childhood and youth of my grandmother - Brigitte Klotzsch - E-Book

childhood and youth of my grandmother E-Book

Brigitte Klotzsch

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Beschreibung

Marga, mother of my grandmother, came from a Jewish family. My grandmother Liese and her sister Maritta were born at the end of the 19th century and spent their childhood mostly in Berlin. They were five brothers and sisters altogether: Mally, Leo, Luise, Maritta and Lothar. Their family suffered from several blows of fate.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Aus der Familienchronik meines Bruders Uwe

Hinweise

1. Roby ist gemein! (April 1877)

2. Ännchen muss gehen (Mai 1880)

3. Die Strafe (April 1881)

4. Der Zoobesuch (Februar 1888)

5. Die durchwachte Nacht (Juni 1888)

6. Die schwarze Person (März 1892)

7. Die Liese und der Leo (Mai 1893)

8. Wo ist die Mutter? (Juni 1893)

9. Vater, warum kann der Bach nicht mehr fließen? (Februar 1894)

10. Ein Strauß für die Mutter (Mai 1894)

11. Ein Besuch im Tiergarten (Februar 1895)

12. Was ist bloß mit Vater los? (November 1895)

13. Vater Mutter Kind -Spiel (5.Juni 1896)

14. Der verbotene Besuch (6.Juni 1896)

15. Die Mutti ist die Beste! (7.Juni 1896)

16. Dieser Leo (9. Juni 1896)

17. Das Tauschgeschäft (September 1896)

18. Der verlorene Schlaf (November 1896)

19. Singen kann doch jeder! (Januar 1897)

20. Demütigung (Mai 1897)

21. Weihnachten bei Mamama (Dezember 1897)

22. Das Fest (Juni 1898)

23. Der Buchschatz (Juli 1898)

24. Liese will auch Dienstmädchen werden (Juni 1899)

25. Die neue Bonne (November 1899)

26. Der liebe Gott soll nicht schwindelig werden! (Februar 1900)

27. Der Anstandsbesuch (Mai 1900)

28. Gefüllte Kalbsbrust (Oktober 1900)

29. Ich werde 100 und du 101! (Dezember 1900)

30. Des Todes Antlitz (September 1901)

31. Die Schneeflocke (Januar 1902)

32. Die schreckliche „Bonne” (April 1902)

33. Die Notlüge (Juni 1904)

34. Geh singen, das kannst du wenigstens (Februar 1906)

35. Du willst doch immerhin einen Mann kriegen!“ (Januar 1907)

36. Ein Besuch im Zoo (September 1908)

37. Sorgen um Mally´s Ehe (August 1910)

38. Du bist nicht nett (Sept. 1910)

Ende des deutschen Teils

Translation of the book

Preface

From my Brothers Uwe family chronicle

Different points of view

1. Robin is mean! (April 1877)

2. Ännchen has to leave (May 1880)

3. The punishment (April 1881)

4. A visit to the zoo (February 1888)

5. Spending the night waking (June 1888)

6. The black person (1892)

7. Liese and Leo (May 1893)

8. Where is the. Mother? (June 1893)

9. Father, why can’t the creek flow anymore? (February 1894)

10. A posy of flowers for the mother (May 1894)

11. A visit to the zoo (February 1895)

12. What’s wrong with father? (November 1895)

13. Father-Mother-Child-Game (05th June 1896)

14. The forbidden visit (06th June 1896)

17. The mother is the best (07th June 1986)

16. That Leo (09th June 1896)

17. The trade-off (September 1896)

18. The lost sheep (November 1896)

19. After all everybody can sing! (January 1897)

20. Humiliation (May 1897)

21. Christmas at Mamama’s (December 1897)

22. The Party (June 1898)

23. The treasure of books (July 1898)

24. Liese wants to become a chamber maid as well (June 1899)

25. The new Bonne (November 1899)

26. Our dear God should not get dizzy (February 1900)

27. The courtesy call (May 1900)

28. Stuffed breast of veal (October 1900)

29. I will be 100 and you 101 (December 1900)

30. In the face of death (September 1901)

31. The snowflake (January 1902)

32. Dreadful ‘Bonne’ (April 1902)

33. The white lie (June 1904)

34. Go and sing – at least you can do that (February 1906)

35. After all you want to get a husband (January 1907)

36. A visit to the zoo (September 1908)

37. Worries about Mally’s marriage (August 1910)

38. You are not nice (September 1910)

Vorwort

Ich habe einen Schatz aus meiner Kindheit, der mich ein Leben lang begleitet. Das ist die Zeit, die ich als Kind bei Großmutti und Tante Maritta verbracht habe. Es war dreifach schön: Erstens, weil Großmutti so toll erzählen konnte und mich so wertgeschätzt hat, dass es wie Honig an mir herunterlief. Zweitens, weil da die lebenslustige Tante Maritta war, die die etwas strengere Großmutter herrlich ergänzte. Außerdem waren für Tante Maritta Konventionen nie so maßgeblich. Drittens, das Haus in Niederaudorf, Oberbayern. Es war voll gefüllt mit Erinnerungen, die wir Kinder entdecken konnten. Das Haus stand in dem wunderschönen riesigen Garten, in dem wir viel Verstecken oder Federball spielten oder im Frühjahr dicke Sträuße mit Himmelschlüsselblumen pflückten. Den geschwungenen Weg säumte der Augentrost. Es war ein Paradies für mich und meine Geschwister. Die Besuche bei den beiden alten Damen bereicherten und beglückten meine Kindheit und sind unvergessen.

