschichte zu ersparen. Wir gingen nach oben in mein Zimmer, und als ich im Bett lag, setzte sich meine Mutter kurz zu mir und sagte: »Walter, uns geht es sehr gut. Wir haben ein schönes Haus, uns ist warm, wir haben zu essen. Andere Menschen haben das nicht. Dann muss man sich kümmern.« Sie strich mir über die Haare und verabschiedete sich. Tausend Fragen gingen mir durch den Kopf. Was die Frau wohl erzählte? Was würde meine Mutter tun? Doch dann wurde ich sehr schnell ruhig. Ich war stolz auf meine Mutter. Ihre ruhige und besonnene Art hatte mir Sicherheit vermittelt. Und da war dieses Vertrauen: Mutter weiß, was zu tun ist, es wird alles gut werden. Mit dieser Gewissheit schlief ich ein.
Am nächsten Morgen war die Frau weg. Meine Mutter sagte nur: »Die Frau will nicht, dass ihr Schicksal überall herumerzählt wird.« Und an mich gewandt: »Wenn man die Möglichkeit hat, etwas Gutes zu tun, dann sollte man das auch tun. Man muss sich kümmern.« Schon wieder dieser Satz. Ich habe nie wieder mit meiner Mutter über diese Begebenheit gesprochen. Aber im Laufe der Jahre habe ich viele ähnliche Situationen miterlebt, in denen sie half und sich kümmerte, aus Überzeugung und ohne darüber Aufheben zu machen.
Mein Vater war in ganz anderer Weise prägend für mich. Wenn wir unterwegs waren, erzählte er häufig interessante Geschichten zur Historie des Ortes, den wir gerade besuchten. Man konnte förmlich spüren, was damals passiert war. Oft fuhren wir in diesen Jahren am Wochenende ins nahe gelegene Elsass. Hinter Wissembourg/Weißenburg liegen die Burgruinen Wasigenstein und Fleckenstein. Walther von der Vogelweide hatte dort seine Minnelieder gesungen, und in diesem deutsch-französischen Grenzgebiet spielte auch das Waltharilied, das vom Kampf des Walther von Aquitanien mit den Rittern des Frankenkönigs handelt. Wie uns mein Vater das Ritterleben schilderte, wie er erklärte, mit welch einfachen Mitteln die Menschen damals diese Burgen auf die Sandsteinfelsen gebaut hatten, das war fast filmreif. Das Mittelalter wurde auf einmal lebendig, und in meiner Jungenphantasie passierten grandiose Dinge und tolle Abenteuer.
Damals gab es noch aktive Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Frankreich. Die Grenze verlief teilweise nur wenige Hundert Meter nördlich der Burgen. Im Bewusstsein der Menschen damals waren der Zweite Weltkrieg und die vielen deutsch-französischen Konflikte noch sehr präsent. Auch darüber erzählte mein Vater. Die Pfalz ist ja eine Region mit einer durch die alte »Erbfeindschaft« bedingten schrecklichen, jahrhundertealten Erfahrung von Kriegen. Die Zerstörung von Speyer und seines Doms, die Vernichtung des Heidelberger Schlosses im Pfälzischen Erbfolgekrieg – die Vergegenwärtigung all dieses Elends machte mir sehr früh klar, dass Krieg keine Antworten bringt und dass wir für den Frieden arbeiten müssen.
Dass Versöhnung politisch wichtig ist, konnte ich damals von meinem Vater lernen. Ich habe ihn 1984 begleiten dürfen, als er und François Mitterrand sich in Verdun über den Gräbern die Hand reichten. Für ihn als Kind des Zweiten Weltkrieges war Frieden in Europa stets ein überragendes politisches Ziel. Dafür bewundere ich meinen Vater noch heute.
Wenn ich selber diesen Gedanken in die individuelle Versöhnungsarbeit hinein erweitert habe, dann ist dabei auch sein Impuls von damals noch wirksam. Bei diesen Ausflügen mit ihm habe ich gelernt, dass Geschichte nicht das stupide Pauken von Fakten, Jahreszahlen und Namen ist, sondern ein kraftvoller Prozess, der Quellen beschreibt, aus denen wir noch immer Kraft schöpfen und neue Antworten für die Gegenwart finden können. Damals hat mein Vater nicht nur den Grundstein für meine Liebe zur Geschichte gelegt. Wenn mir heute im Blick auf die eigene Lebensgestaltung das Kontinuum aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft so wichtig ist, geht auch das auf etwas zurück, was er uns schon als Kindern nahebrachte.
