Lebendige Seelsorge 6/2022 - Verlag Echter - E-Book

Lebendige Seelsorge 6/2022 E-Book

Verlag Echter

0,0

Beschreibung

Als am 11. September 2001 das World Trade Center in New York durch einen Terrorakt zerstört wurde, brach mehr als ein Gebäude zusammen. Neben dem Verlust der vielen Toten war ein System erschüttert worden, die Weltordnung fand sich an einem Nullpunkt wieder. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass der Ort 'Ground zero' genannt wurde. Rasch wurde dort mit dem Wiederaufbau des nun neu benannten 'One World Trade Centers' begonnen. Der Versuch, die buchstäbliche Lücke zu schließen, war begleitet von der Suche nach Formen, das Unbegreifliche zu fassen und den Nullpunkt zu bearbeiten. So entstanden etwa Kreuze aus den Trümmern der Stahlträger und Riten, um die Katastrophe zu bewältigen. Die von Daniel Libeskind entworfene Gedenkstätte 'Reflecting Absence' ist ein solcher Versuch, den erlittenen Verlust im öffentlichen Raum und Bewusstsein präsent zu halten. Ein Vergleich der Terroranschläge des 11. Septembers mit der Krise der katholischen Kirche in Deutschland hat natürlich Grenzen: Denn so drastisch wie Nine eleven ist die Situation der Kirche am Nullpunkt nicht. Viele Menschen nehmen den Zusammenbruch der deutschen Kirche nur beiläufig wahr, für andere stürzen jedoch Teile ihrer Glaubenswelt ein. Seitdem das Ausmaß der Missbrauchsverbrechen immer ersichtlicher wird und die Polarisierung innerhalb kirchlicher Gruppierungen zunimmt, werden weitere Brüche und Erschütterungen deutlich. Aber es gibt auch Ungleichzeitigkeiten: Vieles geht weiter wie zuvor oder es wird versucht, die Krise zu verklären, Schaden zu begrenzen oder zu überdecken. Diese Ausgabe der Lebendigen Seelsorge beleuchtet verschiedene pastorale Bereiche in ihrer Positionierung zum Nullpunkt. Dabei werden Strategien und Muster deutlich, wie mit dem Nullpunkt umgegangen werden könnte. An dieser Reflexion haben Sie als Leserin und Leser teil und ergänzen die Perspektiven der Autorinnen und Autoren durch ihre eigenen. Natürlich geschieht dies fragmentarisch und es bleibt die Herausforderung, auch das Fehlende mitzudenken und die Abwesenheit zu reflektieren, wie es die Gedenkstätte 'Reflecting Absence' am Ground Zero tun will.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 165

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALT

THEMA

Kirche am Nullpunkt?

Von Martin Kirschner

Kirche am Nullpunkt – schon länger

Von Claudia Pfrang

Dem Kommenden trauen

Die Replik von Martin Kirschner auf Claudia Pfrang

Nicht nur Ergebung und Seinlassen, auch Dissens und Streit sind wichtig

Die Replik vom Claudia Pfrang auf Martin Kirschner

Schrecken und Verlockung des Nullpunkts

Kirche im Transformationsprozess der ‚Sattelzeit‘ um 1800

Von Bernward Schmidt

PROJEKT

Glaube nach Missbrauchserfahrung

Einsichten aus der Initiative GottesSuche Von Barbara Haslbeck und Erika Kerstner

INTERVIEW

„Da ist eine Grenze erreicht.“

Ein Gespräch mit Jens Kusenberg OFMCap

PRAXIS

Hinterm Horizont geht’s weiter

Von Rainer Bucher

Ohne Nullpunktautorität, im offenen Raum

Kirchliche Praxis nach dem Ende der neuzeitlichen Souveränitätskirche

Von Christian Kern

Ist die Kirche unzerstörbar?

Das Gottesvolk im Exil

Von Ansgar Wiedenhaus SJ

„Seht, ich mache alles neu“ (Offb 21,5)

Transformationspotentiale biblischer Botschaften Von Sabine Bieberstein

‚Toter Punkt‘ oder Wendepunkt?

Gegenwärtige Priesterausbildung in der Perspektive von Scheitern und Gelingen

Von Dirk Gärtner

SEELSORGE UND DIASPORA: BONIFATIUSWERK

Die RTL-Produktion Die Passion als Chance der Begegnung

Von Arndt Büssing

FORUM

Königliche Herrschaft zum Anfassen?