Leider starb Großmutti als ich 14 Jahre alt war.

Nun kam es, dass mein Bruder Uwe im Nachlass unserer inzwischen verstorbenen Eltern säckeweise Briefe fand, aus denen er wichtige Stellen abschrieb, sie zeitlich zuordnete und ein gut 600 Seiten dickes Briefe-Tagebuch-Buch machte.

Seit es dieses Buch gibt, habe ich fast täglich eine Erzählung über Großmuttis,Tante Marittas oder auch Margas Leben geschrieben. Diese Geschichten wuchsen in der Zahl. Ich schrieb sie wahllos, was gerade kam, immer gestützt durch die Briefe und ausgeschmückt mit meiner Fantasie. Ich habe mich stets bemüht, die Episoden des Lebens meiner Großmutter aus der Sicht der Zeit zu schreiben, in der sie lebte. Nicht aus der wissenden Sicht der heutigen Zeit, also nicht im Rückblick sondern im Augenblick des damaligen Blickpunktes.

Das ist für mich sehr wichtig, um lebendig und würdigend auf das Leben unserer Vorfahren zu schauen. So würde ich es auch mit Menschen der heutigen Zeit tun. Stellen Sie sie sich mal vor, wenn es durch den jetzigen ungebremsten Einsatz der Antibiotika in 50 Jahren nicht mehr zu behandelnde Seuchen gäbe. Würden dann unsere Enkel uns nicht fragen, warum wir nicht verantwortungsvoller mit den Antibiotika umgegangen wären, ob wir das nicht hätten sehen können. Wir hätten es vielleicht vorhersehen können, Aber wir können heute nicht mit Sicherheit sagen, was aus dem Tun der heutigen Zeit entstehen wird. So konnten unsere Vorfahren weder die Kriege noch die Nazizeit in all ihren Ausmaßen vorhersehen.

Die Erzählungen lagen bei mir im Regal und staubten zu, ungenutzt.

Da kamen Uwe und ich auf die Idee, sie alle zeitlich zu ordnen und zu veröffentlichen. Daraus sind diese Bände entstanden. Uwe schrieb zu jeder Epoche eine Einführung, in der er zeitliche Bezüge darstellt und die Quellen zitiert.

Es wurden 5 Bände, die erstaunlicherweise gut zusammenpassen: Ich danke Großmutti und Tante Maritta und meinen Eltern, dass sie diese Fülle an Material aufgehoben haben. Die Briefe, die Photos, die Tagebücher. Dass ich solch einen Reichtum an Informationen verarbeiten durfte. Ich muss schon zugeben, dass die Fülle des Materials mich manchmal erschlagen hat. Dank Uwes Hilfe und dem Zuspruch und der strukturierenden Unterstützung meines Mannes Manfred habe ich immer wieder den roten Faden gefunden. Ich freue mich sehr, dass ich das wild bewegte und leidvolle Leben meiner Großmutter und das von Tante Maritta hier aufschreiben durfte und andere Generationen an dem Schicksal unserer Familie teilhaben lassen kann.

In Dankbarkeit Brigitte Klotzsch, Dezember 2017

Aus der Familienchronik meines Bruders Uwe:

Die Jugend von Marga und die Kindheitsjahre von Liese und Maritta 1877 bis 1910

Eltern von Marga:

Anna von Adelson, als Großmutter ließ sie sich „Mamama“ nennen, 12.07.1839 – 30.12.1915

Anton Cohn, 18.12.1824 – 29.06.1898 (sie gaben sich verheiratet den Namen Adelssen)

Annas Kinder:

Margarete von Reichenbach (Marga), geb. Adelssen 18.11.1865 – 12.05.1921

Verheiratet mit Dorotheus von Reichenbach, Dori 14.07.1852 – 23.06.1929

Und Robert Adelssen „Roby“ – 21.07.1864 -18.03.1941, verheiratet mit Katharina (Kathy, oder Kitty) 1872 -1945,

Margas Kinder:

Mally 12.03.1887 – 10.12.1910

Heirat mit Fedor von Bock (1880 – 1945) am 09.10.1905

Marga – Luise (Liese) 10.03. 1891- 1968

Leo 05.10.1892 – 09.07.1901

Maritta 05.09.1894 - 1977

Lothar 29.02.1904 - 1966

Familiensituation:

1885 bis 1901 – Leben in Berlin, Rastatt und wieder Berlin, Geburt und Heranwachsen von vier Kindern

Dorotheus, der Vater, Sohn eines Landrats, Oberstleutnant im Krieg gegen Frankreich, 1886 zum Hauptmann befördert, erkrankte nach der Geburt seiner ersten Tochter Mally im Frühjahr 1888 schwer, er nahm ein Jahr Urlaub und wurde dann noch 1 Jahr außer Dienst gestellt. 1892 erkrankte er von neuem, musste wieder längeren Urlaub nehmen und wurde 1893 auf 1 Jahr außer Dienst gestellt. Wiederhergestellt wurde er im November 1894 nach Rastatt versetzt und im Mai 1895 als Major der Reserve approbiert. Die Kinder verbrachten in Rastatt einige Jahre ihrer Kindheit. Dorotheus musste aus gesundheitlichen Gründen im Jahre 1897 seinen Abschied erbitten.