Auch Praktisches lernte ich von ihm, Organisation etwa oder die zeitlich klare Gliederung von Abläufen. Es hat mich immer fasziniert, wie er mit seinem kleinen schwarzen Kalender, den er mit einem noch kleineren Stift führte, die Arbeit mehrerer Büros koordinierte und eine Vielzahl von Menschen lenkte. Was ich dabei gelernt habe: Zeit ist etwas, mit dem man sorgsam umgehen sollte: Carpe diem – Nutze den Tag.
Und auch dies: Als Kind erlebte ich meinen Vater häufig als Redner vor vielen Menschen. Deshalb erschien es mir selber ganz normal, vor anderen das Wort zu ergreifen. Und als ich in der achten Klasse einige Probleme mit manchen Schulnoten hatte, fand ich eine überraschende Lösung: Ich rettete mich vor manchem blauen Brief durch freiwillige mündliche Zusatzreferate. Zum einen verhinderte ich so unnötige Kontakte zwischen meiner Mutter und den Lehrern, und zum anderen war das für mich viel einfacher und zudem spannender, als für eine Arbeit zu büffeln. Bald hatte ich dafür ein System entwickelt. Es bereitete mir eine fast diebische Freude, der so verhassten Schule auf diese Weise ein Schnippchen zu schlagen.
Es war meine langjährige Deutsch- und Geschichtslehrerin Frau Trollope, die mich damals ermutigte, mit eigener Meinung und eigenem Wort vor andere Menschen zu treten und auf diese Weise ich selbst zu sein. Einer ihrer Leitsätze lautete: »Das Wort verleiht große Macht, nutze sie weise und respektvoll.« Als ich die Rede der Abiturienten anlässlich unserer Abiturfeier im Juni 1982 hielt, saß sie in der ersten Reihe. Danach kam sie zu mir und beglückwünschte mich, nicht ohne liebevolle Tipps, wie ich mich weiter verbessern könnte. Wenn ich heute in Veranstaltungen vor Publikum spreche, stelle ich mir manchmal vor, was Frau Trollope wohl zu mir sagen würde, und frage mich, ob mein Vortrag ihren Ansprüchen genügt hätte. Auch das ist ein schönes Gefühl von Kontinuität.
Meine Herkunft hat mir manche ungewöhnliche Ein­blicke in die Politik geschenkt hat, und ich durfte viele interessante Menschen kennenlernen. Auch wenn sie manche Türen öffnete, so brachte und bringt auch viele Belastungen mit sich. Ist das gut oder schlecht? Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Ich glaube zudem, dass sie nicht im Vordergrund stehen sollte. Uns istein Leben gegeben, und die für mich viel wichtigere Frage lautet: Was können wir aus unserem Leben, aus unserer Herkunft machen? Wie können wir es gestalten?
Träume und Wünsche ans Leben
Mein größter Traum als Kind und noch mehr als Jugend­licher war, aus dem Schubladendenken und all den belastenden Vorurteilen, die mit meiner Herkunft zusammenhingen, befreit zu werden. Ich wollte die scheinbar endlose Kette von Projektionen endlich brechen. Dieser Wunsch trieb mich später im wahrsten Sinne des Wortes um die halbe Welt. Zunächst wollte ich Berufsoffizier bei der Bundeswehr werden. Doch als ich, nur drei Tage nach dem Beginn der Kanzlerschaft meines Vaters, Anfang Oktober 1982, in ein Jägerbataillon einrückte, war dieser Traum schnell ausgeträumt. Mit einem Vater, der quasi Oberkommandierender der Bundeswehr war, hatte sich mein Traum von einem eigenen, abgegrenzten und eigenständigen Lebensumfeld, in dem ich einfach nur Walter sein durfte, schlagartig in Luft aufgelöst. Ich leistete also die zwei Jahre, für die ich mich als Reserveoffizier verpflichtet hatte, ab und floh 1985 in die USA. Ich wollte größtmöglichen Abstand zwischen mich und die deutsche Tagespolitik bringen.
Für eine gewisse Zeit schien der Plan aufzugehen. Meine Studienjahre von 1985 bis 1989 waren vielleicht die freieste Zeit in meinem Leben. Ich hatte mich in den USA fast völlig assimiliert, und die meisten Amerikaner glaubten mir, wenn ich erzählte, dass ich aus Wisconsin stamme, einem Bundesstaat mit sehr vielen deutschstämmigen Bewohnern. Dort gibt es sogar »Kohl’s Departmentstore«, ein großes, bekanntes Kaufhaus, so dass mein Name für die meisten unauffällig war.