Jesus und das ‚Reich Gottes‘ im Markusevangelium Von Judith König

POPKULTURBEUTEL

Langsam wird’s

Von Bernhard Spielberg

NACHLESE

Re:Lecture

Von Julia Gundlach

Buchbesprechungen

Impressum

Jahresinhalt

Die Lebendige Seelsorge ist eine Kooperation zwischen Echter Verlag und Bonifatiuswerk.

EDITORIAL

Katharina Karl Herausgeberin

Liebe Leserin, lieber Leser,

als am 11. September 2001 das World Trade Center in New York durch einen Terrorakt zerstört wurde, brach mehr als ein Gebäude zusammen. Neben dem Verlust der vielen Toten war ein System erschüttert worden, die Weltordnung fand sich an einem Nullpunkt wieder. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass der Ort ‚Ground zero‘ genannt wurde. Rasch wurde dort mit dem Wiederaufbau des nun neu benannten ‚One World Trade Centers‘ begonnen. Der Versuch, die buchstäbliche Lücke zu schließen, war begleitet von der Suche nach Formen, das Unbegreifliche zu fassen und den Nullpunkt zu bearbeiten. So entstanden etwa Kreuze aus den Trümmern der Stahlträger und Riten, um die Katastrophe zu bewältigen. Die von Daniel Libeskind entworfene Gedenkstätte ‚Reflecting Absence‘ ist ein solcher Versuch, den erlittenen Verlust im öffentlichen Raum und Bewusstsein präsent zu halten.

Ein Vergleich der Terroranschläge des 11. Septembers mit der Krise der katholischen Kirche in Deutschland hat natürlich Grenzen: Denn so drastisch wie Nine eleven ist die Situation der Kirche am Nullpunkt nicht. Viele Menschen nehmen den Zusammenbruch der deutschen Kirche nur beiläufig wahr, für andere stürzen jedoch Teile ihrer Glaubenswelt ein. Seitdem das Ausmaß der Missbrauchsverbrechen immer ersichtlicher wird und die Polarisierung innerhalb kirchlicher Gruppierungen zunimmt, werden weitere Brüche und Erschütterungen deutlich. Aber es gibt auch Ungleichzeitigkeiten: Vieles geht weiter wie zuvor oder es wird versucht, die Krise zu verklären, Schaden zu begrenzen oder zu überdecken.

Diese Ausgabe der Lebendigen Seelsorge beleuchtet verschiedene pastorale Bereiche in ihrer Positionierung zum Nullpunkt. Dabei werden Strategien und Muster deutlich, wie mit dem Nullpunkt umgegangen werden könnte. An dieser Reflexion haben Sie als Leserin und Leser teil und ergänzen die Perspektiven der Autorinnen und Autoren durch ihre eigenen. Natürlich geschieht dies fragmentarisch und es bleibt die Herausforderung, auch das Fehlende mitzudenken und die Abwesenheit zu reflektieren, wie es die Gedenkstätte ‚Reflecting Absence‘ am Ground Zero tun will.

Prof.in Dr. Katharina Karl

THEMA

Kirche am Nullpunkt?

In den Krisen, Polarisierungen und Lagerkämpfen scheint die katholische Kirche an einem Nullpunkt angekommen. Diesen Nullpunkt zuzulassen würde bedeuten, Gewissheiten und Identifikationen, Strategien und Kontrolle loszulassen. Wo das geschieht, kann Raum für Neues, Überraschendes entstehen. Die damit verbundene Ungewissheit, wie und ob es weitergeht, kann an die Geburtsstunde des Christentums erinnern und daran, dass Gottes Handeln unverfügbar bleibt. Martin Kirschner

„Wir leben in der Stunde, in der alle Glaubensentwürfe an ihr Ende gekommen sind und wir das große Ende, das Schweigen und Dunkel bestehen müssen. Aber eben durch dieses Ende sind wir auch an den großen Anfang aller Dinge gekommen. Wir müssen vom Anfang her glauben […]“ (Welte, 229). Bernhard Welte hat diese Worte in der ‚Stunde Null‘ nach 1945 unter dem Eindruck des zuerst moralischen und dann alle Bereiche umfassenden, von Deutschland ausgehenden Zusammenbruchs Europas formuliert. Vom Anfang her glauben heißt für ihn dabei, neu und „wie vom ersten Anfang her auf die Stimme der Botschaft Jesu“ (Welte, 229) zu hören.

