Lebendige Vergangenheit der Familie meiner Großmutter Buch 4 - Brigitte Klotzsch - E-Book

Lebendige Vergangenheit der Familie meiner Großmutter Buch 4 E-Book

Brigitte Klotzsch

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Beschreibung

Im Krieg erkrankte Lieses einziger leiblicher Sohn Jochen schwer. Wenige Monate nach Kriegsende nahm sich ihr Mann das Leben, während Maritta mit ihrem Mann sich in Niederaudorf in schwerster Zeit ein Refugium aufbaute. Nach weiteren schweren Jahren begannen erst mit der Übersiedlung Lieses zu ihrer Schwester und ihrem Schwager nach Niederaudorf 1949 wieder hellere Zeiten. Ihr Sohn Jochen begegnete seiner Gertrud, und Lieses neues Leben an der Seite ihrer Schwester Maritta wurde 1953 mit der Geburt ihrer ersten leiblichen Enkeltochter Brigitte gekrönt.

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Inhaltsverzeichnis

1. Politik ist nichts für Frauen! (Oktober 1933)

2. Du warst beliebter! (November 1933)

3. Der Sturz (Juni 1934)

4. Der Brunnen und Jojo (August 1934)

5. Der Herr Hitler hat keine schöne Nase! (August 1934)

6. Wer soll sterilisiert werden? (Mai 1935)

7. Muschi war wie ihr gemeinsames Kind (Januar 1936)

8. Wir hatten uns für Opern entschieden! (März 1937)

9. Das neue Fahrrad für Jochen (Juni 1937)

10. Die Diva (Juli 1937)

11. Wir holen Löwenmäulchen (August 1937)

12. Vertreib dir die krausen Gedanken (November 1937)

13. Sie hatte ihr Herz an dieses Haus verloren (Januar 1938)

14. Wie zahlen wir denn das Haus? (Februar 1938)

15. Maritta biss herzhaft in ein Röstebrot (Mai 1938)

16. Sie sind so eine gute Köchin und ich so eine miserable! (Mai 1938)

17. Bratkartoffeln von der Frieda (März 1939)

18. Du sollst nicht so sorgenvoll gucken! (15. September 1939)

19. Rutschige Wege (November 1939)

20. Was soll nur mit Jochen werden? (April 1940)

21. Sie sollte dankbarer sein! (Juni 1941)

22. Hin und hergerissen (Juni 1941)

23. Die Verteidigung hinter den feindlichen Linien (August 1942)

24. Das brauche ich mir nicht bieten zu lassen! (November 1942)

25. Zerrissen (August 1943)

26. Liese ist neugierig (12. August 1943)

27. Die Tötungslawine (August 1943)

28. Aber Erich, wenn es doch stimmt? (12. August 1943)

29. Ich mag meine Graupensuppe nicht, nein! (August 1943)

30. Frau Nehrkorn hat eine Idee (5. September 1943)

31. Das würde Gott nicht zulassen (7. September 1943)

32. Frauen sind anders (10. September 1943)

33. Hätte sie sich doch mit der Anne ausgesöhnt! (Dezember 1943)

34. Nichts als dumme Gedanken! (Mai 1944)

35. Die entsetzliche Fahrt nach Göttingen (Juni 1944)

36. Ausgeliefert (Juli 1944)

36. Ach hätte ich ihn hierbehalten! (September 1944)

37. Kartoffelsuppe (Juli 1945)

38. Opium für den Erich (Juni 1945)

39. Wir haben alle weggesehen! (Oktober 1945)

40. Der König geht, es lebe die Königin (Dezember 1945)

41. Vollkommen überdreht! (Juli 1946)

41. Lieses Genesung (2. März 1949)

42. Die Befreiung (3. März 1949)

43. Klein-Ditte (Juni 1954)

Liebe Großmutti, Herkenrath 2017

Brief an Maritta Herkenrath, 2017

Lieber Großvater Erich! Herkenrath, 2017

Epilog

Aus der Chronik meines Bruders Uwe:

Liese und Marittas Leben von 1933 bis 1954.