Doch das Leben macht seine eigenen Pläne. Die politischen Ereignisse in Deutschland holten mich schließlich ein. Über kaum ein anderes Ereignis habe ich mich mehr gefreut als über die friedliche deutsche Wiedervereinigung 1990. Für mich ist und bleibt sie bis heute das wohl prägendste Ereignis, der politische und historische Höhepunkt in meinem Leben. Aber für mich als Walter, der in seiner Biographie als Privatperson endlich die Eingebundenheit in politisch-öffentliche Zusammenhänge und Wahrnehmungen hinter sich lassen wollte, zerstörte dieses Ereignis der deutschen Politik auch eine zuvor so wunderbar empfundene neue Situation mit einem Paukenschlag. Vor 1989 interessierte sich so gut wie niemand in den USA für Deutschland. Danach waren Deutschland, Europa und Helmut Kohl jedoch ein Hauptthema in der Gesellschaft, in den Medien, in der Politik. Die Angst vor einem »Vierten Reich« grassierte in den USA, und mein Vater stand plötzlich wieder im Brennpunkt der Auseinandersetzungen. Anfangs war ich deswegen sehr frustriert. Da hatte ich eine neue Sprache gelernt, war eingetaucht in eine neue Kultur, hatte mich durch ein anspruchsvolles Studium gepaukt und stand vor dem ersten Job bei einer der führenden Investmentbanken an der Wall Street. Und plötzlich war alles wieder da, vor dem davonzulaufen ich versucht hatte.
Es dauerte sehr lange, bis ich es einsah und auch akzeptierte: Man kann seinen Schatten nicht einfach abschütteln und den eigenen ungelösten biographischen Lebensthemen nicht entfliehen. Und alles das, was in uns nicht geklärt ist, holt uns irgendwann ein, und dann meist noch an der unpassendsten Stelle. Aber, und das ist die gute Nachricht: Alle Antworten und Lösungen liegen in uns selbst. Nur wer sein Leben aktiv und selbstkritisch in die Hand nimmt, wird seine persönlichen Herausforderungen bewältigen und die damit verbundenen Schwierigkeiten überwinden. Auch dies war eine Erfahrung aus dieser schwierigen Zeit.
Schwierige Loslösung und innere Rückbesinnung
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Als ich Tausende von Kilometern von Oggersheim entfernt lebte, war ich sehr stark von meiner Herkunft beeinflusst. Heute ist dieser Einfluss, obwohl ich nur noch rund 100 Kilometer von diesem Ort meiner Kindheit entfernt lebe, massiv zurückgegangen. Dazwischen liegt ein langer Prozess der Loslösung und der eigenen Selbstfindung. Der führte mich zunächst allerdings in eine Sackgasse. Eine unglückliche erste Ehe, der berufliche Werdegang als Manager in großen Unternehmen, der mir zwar eine Karriere und einen Job gab, aber keinen Beruf und schon gar keine Berufung bot, führten zu wenig Sinn und Lebensfreude. Und ich fühlte dabei doch immer stärker eine innere Leere. Ich lebte ein vornehmlich auf äußerliche und materielle Anforderungen ausgerichtetes Leben. Ich lebte die Vorstellungen anderer Menschen, besonders die meiner Mutter. Meine Mutter hatte ihre eigenen Berufswünsche stets zugunsten der Karriere ihres Mannes zurückgestellt, wie das für viele Frauen in ihrer Generation durchaus üblich war. Von mir erwartete sie eine führende Position, idealerweise im kaufmännischen Bereich eines Großunternehmens. Der Kompromiss lautete: Du darfst Geschichte studieren, aber nur, wenn du zugleich Volkswirtschaft – also »etwas Richtiges« – studierst. Später spezialisierte ich mich auf Controlling, Unternehmensführung und Personalentwicklung. Letztlich lebte ich damit die Vorstellungen und Wünsche meiner Mutter und nicht meine eigenen. Damals hatte ich noch nicht den Mut, meinem eigenen Kompass auch gegen familiäre Widerstände zu folgen.
Erst Ende 2004, als ich mich nach meiner Scheidung zusammen mit meiner heutigen Frau Kyung-Sook beruflich selbstständig machte, begann auch meine echte innere Selbstständigkeit. Jetzt, ganz auf mich allein gestellt, galt es: schwimmen oder untergehen. Da wir unsere Firma als Start-up von Null aufbauten und keine Referenzen als Automobilzulieferer besaßen, glich unsere Firmengründung schon einem halben Himmelfahrtskommando. Aber mit viel Partnerschaft, harter Arbeit und leidenschaftlichem Engagement schafften wir den Aufbau und konnten uns im Markt etablieren.
