Lebendige Seelsorge 3/2023 - Echter Verlag - E-Book

Lebendige Seelsorge 3/2023 E-Book

Verlag Echter

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Beschreibung

Viele Betroffene spirituellen Missbrauchs berichten davon, dass die Täter*innen "den unantastbaren Raum" (Sophia Weixler) in ihnen betreten und zerstören. Spiritueller Missbrauch kann sexuellen Missbrauch vorbereiten, flankieren, inszenieren und legitimieren. Spiritueller Missbrauch kann aber auch für sich stehen und stellt ein eigenes Vergehen dar. Er findet in Beichte, Seelsorge und geistlicher Begleitung, in Orden und Neuen Geistlichen Gemeinschaften statt. Die Folgen für die Betroffenen sind oft katastrophal. Die fundamentale Bedeutung eines personenbezogenen Verständnisses von Missbrauch erläutert gleich zu Beginn des Heftes Doris Reisinger: Analog zum Begriff des sexuellen Missbrauchs, bei dem das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verletzt wird, lässt sich spiritueller Missbrauch als Verletzung des spirituellen Selbstbestimmungsrechts oder "als ein gewaltsames Eindringen in die spirituelle Intimsphäre einer Person" (Doris Reisinger) definieren. Die Frage nach konfessionellen und institutionellen Risikofaktoren von spirituellem Missbrauch in der evangelischen Kirche diskutieren im Anschluss daran Rainer Kluck und Helge Staff. Wie gefährlich der Missbrauch des Gewissens sein kann, und wie wichtig es ist, diesen zu erkennen, macht Samuel Fernández deutlich. Barbara Haslbeck gibt wichtige Einblicke in Fortbildungen zum Thema spiritueller Missbrauch. Im Interview plädiert Bischof Heinrich Timmerevers für eine umfassende Förderung spiritueller Selbstbestimmung. Im Praxisteil analysiert Stephanie Butenkemper die manipulativen Strategien und gefährlichen Strukturen toxischer Geistlicher Gemeinschaften. Peter Hundertmark richtet den Blick auf Seelsorge im Umgang mit Missbrauchsbetroffenen und macht klar, dass die Pathologisierung der Opfer und eine Täter-Opfer-Umkehr durch professionelles Verhalten zu verhindern sind. Regina Heyder beleuchtet 'Berufungsmissbrauch' als manipulativen Eingriff in eine besonders vulnerable Lebensphase und Judith Könemann lenkt den Fokus auf Geistliche Gemeinschaften als eigenständiges Forschungsfeld von spirituellem Missbrauch. Wie alltäglich und 'normal' Systeme und Strukturen von Missbrauch in der katholischen Kirche sind, wird im Beitrag von Julia Knop deutlich. Mit dem Text von Klaus Mertes SJ und der Perspektive der Betroffenen endet der thematische Schwerpunkt dieses Heftes. Wir hoffen, damit einen Beitrag zu einem tieferen Verständnis des Phänomens spiritueller Missbrauch als auch zur Auseinandersetzung mit umfassenden Präventions- und Interventionsmaßnahmen in den christlichen Kirchen zu leisten. Take care!

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INHALT

THEMA

Missbrauch von Menschen oder Missbrauch von Macht?

Zur fundamentalen Bedeutung eines personenbezogenen Verständnisses von spirituellem Missbrauch

Von Doris Reisinger

Spiritueller Missbrauch in der evangelischen Kirche

Von Rainer Kluck und Helge Staff

Spiritueller Missbrauch: Konfessionsspezifische Risiken und interkonfessionelle Gemeinsamkeiten

Die Replik von Doris Reisinger auf Rainer Kluck und Helge Staff

Spiritueller Missbrauch: Wenn die Würde angetastet wird

Die Replik von Rainer Kluck und Helge Staff auf Doris Reisinger

Missbrauch des Gewissens erkennen

Von Samuel Fernández

PROJEKT

Den Glutkern des eigenen Glaubens reflektieren

Beobachtungen zu Fortbildungen zum Thema spiritueller MissbrauchVon Barbara Haslbeck

INTERVIEW

„Wir müssen in der Kirche für eine Kultur der Anerkennung und Förderung der spirituellen Selbstbestimmung sensibilisieren“

Ein Gespräch mit Bischof Heinrich Timmerevers

PRAXIS

We are family

In den Fängen toxischer Gemeinschaften

Von Stephanie Butenkemper

Vorsicht Falle!