Marittas Leben mit Paolo in der Nazizeit 1933-1939

1935 haben Paolo und Maritta Berlin verlassen und sind nach Niederaudorf in das Haus Sonnenbichl Oberbayern gezogen. Sie mieteten zunächst das Haus. Paolo war alleiniger Musikreferent der Deutschen Zeitung, die Ende 1934 vom Völkischen Beobachter geschluckt worden war.

1938 kaufen sie das Niederaudorfer Haus.

Am 22.04.1938, anlässlich des gerade zurückliegenden 10. Hochzeitstages, schreibt Paolo zunächst:

Wenn ich jetzt 10 Jahre zurückdenke, so habe ich ein Recht zu sagen, dass alle die lieben und zärtlich besorgten Verwandten, die mir seinerzeit mit mangelndem Verständnis, Misstrauen und sogar ausgesprochenem Übelwollen gegenübertraten, Dittchen auf das Schlechteste beraten haben und sie um ein Haar um ihr ganzes Lebensglück gebracht hätten!

Das Niederaudorfer Haus wird für viele Jahre eine große Bedeutung für die ganze Familie und die Enkel bekommen.

1933-1954 Lieses Leben als Mutter, Stiefmutter und Ehefrau in der Nazizeit, im 2. Weltkrieg und der Zeit danach… und der Geburt des ersten Enkelkindes

1935 wurde das „Blutschutzgesetz“ in Nürnberg beschlossen. Danach war Liese „Mischling 1. Grades“. Zu diesem Zeitpunkt hätte sie keinen „Arier“ mehr heiraten dürfen. Da die Heirat aber 1928 war, war sie durch Erich vor Verfolgung geschützt. Jochen war ein Mischling 2. Grades mit mehr Rechten.

Jochen wurde aber zunächst nicht in die Hitler – Jugend aufgenommen.

Paolo schrieb an Liese am 26.11.1938: Ich selber habe es an (nur allzu berechtigtem) Pessimismus nie fehlen lassen und habe auch in der Sache mit der Hitler – Jugend für Jojo von Anfang an schwarz gesehen, habe dann aber später doch geglaubt, dass beim Sohn eines amtierenden Landrats keine Schwierigkeiten gemacht werden würden. Aber man kann den Brüdern ja nicht über den Weg trauen. In ihrer sturen „Konsequenz“ der „Auskämmung“ stellen sie eben jeden Rekord auf und „im Zuge“ dieser Entwicklung werden auch Menschenherzen zertreten, darauf kommt gar nichts an.

Fotos aus dem Jahr 1939 belegen, dass Jochen dann doch vorübergehend in der Hitler- Jugend aufgenommen worden ist.

Weihnachten 1943 starb Anne von Stosch bei der Geburt ihres zweiten Kindes

Anfang 1944: Kinderlandverschickung Jochens

Jochen wurde für mehrere Monate nach Köthen zur Kinderlandverschickung geschickt. Über diese Zeit sprach er später niemals in seinem Leben.

Im Juli 1944 ging Erich in Pension

Juni bis Oktober 1944: Jochen in der Psychiatrie in Göttingen

Liese an Barbara August 1945: „Wenn ich an die Zeit vor einem Jahr denke, dann kommt sie mir wie ein furchtbarer Traum vor Jede Woche mache ich in Gedanken die Reise nach Göttingen wieder durch, es war zu schwer!“

Jochens Glück war, dass der Leiter der Anstalt in Göttingen Prof. Ewald war. Er berief sich als einziger führender Psychiater auf sein „ärztliches Gewissen“, als die Ärzte für ein Gesetz zur Vernichtung lebensunwerten Lebens eingestimmt werden sollten.

Januar 1946 stirbt Erich an einer Überdosis Opium

Maritta: „Erich hatte in den letzten Jahren so schreckliche Magen- und Darmschmerzen, dass es nicht auszuhalten war. Er nahm eines Nachts so viel Opium, dass selbst das Auspumpen des Magens nicht mehr half.“

Von August 1946 bis Anfang 1947 war Jochen in der Psychiatrie in Uchtspringe und danach in Berlion-Weißenseee

Schwere Krankheit Lieses 1948 bis Pfingsten 1949

Jochen an Maritta am 1948: Mutti geht es unverändert sehr schlecht. Heute ist schon der 10. Tag,an dem sie über 40 Grad Fieber hat. Wir sind alle sehr in Sorge. Ich würde dir raten, möglichst bald herzukommen, denn es wäre sicher sehr gut für Mutti, wenn sie dich hier wüsste.“