Meine innere Rückbesinnung begann ebenfalls in dieser Zeit der beruflichen Neuausrichtung. Ein entscheidender Impuls dabei war meine tiefe persönliche Krise, die 2002 ihren Anfang nahm. Durch sie wurde ich vor die existenzielle Frage gestellt, entweder den Weg meiner Mutter zu gehen oder mich neu zu erfinden, also auch mein Herz wiederzuentdecken und schrittweise neue Sichtweisen zuzulassen. Lange suchte ich nach Gerechtigkeit oder Fairness, bis ich endlich verstand, dass ich in mir nach etwas ganz anderem verlangte: nach meinem inneren Frieden. Erst als ich anfing, nicht länger gegen die Realitäten meines Lebens anzurennen, entstand in mir Raum für ein neues Denken. Diese neuen Ansichten begannen mir neue Freiheiten zu schenken.
Neue Antworten auf alte Fragen in Form neuer Ansichten sind unsere Chance, aktiver zu leben und aus der Passivität des Gelebtwerdens auszubrechen. Ich lernte damals etwas Wichtiges: Nicht dasWas, nicht die Frage: »Was ist passiert?« sollte uns beherrschen, sondern wir sollten uns vielmehr vomWie leiten lassen, also von der Frage: »Wie gehen wir mit dem um, was passiert ist?« Das Leben ist, wie es ist. Die Menschen sind, wie sie sind. Man muss sie nehmen, wie sie sind, es gibt keine anderen. Das ist Realismus. Aber es darf kein Freibrief für Zynismus oder Selbstmitleid sein.
»Jede Zeit hat ihre eigenen Antworten.« Dieser Satz von Willy Brandt prägt mich sehr. Was noch gestern als richtig anerkannt wurde, muss noch lange nicht auch heute noch passen. Wenn ich diesem Satz zustimme, rede ich nicht der Willkür oder dem Opportunismus das Wort. Ich meine damit vielmehr: Ehrliche Reflexion, bedingungslose Offenheit uns selbst gegenüber, Mut, Klarheit und Entschiedenheit werden uns die jeweils neuen, richtigen Antworten geben. Dies ist kein leichter Weg, aber ein lohnender.
Dies war die Lektion, die ich mühsam zu lernen hatte. Es hat Jahre gedauert, bis ich sie schließlich annehmen konnte. Aber nur aufgrund dieser neuen Grundeinstellung oder besser: Neuausrichtung des Herzens konnte ich durch die Kraft der Versöhnung neuen Frieden in mir finden. Versöhnung heißt heute für mich, meinen eigenen, wenn nötig einseitigen Frieden mit Menschen und Erfahrungen zu machen und neue, friedliche, nachhaltig belastbare Lösungen zu finden. Ich erkannte, dass einseitige Versöhnung genauso wertvoll sein kann wie ein gemeinsam erreichter Frieden. Diese Einsicht wurde zu einem weiteren Meilenstein auf meinem Weg der inneren Neuausrichtung.
Im Fluss der Generationen
2013 wurde ich 50 Jahre alt. Meine Familie und ich verbrachten den Nachmittag meines Geburtstages an einem meiner Lieblingsorte, am Fuß der Burg Pfalzgrafenstein bei Kaub, wo wir ein kleines Picknick veranstalteten. Dieser Ort hat eine große Symbolik für mich, denn er liegt auf einer Insel mitten im Rhein. Mitten im Fluss – im wahrsten Sinne des Wortes.
Vom Südende der Insel blickt man ins enge Mittelrheintal und spürt förmlich die Macht der Strömung. Die Luft schmeckt nach viel Wasser und etwas Schlamm. Ein ganz besonderes Gefühl von Leben, von Fluss im Sinne von Fließen, entsteht in mir. Wo stehe ich im Fluss der Generationen? Irgendwo in der Mitte, so wie Kaub auch in der Mitte zwischen Bodensee und Rotterdam liegt. Die Kinder werden groß und die Elterngeneration langsam alt. 50 Lebensjahre sind die Mitte zwischen Kommen und Gehen. Gedanken über die Kontinuität und die Brüche der eigenen Lebensgeschichte und auch über den eigenen Standort im Fluss der Generationen liegen an einem solchen Tag nahe.