Täter-Opfer-Umkehr in der Seelsorge wehren

Von Peter Hundertmark

„… da Sie versprochen haben, dem Weg zu folgen, den ich Ihnen zeigen werde“

Berufungsklärung als vulnerable Lebensphase

Von Regina Heyder

Spiritueller Missbrauch in Geistlichen Gemeinschaften

Von Judith Könemann

Prekäre Normalitäten in der katholischen Kirche

Von Julia Knop

SEELSORGE UND DIASPORA: BONIFATIUSWERK

Über die Anerkennung von Betroffenen spirituellen Missbrauchs

Von Klaus Mertes SJ

FORUM

Die Proteste gegen die Räumung des Weilers Lützerath

Eine kleine theologische Nachlese

Von Jan Niklas Collet und Georg Sauerwein

IN SERIE

Kurze Geschichten aus dem komplexen Universum der Liebe

Warum es sich lohnt, Modern Love anzuschauen

Von Katharina Karl

NACHLESE

Buchbesprechungen

Impressum

POPKULTURBEUTEL

Gott suchen

Von Matthias Sellmann

Die Lebendige Seelsorge ist eine Kooperation zwischen Echter Verlag und Bonifatiuswerk.

EDITORIAL

Ute Leimgruber Herausgeberin

Viele Betroffene spirituellen Missbrauchs berichten davon, dass die Täter*innen „den unantastbaren Raum“ (Sophia Weixler) in ihnen betreten und zerstören. Spiritueller Missbrauch kann sexuellen Missbrauch vorbereiten, flankieren, inszenieren und legitimieren. Spiritueller Missbrauch kann aber auch für sich stehen und stellt ein eigenes Vergehen dar. Er findet in Beichte, Seelsorge und geistlicher Begleitung, in Orden und Neuen Geistlichen Gemeinschaften statt. Die Folgen für die Betroffenen sind oft katastrophal.

Die fundamentale Bedeutung eines personenbezogenen Verständnisses von Missbrauch erläutert gleich zu Beginn des Heftes Doris Reisinger: Analog zum Begriff des sexuellen Missbrauchs, bei dem das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verletzt wird, lässt sich spiritueller Missbrauch als Verletzung des spirituellen Selbstbestimmungsrechts oder „als ein gewaltsames Eindringen in die spirituelle Intimsphäre einer Person“ (Doris Reisinger) definieren. Die Frage nach konfessionellen und institutionellen Risikofaktoren von spirituellem Missbrauch in der evangelischen Kirche diskutieren im Anschluss daran Rainer Kluck und Helge Staff. Wie gefährlich der Missbrauch des Gewissens sein kann, und wie wichtig es ist, diesen zu erkennen, macht Samuel Fernández deutlich. Barbara Haslbeck gibt wichtige Einblicke in Fortbildungen zum Thema spiritueller Missbrauch. Im Interview plädiert Bischof Heinrich Timmerevers für eine umfassende Förderung spiritueller Selbstbestimmung. Im Praxisteil analysiert Stephanie Butenkemper die manipulativen Strategien und gefährlichen Strukturen toxischer Geistlicher Gemeinschaften. Peter Hundertmark richtet den Blick auf Seelsorge im Umgang mit Missbrauchsbetroffenen und macht klar, dass die Pathologisierung der Opfer und eine Täter-Opfer-Umkehr durch professionelles Verhalten zu verhindern sind. Regina Heyder beleuchtet ‚Berufungsmissbrauch‘ als manipulativen Eingriff in eine besonders vulnerable Lebensphase und Judith Könemann lenkt den Fokus auf Geistliche Gemeinschaften als eigenständiges Forschungsfeld von spirituellem Missbrauch. Wie alltäglich und ‚normal‘ Systeme und Strukturen von Missbrauch in der katholischen Kirche sind, wird im Beitrag von Julia Knop deutlich. Mit dem Text von Klaus Mertes SJ und der Perspektive der Betroffenen endet der thematische Schwerpunkt dieses Heftes. Wir hoffen, damit einen Beitrag zu einem tieferen Verständnis des Phänomens spiritueller Missbrauch als auch zur Auseinandersetzung mit umfassenden Präventions- und Interventionsmaßnahmen in den christlichen Kirchen zu leisten.