Heute ist die Situation eine andere. Wir sind als Menschheit – Gläubige wie Nicht-(mehr)-Gläubige – mit einer Fülle von Krisen und Konflikten, drohenden und bereits eintretenden Katastrophenszenarien konfrontiert, die überfordern und Angst machen. Jedoch ist dies weder das Ende noch ein großer Anfang aller Dinge, sondern vielmehr eine bedrohliche, sich verschärfende Dauerkrise. Eher treffen die Worte Weltes die kirchliche Situation, die aber mittlerweile weniger von „Schweigen und Dunkel“ (Welte, 229) als von Empörung, Frust, Überdruss und Konflikten geprägt ist, die den bekannten Vatikan-Experten Marco Politi kurz vor der dritten Synodalversammlung in Deutschland von einem „schwelenden Untergrund-Bürgerkrieg in der katholischen Kirche“ (Politi im Gespräch mit Schlegelmilch) sprechen lassen. Mit der Ablehnung des Grundsatzpapiers zur Sexualethik durch eine Sperrminorität der Bischöfe (bei zugleich 82 Prozent Zustimmung im Plenum) wurde bei der vierten Synodalversammlung deutlich, was er meinte.

KIRCHENKRISENÜBERDRUSS

Die lange schon voranschreitende ‚Verdunstung‘, Entkirchlichung und Exkulturation des Glaubens, die immer wieder beklagte Glaubens- und Kirchenkrise haben sich mit den Skandalen um Machtmissbrauch, sexualisierte Gewalt und ihre Vertuschung so zugespitzt, dass der Kern des Glaubens betroffen ist und vielen jenes grundlegende Vertrauen in die Kirche als Glaubensgemeinschaft verloren geht, das Voraussetzung einer Kritik ‚von innen‘ ist. Vergiftet der Missbrauch im Namen Gottes und im Raum der Kirche nicht am Ende das Evangelium selbst, sodass die Botschaft nicht mehr erkennbar ist? Hat die Kirche die Kraft zu einer Erneuerung auch auf systemischer, kultureller und theologischer Ebene? Solche Zweifel haben selbst den innersten Zirkel engagierten Gemeinden erreicht, zumal Frauen, die sich vom sakramentalen Amt ausgegrenzt und klerikal bevormundet erleben. Die Verschleppung von Reform(debatt)en ist mittlerweile einem offenen Austrag der Konflikte um die Zukunft der Kirche gewichen, der allerdings die Polarisierungen verschärft. An beiden Polen kann das zu einer ermüdenden Dauermobilisierung führen, die in Aggression oder frustrierten Rückzug umschlägt. Die großen Konflikte auf Ebene der Weltkirche und des Synodalen Wegs schlagen sich im Gemeindeleben nieder und wirken sich auch auf die Gläubigen aus, die an ihrer Kirche (ver-)zweifeln oder den Corona-Lockdown im persönlichen Rückzug vom Gemeindeleben fortsetzen. Wie vom ersten Anfang her auf die Stimme Jesu zu hören, scheint da kaum mehr möglich: Von einem großen Anfang aller Dinge ist nichts zu spüren.

Martin Kirschner

Dr. theol. habil., Prof. für Theologie in den Transformationsprozessen der Gegenwart an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Leiter des KU Zentrum Religion, Kirche, Gesellschaft im Wandel (ZRKG); ständiger Diakon und Vater von vier Kindern.

Was tun? Und: Wer ist schuld? Die zweite Frage markiert einen zentralen Teil des Problems: Die Erfahrung der Krise, die Empörung und der Frust münden in eine relativ kurzschlüssige Suche nach Schuldigen. Drei typische Muster lassen sich hier erkennen: (1) Schuld an der Misere sind die ‚Konservativen‘ und ihre intriganten Netzwerke, die Amtskirche und namentlich Rom, die seit Jahren die notwendigen Reformen blockieren, die seit der Nachkonzilszeit theologisch ausgearbeitet vorliegen und nur umgesetzt werden müssten. (2) Schuld an der Misere sind die modernen Theolog:innen und Apologet:innen eines liberalen Zeitgeistes, die die Substanz des Katholischen verraten und die Missbrauchsverbrechen dazu nutzen, ihre eigene Reformagenda in der Art einer politischen Partei durchzusetzen. (3) Schuld ist die Kirche als solche, die längst an ihrem eigenen Anspruch gescheitert und nicht mehr zu retten ist: Es ist Zeit, auszutreten und mit diesem ‚Verein‘ zu brechen.