Ich erinnere mich noch, dass ich bis zu den Knien im Wasser stehend die Strömung an meinen Beinen spürte. Die Stetigkeit des Flusses schenkte mir, als ich da stand, Kraft. Ich sprang schließlich ins Wasser, schwamm in der Strömung und spürte aufs Neue diese Kraft des Stroms. Sicher, seine Hochwasser können auch zerstören, aber letztlich ist dieser Fluss ein Lebensspender – und ein Bild für den Fluss des Lebens. Er symbolisiert für mich die Energie von Heimat und Herkunft, aber auch von Entwicklung, von Kontinuität.
Der Rhein wird erst durch seine Nebenflüsse zum mächtigen Strom. Ohne seine Ein-Flüsse, im wahrsten Sinne des Wortes, bliebe er nur ein kleiner Gebirgsbach. Er wird zur Summe aus vielen Gewässern wie Aare, Neckar, Main, Nahe, Lahn, Mosel, Sieg oder Ruhr. Es ist dieser Zusammenfluss von vielen Seiten, der den Rhein erst entstehen lässt, der ihn bestimmt. Der Rhein ist die Summe seiner Zuflüsse. Es ist egal, ob ein Tropfen Rheinwasser ursprünglich aus dem Schwarzwald, den Vogesen oder der Eifel stammt, zusammen bilden alle Tropfen den Rhein. Und ist es nicht genauso beim Menschen und seinen Ein-Flüssen?
Was hat mich selber geprägt? Sicher meine Herkunft, mein Wissen, meine Erfahrungen, mein christlicher Glaube und meine Überzeugungen. Sie prägen mich immer noch, ebenso wie die Menschen, die ich liebe und mit denen ich lebe. Auch die Menschen, die mich verletzt haben, haben mich geprägt. Meine Erfolge und meine Misserfolge haben mich geprägt. Was davon ist wesentlich, was nicht? Ich weiß es nicht zu sagen. Ich glaube, wir sollten die Gesamtheit unserer Prägungen annehmen, sie in unsere Lebensgestaltung als ein großes Ganzes integrieren und keine inneren Ranglisten führen.
Auf dem Weg zur Versöhnung und zum inneren Frieden ist es wichtig, dass alle Gefühle, alle Ein-Flüsse, alle Tropfen mitgenommen werden, die guten und die schlechten, die angenehmen und die schmerzhaften. Wir sind immer die Gesamtheit unserer Existenz, die Summe unserer Prägungen und Gefühle. In dieser Mixtur liegen die Chancen und Risiken unserer Lebensgestaltung. Hier spüren wir unseren Schmerz, unsere Kraftfresser, aber auch die positive Energie. Und nur wenn wir uns auf die Gesamtheit unserer Wirklichkeit einlassen, nichts verdrängen, nichts verleugnen, können wir auch den alten Schmerz in neue Energie wandeln und neue Kraftquellen erschließen.
Wie also mit dieser Mixtur des Lebens umgehen? Mit Liebe und Respekt, aber auch mit dem notwendigen inneren Abstand. Und nicht zuletzt mit Ehrlichkeit, Tatkraft und Mut. Dazu gehört die ganze Bandbreite menschlicher Empfindungen und Reaktionen, bis hin zum Wutausbruch, zum Aufschrei. Ja, auch Schreien kann frei machen. Alle Gefühle auf den Tisch zu legen ist ein wichtiger Schritt des Weges der Versöhnung. Auch die unschönen Dinge müssen konsequent angesprochen werden dürfen, man muss sich auch einmal »auskotzen« dürfen und wollen. Das ist nicht immer angenehm, aber es ist befreiend.
Aus meiner eigenen Geschichte habe ich gelernt, was ich heute anderen Menschen mitgeben möchte: das Bewusstsein der eigenen Freiheit und die Überzeugung, dass wir selbst immer wieder neu unser Leben gestalten können. Fragen wir uns also: Geben wir die Führung unseres Lebens nicht viel zu oft an andere ab? Machen wir es uns nicht zu einfach, wenn wir »den Umständen« oder »den anderen« die Schuld an unserer Misere zuschieben? Und geben wir nicht manchmal einfach zu schnell auf?
Wer sich solchen Fragen ehrlich stellt, wird die Herausforderung spüren. Sie liegt darin, sich nicht von außen bestimmen und leiten zu lassen, sondern das eigene wirklich Leben selber in die Hand zu nehmen und es bewusst zu gestalten. Jeder Tag bietet dazu eine neue Gelegenheit. In dieser Chance der Gestaltung liegt unser Lebensauftrag. Wenn wir diese Chance nutzen, wird sie zur Quelle unseres Glücks.
Wir alle haben von unseren Eltern etwas mitbekommen. Manches übernehmen wir unbewusst, anderes bewusst und in manchem entscheiden wir uns später anders und gehen unseren eigenen Weg.