Take care!

Ihre

Prof.in Dr.in Ute Leimgruber

THEMA

Missbrauch von Menschen oder Missbrauch von Macht?

Zur fundamentalen Bedeutung eines personenbezogenen Verständnisses von spirituellem Missbrauch

In der Diskussion über spirituellen Missbrauch gibt es eine Vielfalt von Begriffen. Je nach Begriff variiert auch das Objekt dieses Missbrauchs: Ist es Spiritualität oder spirituelle Macht, die missbraucht wird, oder sind es Menschen? Wie der Begriff definiert wird, hat in jedem Fall Konsequenzen für den Diskurs und für den Umgang mit spirituellem Missbrauch. Doris Reisinger

Ganz allgemein ist Missbrauch ein unmoralischer oder illegaler Umgang mit etwas oder jemandem. Dennoch kann es problematisch erscheinen, Menschen als Objekte von Missbrauch zu betrachten. Es wirkt, als würde Menschen dadurch der Status von Gebrauchsgegenständen zugewiesen. So argumentieren u. a. Harald Dreßing und Kolleg*innen, der Begriff des ‚sexuellen Missbrauchs‘ von Kindern sei umstritten, da er einen bestimmungsgemäßen ‚Gebrauch‘ von Kindern impliziere (vgl. Dreßing u. a. 2018). Das hieße: Der Begriff ‚Missbrauch‘ solle nicht für Menschen, sondern nur für Dinge verwendet werden. Demnach kann man z. B. bedenkenlos von Alkoholmissbrauch oder Machtmissbrauch sprechen, denn hier kann ohne weiteres auch von einem Gebrauch (von Alkohol oder von Macht) gesprochen werden. Um den Missbrauchsbegriff zu vermeiden, bevorzugen einige den Begriff der spiritualisierten Gewalt (oder auch der sexualisierten Gewalt). Allerdings ist auch der Gewaltbegriff in diesem Zusammenhang problematisch. Gerade spiritueller Missbrauch geht in der Regel nicht mit einer Gewaltanwendung im engeren Sinne einher. Oft stimmen Betroffene sogar formal zu und glauben zunächst selbst an die Einvernehmlichkeit der Handlung. Das ändert aber nichts an der Missbräuchlichkeit der Tat, solange die ‚Zustimmung‘ durch Unkenntnis, Verletzlichkeit, Abhängigkeit oder die erfolgreiche Manipulation von Seiten der Tatperson zustanden gekommen ist, welche dabei bspw. das Unwissen oder das geringe Alter des Opfers oder ein professionelles therapeutisches oder seelsorgliches Vertrauensverhältnis ausgenutzt hat. Der Missbrauchsbegriff dagegen deckt auch solche, augenscheinlich nicht gewalttätigen Handlungen ab (vgl. Leimgruber/Reisinger 2021).

