Lebenserinnerungen – Band 220e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski - Werner von - E-Book

Lebenserinnerungen – Band 220e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski E-Book

Werner von

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Beschreibung

Der aus einer kinderreichen Familie stammende und im Westen Mecklenburgs aufgewachsene deutsche Elektroingenieur Werner von Siemens schrieb kurz vor dem Ende seines Lebens seine Erinnerungen an sein abwechslungsreiches Leben als preußischer Offizier, Erfinder und Unternehmer auf, die in diesem Buch zusammen mit seiner Biographie und mit vielen Bildern und Zusatzinformationen neu veröffentlicht werden. Seine Schilderungen lesen sich teilweise spannend wie ein Krimi. – Rezession: Ich bin immer wieder begeistert von der "Gelben Buchreihe". Die Bände reißen einen einfach mit. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg herausgegebene Bücher sind absolute Highlights. Dieser Band macht da keine Ausnahme. Sehr interessante und abwechslungsreiche Themen aus verschiedenen Zeit-Epochen, die mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt haben! Man kann nur staunen, was der Mann in seinem Ruhestand schon veröffentlicht hat. Alle Achtung!

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Seitenzahl: 503

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Werner von

Lebenserinnerungen – Band 220e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski

Band 220e in der gelben Buchreihe

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort des Herausgebers

Der Autor Werner von Siemens

Werner von Siemens: Lebenserinnerungen

Harzburg, im Juni 1889

Deutsch-Dänischer Krieg in Schleswig-Holstein

Wiederaufnahme meiner wissenschaftlich-technischen Tätigkeit in Berlin

Geschäfte mit Russland mit dem Bau von Telegrafenleitungen

Harzburg, im Juni 1890

Meine politische Tätigkeit

Weiterentwicklung meiner Geschäfte

Harzburg, im Juni 1891

Charlottenburg, im Juni 1892

Werner von Siemens‘s Biografie

Siemens – Firmengeschichte

Die maritime gelbe Buchreihe

Weitere Informationen

Impressum neobooks

Vorwort des Herausgebers

Vorwort des Herausgebers

Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuß der Hamburger Michaeliskirche.

Dabei lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.

Im Februar 1992 entschloss ich mich, meine Erlebnisse mit den See­leuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzu­tragen. Es stieß auf großes Interesse. Mehrfach wurde in Leser-Reaktio­nen der Wunsch laut, es mögen noch mehr solcher Bände erscheinen. Deshalb folgten dem ersten Band der „Seemannsschicksale“ weitere.

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2023 Jürgen Ruszkowski

Ruhestands-Arbeitsplatz

Hier entstehen die Bücher und Webseiten des Herausgebers

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Der Autor Werner von Siemens

Der Autor Werner von Siemens

https://www.projekt-gutenberg.org/autorn/namen/siemens.html

Ernst Werner Siemens, ab 1888 von Siemens, * 13. Dezember 1816 in Lente, Königreich Hannover, heute Gehrden, Niedersachsen – † 6. Dezember 1892 in Charlottenburg, war ein deutscher Erfinder, Elektroingenieur und Industrieller.

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Ernst Werner von Siemens wurde am 13. Dezember 1816 in Lente, Niedersachsen, geboren und starb am 6. Dezember 1892 in Charlottenburg. Er war ein deutscher Erfinder, Elektroingenieur und Industrieller. Er entdeckte das elektrodynamische Prinzip und gilt als Begründer der modernen Elektrotechnik, speziell der elektrischen Energietechnik.

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Werner von Siemens: Lebenserinnerungen

Werner von Siemens: Lebenserinnerungen

https://www.projekt-gutenberg.org/siemens/lebens/lebens.html

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1919 im Verlag von Julius Springer in Berlin erschienen

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Harzburg, im Juni 1889

Harzburg, im Juni 1889

Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn's hochkommt, so sind's achtzig Jahre“ – das ist eine bedenkliche Mahnung für jemand, der sich dem Mittel dieser Grenzwerte nähert und noch viel zu tun hat! Man kann sich zwar im Allgemeinen damit trösten, dass andere das tun werden, was man selbst nicht mehr fertig bringt, dass es also der Welt nicht dauernd verloren geht; doch gibt es auch Aufgaben, bei denen dieser Trost nicht gilt, und für deren Lösung kein anderer eintreten kann. Hierher gehört die Aufzeichnung der eigenen Lebenserinnerungen, die ich meiner Familie und meinen Freunden versprochen habe. Ich gestehe, dass mir der Entschluss zur Ausführung dieser Arbeit recht schwer geworden ist, da ich mich weder historisch noch schriftstellerisch begabt fühle und stets mehr Interesse für Gegenwart und Zukunft als für die Vergangenheit hatte. Dazu kommt, dass ich kein gutes Gedächtnis für Namen und Zahlen habe, und dass mir auch viele Ereignisse meines ziemlich wechselvollen Lebens im Lauf der Jahre entschwunden sind. Andererseits wünsche ich aber, meine Bestrebungen und Handlungen durch eigene Schilderung festzustellen, um zu verhindern, dass sie später verkannt und falsch gedeutet werden und glaube auch, dass es für junge Leute lehrreich und anspornend sein wird, aus ihr zu ersehen, dass ein junger Mann auch ohne ererbte Mittel und einflussreiche Gönner, ja sogar ohne richtige Vorbildung, allein durch seine eigene Arbeit sich emporschwingen und Nützliches leisten kann. Ich werde nicht viel Mühe auf die Form der Darstellung verwenden, sondern meine Erinnerungen niederschreiben, wie sie mir in den Sinn kommen, ohne andere Rücksichten dabei zu nehmen als die, dass sie mein Leben klar und wahr schildern und meine Gefühle und Anschauungen getreulich wiedergeben. Ich werde aber versuchen, zugleich auch die inneren und äußeren Kräfte aufzudecken, die mich auf meiner Lebensbahn durch Freud und Leid den erstrebten Zielen zuführten und meinen Lebensabend zu einem sorgenfreien und sonnigen gestaltet haben.

Hier in meiner abgelegenen Villa zu Harzburg hoffe ich die zu einem solchen Rückblick auf mein Leben nötige geistige Ruhe am besten zu finden, denn an den gewohnten Stätten meiner Arbeitstätigkeit, in Berlin und Charlottenburg, bin ich zu sehr von den Aufgaben der Gegenwart in Anspruch genommen, um ungestört längere Zeit der eigenen Vergangenheit widmen zu können.