Liese hierzu in einem Tagebucheintrag 1906, in dem sie über die Ehe ihrer Mutter schreibt (sie war da 15 Jahre alt):

„Unendlich viel Kummer und Sorgen hat ihr ihr 21jähriges Eheleben gebracht. Schon die ersten Jahre ihrer Ehe waren … durch mancherlei getrübt. Da kam zuerst die Krankheit meines Vaters, meine Mutter fast 10 Jahre um sein Leben bangte und erst zur Ruhe kam, als er, der mit Leib und Seele Offizier war, den Abschied nahm.“

Die Familie zog dann zurück nach Berlin.

Das weitere Leben in Berlin schildert Liese in ihren Lebenserinnerungen:

„So wie es damals üblich war, wurden wir von einer französischen Bonne und einer deutschen Gouvernante erzogen. Dass außerdem eine Köchin, ein Stubenmädchen und ein junger Diener das Personal vervollständigten, obwohl meine Eltern in keiner Weise wohlhabend waren, ist ein typisches Zeichen für den damaligen Lebensstandard, der in anderer Weise auch wieder, besonders in Offiziersfamilien, recht einfach war. Meine Mutter, die wir heiß liebten, durften wir nur mit Erlaubnis der Französin, die schrecklich eifersüchtig auf sie war, in den vorderen Zimmern besuchen…

Bei Tisch durften wir Kinder nur sprechen, wenn wir gefragt wurden und zwar entweder in Englisch oder Französisch. Ich höre noch immer die Stimme meiner Mutter: „Speak English please“… Da sie bei meinem Vater aber wenig Glück damit hatte – er war ganz unbegabt für Sprachen – und wir froh waren, wenn er Deutsch mit uns sprach, wurde diese Mahnung wenig beachtet.“

Tante Maritta schreibt dazu: Bei Mallys Hochzeit im Oktober 1905 fand Liese endlich den Mut, der von ihr so geliebten Großmutter Reichenbach ihr Leid zu klagen, die „Mabell“, wie wir sie nannten, wurde entlassen, und wir durften nun jederzeit zu unserer geliebten Mutter, was die eifersüchtige Person immer hintertrieben hatte!!)

1901 bis 1910: zwei schwere Schicksalsschläge und die Geburt von Lothar

1901: Der Tod von Leo

Liese schildert in ihren Lebenserinnerungen aus dem Jahr 1901: „Ein erschütterndes Erlebnis hat unsere Kindheit überschattet: Der Tod unseres einzigen Bruders Leo mit fast 9 Jahren, er war 1 Jahr jünger als ich. Dieser schöne, blondlockige Junge war der Liebling der ganzen Familie. Ich erinnere mich, dass die Leute auf der Straße stehenblieben und Rufe des Entzückens ausstießen. Das ist keine Übertreibung, denn gleichzeitig gaben sie ihrem Erstaunen über die dicken Waden des kleinen Mädchens (das war ich) Ausdruck, und diese für mich etwas betrübende Kombination habe ich nie vergessen. Wir 4 Kinder hatten im Sommer 1901 den Typhus, ohne dass eine Epidemie herrschte, und ohne dass ein anderer Hausbewohner erkrankte. Völlig unerklärlich! Man schob es auf das Leitungswasser, das in unserem Kinderzimmer eine Zapfstelle mit Becken hatte, aus der wir Kinder manchmal tranken. Die damalige Therapie für Typhus bestand im Hungern, d.h. wir durften nur Milch trinken und mussten 14 Tage fieberfrei sein, ehe wir etwas Richtiges zu essen bekamen, nämlich Kartoffelbrei. Gegen das sehr hohe Fieber wurde man, wenn es über 40 Grad siegt, eiskalt gebadet. Diese Pferdekur hielt mein zarter Bruder nicht aus und starb nach 6 Wochen. Nach ihm hatte ich die Krankheit am schwersten, lag 10 Wochen und musste die erste Zeit ihrer Rekonvaleszenz im Rollstuhl gefahren werden…

Wie unsere Mutter den Schmerz um den heißgeliebten, einzigen Sohn vor den Kindern verborgen hat und nur um unser Wohl bedacht war, erscheint mir heute kaum fassbar.“

In einem Tagebucheintrag von 1906 schreibt Liese über die Zeit nach Leos Tod: „Nach dem Tode unseres Leo wurde Mutter nicht krank, aber es folgten für sie Monate der Erstarrung…. Ungefähr zwei Jahre nach Leos Tod wurde Mutti ernst krank, schwerkrank. Die starke Erschütterung, die sie erlitten hatte, kam jetzt erst zum Ausbruch und zeigte sich in einer tiefen Melancholie, die fast ein Jahr dauerte, und durch nichts vertrieben werden konnte. Was wir dabei gelitten haben, ist nicht auszudrücken…“

Aus Tante Marittas Sicht: „Im Juli 1901 trat ein erschütterndes Ereignis in unser Leben! Wir 4 Kinder bekamen, ohne einen erfindlichen Grund, den Typhus, den unser damals noch nicht 9 jähriger Bruder Leo, ein bildhübscher Junge und mein erklärter Liebling, nicht überstand! Ich höre heute noch (ich war noch nicht 7 Jahre alt!) die schweren Schritte der Männer, die den Sarg hinuntertrugen! Nach ihm hatte Liese den Typhus am schwersten, so dass sie mit ihren 10 Jahren neu gehen lernen musste!