Doris Reisinger

Dr.in phil., 2019 Promotion am Philosophischen Seminar der Universität Münster; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Katholische Theologie der Goethe-Universität in Frankfurt a. M.; forscht zu Spiritualität, spirituellem Missbrauch und Gewalt gegen Frauen in der römisch-katholischen Kirche.

Andere bevorzugen den Begriff des spirituellen Machtmissbrauchs (vgl. z. B. Kießling 2021). Was damit ausgesagt werden soll, ist: Nicht Menschen werden spirituell missbraucht (man kann oder darf einen Menschen ja auch nicht spirituell gebrauchen), sondern die spirituelle Macht, die jemand bspw. kraft seines Amtes oder Charismas über andere hat, wird missbraucht. Der Kern des Missbrauchs besteht dieser Formulierung zufolge also im unmoralischen Umgang mit seelsorglicher Macht. Auf den ersten Blick erscheint das einleuchtend. Bei näherem Blick liegt hier ein sprachliches Missverständnis vor, das am eigentlichen Kern des spirituellen Missbrauchs vorbeizugehen droht und sich entsprechend ungünstig auf den Diskurs über und den Umgang mit spirituellem Missbrauch auswirken kann.

EIN FUNDAMENTALER UNTERSCHIED: SACHBEZOGENER UND PERSONENBEZOGENER MISSBRAUCH

Anders als es ein intuitives Sprachgefühl nahelegen mag, setzt die Rede vom ‚Missbrauch von x‘ nicht logisch zwingend die Möglichkeit des legitimen ‚Gebrauchs von x‘ voraus. Stattdessen ändern sich die genaue Bedeutung und die Implikationen des Begriffs, je nachdem, ob Personen oder Dinge missbraucht werden.

Es kann von sachbezogenem Missbrauch gesprochen werden, wann immer von einem normwidrigen Gebrauch von Dingen im weitesten Sinne gesprochen wird. Dazu zählen bspw. Ämter, Steuermittel oder Dienstwaffen. Um Missbrauch handelt es sich dann, wenn diese Dinge nicht zu ihrem eigentlichen Zweck gebraucht werden, wie er etwa gesetzlich festgeschrieben oder moralisch geboten ist, sondern zu einem anderen Zweck, bspw. zum persönlichen Vorteil derjenigen, denen sie anvertraut sind. Dabei kann mittelbar auch ein Schaden für Personen entstehen, das ist aber nicht zwingend der Fall, sondern hängt vom Einzelfall ab.

Ein personenbezogener Missbrauchsbegriff nimmt Menschen selbst als Träger*innen von Rechten in den Blick.

Etwas anderes ist personenbezogener Missbrauch (vgl. Reisinger 2021, 84–102). Ein personenbezogener Missbrauchsbegriff nimmt Menschen selbst als Träger*innen von Rechten in den Blick. Zu sagen, eine Person sei missbraucht worden, bedeutet so viel wie: Bestimmte Rechte dieser Person sind verletzt worden. Dazu gehören vor allem Selbstbestimmungsrechte im Bereich ihrer persönlichen Lebensführung und Intimität, bspw. im Bereich der Sexualität. Einen Menschen sexuell missbrauchen heißt daher gerade nicht, einen Menschen auf eine ‚falsche‘ Weise sexuell zu ‚gebrauchen‘, sondern es heißt, sich über seine sexuelle Selbstbestimmung hinwegzusetzen, also eine Handlung an ihm vorzunehmen, der er nicht aus freien Stücken zugestimmt hat. Entsprechend definieren etwa das deutsche oder österreichische Strafgesetzbuch sexuellen Missbrauch als Verletzung sexueller Selbstbestimmung.