* * *

Meine früheste Jugenderinnerung ist eine kleine Heldentat, die sich vielleicht deswegen meinem Gedächtnis so fest einprägte, weil sie einen bleibenden Einfluss auf die Entwicklung meines Charakters ausgeübt hat. Meine Eltern lebten bis zu meinem achten Lebensjahr in meinem Geburtsort Lente bei Hannover, wo mein Vater das einem Herrn von Lente gehörige „Obergut“ gepachtet hatte. Ich muss etwa fünf Jahre alt gewesen sein und spielte eines Tages im Zimmer meines Vaters (Christian Ferdinand Siemens. * 1787 in Wasserleben – † 1840 in Menzendorf. Er war Landwirt.), als meine drei Jahre ältere Schwester Mathilde laut weinend von der Mutter (Eleonore Henriette, geborene Deichmann, *1792 – † 1839) ins Zimmer geführt wurde. Sie sollte ins Pfarrhaus zu ihrer Strickstunde gehen, klagte aber, dass ein gefährlicher Gänserich ihr immer den Eintritt in den Pfarrhof wehre und sie schon wiederholt gebissen habe. Sie weigerte sich daher entschieden, trotz alles Zuredens der Mutter, ohne Begleitung in ihre Unterrichtsstunde zu gehen. Auch meinem Vater gelang es nicht, ihren Sinn zu ändern; da gab er mir seinen Stock, der ansehnlich größer war als ich selbst, und sagte: „Dann soll dich Werner hinbringen, der hoffentlich mehr Courage hat wie du.“ Mir hat das wohl zuerst etwas bedenklich geschienen, denn mein Vater gab mir die Lehre mit auf den Weg: „Wenn der Ganter kommt, so geh ihm nur mutig entgegen und haue ihn tüchtig mit dem Stock, dann wird er schon fortlaufen!“ Und so geschah es. Als wir das Hoftor öffneten, kam uns richtig der Gänserich mit hoch aufgerichtetem Hals und schrecklichem Zischen entgegen. Meine Schwester kehrte schreiend um, und ich hatte die größte Lust, ihr zu folgen, doch ich traute dem väterlichen Rat und ging dem Ungeheuer, zwar mit geschlossenen Augen, aber tapfer mit dem Stock um mich schlagend, entgegen. Und siehe, jetzt bekam der Gänserich Furcht und zog sich laut schnatternd in den Haufen der auch davonlaufenden Gänse zurück.

Es ist merkwürdig, welch tiefen, dauernden Eindruck dieser erste Sieg auf mein kindliches Gemüt gemacht hat. Noch jetzt, nach fast 70 Jahren, stehen alle Personen und Umgebungen, die mit diesem wichtigen Ereignis verknüpft waren, mir klar vor Augen. An dasselbe knüpft sich die einzige mir gebliebene Erinnerung an das Aussehen meiner Eltern in ihren jüngeren Jahren, und unzählige Male hat mich in späteren schwierigen Lebenslagen der Sieg über den Gänserich unbewusst dazu angespornt, drohenden Gefahren nicht auszuweichen, sondern sie durch mutiges Entgegentreten zu bekämpfen.

Mein Vater entstammte einer seit dem dreißigjährigen Krieg am nördlichen Abhang des Harzes angesessenen, meist Land- und Forstwirtschaft treibenden Familie. Eine alte Familienlegende, die von neueren Familienhistorikern allerdings als nicht erwiesen verworfen wird, erzählt, dass unser Urahn mit den Tillyschen Schaaren im dreißigjährigen Krieg nach Norddeutschland gekommen sei und Magdeburg mit erstürmt, dann aber eine den Flammen entrissene Magdeburger Bürgerstochter geheiratet habe und mit ihr nach dem Harz gezogen sei. – Wie schon die Existenz eines getreulich geführten Stammbaums, die in bürgerlichen Familien ja etwas Seltenes ist, beweist, hat in der Familie Siemens immer ein gewisser Zusammenhang obgewaltet. In neuerer Zeit trägt die alle fünf Jahre in einem Harz-Ort stattfindende Familienversammlung, sowie eine im Jahr 1876 begründete Familienstiftung dazu bei, diesen Zusammenhang der heute sehr ausgebreiteten Familie zu befestigen.

Wie die meisten Siemens war auch mein Vater sehr stolz auf seine Familie und erzählte uns Kindern häufig von Angehörigen derselben, die sich im Leben irgendwie hervorgetan hatten. Ich erinnere mich aber aus diesen Erzählungen außer meines Großvaters mit seinen fünfzehn Kindern, von denen mein Vater das jüngste war, nur noch eines Kriegsrats Siemens, der eine gebietende Stellung im Rat der freien Stadt Goslar innehatte, gerade in der Zeit, als die Stadt ihre Reichsunmittelbarkeit verlor.

Goslar um 1895

Mein Großvater hatte den Gutsbesitz des Reichsfreiherrn von Grote, bestehend aus den Gütern Schauen und Wasserleben am nördlichen Fuß des Harzes gepachtet. Wasserleben war der Geburtsort meines Vaters. Unter den Jugendgeschichten, die der Vater uns Kindern gern erzählte, sind mir zwei in lebhafter Erinnerung geblieben.

Es werden jetzt etwa 120 Jahre her sein, als der Duodezhof des reichsunmittelbaren Freiherrn von Grote durch die Ansage überrascht wurde, dass der König Friedrich II. von Preußen auf der Reise von Halberstadt nach Goslar das reichsfreiherrliche Gebiet überschreiten wolle. Der alte Reichsfreiherr erwartete den mächtigen Nachbar gebührender Weise mit seinem einzigen Sohn an der Spitze seines aus zwei Mann bestehenden Kontingentes zur Reichsarmee und begleitet von seinen Vasallen – meinem Großvater mit seinen Söhnen, sämtlich hoch zu Ross. Als der alte Fritz mit seiner berittenen Eskorte sich der Grenze näherte, ritt der Reichsfreiherr ihm einige Schritte entgegen und hieß ihn in aller Form „in seinem Territorio“ willkommen.

Friedrich II von Preußen

Der König, dem die Existenz dieses Nachbarreiches vielleicht ganz entfallen war, schien überrascht von der Begrüßung, erwiderte den Gruß dann aber ganz formell und sagte zu seinem Gefolge gewandt: „Messieurs, voilà deux souverains qui se rencontrent!“ Dieses Zerrbild alter deutscher Reichsherrlichkeit ist mir stets in Erinnerung geblieben und hat schon frühzeitig die Sehnsucht nach künftiger nationaler Einheit und Größe in uns Kindern angefacht.

An das geschilderte Ereignis schloss sich bald ein anderes von tiefer gehender Bedeutung für den Groteschen Miniaturstaat. Mein Vater hatte vier Schwestern, von denen die eine, Namens Sabine, sehr schön und liebenswürdig war. Das erkannte bald der junge Reichsfreiherr und bot ihr Herz und Hand. Es ist mir nicht bekannt geworden, welche Stellung der alte Freiherr dazu eingenommen hatte; bei meinem Großvater fand der junge Herr aber entschiedene Ablehnung. Dieser wollte seine Tochter nicht in eine Familie eintreten lassen, die sie nicht als ihresgleichen anerkennen würde und hielt fest an der Ansicht seiner Zeit, dass Heil und Segen nur einer Verbindung von Gleich und Gleich entsprieße. Er verbot seiner Tochter jeden weiteren Verkehr mit dem jungen Freiherrn und beschloss ihr dies durch Entfernung vom elterlichen Haus zu erleichtern. Doch die jungen Leute waren offenbar schon vom Geist der Neuzeit ergriffen, denn am Morgen der geplanten Abreise erhielt mein Großvater die Schreckenskunde, dass der junge Freiherr seine Tochter während der Nacht entführt habe. Darob große Aufregung und Verfolgung des entflohenen Paares durch den Großvater und seine fünf erwachsenen Söhne. Die Spur der Flüchtigen wurde bis Blankenburg verfolgt und führte dort in die Kirche. Als der Eingang in diese erzwungen war, fand man das junge Paar am Altar stehend, wo der Pastor soeben die rechtsgültige Trauung vollzogen hatte.