Wenn ich es so formuliere, dürfte bereits klar sein, dass ich die drei Reaktionen für einen Teil des Problems, nicht der Lösung halte. In der Bestimmung der ‚Schuldigen‘ können sich alle drei Muster mit einer je eigenen Form von Selbstgerechtigkeit verbinden. Gemeinsam ist die Weigerung, das kritisierte Gegenüber von seiner starken Seite her zu sehen und eigene Blößen und Schwächen einzugestehen. Beides würde einen Raum öffnen, in dem vom anderen etwas gelernt werden könnte. Zugleich sind aber alle drei Vorwürfen auch nicht falsch. Die geäußerte kritische Sicht markiert drei elementare Gefahren im Umgang mit der Krise: (1) Die Gefahr der Verdrängung, Reformverweigerung und Selbstbehauptung, die auch auf Kosten der Betroffenen geht und das Überkommene überhöht und gegen Kritik immunisiert. (2) Die Gefahr der Ideologisierung einer Reformagenda, die Erneuerung mit den eigenen Lösungsansätzen identifiziert und die mit ihnen verbundenen Verluste ausblendet. (3) Die Idealisierung von Kirche, die auch dort noch moralisierend bleibt, wo sie aus Enttäuschung oder Empörung zum Bruch mit der Kirche führt.

In der Krise geht es sicher nicht darum, Kritik und Vorwürfe abzuschwächen. Aber konstruktiv und spannend wird es dort, wo sie statt als Label für die Gegner:innen zum Kriterium für die Überprüfung der eigenen Position werden. Das könnte es ermöglichen, sich der ‚gegenwärtigen Stunde‘ zu stellen und nach Wegen zu suchen, mit der Situation so umzugehen, dass sich vielleicht ein neuer Raum öffnet, der weder von einem Grundkonsens noch von einem Kompromiss oder kleinsten gemeinsamen Nenner her definiert ist, sondern aus dem Eingeständnis heraus entsteht, dass die Kirche an einem Nullpunkt angelangt ist. Was ist damit gemeint?

NULLPUNKT ZWISCHEN WIDERSTAND UND ERGEBUNG

Mit dem Wort ‚Nullpunkt‘ ist zunächst gemeint, sich radikal der Situation zu stellen und sowohl Ausflüchte, Apologetik und Rechtfertigungen aufzugeben als auch die eigenen Vorstellungen von Kirche, Erwartungen, Besitzstände usw. loszulassen. Es geht um ein Moment der Resignation und Ergebung, ein Seinlassen von Gewissheiten und Zulassen von Enttäuschung, Ratlosigkeit und Anfechtung in den unterschiedlichen und oft widersprüchlichen Erfahrungen und Erwartungen (vgl. Sander, 55–70). Der Nullpunkt meint dann nicht ein negativ bilanzierendes Urteil, erst recht nicht den Nullpunkt im Koordinatensystem als einen neutralen Ort, von dem aus Wirklichkeit vermessen werden könnte, sondern den Umschlag von Widerstand zu Ergebung, in dem die Situation in allen Konsequenzen angenommen wird, ohne dies sofort mit einer Stellungnahme zu verbinden. Es geht also um eine Urteilsenthaltung (Epoché), eine Haltung der Indifferenz, der Gelassenheit oder Abstandnahme, wie sie Kern spiritueller Praxis und einer philosophischen Öffnung für die Phänomene selbst ist. Das meint nicht Gleichgültigkeit oder Verantwortungslosigkeit, sondern eine Distanzierung und Relativierung gegenüber Vorstellungen, Bildern, Handlungsoptionen, mit denen ich mich selbst, andere oder die Kirche identifiziere. Es geht um ein Öffnen der Frontstellungen und Abwehrlinien, eine ‚Schleifung der Bastionen‘, ja radikaler: ein Sterbenlassen des Alten, ohne zu wissen, was kommen wird.