ANSELM GRÜN
Prägende Hintergründe
Wie auch immer die Erfahrungen unserer Kindheit waren und wohin immer wir uns selber entwickelt haben – es ist gut, wenn wir uns bewusst werden, was uns durch unsere Herkunft mit auf den Lebensweg gegeben wurde. Nur so können wir unseren eigenen Weg finden und weiter gehen. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, so erkenne ich, wie prägend sie für mich war. Die Erinnerungen daran sind gut. Ich bin am Ende des Krieges, im Januar 1945, in einem kleinen fränkischen Dorf geboren, in das meine Familie evakuiert worden war. Mein Vater war daheim im Geschäft in München geblieben und wurde dann noch zum Volkssturm eingezogen. Meine Mutter mit ihren drei Kindern und ihre Schwester mit vier Kindern waren wegen der ständigen Bombengefahr in München aufs Land gebracht worden. Ich bin also in der Fremde geboren. Doch schon ein halbes Jahr nach meiner Geburt zogen wir zurück nach Lochham bei München in das Haus, das mein Vater kurz vor dem Krieg dort gebaut hatte. Ich war das vierte Kind. Nach mir kamen noch ein Bruder und zwei Schwestern. Ich erinnere mich an die vielen Spiele miteinander. Und ich erinnere mich an die Erzählungen meines Vaters, der uns Kindern spannende Geschichten aus seinem eigenen Leben erzählen konnte. Mit 24 Jahren war er aus dem Ruhrgebiet ins katholische Bayern gezogen, weil er sich geärgert hatte, dass er an katholischen Feiertagen – vor allem am Dreikönigstag – dort im Büro einer Zeche arbeiten musste. Seine Eltern waren schon früh gestorben. Er zog ohne Geld in die Fremde und hat sich dort zuerst auf dem Bau durchgeschlagen und schließlich ein eigenes Geschäft gegründet: einen Elektro-Großhandel.
Mein Vater kam selbst aus einer sehr religiösen Familie. Seine Großeltern waren von der Eifel ins Ruhrgebiet gezogen, um dort Arbeit zu finden. Die drei Geschwister meines Vaters waren alle Benediktiner geworden: Sein jüngerer Bruder war Mönch in Münsterschwarzach: P. Sturmius Grün. Er hatte tatsächlich etwas Stürmisches und Rebellisches an sich. Er war geprägt von der Jugendbewegung, und im Kloster ärgerte er sich beim Studium über alle, die sich nicht mit vollem Ehrgeiz dem Studium zuwandten. Sein großes Anliegen war, in der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie und Literatur eine neue Sprache für die Verkündigung zu finden. Er war sehr belesen und hat auch selbst ein paar Bücher geschrieben. Eines trug den TitelGlaube als Last und Erlösung. Es ist 1950 erschienen. In diesem Buch versuchte er in einem Gespräch mit einem Zweifler, den Glauben so darzustellen, wie er der befreienden Botschaft Jesu entspricht. Darin fragt er: »Sie wollen wissen, was ich als Glaubender erfahren habe? Das also, dass der übernatürliche Glaube meiner Natur das Natürlichste ist, ihr Licht, ihre Antwort, ihre Kraft. Ich habe erfahren, dass nicht der Glaube Anstrengung fordert, sondern der Unglaube.« Damals versuchte er als »Zurückgebliebener und Vorausgeeilter« gegen die »Engstirnigkeit und Rückständigkeit der katholischen Kirche und ihrer Glaubenswelt« den fragenden Menschen einen Weg zu zeigen, wie der Glaube zu einem erfüllten Leben führt.
Die beiden Schwestern meines Vaters waren Benediktinerinnen geworden. Die eine ist als Sr. Synkletika in Herstelle eingetreten und war vor allem durch die Theologie von Odo Casel geprägt. Die andere ist als Sr. Giselinde bei den Missionsbenediktinerinnen in Tutzing eingetreten und hat ihr ganzes Leben in Manila verbracht. Dort hat sie als Dentistin gearbeitet.
Der Glaube der Eltern
Mein Vater war auch ein tief gläubiger Mann. So wurde mir der Glaube schon sehr früh vermittelt; aber es war immer ein denkender Glaube. Mein Vater las auch viele religiöse Bücher. Er ging in die Vorlesungen von Romano Guardini, die der damals in der Münchner Universität für ein breiteres Publikum hielt. Jeden Morgen besuchte mein Vater die hl. Messe, und am Sonntag gab es für ihn keine Arbeit. Damals kam auch am Sonntag die Post ins Haus. Doch er rührte sie nicht an. Der Sonntag galt dem Gottesdienst und am Nachmittag dem Spaziergang mit den Kindern. Dort erklärte er uns die Natur, machte uns aufmerksam auf die Schönheit der Bäume und der Blumen, und immer wieder sagte er: In der Schönheit der Natur wird die Herrlichkeit Gottes sichtbar.