Wie sich das Familiendrama zunächst weiter entwickelte, ist mir nicht mehr erinnerlich. Leider starb der junge Ehemann schon nach wenigen, glücklich verlebten Jahren seiner Ehe, ohne Kinder zu hinterlassen. Die Herrschaft Schauen fiel daher Seitenverwandten zu, freilich damit auch die Last, meiner Tante Sabine noch beinahe ein halbes Jahrhundert lang die gesetzliche reichsfreiherrliche Witwenpension zahlen zu müssen. Ich habe die liebenswürdige und geistereiche alte Dame zu Kölleda in Thüringen, wohin sie sich zurückgezogen hatte, als junger Artillerie-Offizier wiederholt besucht.

Werner Siemens als junger Artillerie-Offizier

„Tante Grote“ war auch im Alter noch schön und bildete damals den anerkannten Mittelpunkt unserer Familie. Auf uns junge Leute übte sie einen fast unwiderstehlichen Einfluss aus, und es war für uns ein wahrer Genuss, sie von Personen und Anschauungen ihrer für uns beinahe verschollenen Jugendzeit sprechen zu hören.

Mein Vater war ein kluger, hochgebildeter Mann. Er hatte die gelehrte Schule in Ilfeld am Harz und darauf die Universität Göttingen besucht, um sich gründlich für den auch von ihm gewählten landwirtschaftlichen Beruf vorzubilden. Er gehörte mit Herz und Sinn dem Teile der deutschen Jugend an, der, unter den Stürmen der großen französischen Revolution aufgewachsen, für Freiheit und Deutschlands Einigung schwärmte. Einst wäre er in Kassel beinahe den Schergen Napoleons in die Hände gefallen, als er sich den schwachen Versuchen schwärmender Jünglinge anschloss, die nach der Niederwerfung Preußens noch Widerstand leisten wollten. Nach dem Tod seines Vaters ging er zum Amtsrat Deichmann nach Poggenhagen bei Hannover, um die Landwirtschaft praktisch zu erlernen. Dort verliebte er sich bald in die älteste Tochter des Amtsrats, meine geliebte Mutter Eleonore Deichmann, und heiratete sie trotz seiner Jugend – er war kaum 25 Jahre alt – nachdem er die Pachtung des Gutes Lente übernommen hatte.

Zwölf Jahre lang führten meine Eltern in Lente ein glückliches Leben. Leider waren aber die politischen Verhältnisse Deutschlands und namentlich des wieder unter englische Herrschaft gekommenen Landes Hannover für einen Mann wie meinen Vater sehr niederdrückend. Die englischen Prinzen, die damals in Hannover Hof hielten, kümmerten sich nicht viel um das Wohlergehen des Landes, das sie wesentlich nur als ihr Jagdgebiet betrachteten. Daher waren auch die Jagdgesetze sehr streng, so dass allgemein behauptet wurde, es wäre in Hannover weit strafbarer, einen Hirsch zu töten als einen Menschen! Eine Wildschädigung durch unerlaubte Abwehrmittel, deren mein Vater angeklagt wurde, war auch der Grund, warum er Hannover verließ und sich in Mecklenburg eine neue Heimat suchte.

Das Obergut Lente liegt an einem bewaldeten Bergrücken, dem Benter Berg, der mit dem ausgedehnten Deistergebirge in Zusammenhang steht. Die Hirsche und Wildschweine, die für die prinzlichen Jagden geschont wurden und ihrer Unverletzlichkeit sicher waren, besuchten in großen Schaaren die Lenter Fluren mit besonderer Vorliebe. Wenn auch die ganze Dorfschaft bemüht war, durch eine nächtliche Wächterkette die Saaten zu schützen, so vernichtete das in Masse hervorbrechende Wild doch oft in wenigen Stunden die auf die Arbeit eines ganzen Jahres gebauten Hoffnungen.  Während eines strengen Winters, als Wald und Feld dem Wild nicht hinlängliche Nahrung boten, suchte es diese oft in ganzen Rudeln in den Dörfern selbst. Eines Morgens meldete der Hofmeister meinem Vater, es sei ein Rudel Hirsche auf dem Hof; man habe das Tor geschlossen, und er frage an, was mit den Tieren geschehen solle. Mein Vater ließ sie in einen Stall treiben und schickte einen expressen Boten an das Königliche Ober-Hof-Jägeramt in Hannover mit der Anzeige des Geschehenen und der Anfrage, ob er ihm die Hirsche vielleicht nach Hannover schicken solle. Das sollte ihm aber schlecht bekommen! Es dauerte nicht lange, so erschien eine große Untersuchungskommission, welche die Hirsche in Freiheit setzte und während einer mehrtägigen Kriminaluntersuchung das Faktum feststellte, dass den Hirschen Zwang angetan sei, als man sie wider ihren Willen in den Stall trieb. Mein Vater musste sich noch glücklich schätzen, mit einer schweren Geldstrafe davonzukommen.

Es ist dies ein kleines Bild der damaligen Zustände der „Königlich Großbritannischen Provinz Hannover“, wie meine lieben Landesleute ihr Land gern mit einem gewissen Stolz nannten. Doch auch in den übrigen deutschen Landen waren die Verhältnisse nicht allzu viel besser, trotz französischer Revolution und der glorreichen Freiheitskriege. Es ist gut, wenn die verhältnismäßig glückliche Jugend der heutigen Zeit mit den Leiden und oft hoffnungslosen Sorgen ihrer Väter hin und wieder die ihrigen vergleicht, um pessimistischen Anschauungen besser widerstehen zu können.

Die freieren Zustände, die mein Vater suchte, fand er in der Tat in dem zu Mecklenburg-Strelitz gehörigen Fürstentum Ratzeburg, wo er die großherzogliche Domäne Menzendorf auf eine lange Reihe von Jahren in Pacht erhielt. In diesem gesegneten Ländchen gab es außer Domänen und Bauerndörfern nur ein einziges adeliges Gut. Die Bauern waren damals zwar noch zu Frondiensten auf den Domänen verpflichtet, doch wurden diese schon in den nächsten Jahren nach unserer Übersiedelung abgelöst und der bäuerliche Grundbesitz von allen Lasten und auch fast allen Abgaben befreit.

Es waren glückliche Jugendjahre, die ich in Menzendorf mit meinen Geschwistern, ziemlich frei und wild mit der Dorfjugend aufwachsend, verlebte. Die ersten Jahre streiften wir älteren Kinder – meine Schwester Mathilde, ich und meine jüngeren Brüder Hans (Hans Siemens, * 1816 in Lete – † 1867 in Löbbau, war Glasfabrikant und Erfinder.) und Ferdinand (Ferdinand Siemens, * 1820 in Lete – † 1893 in Ppioantken, war Gutsbesitzer.) – frei und ungebunden durch Wald und Flur.

Unsern Unterricht hatte meine Großmutter, die seit dem Tod ihres Manns bei uns wohnte, übernommen. Sie lehrte uns lesen und schreiben und übte unser Gedächtnis durch Auswendiglernen unzähliger Gedichte. Vater und Mutter waren durch ihre wirtschaftlichen Sorgen und letztere auch durch die in schneller Folge anwachsende Schaar meiner jüngeren Geschwister zu sehr in Anspruch genommen, um sich viel mit unserer Erziehung beschäftigen zu können. Mein Vater war ein zwar herzensguter, aber sehr heftiger Mann, der unerbittlich strafte, wenn einer von uns seine Pflicht nicht tat, nicht wahrhaft war oder sonst unehrenhaft handelte. Furcht vor des Vaters Zorn und Liebe zur Mutter, der wir keinen Kummer machen wollten, hielt unsere kleine, sonst etwas verwilderte Schaar in Ordnung. Als erste Pflicht galt die Sorge der älteren Geschwister für die jüngeren. Es ging das so weit, dass die älteren mit bestraft wurden, wenn eins der jüngeren etwas Strafbares begangen hatte. Das lastete namentlich auf mir als dem ältesten und hat das Gefühl der Verpflichtung, für meine jüngeren Geschwister zu sorgen, schon früh in mir geweckt und befestigt. Ich maßte mir daher auch das Strafrecht über meine Geschwister an, was oft zu Koalitionen gegen mich und zu heftigen Kämpfen führte, die aber immer ausgefochten wurden, ohne die Intervention der Eltern anzurufen. Ich entsinne mich eines Vorfalls aus jener Zeit, den ich erzählen will, da er charakteristisch für unser Jugendleben ist.