PARADIGMENWECHSEL: VOM SACHBEZOGENEN ZUM PERSONENBEZOGENEN MISSBRAUCHSBEGRIFF

Ein personenbezogener Missbrauchsbegriff setzt eine moderne Ethik und Rechtsordnung voraus, in der Selbstbestimmungsrechte als Grundgedanken der Menschenrechte anerkannt und verankert sind. Mit anderen Worten: Der personenbezogene Missbrauchsbegriff ist relativ jung. Was es bedeutet, ob wir Missbrauch sachbezogen oder personenbezogen definieren, und welche weitreichenden Konsequenzen das sowohl für den Diskurs als auch für den gesellschaftlichen Umgang mit Missbrauchsfällen hat, lässt sich sehr anschaulich im Blick auf sexuellen Missbrauch nachvollziehen.

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde auch sexueller Missbrauch rein sachbezogen definiert, also nicht als Missbrauch von Menschen, sondern als Missbrauch von Sexualität. Ein solches Verständnis findet sich etwa in einem Buch des US-amerikanischen Arztes Eli Peck Miller aus dem Jahr 1867 über Abuses of the Sexual Function (Missbräuche der Sexualfunktion). Ihm zufolge stellt selfabuse (Selbst-Missbrauch, gemeint ist Selbstbefriedigung) die schlimmste Art von sexual abuse (sexuellem Missbrauch) dar, neben promiscuous sexual indulgence (Promiskuität) oder matrimonial excesses (eheliche Ausschweifungen) (vgl. Miller 1867). Dieses Verständnis von sexuellem Missbrauch kommt aus einer Zeit, der Konzepte wie sexuelle Selbstbestimmung und Einvernehmlichkeit als Grundparadigmen der Sexualethik noch fremd waren. Stattdessen wurde sexueller Missbrauch rein sachbezogen als ein Verstoß gegen einen vermeintlich ‚richtigen‘ Umgang mit Sexualität verstanden. Missbrauch war nicht eine Verletzung von Rechten anderer Menschen, sondern ein im Sinne der vorherrschenden Normen der Zeit verkehrter, bspw. exzessiver, autoerotischer oder gleichgeschlechtlicher Gebrauch der Sexualität. Ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung war in dieser Logik undenkbar.

Das bedeutete auch: Sexueller Missbrauch war ein Vergehen ohne Opfer. Was mit ihnen geschah, war vor dem Hintergrund dieser alten Logik kein Übergriff oder eine Rechtsverletzung, sondern allenfalls eine ‚Verführung‘ von Menschen zum normwidrigen Ausleben ihrer Sexualität. Das war für Betroffene, gerade auch für Kinder, mit Scham oder der Vorstellung eines unwiederbringlichen Verlustes behaftet, und nicht mit der Vorstellung, dass ihre Rechte verletzt worden waren. Stattdessen herrschte die Vorstellung, sie hätten sich verführen lassen und wären an einem sexuellen Vergehen ‚beteiligt‘ gewesen. Deshalb galten vergewaltigte Kinder als ‚sexuell verdorben‘, und damit als eine Gefahr, vor der andere noch ‚unschuldige‘ Kinder zu schützen wären (vgl. Hommen 2000).

Aus dieser alten Logik stammte auch die Überschrift des Abschnitts über Sexualstraften im deutschen Strafgesetzbuch „Vergehen gegen die Sittlichkeit“, die erst mit dem Vierten Gesetz zur Reform des Strafrechts vom November 1973 geändert wurde. An die Stelle des alten Titels trat 1973 der Titel „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“. Dahinter stand ein gesellschaftlicher, moralischer und rechtlicher Paradigmenwechsel mit weitreichenden Folgen (vgl. Hörnle 2016). Weil die Moralität und Legalität einer sexuellen Handlung sich in Deutschland und vielen anderen westlichen Ländern seit diesem Paradigmenwechsel nicht mehr an einer vermeintlich objektiven Sexualitätsnorm bemisst, bspw. daran, ob sie innerhalb einer heterosexuellen Ehe stattfindet und zur Zeugung geeignet ist, sondern an der freien Zustimmung der an einer sexuellen Handlung Beteiligten, kam es als logische Folge dieses Wandels nicht nur zur Entkriminalisierung von Homosexualität und zur Öffnung der Ehe für Homosexuelle, sondern auch zur Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe.