Ein Beispiel für eine solche Bewegung ist das an den Papst gerichtete Rücktrittsangebot von Kardinal Marx vom 21. Mai 2021, das in einem persönlichen Rückblick eine Bestandsaufnahme der Situation gibt und das eigene Amt zur Verfügung stellt. Eine solche Geste – auch wenn sie strategische Überlegungen enthalten haben mag – öffnet einen Raum, um in den Machtkämpfen und Frontstellungen den Blick auf das Eigentliche zu richten: die Opfer des Missbrauchs und eine neue Ausrichtung am Evangelium. Ein (wenn auch allgemeines) Eingeständnis von Schuld verbindet sich hier mit der Bereitschaft, auf die eigene (Macht-)Position zu verzichten, ohne die Verantwortung aufzukündigen: „Mein Dienst für diese Kirche und die Menschen endet nicht. Aber um eines notwendigen Neuanfangs willen möchte ich Mitverantwortung für die Vergangenheit übernehmen. Ich glaube, dass der ‚tote Punkt‘, an dem wir uns im Augenblick befinden, zum ‚Wendepunkt‘ werden kann. Das ist meine österliche Hoffnung und dafür werde ich weiter beten und arbeiten“ (Marx).

Die Rede vom ‚toten Punkt‘ bezieht sich auf einen Text von Alfred Delp mit dem Titel „Das Schicksal der Kirchen“, den er während der Berliner Haftzeit 1944/45 verfasst hat. Dort spricht er von der Notwendigkeit, dass die Kirche radikal in den Dienst und die Begleitung der Menschen tritt (Rückkehr zur Diakonie) und sich nur erneuern kann, wenn sie erfüllte, schöpferische Menschen aus sich entlässt: „Aber wie dahin kommen? Die Kirchen scheinen sich hier durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise selbst im Weg zu stehen. Ich glaube, überall da, wo wir uns nicht freiwillig um des Lebens willen von der Lebensweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen. Das gilt sowohl für das persönliche Schicksal des einzelnen kirchlichen Menschen wie auch für die Institutionen und Brauchtümer. Wir sind trotz aller Richtigkeit und Rechtgläubigkeit an einem toten Punkt. […] Man soll deshalb keine großen Reformreden halten und keine großen Reformprogramme entwerfen, sondern sich an die Bildung der christlichen Personalität begeben und zugleich sich rüsten, der ungeheuren Not des Menschen helfend und heilend zu begegnen“ (Delp, 834).

Am Nullpunkt anzukommen heißt, in der Erfahrung der Krise am Boden anzukommen, im Sinn einer Demut als ‚humilitas‘, welche die Situation nüchtern annimmt im Vertrauen, dass der Gott, der diese Situation zulässt, auch durch sie hindurchführt. Demut ermöglicht dann auch Respekt für die jeweiligen Gegner:innen. Als tiefste und wichtigste Umkehr der Kirche fordert Alfred Delp: „Weg von der Anmaßung zur Ehrfurcht“ (Delp, 834).

Ein ähnlicher Gedanke findet sich in der Antwort von Papst Franziskus an Kardinal Marx, auch wenn er dessen Gesuch ablehnt und die Opfer von Missbrauch nur am Rande erwähnt. Der Papst unterstreicht die Notwendigkeit, „sich der Krise auszusetzen“: „Die Krise anzunehmen, als einzelner und als Gemeinschaft, das ist der einzige fruchtbringend[e] Weg; denn aus einer Krise kommt man nur in Gemeinschaft heraus, und außerdem müssen wir uns klarmachen, dass man aus der Krise als ein besserer oder als ein schlechterer Mensch hervorkommt, aber niemals unverändert.“ Man müsse das eigene „Fleisch auf den Grill legen“, sich nicht an Ideen verkämpfen, sondern sich der Wirklichkeit der Katastrophe annehmen und von ihr her die Frage stellen: „Was muss ich angesichts dieser Katastrophe tun?“ (Franziskus)