Meine Mutter stammte von einem Bauernhof in der Eifel. Sie war als Mädchen schon früh aus dem Haus ausgezogen und war in einem Nachbarort in die Lehre gegangen. Dort hatte sie auch gewohnt. Nur am Sonntag konnte sie zu Fuß die sieben Kilometer nach Hause gehen. Meine Mutter war eine praktisch veranlagte Frau, die den Haushalt organisierte. Auch sie war eine fromme Frau, die gerne die alten Lieder sang, die sie in ihrer Heimatpfarrei gesungen hatte. Aber sie sprach weniger über ihren Glauben, der für sie selbstverständlich und fraglos war. Als die Kinder größer waren, ging auch sie jeden Tag mit meinem Vater zur hl. Messe in die benachbarte Kirche. Erst als mein Vater 1971 gestorben war, sprach meine Mutter öfter über ihren Glauben. Er hat sie auch durch die schwierige Kriegszeit und Nachkriegszeit hindurch getragen. Zwei ihrer Geschwister waren bei den Steylern eingetreten. Ihr Bruder, P. Konrad Dederichs, war dort lange Ökonom, und ihre Schwester, Sr. Sophiane, war Krankenschwester und lange Zeit in Kerkrade in einem holländischen Krankenhaus tätig.
Die Frömmigkeit meiner Eltern war bodenständig und von großer Selbstverständlichkeit. Es war klar, dass man in die Kirche ging. Das Gottesbild, das meine Eltern uns vermittelten, war von Größe, Geheimnis, Schönheit und Liebe geprägt. Da wurde mit Gott keine Angst verbreitet.
In meiner Kindheit wurde ich intensiv mit dem Kirchenjahr vertraut. Wir feierten die Feste des Kirchenjahres mit. Unser Haus lag gleich neben der Kirche. Wir vier Jungen waren alle Ministranten. In den Ferien ministrierten wir täglich. Für mich als Kind war die Liturgie immer etwas Faszinierendes. Ich spürte die Begeisterung meines Vaters und meiner Mutter für die Gottesdienste. Diese Faszination hat sich auch auf uns Kinder übertragen. Wir gingen gerne in die Kirche. Nach der Kirche traf man die anderen Kinder und Jugendlichen. Im Mai gingen wir täglich in die Maiandacht. Das war nicht nur eine schöne Feier mit den emotionalen Marienliedern. Wir trafen uns auch danach noch, um uns zu unterhalten oder zu spielen.
Mitgift des Vaters und Erbe der Mutter
Wir alle haben von unseren Eltern etwas mitbekommen. Manches übernehmen wir unbewusst, anderes bewusst, und in manchem entscheiden wir uns später anders und gehen unseren eigenen Weg. Wenn ich mich heute frage, was ich von meinen Eltern mitbekommen habe, so war es von meinem Vater einmal die Freiheit und der Wagemut, der ihn sein Leben lang ausgezeichnet hat. Es war mutig von ihm, einfach nach München zu ziehen, ohne zu wissen, wie er dort leben konnte. Und es war mutig, ein Geschäft zu gründen. Aber er war auch nicht der typische Geschäftsmann. Zu ihm kamen – vor allem als er älter geworden war – viele Leute, die sich einfach unterhalten wollten. Und er strahlte immer Ruhe und Gelassenheit aus. Doch dahinter verbarg sich auch ein rebellischer Geist. Wenn er sich oder seine Kinder ungerecht behandelt fühlte, kämpfte er. Er ging zum Direktor der Volksschule, weil er aus den Erzählungen seiner jüngsten Tochter spürte, dass dieser Mann – ein früherer Nazi – Angst verbreitete. Mein Vater ging damals bis ins Kultusministerium. Doch offensichtlich hatte der Rektor da eine Seilschaft, die ihn hielt. Mein Vater schrieb Briefe an die Politiker, wenn er sich über ungerechte Regelungen erregte. Im Dritten Reich war er unerschrocken. Der Polizist, der ihn einmal verhaften wollte, musste wieder abziehen, weil mein Vater sich unerschütterlich und unbeeindruckt zeigte und eine rechtliche Grundlage für die Verhaftung verlangte.