Bei Liese kam das Fieber immer wieder, weshalb sie auch viel länger liegen musste. Sie musste im Rollstuhl gefahren werden. Und als wir zur Erholung zu unserer Großmutter Reichenbach fuhren, wurde sie auf dem Bahnhof in Frankfurt a. O., wo wir nach Beuthen a. O. umsteigen mussten, ohnmächtig, weil sie das laute Pfeifen der Lokomotive nicht vertrug.

Später fuhren wir dann noch mit Vater und Mutter nach Schreiberhau im Riesengebirge, wo Mally, Liese und ich beim Spazierengehen immer 3 – stimmige Lieder sangen; auch in Beuthen hatten wir das getan…

1904: Geburt von Lothar

Liese: „Erst als nach 3 Jahren, am 29. Februar 1904, noch ein Sohn geboren wurde, Lothar, brach sie merkwürdigerweise zusammen und musste in ein Nervensanatorium gebracht werden. Die Verlobung meiner ältesten Schwester Mally, 17 Jahre alt, mit dem Leutnant Fedor von Bock im Dezember 1904 riss meine Mutter aus ihrer Depression, und sie kam wieder gesund in unsere Arme.“

1910: Tod von Mally

Tante Maritta: „Inzwischen war am10. Dezember 1910Mally, als Mutter eines 4 ¼ jährigen Töchterchens (jetzt Ursula von Kreisler) innerhalb von 8 Tagen wiederum an Typhus gestorben (eine Sektion ergab, dass ein Bazillus vom Jahre 1901 sich erhalten hatte!!),…“

Im Folgenden erzähle ich Episoden aus

Margas, (Margas Schrifttyp)

Lieses, (Lieses Schrifttyp) und

Marittas Sicht (Marittas Schrifttyp).

1. Roby ist gemein! (April 1877)

Was hätte sich die elfjährige Marga eine liebe Schwester gewünscht! Stattdessen hatte sie einen großen Bruder, der einfach nur gemein und hochnäsig zu ihr war. Weinend saß das Mädchen in ihrem hochherrschaftlichen Zimmer. Da ging die Türe auf und Ännchen, ihr Kindermädchen, stand in der Schwelle. Sie stand da mit ihren breiten Hüften und dem kugelrunden Gesicht, in dem die Wangenknochen hervortraten, wie ein Fels in der Brandung. Marga rannte auf diese geliebte Person zu und umarmte sie stürmisch. Dabei kullerten ihr die Tränen wie ein nie aufzuhaltender Sturzbach aus den Augen. Ännchen lächelte, streichelte Marga das blondbraune Lockenköpfchen, schaute ihren schönen Zögling an und sagte: „Das Fräulein hat sein Gemüt wieder erhitzt. Was war es denn diesmal? Lass uns Platz nehmen!“ Sie schloss die Türe, rückte den weißlackierten Biedermeierstuhl zurecht und setzte sich direkt neben das kleine Fräulein, das vor lauter Schluchzen erstmal nichts hinausbringen konnte. Ännchen sagte leise: „Wenn du fertig bist mit Weinen, erzählst du´s mir, gell. Wie immer!“

Das Kind schaute zu der Person empor, die ihr in ihrer Lage die höchste Sicherheit und Güte gab und sagte schluchzend: „Der Roby, und die Mama, die mögen mich nicht. Es ist so schrecklich!“ Ännchen wartete in Ruhe ab, sie ließ den Tränen des Kindes freien Lauf. Nach einer Weile sagte sie: „Und, was ist passiert, mein Kind?“ Da sammelte Marga sich und es sprudelte nur so aus ihr heraus, wie ein Bach, der über große und kleine Steine springt: „Ich habe bei dem verhassten Hauslehrer einfach nichts verstanden. Alles, was er mir dozierte, über Bismarcks Politik, über den Cäsar damals bei den Griechen… oder waren es die Römer…?“.