Nicht zuletzt kam es zu einem grundlegend anderen Verständnis von und Umgang mit sexuellem Missbrauch: Betroffene wurden nicht länger als ‚Verführte‘, als ‚verdorben‘ oder als ‚Beschädigter Besitz Dritter‘ betrachtet, sondern als Opfer. Sie konnten Ansprüche geltend machen, die ihnen aus der Verletzung ihres Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung erwuchsen, und sie konnten das tun, ohne sich schämen zu müssen (die Praxis zeigt leider, dass in der Rechtsprechung dennoch alte Logiken der ‚Verführung‘ und ‚Beschädigung‘ bis heute nachwirken, vgl. Clemm 2020).

PERSONENBEZOGENE DEFINITIONEN VON MISSBRAUCH RÜCKEN DEN MENSCHEN INS ZENTRUM

Der Begriff des sexuellen Missbrauchs hat sich von einem sachbezogenen zu einem personenbezogenen Missbrauchsbegriff gewandelt. Ein Blick auf diese Entwicklung und vor allem auf ihre Folgen legt nahe, dass personenbezogene Definitionen von Missbrauch auch jenseits der Sexualethik und des Sexualstrafrechts angemessen sind. Nämlich überall dort, wo es um Eingriffe in die persönliche Intimsphäre von Menschen geht. Hier bilden personenbezogene Missbrauchsbegriffe vor allem eine bessere Grundlage für den Umgang mit Missbrauch, weil sie betroffene Menschen als Träger*innen von Rechten ins Zentrum rücken. Sie tragen dem Umstand Rechnung, dass Missbrauch eine Verletzung dieser Rechte ist und nicht bloß ein normwidriger Umgang mit einer Sache, bei dem zunächst offenbleibt, ob und wer dadurch gegebenenfalls zu Schaden gekommen ist – oder gar ‚beteiligt‘ war und damit als ‚mitschuldig‘ anzusehen wäre.

Vor allem setzt ein personenbezogener Missbrauchsbegriff voraus, dass Menschen Rechte im Bereich ihrer Intimität haben. Das ist der entscheidende Angelpunkt, wenn Menschen als Opfer von Missbrauch ernstgenommen werden sollen. Ohne diesen Angelpunkt hängt der Diskurs über Missbrauch in der Luft und läuft Gefahr, Betroffene auszuklammern oder sie gar in einem Rückfall in alte Logiken als ‚Verführte‘, ‚Beschädigte‘ oder ‚Verdorbene‘ zu kategorisieren. So gesehen, läuft ein sich auf sachbezogene Missbrauchsbegriffe beschränkender Diskurs Gefahr, genau das zu tun, was er eigentlich vermeiden will: Betroffene Menschen zu objektifizieren anstatt sie als Menschen und Träger*innen von Rechten ernst zu nehmen.

SPIRITUELLER MISSBRAUCH ALS VERLETZUNG SPIRITUELLER SELBSTBESTIMMUNGSRECHTE

Der Begriff des spirituellen Missbrauchs lässt sich – analog zum Begriff des sexuellen Missbrauchs – als Verletzung spiritueller Selbstbestimmung definieren oder als ein gewaltsames Eindringen in die spirituelle Intimsphäre einer Person. So definieren neben mir (vgl. Wagner 2019, 23–55) auch andere den Begriff (vgl. u. a. De Lassus 2022, 219–230; Janssens/Corre 2017; Haslbeck/Heyder/Leimgruber 2020, 17–23). Der Gedanke dahinter ist einfach: Menschen haben nicht nur eine körperliche Intimsphäre, sondern auch bspw. eine emotionale und eine spirituelle.