Aus Marittas Memoiren:

Nach Pfingsten 1949 konnte ich nun endlich an die Heimfahrt denken, aber natürlich nur mit Liese, denn so schwach, wie sie war, konnte ich sie nicht allein zurücklassen…Hin hatte Jobst mich ja von Göttingen aus nachts schwarz über die Grenze gebracht, aber so elend Liese noch war, konnte man natürlich an so etwas nicht denken. So musste ich natürlich dafür sorgen, dass Liese alle Papiere vorschriftsmäßig beieinander hatte, weshalb ich 4 Wochen lang jeden Vormittag von Behörde zu Behörde lief. Als ich glaubte, alles richtig erledigt zu haben, ging ich zur russischen Botschaft, um mir den Interzonenpass ausfertigen zu lassen. Der Pass war auch schon in der Maschine, woraufhin mich die sehr freundliche Dame nach Liesens Personalausweis fragte, den ich ihr nicht vorweisen konnte, weil die Personalausweise während Liesens schwerer Erkrankung erneuert worden waren, und sie noch so schwach war, dass sie nicht einmal eine Unterschrift zustande gebracht hätte. Nun musste sie im Bett photographiert werden, und als ich die Bilder abholte, zeigte man mir eine Unmasse Bilder von lauter Insassen eines Altersheimes, die alle wie „unbekannte Leichen“ aussahen. Gottlob fand ich sie aber heraus, obwohl sie genauso schrecklich aussah, wie die anderen. Nun ging ich stolz zum Landratsamt, um mir den Personalausweis stempeln zu lassen, woraufhin sie mir einen Haufen von etwa 300 Personalausweisen zeigten, die sie nicht erledigen konnten, weil der Stempel schon seit 3 Wochen kaputt sei. Tableau. Da kam Jochen auf den glorreichen Gedanken, dass Blankenburg denselben Stempel habe, worauf ich mich sofort nach Blankenburg aufmachte. Dort meinte die Dame nun, sie könne den Stempel doch nicht blanco machen, worauf ich fassungslos in Tränen ausbrach, was die Dame veranlasste, mit Berlin zu telefonieren, wo man bereit war, eine Ausnahme zu machen, und mir den Stempel blanco gab.

Triumphierend legte ich nun meinem „speziellen Freund“ (ich glaube er hieß Busen, jedenfalls nannte ich ihn in meinen Gedanken immer meinen „Busenfreund“) den Personalausweis mit dem Stempel vor (er sagte: „Sind Sie schon wieder da?“). Daraufhin sah er sich die Papiere alle noch einmal durch, es waren 7 Stück, und wegen des einen war ich von früh 7 Uhr bis nachts 12 Uhr nach Halberstadt gefahren…

Mit einem Male sagte er: „Und wo ist das polizeiliche Führungszeugnis?“ Woraufhin ich antwortete: „Ach so! Sie meinen die Landratsfrau hat silberne Löffel gestohlen? Das Polizeirevier in Berlin, wo sie zuletzt vor 21 Jahren war, ist ausgebombt! Die Papiere sind also nicht mehr vorhanden.“ Aber er bestand darauf, dass ein Führungszeugnis herbeigeschafft werden müsse. Meinem Schwager, dem inzwischen verstorbenen Landrat, würde er sowieso keinen Interzonenpass ausstellen. Nun war ich am Ende. Der nette Herr Flesch, war, wie ich wusste, auf Urlaub (er arbeitete am Rathaus und hatte mir schon aus vielen Nöten geholfen), aber Gottlob nicht verreist. Da nahm ich mir ein Herz und besuchte ihn in seiner Privatwohnung, mich vielmals entschuldigend, dass ich ihn nicht einmal im Urlaub Ruhe ließe, woraufhin er antwortete: „Aber Frau Zschorlich! Für Sie 3 Tage barfuß!“ So ging er dann auch am nächsten Tag mit mir auf die russische Botschaft, zeigte den nun vollständigen Personalausweis (zur Unterschrift wurde ein Polizeibeamter extra … gerufen und mit einer besonderen Tinte an Liesens Bett beordert) und all die vielen Ausweise, und da bemerkten die Leute gar nicht, dass das polizeiliche Führungszeugnis fehlte. Ich hätte Herrn Flesch direkt umarmen können…