Sie strich sich die Haare aus der Stirn: „ Davon verstehe ich einfach nichts. Das ist mir viel zu schwer. Da beschwerte sich der Lehrer bei Mama´, dass ich so dumm wäre und es keinen Zweck hätte mit mir. Und Roby war dabei und hat das alles gehört und sich gefreut! Ja, er ist der Lieblingsschüler von Herrn Eschensund,. Der schmeichelte dem Roby, wie klug er sei und Roby betonte, wie gelehrt der Lehrer wäre. Es war entsetzlich, nicht auszuhalten. Stell dir vor, Ännchen, auch Mamá stimmte zu, dass sie lieber das viele Geld einsparen wolle, das sie für mich bei Herrn Eschensund ausgäbe und sie wolle lieber die Stunden dem begabten Roby gönnen. Ich wäre eine Geldverschwendung!“ Sie weinte wieder los. Das Weinen war aber leichter, weniger verkrampft, es floss so dahin, in ruhigeren Bahnen, seit sie der geduldigen Zuhörerin ihr Leid geklagt hatte. Ännchen legte Margas Kopf in ihren Schoß und wiegte ihn langsam hin und her. Bis das Weinen versiegte. Dann sagte Ännchen liebevoll: „Liebes, was ist denn daran so schlimm?“ Marga reckte ihren Kopf hoch, schaute die Kinderfrau erstaunt an und sagte: „Weil alle mich dumm finden und ich bald selber nicht weiß, ob ich nicht ne dumme Gans bin!“ Sie wollte gerade wieder losweinen, als Ännchen ihr ins Wort fiel: „Über das Dummsein sprechen wir noch. Auf der anderen Seite bist du endlich den Eschensund los, bei dem du dich immer gequält hast. Er liegt dir nicht und nun brauchst du ihn nie mehr ertragen. Das ist doch gut, oder?“ Marga nickte erstaunt, dann fiel ihr ein: „Und der Roby, der Roby, der darf öfter bei ihm haben!“ Sie verzog ihr hübsches Mündchen zu einem Schmollen. Ännchen sagte: „Der Roby macht das auch gerne. Lass ihm die Freude doch. Du kannst dir doch wünschen, noch mehr Klavierunterricht zu bekommen. Das kannst du und machst du gerne!“ Marga stockte und dann wechselte ihre Mimik blitzschnell von todtraurig nach hellfroh. Sie strahlte Ännchen an, sprang auf, fiel ihr um den Hals und rief: „Wenn ich dich nicht hätte, dann hätte ich mir glatt gewünscht, wieder zu dem verhassten Unterricht zu Herrn Eschensund zu gehen. Nur weil ich dem Roby das nicht gönne. Ach, Ännchen, wie gut, dass es dich gibt!“Ännchen lächelte das junge ungestümeMädel an und sagte: „So, mein Fräulein. Zunächst mal freust du dich, dass du nicht mehr Politik und Geschichte lernen musst. Und dann schaust du mal ganz in Ruhe, wie du mehr Klavierunterricht bekommen kannst.“ Marga rief erregt:“Ist doch ganz einfach. Ich gehe zu Mamá und sage ihr, dass Roby mehr Unterricht hat und ich will auch mehr Unterricht haben. Bei Frau Klara!“ Ännchen lachte: „Da macht deine Mamá mit? Ich glaube nicht. Überrede lieber Frau Klara, dass sie der Mamá vorschlagen soll, dass du mehr Unterricht bei ihr hast. Es ist klüger, es so zu versuchen.“ „Ja, Ännchen, so mache ich das!“, jubelte Marga. Die treue Seele verließ das Zimmer nicht ohne anzumerken: „Das gnädige Fräulein wäscht sich jetzt die Tränen vom verweinten Gesichtchen und dann kann die Sonne wieder scheinen!“ Marga jauchzte, rannte ins Badezimmer und ließ kühles Wasser über ihr erhitztes Gesicht rinnen. Wie gut tat das und wie gut war das Ännchen! Marga sang vor Freude.

2. Ännchen muss gehen (Mai 1880)

Marga saß weinend auf ihrem zierlichen Biedermeierstuhl. Die Sonne schien in das Zimmer mit der hohen stuckumsäumten Decke und schaute erschrocken auf das hübsche junge Mädchen, das so bittere Tränen vergoss. Der Backfisch hatte ein weißes Rüschenkleid an, die lockigen dunkelblonden Haare fielen wellenförmig auf ihre Schultern und Rücken und spiegelten die Erschütterung des Mädchens wider, die das Schluchzen gar nicht mehr abstellen konnte.

Ihr Vater, ein hochgewachsener ihr wohlgesonnener Mann, trat in ihr Zimmer ein, legte seine Hand auf den Rücken des verzweifelten Kindes und fragte sanft: „Was hat mein Töchterchen denn? Wieso muss es denn so herzzerbrechend weinen?“ Marga hob das schmale tränengeschwollene Gesicht zu dem geliebten Papá hinauf und sagte tränenerstickt: „Ich kann es einfach nicht aushalten, dass das Ännchen mich verlässt! Es ist so schrecklich!“ Der Vater seufzte tief und wusste nicht so recht, wie er dem Gefühlsausbruch der Tochter begegnen sollte. Er antwortete: „Sei ruhig, mein Liebes. Tränen stehen dir nicht. Lachen macht dich schön. Freu dich doch einfach an den schönen Tagen, die du mit deinem Ännchen hattest!“ Marga schluchzte auf: „Papá, ich versuche es ja. Aber es will einfach nicht gelingen. Ich schaffe es nicht!“ Der Papá beeilte sich zu sagen: „Marga, das musst du lernen. Abschiednehmen gehört im Leben dazu!“ Dann zog er sich aus dieser unangenehmen Situation zurück. Er murmelte irgendwas mit Bilanzen vor sich hin und war weg, weg aus dem Zimmer von Margas Trauer.