KARSAMSTAGSKIRCHE

Die Rede vom Nullpunkt zielt aber auch auf einen anderen Nullpunkt, der am Ursprung christlichen Glaubens steht: die Erfahrung des Karsamstags. Der Ursprung christlichen Glaubens ist ein Zwischenraum oder eine Leerstelle, wo die Konzepte, Vorstellungen und Erwartungen an Gott gescheitert sind. Auf der einen Seite steht die Erfahrung des Kreuzes, die im toten Leichnam Jesu und im Grab unausweichlich zu einem Ende kommt. Auf der anderen Seite verbindet sich damit eine Erfahrung der Leere, des Entzugs, des Vermissens, die den Ort jener anderen Erfahrung der Auferstehung bildet, die wiederum nur möglich ist, indem der- oder diejenige, der/die sie macht, sich von ihr verwandeln und auf einen ‚neuen Weg‘ führen lässt. Das Christentum wird ja anfangs einfach „der (neue) Weg“ genannt (vgl. Apg 9,2.26) und das Markusevangelium endet ursprünglich mit der Leere des Grabes und der Weisung, zurück nach Galiläa zu gehen.

Der Nullpunkt der Karsamstagserfahrung hat unterschiedliche Dimensionen. Er kann zunächst aus Sicht der Jüngerinnen und Jünger als der Ort verstanden werden, wo ihre Erwartungen, Hoffnungen und das, worauf sie mit ihrem ganzen Leben gesetzt haben, gescheitert sind. Jesus ist von den religiösen und politischen Autoritäten als Gotteslästerer, falscher Prophet und Aufrührer hingerichtet worden. Die Messiaserwartungen scheinen widerlegt. Darin ist der Karsamstag aber auch der Ort des eigenen Scheiterns: Die Jünger und Apostel haben selbst versagt: Judas hat Jesus ausgeliefert, Petrus ihn verleugnet. Gott hat das zugelassen oder sogar selbst Jesus in den Tod gegeben? Der Karsamstag wird zum Ort des Gottvermissens und der Gotteskrise, zur klagenden Anfrage an Gott (vgl. z. B. Metz, 177 – 179).

Aus dem Glauben heraus und von der Geschichte Jesu her lässt sich der Karsamstag als ‚toter Punkt‘ der Sendung Jesu, als letzte Konsequenz der Entäußerung (Kenosis) Gottes in ihm lesen. Hans Urs von Balthasar interpretiert den Abstieg Jesu ins Totenreich nicht als siegreichen Vollzug der Erlösung, sondern als totale Passivität des Sohnes, der sich in den Raum äußerster Gottesferne und Gottverlassenheit gibt: als Solidarität im Tod und damit wirkliches Totsein Jesu (vgl. Balthasar 1990, 141–176). Darin liegt ein bei Balthasar trinitarisch umfasster, paradoxer Umschlag: Indem sich der Sohn seiner Herrschaft und Macht völlig entäußert, wird noch ihr äußerster Gegensatz in ihren Bereich hineingenommen. Giorgio Agamben lässt sein über mehr als zwanzig Jahre verfolgtes Forschungsprojekt über die Macht im Abendland (Homo sacer) mit einem Verweis auf das Bild der ‚depositio Christi‘ von Tizian enden: „So hat Christus in der Ikonographie der Kreuzesabnahme […] Herrlichkeit und Königtum, die ihm am Kreuz in gewisser Hinsicht noch zukamen, vollständig abgelegt, und dennoch läuten nicht die bewirkten Wunder und die erlittene Passion, sondern gerade und nur diese vollzogene Destitution seines Königtums das neue Zeitalter der erlösten Menschheit ein“ (Agamben, 460). Der Nullpunkt scheint von daher nicht nur eine Kategorie menschlichen Scheiterns zu sein, sondern eine heilsgeschichtliche Kategorie: Die Allmacht göttlicher Liebe nimmt im Kreuz und mehr noch im toten Leichnam Jesu selbst die Gestalt völliger Ohnmacht an – und der Glaube an die lebensspendende Macht des Geistes und an die Auferweckung des Sohnes durch den Vater löscht diese Erfahrung nicht aus. Wenn Hans Urs von Balthasar die Kenosis des Sohnes in das Nicht-mehr-können-Können des Todes und in die Gottverlassenheit der ‚Hölle‘ trinitarisch unterfängt (vgl. Balthasar 1990, 168–176), dann wechselt er den Standpunkt hin zu einer heilsgeschichtlichen Vogelperspektive, die den Nullpunkt schon verlassen hat. Er artikuliert vielleicht eine Hoffnung und ein Vertrauen des Glaubens, aber der Ort dieser Hoffnung ist eben das Ausharren in einer Welt, die in Wehen liegt: „Auf Hoffnung hin sind wir gerettet. Hoffnung aber, die man schon erfüllt sieht, ist keine Hoffnung. Denn wie kann man auf etwas hoffen, das man sieht? Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus in Geduld. So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an“ (Röm 8,24–26). So bildet eine Leerstelle – im „Verlust des Körpers Jesu“ (Certeau, 127) im leeren Grab – das Zentrum christlichen Glaubens. Im Umgang mit dieser Leerstelle, in den Wendungen der Maria von Magdala auf der Suche nach dem Geliebten, im Wettlauf des Lieblingsjüngers und des Petrus zum Grab, im Zweifeln des Thomas, der an Auferstehung nur glauben kann, wenn er die Wunden des Auferstandenen spürt, die ihn als den Gekreuzigten ausweisen, vollzieht sich in den Narrativen der Schrift eine Auseinandersetzung mit dem Nullpunkt, die ihn zu einem neuen Anfang werden lassen. Aber diese Erfahrung der Auferstehung bildet weder neutrale Information noch eine Sicherheit, sondern führt in den Aufbruch einer neuen, riskanten, geistgeleiteten Existenz. Paulus buchstabiert das aus. Nur im Mitsterben mit Jesus geschieht zugleich Teilhabe an seiner Auferstehung, indem das eigene Leben und das Leben der Gemeinschaft der Glaubenden zu einem Leben in Christus, zu einer messianischen Existenzform führt.