Nun übersetzte er mir noch in Russisch alles, was Liese an Bettwäsche, Silber etc. mitnehmen wollte, denn er meinte, das sei erlaubt. Nachdem wir durch Lotte Heim ein Auto bekommen hatten, das uns nach der Grenze brachte, landeten wir also glücklich daselbst. Aber dort oben hieß es nun plötzlich: Bettzeug und Silber dürfe Liese nicht mitnehmen. Es wurde noch Berlin angerufen, aber einstimmig wurde erklärt, die Sachen dürften nicht hinüber. Nun versagten meine Nerven…Aber wir saßen ja immer noch da oben und Autos durften nicht bis zur Grenze fahren. So mietete ich einen kleinen Leiterwagen, setzte Liese hinein und oben drauf die Koffer und fuhr sie bis zur Station Ellerich (?), wo der Anschlusszug nun natürlich längst fort war, weswegen der arme Jobst, der uns in Göttingen am Zug begrüßen wollte, natürlich umsonst gewartet hat.

… trank ich einen Kaffee nach dem anderen um ja nicht einzuschlafen. Fräulein Dohrn war inzwischen zu jedem eintreffenden Zug gefahren, Liese hatte natürlich dick geschwollene Beine, und Paolo, der vorher gedichtet hatte, er würde mir mit fliegenden Schritten entgegeneilen, saß weinend auf der Stufe im oberen Flur, weil er schon aufgegeben hatte, dass wir kamen. Dabei hatte er an Liesens Tür ein so schönes, selbstgeschriebenes Schild mit „Herzlich willkommen“ geheftet.

Aber nun hatten wir sie endlich bei uns und haben es in den 18 Jahren ihres Hierseins immer als großes Glück empfunden. Das Verhältnis von Paolo zu ihr wurde immer herzlicher, und auch sie gewann ihn jetzt gern

Im Juni 1949 zieht Liese nach Niederaudorf.

Dezember 1949: Jochen beginnt sein Studium in Köln.

21.07.1951 Wingolf – Fest. Jochen trifft auf Gertrud

01.04.1952: Paolo stirbt mit fast 76 Jahren.

Februar 1953. Gertrud ist unverheiratet schwanger

09.02.1953 Gertrud an Liese: „Ich bin ganz unendlich traurig, dass ich Ihnen etwas so Furchtbares mitteilen muss. Jochen ist gesund, und mit seinem Studium ist auch alles in Ordnung. Diesmal bin ich das ganze Unglück ganz allein…“

März 1953: Hochzeit von Gertrud und Jochen

25.09.1953: Brigittes Geburt

Gertrud an Maritta am 26.10.1953: „Wirst du seine süßen großen Augen nicht bewundern können. Ich bin Liese ja so unendlich dankbar, dass sie mir so großartig und lieb überall hilft. So, nun aber genug für heute. Ich muss noch Schulaufgaben machen.“

Juni 1954: Gertrud und Brigitte in Niederaudorf

Liese an Jochen am 15.06.1954: „Dein Brigittchen ist unsere ganze Wonne, ich lasse sie gar nicht mehr fort.“ Gertrud an ihre Mutter am 01.07.1954: „Mutti und Tante Maritta sind unsterblich verliebt in das kleine Wesen und würden es am liebsten hier behalten.“

Jochens Autos 1934

Jochen fällt vom Kirschbaum 1934

Maritta mit Muschi 1935

Maritta und Paolo 1935

Maritta und Herta Krause 1935

Maritta im Garten

Jochen und Familie 1934?