Mein Bruder Hans und ich lagen mit oft günstigem Erfolg der Jagd auf Krähen und Raubvögel mit selbstgefertigten Flitzbogen ob, in deren Handhabung wir große Sicherheit erlangt hatten. Bei einem dabei ausgebrochenen Streit brachte ich das Recht des Stärkeren meinem jüngeren Bruder gegenüber zur Geltung. Dieser erklärte das für unwürdig und verlangte, dass der Streit durch ein Duell entschieden würde, bei dem meine größere Stärke nicht entscheidend wäre. Ich fand das billig, und wir schritten zu einem richtigen Flitzbogenduell nach den Regeln, die wir durch gelegentliche Erzählungen meines Vaters aus seiner Studentenzeit kannten. Zehn Schritte wurden abgemessen, und auf mein Kommando „los“ schossen wir beide unsere gefiederten Pfeile mit einer angeschärften Stricknadel als Spitze aufeinander ab. Bruder Hans hatte gut gezielt. Sein Pfeil traf meine Nasenspitze und drang unter der Haut bis zur Nasenwurzel vor. Unser darauf folgendes gemeinschaftliches Geschrei rief den Vater herbei, der den steckengebliebenen Pfeil herausriss und sich darauf zur Züchtigung des Missetäters durch Ausziehen seines Pfeifenrohres rüstete. Das widerstritt meinem Rechtsgefühl. Ich trat entschieden zwischen Vater und Bruder und sagte: „Vater, Hans kann nichts dafür, wir haben uns duelliert“. Ich sehe noch das verdutzte Gesicht meines Vaters, der doch gerechterweise nicht strafen konnte, was er selbst getan hatte und für ehrenhaft hielt. Er steckte auch ruhig sein Pfeifenrohr wieder in die Schwammdose und sagte nur: „Lasst künftig solche Dummheiten bleiben“.

Als meine Schwester und ich dem Unterricht der Großmutter (Henriette) Deichmann – geborene von Scheiter (* 1792 – † 1939), wie sie nie vergaß ihrer Unterschrift beizufügen – entwachsen waren, gab uns der Vater ein halbes Jahr lang selbst Unterricht. Der Abriss der Weltgeschichte und Völkerkunde, den er uns diktierte, war geistreich und originell und bildete die Grundlage meiner späteren Anschauungen. Als ich elf Jahre alt geworden war, ward meine Schwester in eine Mädchenpension nach der Stadt Ratzeburg gebracht, während ich die Bürgerschule des benachbarten Städtchens Schönberg von Menzendorf aus besuchte. Bei gutem Wetter musste ich den etwa eine Stunde langen Weg zu Fuß machen. Bei schlechtem Wetter waren die Wege grundlos, und ich ritt dann auf einem Pony zur Schule. Dies und meine Gewohnheit, Neckereien immer gleich zurückzuweisen, führte bald zu einer Art Kriegszustand mit den Stadtschülern, durch deren mir den Rückweg versperrenden Haufen ich mir in der Regel erst mit eingelegter Lanze – einer Bohnenstange – den Weg bahnen musste. Dieses Kampfspiel, bei dem mir die Bauernjungen meines Dorfs bisweilen zu Hilfe kamen, dauerte ein ganzes Jahr. Es trug sicher viel dazu bei, meine Tatkraft zu stählen, gab aber nur sehr mäßige wissenschaftliche Resultate.

Eine entschiedene Wendung meines Jugendlebens trat Ostern 1828 dadurch ein, dass mein Vater einen Hauslehrer engagierte. Die Wahl meines Vaters war eine außerordentlich glückliche. Der Kandidat der Theologie Sponholz war ein noch junger Mann. Er war hochgebildet, aber schlecht angeschrieben bei seinen geistlichen Vorgesetzten, da seine Theologie zu rationalistisch, zu wenig positiv war, wie man heute sagen würde. Über uns halbwilde Jungen wusste er sich schon in den ersten Wochen eine mir noch heute rätselhafte Herrschaft zu verschaffen. Er hat uns niemals gestraft, kaum jemals ein tadelndes Wort ausgesprochen, beteiligte sich aber oft an unseren Spielen und verstand es dabei wirklich spielend unsere guten Eigenschaften zu entwickeln und die schlechten zu unterdrücken. Sein Unterricht war im höchsten Grad anregend und anspornend. Er wusste uns immer erreichbare Ziele für unsere Arbeit zu stellen und stärkte unsere Tatkraft und unsern Ehrgeiz durch die Freude über die Erreichung des gesteckten Zieles, die er selbst dann aufrichtig mit uns teilte. So gelang es ihm schon in wenigen Wochen, aus verwilderten, arbeitsscheuen Jungen die eifrigsten und fleißigsten Schüler zu machen, die er nicht zur Arbeit anzutreiben brauchte, sondern vom Übermaß derselben zurückhalten musste. In mir namentlich erweckte er das nie erloschene Gefühl der Freude an nützlicher Arbeit und den ehrgeizigen Trieb, sie wirklich zu leisten. Ein wichtiges Hilfsmittel, das er dazu brauchte, waren seine Erzählungen. Wenn uns am späten Abend die Augen bei der Arbeit zufielen, so winkte er uns zu sich auf das alte Ledersofa, auf dem er neben unserem Arbeitstisch zu sitzen pflegte, und während wir uns an ihn schmiegten, malte er uns Bilder unseres eignen künftigen Lebens aus, welche uns entweder auf Höhepunkten des bürgerlichen Lebens darstellten, die wir durch Fleiß und moralische Tüchtigkeit erklommen hatten, und die uns in die Lage brachten, auch die Sorgen der Eltern – die besonders in jener für den Landwirt so schweren Zeit sehr groß waren – zu beseitigen, oder welche uns wieder in traurige Lebenslagen zurückgefallen zeigten, wenn wir in unserem Streben erlahmten und der Versuchung zum Bösen nicht zu widerstehen vermochten. Leider dauerte dieser glücklichste Teil meiner Jugendzeit nicht lange, nicht einmal ein volles Jahr. Sponholz hatte oft Anfälle tiefer Melancholie, die wohl zum Teil seinem verfehlten theologischen Beruf und Lebenslauf, zum Teil Ursachen entsprang, die uns Kindern noch unverständlich waren. In einem solchen Anfall verließ er in einer dunklen Winternacht mit einem Jagdgewehr das Haus und ward nach langem Suchen an einer entlegenen Stelle des Gutes mit zerschmettertem Schädel aufgefunden. Unser Schmerz über den Verlust des geliebten Freundes und Lehrers war grenzenlos. Meine Liebe und Dankbarkeit habe ich ihm bis auf den heutigen Tag bewahrt.