Auch in diesen Bereichen haben Menschen daher zumindest ein moralisches Recht auf Selbstbestimmung und das Setzen von Grenzen. Und auch in diesen Bereichen sind Übergriffe und das gewaltsame Eingreifen als Missbrauch zu werten: So wie ein Zwang zu einer unerwünschten sexuellen Handlung sexueller Missbrauch ist, stellt ein Zwang zu einer unerwünschten spirituellen Handlung einen spirituellen Missbrauch dar. So wie ungewollte Fragen oder Kommentare zum Sexualleben übergriffig sind, sind auch ungewollte Fragen und Kommentare zum geistlichen Leben übergriffig. So wie ein erzwungenes Eindringen in den Körper eines anderen Menschen eine Vergewaltigung darstellt, ist auch „der erzwungene Zutritt zum Heiligtum des inneren Lebens“ (De Lassus, 220) eines anderen eine Art Vergewaltigung der Seele.

Aus dem Fokus gerät, dass Betroffene Opfer sind, deren Freiheit von Täter*innen aktiv ausgehebelt wurde, während kirchliche Strukturen und Verantwortungsträger in vielen Fällen den Täter*innen freie Hand zu solchem Tun ließen.

SACHBEZOGENE DEFINITIONEN GEHEN AM KERN DES SPIRITUELLEN MISSBRAUCHS VORBEI

Wenn spiritueller Missbrauch dagegen primär sachbezogen definiert wird, bspw. als Missbrauch von Spiritualität, als Missbrauch eines pastoralen Amtes oder als spiritueller Machtmissbrauch, werden Betroffene und deren durch den Missbrauch verletztes Recht auf spirituelle Selbstbestimmung tendenziell unsichtbar. Der Diskurs läuft Gefahr, in eine Logik sachbezogener Missbrauchsbegriffe zurückzufallen, die im Bereich des sexuellen Missbrauchs gesellschaftlich längst überwunden ist.

Spiritueller Missbrauch erscheint dann nicht primär als Verletzung von Menschen, sondern als das Ausüben einer verkehrten Form von Spiritualität, bspw. einer exzessiven, fundamentalistischen oder auf eine*n geistliche*n Führer*in fixierten Spiritualität. Im Zentrum stehen Täter*innen, die von ihnen praktizierten verkehrten Spiritualitäten und die von ihnen missbrauchten Ämter, Machtpositionen, Gottesbilder oder Schriftstellen. Betroffene erscheinen nicht als Träger*innen von Rechten, deren spirituelle Selbstbestimmung und Intimsphäre durch andere verletzt worden sind, sondern als Menschen, die sich zu einer solchen verkehrten Spiritualität haben ‚verführen‘ lassen. Damit stehen sie unter Kollusionsverdacht: Sie haben diese ‚Verführung‘, geschehen lassen‘ und womöglich jahrelang eine verkehrte Spiritualität praktiziert. Aus dem Fokus gerät, dass Betroffene Opfer sind, deren Freiheit von Täter*innen aktiv ausgehebelt wurde, während kirchliche Strukturen und Verantwortungsträger in vielen Fällen den Täter*innen freie Hand zu solchem Tun ließen.

Mit anderen Worten: Sachbezogene Begriffe spirituellen Missbrauchs, die der Selbstbestimmung Betroffener keinen normativen Rang einräumen, laufen ebenso wie sachbezogene Begriffe sexuellen Missbrauchs auf ein Othering und eine Objektifizierung Betroffener hinaus. Damit folgen sie einer typisch römisch-katholischen Logik. Denn die katholische Kirche kennt keine Selbstbestimmungsrechte für Gläubige, weder im Bereich der Sexualität noch in dem der Spiritualität. Dennoch müssen Selbstbestimmungsrechte im Missbrauchsdiskurs vorausgesetzt werden, wenn dieser Diskurs sinnvoll geführt werden soll. Wenn es um sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche geht, ist das weitgehend unbestritten. Im Diskurs über spirituellen Missbrauch sollte es das auch sein, zumal es in Lehre, Recht und Tradition der katholischen Kirche vermutlich mehr Grundlagen für ein spirituelles als für ein sexuelles Selbstbestimmungsrecht der Gläubigen gibt (vgl. Althaus 2018; Wagner 2019, 156–159).