Jochen hat Roller 1936

Jochen in der Hitlerjugend 1939

Jochen und Liese 1936

Jochen, Erich, Liese 1936

1. Politik ist nichts für Frauen! (Oktober 1933)

Liese war dem Schicksal so unendlich dankbar, dass es ihr den kleinen Jochen beschert hatte, den sie gerade an diesem sonnigen Herbsttag im Garten mit seinem Holzroller und seinem Leiterwagen beobachtet hatte. Als er sah, wie sie ihn fotografierte und anlächelte, kam er ungestüm auf seine Mutter zu und küsste sie. Liese ging das Herz auf und all die Schwierigkeiten mit den Stiefkindern erschienen ihr null und nichtig. Allerdings quälte sie die Sorge um Erich, der einfach immer stärkere Magenschmerzen bekam und sich ihr gegenüber zunehmend verschloss. Ihre Stirn verdüsterte sich, als sie seine Stimme aus dem Fenster seines Herrenzimmers vernahm, die laut und deutlich: „Liese, komm!“ rief. Liese zögerte ein wenig.

Wollte Sie sich doch nicht von diesem Jochen losreißen und dieses friedvolle Bild im Garten des Landrathauses verlieren. Jochen schaute auch besorgt zu seiner Mutter hoch. „Du sollst nichts merken, gar nichts, kleiner Jochen!“, dachte Liese und sie rief: „Ja, Erich, ich komme!“ Und eilte auf das ehrfurchtserregende Herrenzimmer zu mit seiner mächtigen Eichentüre und den dunklen schweren Möbeln. Vielleicht hatte er ja eine gute Nachricht für sie, wer weiß, sie wollte einfach nicht so negativ denken.

Vor der Türe holte sie noch einmal tief Luft, stieß sie auf und sagte schnell: „Erich, dieser Jochen, das ist so ein Schatz, er fährt so gerne mit seinem neuen Roller durch unseren Garten!“ Ein leichtes Lächeln huschte über das Gesicht des Vaters und er sagte: „Ja, Liese, es ist gut, dass der Jochen da ist. Ich mag ihn. Aber, verhätschele ihn nicht so sehr. Er soll kein Muttersohn werden!“ Liese protestierte: „Erich, jedes Kind ist ein Muttersohn, auch du!“

Erich schob laut krachend seinen Sessel nach hinten, sprang auf und schrie: „Nein, Liese, ich bin kein Muttersohn! Willst du mich beleidigen?“ Liese wurde leichenblass und stammelte: „Muttersohn heißt doch nur, dass man eine Mutter hat und von ihr abstammt! Mehr wollte ich nicht sagen!“ Erich strich sich über den Magen und brummte: „Wenn du das so meinst, ist es in Ordnung. Aber ich meinte es anders. Für mich ist ein Muttersohn ein Mann, der nicht seinen Mann steht und von der Mutter verweichlicht worden ist. Ich zum Beispiel, ich stehe meinen Mann: ich habe dich geheiratet bevor das Gesetz herauskam, dass Beamte nur Arier heiraten dürfen. Dazu stehe ich und lasse mich nicht scheiden. Auch wenn wir uns so oft streiten und mein Magen immer schlimmer wird!“

Es verschlug der Frau die Stimme, sie flüsterte heiser: „Erich, das meinst du doch nicht im Ernst? Bin ich weniger wert, nur weil meine Mutter nicht arisch war?“ Sie schaute ihn flehentlich ein. Erich rief unwirsch: „Liese, ich kann diesen deinen Opferlammblick nicht ausstehen. Mir persönlich ist es egal, ob einer Arier oder Jude ist. Ich kenne keinen Unterschied! Aber die Mehrheit des deutschen Volkes hat diesen Hitler gewählt und anscheinend ist es der Mehrheit wichtig, dass da ein Unterschied gemacht wird. So hat die Mehrheit des deutschen Volkes sich auch entschieden, aus dem Völkerbund auszutreten, der ja nur die Aufgabe hatte, aus uns Deutschen möglichst hohe Reparationszahlungen herauszupressen und der jüdische Außenminister Rathenau hat da nichts gegen gesetzt, hat ja und Amen gesagt und diesen schändlichen Vertrag „Friedensvertrag“ genannt. Jetzt lassen wir uns das nicht mehr gefallen. Und ob ich will oder nicht, ich bin als Landrat daran gebunden, den Kurs einer gewählten Regierung mitzutragen!“