Der Nachfolger von Sponholz war ein ältlicher Herr, der schon lange Jahre in adeligen Häusern die Stelle eines Hauslehrers innegehabt hatte. Er war fast in allen Punkten das Gegenteil von seinem Vorgänger. Sein Erziehungssystem war ganz formaler Natur. Er verlangte, dass wir vor allen Dingen folgsam waren und uns gesittet benahmen. Jugendliches Ungestüm war ihm durchaus zuwider. Wir sollten die vorgeschriebenen Stunden aufmerksam sein und unsere Arbeiten machen, sollten ihm auf Spaziergängen gesittet folgen und ihn außerhalb der Schulzeit nicht stören. Der arme Mann war kränklich und starb nach zwei Jahren in unserem Haus an der Lungenschwindsucht. Einen anregenden und bildenden Einfluss hatte er auf uns nicht, und ohne die nachhaltige Einwirkung, die Sponholz auf uns ausgeübt, würden die beiden Jahre wenigstens für mich und meinen Bruder Hans ziemlich nutzlos vergangen sein. Bei mir war aber der Wille, meine Pflicht zu tun und Tüchtiges zu lernen, durch Sponholz so fest begründet, dass ich mich nicht irremachen ließ und umgekehrt den Lehrer mit mir fortriss. Es hat mir in späteren Jahren oft leidgetan, dass ich dem armen, kranken Mann so häufig die nötige Ruhe raubte, indem ich nach Schluss der Unterrichtszeit noch Stunden lang auf meinem Arbeitsplatz sitzen blieb und alle kleinen Mittel, die er anwendete, um mich los zu werden, unbeachtet ließ.

Nach dem Tod des zweiten Hauslehrers entschloss sich mein Vater, Bruder Hans und mich auf das Lübecker Gymnasium, die sogenannte Katharinenschule, zu bringen, und führte diesen Plan aus, nachdem ich in unserer Pfarrkirche zu Lübsee konfirmiert war.

Lübecker Katharinenschule

Pfarrkirche zu Lübsee – Foto: Niteshift

Beim Eintrittsexamen wurde ich nach Obertertia, mein Bruder nach Untertertia gesetzt. Wir kamen in keine eigentliche Pension, sondern bezogen ein Privatquartier bei einem Lübecker Bürger, bei dem wir auch beköstigt wurden. Mein Vater hatte so unbedingtes Vertrauen zu meiner Zuverlässigkeit, dass er mir auch das volle Aufsichtsrecht über meinen etwas leicht gesinnten Bruder gab, bei dem die frühere Wildheit so ziemlich wieder zum Durchbruch gekommen war, wie schon der Beiname „der tolle Hans“ zeigte, den er sich in der Schule erwarb.

Grundriss Lübecker Katharinenschule – Erdgeschoss

Die Lübecker Katharinenschule bestand aus dem eigentlichen Gymnasium und der Bürgerschule, die beide unter demselben Direktor standen und bis zur Tertia des Gymnasiums Parallelklassen bildeten. Das Gymnasium genoss damals hohes Ansehen als gelehrte Schule. Im Wesentlichen wurden auf ihm nur die alten Sprachen getrieben. Der Unterricht in der Mathematik war sehr mangelhaft und befriedigte mich nicht; ich wurde in diesem Gegenstand in eine höhere Parallelklasse versetzt, obschon ich bis dahin Mathematik nur als Privatstudium betrieben hatte, da beide Hauslehrer nichts davon verstanden. Dagegen fielen mir die alten Sprachen recht schwer, weil mir die schulgerechte, feste Grundlage fehlte. So sehr mich das Studium der Klassiker auch interessierte und anregte, so sehr war mir das Erlernen der grammatischen Regeln, bei denen es nichts zu denken und zu erkennen gab, zuwider. Ich arbeitete mich zwar in den beiden folgenden Jahren gewissenhaft bis zur Versetzung nach Prima durch, sah aber doch, dass ich im Studium der alten Sprachen keine Befriedigung finden würde und entschloss mich, zum Baufach, dem einzigen damals vorhandenen technischen Fach, überzugehen. Daher ließ ich in Sekunda das griechische Studium fallen und nahm stattdessen Privatstunde in Mathematik und Feldmessen, um mich zum Eintritt in die Berliner Bauakademie vorzubereiten. Nähere Erkundigungen ergaben aber leider, dass das Studium auf der Bauakademie zu kostspielig war, um meinen Eltern in der für die Landwirtschaft immer schwieriger gewordenen Zeit, in der ein Scheffel Weizen für einen Gulden verkauft wurde, bei der großen Zahl von jüngeren Geschwistern ein solches Opfer auferlegen zu können.

Aus dieser Not rettete mich der Rat meines Lehrers im Feldmessen, des Leutnants im Lübecker Kontingent, Freiherrn von Bülzingslöwen, der früher bei der preußischen Artillerie gedient hatte.

Ferdinand von Bülzingslöwen, * 23. Februar 1808 in Lübeck; † 21. August 1882 in Hosterwitz.

Dieser riet mir, beim preußischen Ingenieurkorps einzutreten, wo ich Gelegenheit erhalten würde, dasselbe zu lernen, was auf der Bauakademie gelehrt würde. Mein Vater, dem ich diesen Plan mitteilte, war ganz damit einverstanden und führte noch einen gewichtigen Grund dafür an, dessen große Wahrheit durch die neuere deutsche Geschichte in helles Licht gesetzt worden ist. Er sagte: „So, wie es jetzt in Deutschland ist, kann es unmöglich bleiben. Es wird eine Zeit kommen, wo alles drunter und drüber geht. Der einzige feste Punkt in Deutschland ist aber der Staat Friedrichs des Großen und die preußische Armee, und in solchen Zeiten ist es immer besser, Hammer zu sein als Amboss.“ Ich nahm daher Ostern 1834 im siebzehnten Lebensjahr Abschied von dem Gymnasium und wanderte mit sehr mäßigem Taschengeld nach Berlin, um unter die künftigen Hämmer zu gehen.

* * *

Als der schwere Abschied von der Heimat, von der innigst geliebten, im Übermaß ihrer Mühen und Sorgen schon kränkelnden Mutter und den zahlreichen, liebevoll an mir hängenden Geschwistern überwunden war, brachte mich mein Vater nach Schwerin, und ich trat von dort meine Wanderung an. Nachdem ich die preußische Grenze überschritten hatte und nun auf gradliniger, staubiger Chaussee durch eine baumlose und unfruchtbare Sandebene fortwanderte, überkam mich doch das Gefühl einer großen Vereinsamung, welches durch den traurigen Kontrast der Landschaft mit meiner Heimat noch verstärkt wurde. Vor meiner Abreise war eine Deputation der angesehensten Bauern des Ortes bei meinem Vater erschienen, um ihn zu bitten, mich, der doch „so ein gauder Junge“ wäre, nicht nach dem Hungerland Preußen zu schicken; ich fände ja zu Haus genug zu essen! Die Bauern wollten es meinem Vater nicht recht glauben, dass hinter dem öden Grenzsand in Preußen auch fruchtbares Land läge. Trotz meines festen Entschluss, auf eigne Hand mein Fortkommen in der Welt zu suchen, wollte es mir doch jetzt scheinen, als ob die Bauern recht hätten und ich einer traurigen Zukunft entgegenwanderte. Es war mir daher ein Trost, als ich auf der Wanderung einen munteren und ganz gebildeten jungen Mann traf, der gleich mir mit einem Ränzel auf dem Rücken gen Berlin wanderte. Er war in Berlin schon bekannt und schlug mir vor, mit ihm in seine Herberge zu gehen, die er sehr lobte.