Diese brach in haltloses Weinen aus. Es war wie ein Weinkrampf, der sie schüttelte. Sie liebte ihren Vater. Aber sowas verstanden Männer eben nicht. Wem sollte sie sich nur anvertrauen, in dem herrschaftlichen Haus, in dem sie lebten, mit all den Bediensteten, zu denen sie außer zu Ännchen keine Beziehung hatte? Der Mutter, der konnte sie nicht vertrauen. Es gab keinen Menschen, der ihr mehr das Herz brach als die Mutter. Hatte sie doch letztlich beim Gutenachtsagen zu ihr gesagt: „Einem groben Frauenzimmer sage ich nicht gute Nacht!“ Da konnte sie sich aber immer bei Ännchen ausweinen. Es war zum Verzweifeln. Außerdem hegte Marga den leichten Verdacht, dass die Mutter ihr Ännchen herausgeekelt hat, weil sie so nah, zu nah, zu ihrer Tochter stand. Das durfte nicht sein. Der Verdacht erhärtete sich aber nicht. Alle sagten, das Ännchen wolle in ihre schöne Heimat zurück. Auch das Kindermädchen sagte es zu ihr.

Marga horchte: Sie hörte das Ännchen in seinem Dachstübchen seine Habseligkeiten zusammensuchen. Marga stürzte in Ännchens Zimmer, warf sich auf deren Koffer und flehte das Kindermädchen an: „Bitte, Ännchen, mein Liebes, bitte, geh nicht weg. Bleib bei mir. Du bist doch die einzige in der ganzen Welt, der ich vertraue!“ Sie fiel auf die Knie und hob ihre Arme flehend zu der mütterlichen Freundin empor. Ännchen, von kräftigem Körperbau, half dem jungen Fräulein hoch, setzte sie aufs Bett und sagte: „Gnädiges Fräulein. Ihr werdet jetzt erwachsen. Ich selbst will zurück zu meiner Mutter. Die ist sehr krank und braucht meine Hilfe. Du würdest doch auch so handeln?“

Marga war verzweifelt. Sie würde Ännchen nie verlassen, um ihre Mutter zu pflegen! Sie liebte die Mutter doch nicht! Marga bekam Gewissensbisse. Sie musste ihre Mutter doch lieben. Immerhin hat sie sie geboren. Wie gut hatte Ännchen es, die liebte ihre Mutter! Marga schluckte die Tränen herunter und sagte tonlos: „ Ja, das würde ich auch tun.“ Ännchen trocknete dem Kind mit ihrer Schürze die Tränen und sagte: „Lauf spielen, sticken, das Leben genießen. Es ist auch ohne mich wunderbar!“ Sie lachte das Mädchen liebevoll an.

Marga drehte sich abrupt um und stürzte aus dem Zimmer, direkt in den großen Busen ihrer Mutter. Die rief:„Hallo kleines Fräulein. Warum so hastig? Hast du den Seelenschmerz überwunden? Immerhin bleibe ich dir doch erhalten, mein Liebes!“, fügte sie zuckersüß hinzu. Sie hielt Margas Gesicht am Kinn fest und sah ihr in die Augen. Marga schloss die Augen und unterdrückte ein Schluchzen. Das hielt sie nicht aus. Sie konnte sich nicht mehr zusammennehmen! Marga fiel in Ohnmacht, sackte in sichzusammen, unter dem strengen Griffder Mutter.

Sie erwachte auf dem Chaiselongue der Mutter, die ihr gemeinsam mit der Gouvernante Luft zufächelte. Das war so unerträglich, dass das Kind hochsprang, sich zu einem Lächeln zwang und mit erstickter Stimme rief: „Mir geht´s gut. Ich gehe meine Stickereien zu Ende machen.“ Die Mama seufzte erleichtert auf und sagte: „Geh du und lass endlich diese Sentimentalitäten um das Ännchen sein! Immerhin ist sie nur eine Dienstmagd!“ Marga war schon aus dem Zimmer gestürmt und verkroch sich in ihrem Zimmer. Sie konnte die Sonne nicht ertragen! Wie konnte die so fröhlich scheinen, wo ihr eher nach Regen und Sturm zumute war? Sie schloss die Fensterläden und legte sich aufs Bett. Ein rasender Kopfschmerz suchte sie heim. Sie wollte nur noch schlafen, nichts mehr mitkriegen.

Als sie am Abend zum Abendbrot erwachte und da erschien, würgte sie nur ein trocknes Brot herunter und verzog sich wieder in ihr dunkles Gemach. Aber sie konnte nicht einschlafen. Immer wieder erschien ihr das Bild des geliebten Ännchens und schaute sie traurig an. Sie wälzte sich im Bett hin und her. Mitten in der Nacht sprang sie auf und rannte in Ännchens Zimmer. Das war leer. Absolut leer. Die Freundin war abgereist, ohne ihr Adieu zu sagen! Das hat bestimmt die Mutter angeordnet! Alles brach in des jungen Mädchens Welt zusammen. Ihr Leben war nun öde und leer. Die ganze Nacht spürte sie diese Leere und schlief erschöpft mit rasenden Kopfschmerzen gegen Morgen ein.