Liese drehte sich alles im Kopf, sie wusste überhaupt nicht mehr, wer hier recht und unrecht hatte. Sie wusste nur, dass ein Austreten aus dem Völkerbund ein kriegerischer Schritt war. Sie sagte: „Erich, steuern wir auf einen Krieg zu?“ Sie sagte das mit weit aufgerissenen Augen. Erich wurde ärgerlich und antwortete: „Liese, lass dieses Geschwätz. Es hat keiner von Krieg gesprochen. Und wenn es einen gibt, dann ist das nötig, um diese ungeheure Ungerechtigkeit der Reparationszahlungen endlich zu sühnen! Und nun mach, dass du herauskommst. Kümmere dich um die Kinder und den Haushalt und misch dich nicht in die Politik ein. Das ist nichts für Frauen!“

Er strich sich über seinen Magen und Liese sagte: „Erich, dein Magen ist nicht gut dran. Mach doch nochmal eine Kur!“ Erich wurde zornig wie immer, wenn sie über seinen Magen sprach und rief: „Ich kann Deutschland jetzt nicht im Stich lassen. Da ist mein Magen untergeordnet!“ Liese sagte: „Wie du meinst, Erich.“ Sie ging mit unsicheren Schritten aus dem Zimmer. Sie wusste genau, dass ihr Mann nicht so kaltherzig war, wie er tat. Aber irgendwie hat diese unselige Politik sein Herz eingemauert und seine Liebenswürdigkeit verschüttet.

Liese rannte schnell in ihr Zimmer. Sie hoffte, dass Jochen nicht gesehen hatte, wie sie weinte.

2. Du warst beliebter! (November 1933)

Maritta war glücklich. Ihre Liese war zum dritten Mal zu Besuch bei ihr in Berlin. Die Frauen hatten einen Einkaufsbummel in der Stadt gemacht und waren nun in einem Kaffeehaus eingekehrt, um sich ein wenig auszuruhen. Die unselige Politik klammerten sie in ihrem Gespräch aus.

Maritta fragte Liese:„Liese, wie geht es denn dem Jojo und dem Erich und dir, mein Liebstes?" Der Blick der Schwester verschattete sich und sie rief spontan: „Maritta, dieser Erich hat so entsetzliche Magenschmerzen und zieht sich immer mehr zurück. Ich kann es fast nicht mehr aushalten. Ich kann mit ihm kaum noch sprechen, sogar nicht über Jochen, der doch unser gemeinsames Kind ist. Er wirft mir immer wieder vor, ich verweichlichte den Jochen!" „Nein, Liese, das tust du nicht!“, begehrte Maritta auf, „du bist sehr streng und verbietest ihm auch etwas. Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich den Jochen verderben und verweichlichen, weil ich niemals etwas verbieten könnte, aber du doch nicht, Liese!"

Maritta schaute bewundernd auf die große Schwester. Ihr Lieblingskuchen, ein Stück Sachertorte, wurde ihr gebracht. Liese aß nur ein Stück Obststreusel. Maritta schaute freudig auf ihre Sachertorte und rief: „Es gibt doch nichts besseres als ein Stück Torte! Koste mal!" Sie bot der Schwester ihren Teller an. Liese schob ihn peinlich berührt zurück und flüsterte: „Aber, Maritta, das ist unschicklich! Du isst schön von deinem Teller und ich von meinem. Ich weiß, wie Sachertorte schmeckt!" Maritta lief rot an nach der Rüge der großen Schwester und sagte beschämt: „Ich dachte ja nur, du könntest dir die Torte nicht leisten und wollte dir was abgeben!" Liese lachte bitter auf: „Ich kann es mir leisten, aber tue es nicht und du kannst es dir nicht leisten, aber tust es. So warst du schon immer, konntest nie verzichten!"

Maritta wurde es langsam unbehaglich zumute und sie fragte die Schwester geradeheraus: „Liese, willst du, dass ich die Torte zurückgehen lasse?"„Nein“, entgegnete Liese verärgert, „sei nicht wie ne Mimose! Das kleine Stück Torte kannst du ruhig essen. Lass uns nicht mit solchen Kleinigkeiten die Laune verderben!" Dann aßen beide mit Genuss die herrliche Süßigkeit. Auch Liese. Dazu schlürften sie den frisch gemahlenen und aufgegossenen Filterkaffee! Das Leben war ein Genuss, befand Maritta.