Es war die Knopfmacherherberge, in der ich mein erstes Nachtquartier in Berlin nahm. Der Herbergsvater erkannte bald, dass ich nicht zu seiner gewohnten Gesellschaft gehörte und schenkte mir sein Wohlwollen. Er schützte mich gegen die Hänseleien der jungen Knopfmacher und half mir am folgenden Tag die Adresse eines entfernten Verwandten, des Leutnants von Hüt, der bei der reitenden Garde-Artillerie stand, erforschen. Vetter Hüt nahm mich freundlich auf, bekam aber einen tödlichen Schreck, als er hörte, ich sei in der Knopfmacherherberge abgestiegen. Er beauftragte sofort seinen Burschen, mein Ränzel aus der Herberge zu holen und mir in einem kleinen Hotel der neuen Friedrichstraße ein Zimmer zu bestellen, erbot sich auch, nach der notwendigen Verbesserung meiner Toilette mit mir zum damaligen Chef des Ingenieurkorps, dem General von Rauch, zu gehen und ihm meinen Wunsch vorzutragen.

Der General redete mir entschieden ab, da bereits so viele Avantageure auf die Einberufung zur Artillerie- und Ingenieurschule warteten, dass ich vor vier bis fünf Jahren nicht hoffen dürfte, dahin zu gelangen. Er riet mir, zur Artillerie zu gehen, deren Avantageure dieselbe Schule wie die Ingenieure besuchten und bedeutend bessere Aussichten hätten.

Johann Justus Georg Gustav von Rauch, * 1. April 1774 in Braunschweig – † 2. April 1841 in Berlin, war ein preußischer General der Infanterie und Kriegsminister. Er wurde der 16. Ehrenbürger Berlins. Als enger Mitarbeiter des Generals von Scharnhorst gehörte er zum Kreis der preußischen Heeresreformer.

So entschloss ich mich denn, bei der Artillerie mein Heil zu versuchen, und da bei der Garde kein Ankommen war, wanderte ich mit einer Empfehlung vom Vater des Leutnants von Hüt, dem Obersten a. D. von Hüt, an den Kommandeur der 3. Artillerie-Brigade, Obersten von Scharnhorst, frohen Muts nach Magdeburg.

Heinrich Wilhelm Gerhard Johann von Scharnhorst, * 16. Februar 1786 in Hannover – † 13. Juni 1854 in Bad Ems, war ein preußischer General der Infanterie.

Der Oberst – ein Sohn des berühmten Organisators der Preußischen Armee – machte zwar anfangs auch große Schwierigkeiten mit dem Bemerken, dass der Andrang zum Eintritt auf Offiziersavancement sehr groß wäre, und dass er von den fünfzehn jungen Leuten, die sich zum Examen bereits gemeldet hätten, nur die vier annehmen könnte, welche das Examen am besten bestehen würden. Er gab aber schließlich meinen Bitten nach und versprach, mich zum Examen zuzulassen, wenn Seine Majestät der König genehmigen würde, dass ich als Ausländer in die preußische Armee eintreten dürfe. Ihm gefiel offenbar mein frisches, entschiedenes Auftreten, bestimmend war aber doch vielleicht der Umstand, dass er aus meinen Papieren ersah, dass meine Mutter eine geborene Deichmann aus Poggenhagen war, welches an das Gut seines Vaters grenzte.

Da das Eintrittsexamen erst Ende Oktober stattfinden sollte, so hatte ich noch drei Monate zur Vorbereitung. Ich wanderte daher weiter nach Rhoden am Nordabhang des Harzes, wo ein Bruder meines Vaters Gutsbesitzer war und verlebte dort einige Wochen in traulichem Verkehr mit den Verwandten, von denen namentlich die beiden hübschen und liebenswürdigen erwachsenen Töchter einen großen Eindruck auf mich machten; gern ließ ich mir ihre erziehenden Bemühungen um den jungen, noch etwas verwilderten Vetter gefallen. Dann ging ich mit meinem einige Jahre jüngeren Vetter Louis Siemens nach Halberstadt und bereitete mich dort eifrig auf das Eintrittsexamen vor.

Das Programm des Examens, das der Oberst von Scharnhorst mir eingehändigt hatte, machte mir doch große Bedenken. Außer Mathematik verlangte man namentlich Geschichte, Geografie und Französisch, und diese Fächer wurden auf dem Lübecker Gymnasium sehr oberflächlich betrieben. Die Lücken auszufüllen wollte in ein paar Monaten nur schwer gelingen. Es fehlte mir auch noch die Entlassung vom mecklenburgischen Militärdienst, von dem mein Vater mich erst freikaufen musste und die Erlaubnis des Königs zum Eintritt in die preußische Armee. Ich marschierte daher gegen Mitte Oktober recht sorgenschwer nach Magdeburg, wo ich den aus der Heimat erwarteten Brief mit den nötigen Papieren noch nicht vorfand. Als ich dennoch zur festgesetzten Zeit zum Examen gehen wollte, begegnete mir zu meiner großen, freudigen Überraschung mein Vater, der mit einem leichten Fuhrwerk selbst nach Magdeburg gefahren war, um mir die Papiere rechtzeitig zu überbringen, da die Post damals noch zu langsam ging.

Das Examen verlief gleich am ersten Tag über Erwarten günstig für mich. In der Mathematik war ich meinen vierzehn Konkurrenten entschieden überlegen. In der Geschichte hatte ich Glück und schnitt so leidlich ab. In den neueren Sprachen war ich wohl schwächer als die anderen, doch wurde mir bessere Kenntnis der alten Sprachen dafür angerechnet. Schlimmer schien es für mich in der Geografie zu stehen; ich merkte bald, dass die meisten darin viel mehr wussten als ich. Doch da half mir ein besonders günstiges Zusammentreffen. Examinator war ein Hauptmann Meinicke, der den Ruf eines sehr gelehrten und dabei originellen Manns hatte.

Carl Eduard Meinicke, * 31. August 1803 in Brandenburg an der Havel – † 26. August 1876 in Dresden, war ein deutscher Geograph.

Er galt für einen großen Kenner des Tokajer Weins, wie ich später erfuhr, und das mochte ihn wohl veranlassen, nach der Lage von Tokay zu forschen. Niemand wusste sie, worüber er sehr zornig wurde. Mir als letztem der Reihe fiel zum Glück ein, dass es Tokajer Wein gab, der einst meiner kranken Mutter verordnet war, und dass der auch Ungarwein benannt wurde. Auf meine Antwort „in Ungarn, Herr Hauptmann!“ erhellte sich sein Gesicht, und mit dem Ausruf „Aber, meine Herren, Sie werden doch den Tokajer Wein kennen!“ gab er mir die beste Zensur in der Geografie.

So gehörte ich zu den vier Glücklichen, die das Examen am besten bestanden hatten, doch musste ich noch bange vier Wochen auf die königliche Erlaubnis zum Eintritt in die Armee warten, und als sie Ende November kam, konnte ich doch nicht sogleich eingestellt werden, weil ich erst am 13. Dezember 1816 geboren war, also das siebzehnte Jahr noch nicht zurückgelegt hatte. Ich erhielt aber einen besonderen Exerziermeister, der mich in Zivilkleidung auf dem Magdeburger Domplatz tapfer drillte.