3. Die Strafe (April 1881)

Marga hörte ein entsetzliches Schreien. Es war die Stimme von Ida, dem Zimmermädchen. Sie eilte dem Schreien nachund stand vor der verschlossenen Küchentüre. Zitternd hörte sie dumpfe Schläge und das Geschrei von Ida. Dann hörtesie die Stimme der Mutter: „Das sind Mandeln vom Feinsten. Sie sind weggekommen! Ich hab´s genau gesehen, wie du sie in den Mund gesteckt hast. In der Tonne ist kaum noch was drinnen und sie war ganz voll! Du Luder! Ich will dich in meinem Haus nicht mehr sehen! Such dir eine andere Stelle und klaue da, du Elster! Wer weiß, was du noch geklaut hast!“ Dann wurde die Türe aufgerissen und Margas Mamá stürmte empört an der Tochter vorbei, die diese in ihrer kochenden Wut gar nicht bemerkte.

Marga näherte sich dem wimmernden Wesen, das da zusammengekrümmt auf dem Küchentisch lag. Gut, Marga mochte Ida auch nicht, irgendwie war die ihr unsympathisch. Aber alle Kreatur, die litt zog sie magisch an, und Marga überschüttete sie mit ihrem Mitleid. „Ida, Ida!“, rief sie, hielt ihre Hand auf die Schulter des Mädchens und wartete. Ida fing an zu schluchzen und rief: „Ich hatte so nen Hunger. Man kriegt in diesem reichen Haus zu wenig. Deshalb habe ich mir ab und an eine Mandel genommen!“ Haltlos weinte sie los. Da empörte sich Marga über die Mutter und sagte: „Ich gehe zur Mutter und halte Fürsprache für dich, Ida.“ Das Mädchen wischte sich mit der Schürze die Tränen ab und richtete sich auf. Marga verließ erregt die Küche.

Sie fand Mutter rauchend im Chaeselongue liegen und sich behaglich ausruhen. Wie konnte Mutter nach der Tat so gut gelaunt da liegen, empörte sich die Tochter innerlich. Sie rief: „Mutter, die Ida hatte doch nur Hunger! Sie kriegt nicht genug zu essen!“ Marga weinte los. Da sprang die Mutter wie von der Tarantel gestochen in die Höhe und schimpfte: „Das darf doch wohl nicht wahr sein! Dass mein Fräulein Tochter sich mit einer Diebin verbindet! Deine liebe Ida hat die ganzen wertvollen Mandeln, die ich extra teuer aus Italien habe kommen lassen, aufgegessen! Außerdem ist Butter verschwunden und das teure Safran aus Marokko! Das Mädchen ist eine Elster. Es würde mich auch nicht wundern, wenn sie meine Brillantbrosche gestohlen hätte. Sie ist spurlos verschwunden! Und du, meine Tochter, du verteidigst eine Diebin, schäm dich!“ Marga starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sie rief: „Die Ida hat nur ab und zu mal eine Mandel gegessen! Vielleicht hast du die anderen der Köchin zum Backen gegeben!“ Tränen des gerechten Zorns standen in Margas Augen. Die Mutter brauste auf. Sie steckte die Hände in die üppigen Hüften und schrie: „Jetzt reicht es aber! So ein unflätiges Ding und das will meine Tochter sein! Macht ihrer eigenen Mutter Vorwürfe, als ob sie kein Gehirn im Kopf hätte! Du gehst sofort auf dein Zimmer. Stubenarrest, 3 Tage!“ Marga war von der drohenden Geste der Mutter so eingeschüchtert, dass sie sich schnell in ihr Zimmer zurückzog. Die Mutter dampfte hinterher und schloss ab. Marga fand keinen Halt.

Was hatte sie falsch gemacht? Sie hat ein unschuldiges Mädchen verteidigt, der ihre Mutter den Prozess gemacht hatte. Mutter war so ungerecht zu der Ida, die jetzt auf der Straße saß und ungerecht zur Tochter, zu ihr. Ihre Mutter war rechthaberisch und schrecklich. Marga setzte sich an ihr geliebtes Tagebuch, dem sie alles anvertraute seit Ännchen gegangen war. Ihre geheimsten Sorgen und Nöte standen darinnen, obwohl sie immer wieder ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie dachte, sie müsse sich mehr zusammennehmen und dem Tagebuch nur die angenehmen Seiten des Lebens mitteilen. Aber irgendwie ging das nicht. Nach dem Schreiben setzte sie sich aufs Bett und weinte. Draußen regnete es. Sie schaute den Regen dankbar an. Der Himmel weinte, weil sie weinte. Und es leuchtete nicht die Sonne fröhlich herein, wo ihr Herz doch so betrübt war. Das sanfte Trommeln des Regens auf ihre zinnerne Fensterbank beruhigte sie langsam. Sie wusste genau, wenn sie groß wäre und selber Mutter, dann würde sie niemals ihr Dienstpersonal ärgern oder schlagen oder entlassen. Nein, sie würde sie freundlich behandeln. Dieser Gedanke ließ sie ein wenig zur Ruhe kommen.