Was heißt das für die heutige Situation des Glaubens und der Kirche? Die hier entwickelten Überlegungen lösen die Krise der Kirche nicht; sie bleiben im Gegenteil skeptisch gegenüber allen Positionen, die meinen eine solche Lösung parat zu haben, sodass sie nur endlich durchgesetzt werden muss. Mein Plädoyer geht dahin, die mit der Situation verbundenen Erfahrungen der Aporie und Ohnmacht anzunehmen, im Umgang mit gegnerischen Positionen neugierig und lernbereit zu bleiben, den Einsatz für die eigenen Überzeugungen mit der Bereitschaft zu verbinden, das eigene strategische Kalkül in der Begegnung mit anderen Positionen unterbrechen zu lassen, sodass sich im Dialog und im Hören auf den Geist neue Wege öffnen können. Das heißt nicht, darauf zu verzichten, theologisch, persönlich und freimütig Position zu beziehen und sich für eine Erneuerung der Kirche in Ausrichtung am Evangelium einzusetzen. Aber meine Hoffnung wäre, dass mit dem Zulassen des Nullpunkts solches Eintreten weniger verbissen und selbstgerecht sein könnte: ein entschiedenes Handeln, das sich zugleich relativieren und eine betrachtende Distanz wahren kann (‚contemplativus in actione‘). Kirchlich könnte das mit einer Neugierde für die Position der anderen einhergehen, auch des Gegners, der Gegnerin – und mit einer Offenheit, sich vom Geist überraschen und verändern zu lassen.

LITERATUR

Agamben, Giorgio, Der Gebrauch der Körper [Homo Sacer IV,2], Frankfurt a. M. 2020.

Balthasar, Hans Urs von, Schleifung der Bastionen. Von der Kirche in dieser Zeit, Einsiedeln 1952.

Balthasar, Hans Urs von, Theologie der drei Tage. Freiburg i. Br. 1990.

Certeau, Michel de, Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert, Berlin 2010.

Delp, Alfred, Das Schicksal der Kirchen / Die Orden (1944/45), in: Stimmen der Zeit 142 (2017), H. 12, 831–837.

Franziskus, Schreiben an Kardinal Reinhard Marx; abrufbar unter: https://www.vatican.va/content/francesco/de/letters/2021/documents/20210610-cardinale-marx.html.

Marx, Reinhard, Brief an Papst Franziskus; pdf-upload unter: https://www.erzbistum-muenchen.de/cms-media/media-55270120.pdf.

Metz, Johann Baptist, Gott in Zeit [Gesammelte Schriften 5], Freiburg i. Br. 2017.

Schlegelmilch, Renardo, Vatikan-Experte Politi: Kirche befindet sich in einem Bürgerkrieg; abrufbar unter: https://www.katholisch.de/artikel/40874-vatikan-experte-politi-kirche-befindet-sich-in-einem-buergerkrieg.