Meine Leistungen gewannen mir bald das Wohlgefallen des gestrengen Bombardiers, nur ein Punkt brachte ihn beinahe zur Verzweiflung. Ich hatte sehr stark gekräuseltes, hellbraunes Haar, welches sich durchaus der militärischen Regel nicht fügen wollte, die verlangte, dass das Haar an den Schläfen glatt anlag. Bei der Inspektion hatte der Hauptmann einen Tadel über das ungeordnete Haar des Rekruten ausgesprochen, und es wurden nun alle möglichen Experimente mit mir angestellt, um diesen militärischen Fehler wenigstens einigermaßen zu vertuschen. Am besten schien sich der Bodensatz des Magdeburger Bräuhahns, eines damals beliebten Bieres, dafür zu eignen. Ich musste manche Flasche dazu liefern, von der ja leider immer nur der Bodensatz für mich verwendet werden konnte. Es gelang damit auch nach wiederholtem Gebrauch, meine Haare glatt anliegend zu machen, doch nach einiger Zeit revoltierten sie, und in der Regel brachen zum Entsetzen des Bombardiers gerade bei Vorstellungen wieder rebellische Locken aus der glatten Haarschicht hervor.

Ich denke an meine Rekrutenzeit trotz der großen mit ihr verknüpften Anstrengungen, sowie grober und scheinbar harter Behandlung durch die Exerziermeister noch heute mit Vergnügen zurück. Die Grobheit ist Manier und ist nicht mit kränkender Absicht verbunden. Sie geht daher auch nicht zu Herzen, hat im Gegenteil etwas Auffrischendes und Anregendes, namentlich wenn sie mit Humor verknüpft ist, wie es bei den berühmt gewordenen Mustern militärischer Grobheit fast immer der Fall war. Ist der Dienst vorbei, so ist die Grobheit vergessen, und das kameradschaftliche Gefühl tritt wieder in sein Recht. Dies kameradschaftliche Gefühl, welches die ganze preußische Armee vom König herab bis zum Rekruten durchdringt, macht die strenge Disziplin, die oft bis zur äußersten Grenze der Leistungsfähigkeit gehenden Mühen und Beschwerden erträglich und bildet ihr festes Bindemittel in Freud und Leid. Dem langgedienten Soldaten wird es daher auch in der Regel sehr schwer, sich im Zivildienst zurechtzufinden; es fehlt ihm in diesem die rücksichtslose Grobheit auf kameradschaftlicher Grundlage.

Nach sechsmonatlichem Exerzitium kam das große Ereignis des Avancements zum Bombardier. Es war ein erhebendes Gefühl, jetzt der Vorgesetzte von Hunderttausenden zu sein und von allen Gemeinen pflichtmäßig gegrüßt zu werden. Dann folgte das Kommando zur reitenden Artillerie, darauf die interessante Schießübung, bei der mir zuerst die Erkenntnis meiner technischen Begabung kam, da mir alles selbstverständlich schien, was den meisten schwer wurde zu begreifen. Endlich, im Herbst des Jahres 1835, erhielt ich das ersehnte Kommando zur vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule nach Berlin und damit die Erfüllung meines sehnlichen Wunsches, Gelegenheit zu finden, Nützliches zu lernen.

Die drei Jahre, welche ich vom Herbst 1835 bis zum Sommer 1838 auf der Berliner Artillerie- und Ingenieurschule zubrachte, zähle ich zu den glücklichsten meines Lebens. Das kameradschaftliche Leben mit jungen Leuten gleichen Alters und gleichen Strebens, das gemeinschaftliche Studium unter der Leitung tüchtiger Lehrer, von denen ich nur den Mathematiker Ohm, den Physiker Magnus und den Chemiker Erdmann nennen will, deren Unterricht mir eine neue, interessante Welt eröffnete, machten diese Zeit für mich zu einer außerordentlich genussreichen.

Georg Simon Ohm, * 16. März 1789 in Erlangen – † 6. Juli 1854 in München, war ein deutscher Physiker, der einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung der Theorie und Anwendung des elektrischen Stroms ausübte.

Heinrich Gustav Magnus, * 2. Mai 1802 in Berlin – † 4. April 1870 ebenda) war ein deutscher Physiker und Chemiker. Er entdeckte ein Platinsalz (Magnus-Salz), stellte die Magnus-Formel auf und lieferte die physikalische Erklärung eines Phänomens, das seitdem ebenfalls mit seinem Namen verbunden ist.

Otto Linné Erdmann, * 11. April 1804 in Dresden – † 9. Oktober 1869 in Leipzig, war ein deutscher Chemiker. Nach einer Apothekerlehre studierte Erdmann ab 1820 Medizin in Dresden und ab 1823 Chemie in Leipzig.

Dazu kam, dass ich in einem meiner Brigadekameraden, William Meyer, einen wirklichen Freund gefunden hatte, mit dem mich fortan innige, opferfreudige Freundschaft bis zu seinem Tod verband. Ich hatte schon auf dem Lübecker Gymnasium den Anlauf zu einem solchen intimen Freundschaftsbund genommen, da ich glaubte, in einem Mitschüler einen wirklichen Freund gefunden zu haben, doch als ich ihn einst besuchen wollte, ließ er sich verleugnen, und ich hatte doch deutlich gesehen, dass er zu Haus war und sich vor mir verbarg. Das erschien mir als ein so unverzeihlicher Bruch aufrichtiger Freundschaft, dass ich ihn mit tiefem Schmerz von mir stieß und es niemals wieder über mich gewann, ihm freundschaftliche Gesinnung zu zeigen.

William Meyer lernte ich bei der reitenden Artillerie in Burg kennen, wohin er bereits vor mir kommandiert war. Er hatte eine wenig ansehnliche Figur, war in keiner Hinsicht hervorragend oder talentvoll, hatte aber einen klaren Verstand und gefiel mir schon damals durch sein gerades, ungeschminktes Wesen und seine unbeeinflusste Aufrichtigkeit und Zuverlässigkeit. Wir schlossen uns auf der Schule innig aneinander an, lebten und studierten zusammen, bezogen ein gemeinsames Quartier und setzten dies später überall fort, wo die Verhältnisse es gestatteten. Unsere notorische Freundschaft und der Umstand, dass ich zuerst gegen die „Tyrannei der Fähnriche“ revoltierte, was zu einem Duell mit meinem Stubenältesten führte, bei dem Meyer mir sekundierte, bewirkten sonderbarerweise, dass fast bei allen Paukereien, die im Lauf des ersten Jahres auf der Schule folgten, Meyer und ich zu Sekundanten der gegnerischen Parteien gewählt wurden.

Diese Duelle hatten nur in wenigen Fällen gefährliche Verwundungen zur Folge, übten aber insofern eine sehr nützliche Wirkung aus, als sie einen gesitteten Umgangston unter den jungen Leuten herbeiführten. Unser Jahrgang war der erste, bei dem die Avantageure in beschränkter Zahl auf Grund eines ziemlich strengen Eintrittsexamens eingestellt und dann nach Absolvierung eines Dienstjahres zur Schule kommandiert wurden. Früher machte man keinen Unterschied zwischen Offiziers- und Unteroffizierskandidaten, und es wurden dann oft erst nach Ablauf mehrerer Dienstjahre, die zum Teil in den Kasernen verbracht werden mussten, die Tüchtigsten oder auch wohl die Bestempfohlenen zur Schule kommandiert. Der etwas rüde Umgangston, der von dem langen Verkehr mit ungebildeten Kameraden an den jungen Leuten haften geblieben war, fand in den Duellen das beste und am schnellsten wirkende Heilmittel.