4. Der Zoobesuch (Februar 1888)

Marga war bereits zwei Jahre verheiratet und hielt die kleine Tochter im Arm, die jetzt schon so flink wie ein Wiesel krabbeln konnte. Die Gouvernante Gertrude wollte, dass Mally nur in ihrem Kinderzimmer sein solle, weil sie sonst alles vollsabbere und sowieso nicht eine ungezügelte Freiheit leben solle. Der Salon war für dasKind strengstens verboten. Heute war aber ein Sonntag. Da hatte die gestrenge Gouvernante frei. Marga saß auf dem Bettrand und hatte das schreiende Töchterchen zu sich geholt.

Mit einiger Mühe hatte sie die Milch aufgewärmt und dem Kind das Fläschchen gegeben. Es hatte sein Bäuerchen gemacht und strahlte seine Mama an, dass es Marga das Herz erwärmte. Ach, was wünschte sie sich, sie wäre eine einfache Frau und dürfte ihr Kind nur für sich haben und es wären zwischen ihr und dem Kind nicht die Dienstboten, die offensichtlich ein größeres Recht auf Erziehung hatten als sie, die Mutter! Ihre Mutter hatte zu ihr gesagt: „Sei doch froh, Kind, genieß das. Du bist frei und kannst wieder ausgehen!“ Aber danach war Marga nicht zumute. Sie wollte ihr Kind genießen. Ausgehen konnte sie immer noch.

Wozu hatte sie denn sonst ein Kind bekommen?

Die Sonntage waren ihr ausgesprochen wichtig. Da war sie die einzige Person, die für Mally und ihren Mann Dori da war. Und das war gut so.

Am heutigen Tag war es draußen bitterkalt. Es hatte nochmal gefroren und alles war glatt. Marga war froh, im warmen Haus zu sein. Allerdings war das kalte Wetter dazu geeignet, dass das Kind sich abhärten könnte. Marga wusste, dass das ganz wichtig war, damit die Kinder gesund blieben. Also zog sie das kleine Wesen warm an, hüllte es in Wolle und machte sich mit ihm im Kinderwagen auf zum Tierpark.

Sie schob den Kinderwagen eigenhändig durch die wohlgepflegte Anlage und fror mächtig. Dann kam die Sonne heraus und schickte ihre winterlichen kalten Strahlen durch die vereisten Bäume und brachte sie und den Schnee auf der Wiese zum Glitzern wie tausend Diamanten. Marga hielt den Wagen ein wenig schräg und zeigte dem Kind das Schauspiel. Das schaute mit rotgefrorenem Näschen lachend diese herrlich glitzernde Welt an. Marga war selig, den Ausflug mit Mally machen zu können. Am längsten hielten sie sich vor dem Gehege des Bären auf. Marga nahm Mally auf den Arm und zeigte ihr den riesigen Teddybären, der sich faul in der Ecke des Käfigs räkelte. Als das Kind laut frohlockend das Tier beschaute, erhob sich das riesige Tier und kam auf die beiden zu. Marga war entzückt, aber Klein-Mally brach in ein herzzerreißendes Schreien aus. Marga legte das Kind erschreckt zurück in den Kinderwagen und verließ den Ort des Schreckens. Sie sagte: „Mally, war dir der Bär zu groß? Hat dich das so erschreckt? Der Bär tut dir nichts, der kann nicht aus dem Käfig raus!“ Mally schrie immer lauter und war durch nichts zu beruhigen. Hilflos sah Marga sich um, ob ihr jemand einen Rat geben könnte. Aber da war keiner. Sie erntete mit dem schreienden Kind nur Kopfschütteln, das wohl ausdrücken sollte, wie unfähig sie die Mutter fanden, Ihr Kind zu beruhigen.

Marga floh in langen Schritten nach Hause. Als sie mit dem schreienden Bündel die Treppe hinaufgestiegen war, erschien ihr Gatte in der Türe, lachte sie an und sagte: „Herrje, Marga, was ist denn mit euch zweien los? Warum gibt es so ein Geschrei?“ Marga sagte empört: „Weiß ich auch nicht. Der Bär im Zoo hat Mally so erschreckt.“ Marga war sehr aufgeregt. Da sagte Dori: „Vielleicht war es gar nicht der Bär. Schau doch mal nach, ob das Kind nicht die Windeln voll hat.“ Dankbar nahm Marga den Rat ihres Ehemannes an und wickelte das Kind. Als sie die Windel öffnete, erblickte sie, dass alles vollgemacht war und das kindliche Popöchen rot brannte und leuchtete. Marga machte sich Vorwürfe, nicht genug aufgepasst zu haben auf den kleinen Allerwertesten des Kindes. Sie strich vorsichtig eine Wundsalbe, die sie von ihrer Großmama hatte, auf diese Stellen ein. Die Heilpflanze Arnika war darinnen enthalten. Sie wusste, das würde helfen. Kurze Zeit später war Klein-Mally wieder friedlich und lachte die Mutter an. Marga wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte lachend zu Dori: „Was ist das für eine schwere Aufgabe, Mutter zu sein!“ Beide setzten sich in den Salon auf den Boden und spielten mit Klein-Mally Ball. Jeder Wurf war begleitet vom hellem Kinderlachen und Rufen und Juchzern. Marga war so glücklich!

5. Die durchwachte Nacht (Juni 1888)