Ein anderer Aspekt meines Vaters war eine innere Weite. Er lud jedes Jahr an Weihnachten einen ausländischen Studenten aus dem Münchner St.-Pius-Kolleg der Steyler ein, wo Studenten aus verschiedenen Ländern lebten: aus Pakistan, Indien oder Afrika. Uns als Kinder brachte diese Offenheit und Gastfreundschaft schon früh mit fremden Kulturen in Berührung. Als meine älteste Schwester 1955 als Au-pair nach Frankreich ging und einige Bekannte ihre Bedenken wegen der schwierigen Beziehung zwischen Franzosen und Deutschen äußerten, da sagte er meiner Schwester nur: »Du gehst und baust Brücken.«
Was mir mein Vater in ganz besonderem Maß vermittelt hat, war Vertrauen. Er vertraute uns Kindern, und er traute uns etwas zu. Wenn wir mit 15 oder 16 Jahren alleine für zwei Wochen weite Radtouren in die Alpen unternahmen, hatte er keine Bedenken. Im Gegenteil, er war stolz darauf und erzählte von seinen eigenen Radtouren in der Jugendbewegung. Es gab von ihm keine besorgten Anweisungen, auf was wir alles achten sollten. Er hat uns einfach zugetraut, dass wir bei unseren Fahrten ins Gebirge achtsam mit Gefahren umgingen, und hat uns zum Abschied einfach ein Kreuz auf die Stirn gezeichnet. Das war sein Zeichen: Ihr seid geschützt und gesegnet. Jetzt wünsche ich euch eine schöne Fahrt.
Von meiner Mutter habe ich wohl den praktischen Sinn geerbt. Sie packte einfach an, wenn etwas zu tun war. Sie war immer von einer positiven Grundhaltung geprägt und vermittelte anderen Hoffnung. Und sie war sehr kontaktfreudig, kam mit jedem ins Gespräch und traute sich auch, Menschen anzusprechen, denen es nicht gut ging oder die in Trauer waren. Und sie war auch später trotz der Altersbeschwerden immer ein fröhlicher Mensch, der sich durch die Begrenzungen des Alters nicht niederdrücken ließ. Das nahm sie als selbstverständlich an, ohne darüber zu jammern. Für sie war es Ausdruck ihrer Liebe. Sie nahm es für ihre Kinder und Enkelkinder auf sich und wandelte das, was ihr von außen widerfuhr, um in einen Akt der Liebe.
Die Erwartung der Eltern und eigene Träume
Meine Eltern hatten keine Erwartungen an mich in dem Sinne, dass ich einen bestimmten Beruf erlernen sollte. Natürlich erwarteten sie, dass wir Kinder anständig sind, dass wir uns benehmen und uns in der Schule auch anstrengen. Aber es war kein Druck da. Sie kontrollierten etwa nie unsere Hausaufgaben. Da hatten sie Vertrauen, dass wir die schon selber machten. Als ich im Alter von zehn Jahren mit meinem Vater darüber sprach, dass ich vielleicht Priester werden möchte, da war er davon ganz angetan. Er unterstützte mich bei diesem Vorhaben und vermittelte, dass ich ins Internat nach Münsterschwarzach kam. Das hatte er mit seinem Bruder, P. Sturmius, organisiert. Von da an war es für mich das Ziel meines Lebens, Priester und Benediktiner zu werden. Meine Eltern waren darauf stolz. Aber sie machten nie Druck. Auch wenn ich von ihnen sicher auch die spirituelle Sehnsucht mitbekommen habe, es war immer meine persönliche Sehnsucht, die ich zu leben versuchte – ich fühlte mich immer frei in meinen Entscheidungen, was ich werden wollte.
In meiner Jugend hatte ich, wie andere Kinder auch, verschiedenste Träume. Da war einmal der Traum, ein guter Fußballer zu sein, als Torwart jeden Ball zu halten. Aber das waren typische Tagträume. Mein eigentlicher Traum war, als Priester und Missionar etwas beizutragen zur Verbesserung der Welt, zu einer Modernisierung der Kirche. Ich wollte meinen Ehrgeiz darauf richten, Philosophie und Theologie zu studieren, um auf alle Fragen der Menschen eine Antwort geben zu können. Ich konnte mich als Jugendlicher schnell begeistern. Begeistert war ich etwa von unseren Fahrten mit dem Fahrrad in die Alpen. Aber genauso war ich auch begeistert, wenn ich von einem Priester oder einem Mönch hörte, was er für die Menschen geleistet hatte. Und ich war fasziniert von der Aufbruchsstimmung in der Kirche, wie sie Anfang der sechziger Jahre durch das Konzil entstanden ist.