LITERATUR

Althaus, Rüdiger, Geistlicher Machtmissbrauch – Kirchenrechtliche Aspekte, in: Geist & Leben 91 (2018), H. 2, 159–169.

Clemm, Christina, AktenEinsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt, München 2020.

Dreßing, Harald u. a., Sexueller Missbrauch von Kindern, in: PSYCH up2date 12 (2018), H. 1, 79–94.

De Lassus, Dysmas, Verheißung und Verrat. Geistlicher Missbrauch in Orden und Gemeinschaften der katholischen Kirche, Münster 2022.

Haslbeck, Barbara/Heyder, Regina/Leimgruber, Ute, Erzählen ist Widerstand. Zur Einführung, in: Haslbeck, Barbara u. a. (Hg.), Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche, Münster 2020, 13–24.

Hörnle, Tatjana, Sexuelle Selbstbestimmung: Bedeutung, Voraussetzungen und kriminalpolitische Forderungen, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 127 (2015), H. 4, 851–887.

Hommen, Tanja, Körperdefinition und Körpererfahrung. „Notzucht“ und „unzüchtige Handlungen an Kindern“ im Kaiserreich, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), 577–601.

Janssens, Marie-Laure/Corre, Mikael, Le silence de la vierge: Abus spirituels, dérives sectaires. Une ancienne religieuse témoigne, Paris 2017.

Kießling, Klaus, Geistlicher und sexueller Machtmissbrauch in der katholischen Kirche, Würzburg 2021.

Leimgruber, Ute/Reisinger, Doris, Sexueller Missbrauch oder sexualisierte Gewalt?; abrufbar unter: https://bit.ly/3KXgKEq.

Miller, Eli, A Treatise on the Causes of Exhausted Vitality: or, Abuses of the Sexual Function, New York 1867.

Reisinger, Doris, Religiöse Eigenlogik und ihre Konsequenzen. Eine Analyse der katholischen Mehrdeutigkeit des Missbrauchsbegriffs, in: Dies. (Hg.), Gefährliche Theologien. Wenn theologische Ansätze Machtmissbrauch legitimieren, Regensburg 2021.

Wagner, Doris, Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Freiburg i. Br. 2019.

[Link zuletzt eingesehen am 20. April 2023]

Spiritueller Missbrauch in der evangelischen Kirche

„Mein Vater war ein bisschen Gott. Er las aus der Bibel und sagte, was gut war und was schlecht. Ich war sein kleines Mädchen, das er gebrauchte und missbrauchte. Mein Vater hatte Gott – und für mich war keiner mehr da“ (Seifert 2022, 209). In diesen Worten einer von sexualisierter Gewalt betroffenen Person, zitiert von Elke Seifert, wird auch der spirituelle Missbrauch direkt greifbar. Was wissen wir über spirituellen Missbrauch in einer Kirche, die viel auf ihre freiheitliche Gesinnung hält? Was sind Risikofaktoren und Strukturen spirituellen Missbrauchs in der evangelischen Kirche? Rainer Kluck und Helge Staff

„Es dauerte kein halbes Jahr mit fast wöchentlichen Treffen, da zog er meinen Stuhl vom Tisch weg, stellte den seinen neben meinen, Schulter an Schulter, nahm meine Hände und streichelte sie. ‚Sehen Sie, wie schön Gott Sie geschaffen hat!‘ Eine Antwort blieb ich ihm schuldig, denn ich spürte nur Abwehr. Mein Respekt vor dem Mann verbot es mir, mich ihm zu entziehen“ (Laufbacher