Die dreijährige Schulzeit verlief für mich ohne wesentliche äußere Erlebnisse. Obschon ich sehr an Anfällen von Wechselfieber litt und auch einmal wegen Verletzung des Schienbeins mehrere Monate im Lazarett liegen musste, gelang es mir doch, die drei Examina – das Fähnrich-, das Armeeoffizier- und schließlich das Artillerieoffiziersexamen – glücklich, wenn auch ohne Auszeichnung, zu bestehen.

Werner von Siemens als Artillerie-Offizier

Ich hatte mir mit eisernem Fleiß das für diese Examina nötige Gedächtnismaterial eingepaukt, um es nachher noch schneller wieder zu vergessen, hatte aber alle mir frei bleibende Zeit meinen Lieblingswissenschaften, Mathematik, Physik und Chemie gewidmet. Die Liebe zu diesen Wissenschaften ist mir mein ganzes Leben hindurch treu geblieben und bildet die Grundlage meiner späteren Erfolge.

Groß war die Freude, als ich nach Absolvierung der Schule mit meinem Freund Meyer einen vierwöchentlichen Urlaub zum Besuch der Heimat erhielt. Meine Geschwister, deren Zahl schon auf zehn gewachsen war, und auch meine Eltern kannten mich kaum wieder. Das ganze Dorf freute sich mit ihnen über die Wiederkehr des „Muschue's“, welches der hergebrachte Titel der Söhne „des Hofs“ war. Es gab wirklich rührende Wiedersehensszenen mit den braven Leuten unseres und der benachbarten Dörfer, die übrigens großen Respekt vor den preußischen Offizieren hatten, denen sie das gefürchtete Hungerleiden der Preußen allerdings nicht ansehen konnten.

Meine ältere Schwester Mathilde feierte damals ihre Hochzeit mit dem Professor Karl Himly aus Göttingen, der mir bis zu seinem Tod ein lieber Freund geblieben ist.

August Friedrich Karl Himly, * 26. November 1811 in Göttingen – † 27. Januar 1885 Göttingen war deutscher Chemiker, Mineraloge und Universitätsprofessor in Kiel.

Hans und Ferdinand waren Landwirte geworden. Der dritte meiner jüngeren Brüder, Wilhelm, war auf der Schule in Lübeck und sollte Kaufmann werden. Die nächstfolgenden, Friedrich und Karl, besuchten ebenfalls die Schule in Lübeck, wo sie bei einem jüngeren Bruder meiner Mutter, dem Kaufmann Ferdinand Deichmann, in Pension gegeben waren.

Dass Wilhelm Kaufmann werden sollte, wollte mir gar nicht gefallen. Einmal teilte ich damals die Abneigung der preußischen Offiziere gegen den Kaufmannsstand, und dann interessierte mich auch Wilhelms eigentümliches, etwas verschlossenes aber intelligentes Wesen und sein klarer Verstand. Ich bat daher meine Eltern, ihn mir nach meiner künftigen Garnison Magdeburg mitzugeben, um ihn die dortige angesehene Gewerbe- und Handelsschule besuchen zu lassen. Die Eltern willigten ein, und so nahmen wir ihn denn mit uns nach Magdeburg, wo ich ihn in einer kleinen Pensionsanstalt unterbrachte, da ich reglementmäßig das erste Jahr in der Kaserne wohnen musste.

Nach Ablauf dieses Jahres, das ich ganz dem strengen Militärdienst zu widmen hatte, bezog ich mit Freund Meyer ein Stadtquartier und nahm den damals sechszehnjährigen Wilhelm nun zu mir. Ich hatte väterliche Freude an seiner schnellen Entwicklung und half ihm in freien Stunden bei seinen Schularbeiten. Auch veranlasste ich ihn damals, den nicht befriedigenden mathematischen Unterricht auf der Schule aufzugeben und stattdessen Englisch zu treiben. Es ist dies für sein späteres Leben von Bedeutung geworden. Mathematischen Unterricht gab ich ihm selbst jeden Morgen von 5 bis 7 Uhr und hatte die Freude, dass er später ein besonders gutes Examen in der Mathematik machte. Mir selbst war dieser Unterricht sehr nützlich, auch trug er dazu bei, dass ich allen Verlockungen des Offizierslebens siegreich widerstand und meine wissenschaftlichen Studien energisch fortsetzte.

Leider wurde dieses brüderliche Zusammenleben durch die immer bedenklicher lautenden Mitteilungen des Vaters über den Gesundheitszustand unserer geliebten Mutter sehr getrübt. Am 8. Juli 1839 erlag sie ihren Leiden und ließ den selbst kränklichen, durch Kummer und schwere materielle Sorgen niedergebeugten Vater mit der großen Schaar noch unerzogener Kinder in einer höchst traurigen Lage zurück. Ich unterlasse es, den tiefgehenden Schmerz über den Verlust der Mutter zu schildern. Die Liebe zu ihr war das feste Band, das die Familie zusammenhielt, und die Furcht, sie zu betrüben, bildete für uns Geschwister stets die wirksamste Schutzwehr für unser Wohlverhalten.

Ich erhielt einen kurzen Urlaub zum Besuch der Heimat und des Grabes der Mutter. Leider flößte mir schon damals die geschwächte Gesundheit des Vaters nur wenig Zutrauen zu der Fortdauer eines geordneten Familienlebens ein, in welchem die jüngeren Geschwister sich gedeihlich würden entwickeln können. Die Richtigkeit meiner trüben Anschauung wurde nur zu bald bestätigt. Kaum ein halbes Jahr später, am 16. Januar 1840, verloren wir auch den Vater.

Nach dem Tod der Eltern wurden vom Vormundschaftsgericht Vormünder für die jüngeren Geschwister bestellt und die Bewirtschaftung der Domäne Menzendorf meinen Brüdern Hans und Ferdinand übertragen. Meine jüngste Schwester Sophie wurde vom Onkel Deichmann in Lübeck an Kindesstatt angenommen, während die jüngsten Brüder Walter und Otto unter der Pflege der Großmutter zunächst noch in Menzendorf blieben.

Die wissenschaftlich-technischen Studien, denen ich mich jetzt mit verstärktem Eifer hingab, wären mir im folgenden Sommer beinahe sehr schlecht bekommen! Ich hatte gehört, dass mein Vetter, der Hannöversche Artillerieoffizier A. Siemens, erfolgreiche Versuche mit Friktionsschlagröhren angestellt hatte, die anstatt der damals noch ausschließlich gebrauchten brennenden Lunte zum Entzünden der Kanonenladung benutzt werden sollten. Mir leuchtete die Wichtigkeit dieser Erfindung ein, und ich entschloss mich, selbst Versuche nach dieser Richtung zu machen. Da die versuchten Zündmittel nicht sicher genug wirkten, so rührte ich in Ermangelung besserer Gerätschaften in einem Pomadennapf mit sehr dickem Boden einen wässrigen Brei von Phosphor und chlorsaurem Kali zusammen und stellte den Napf, da ich zum Exerzieren fortgehen musste, gut zugedeckt in eine kühle Fensterecke.

Als ich zurückkam und mich mit einiger Besorgnis nach meinem gefährlichen Präparat umsah, fand ich es zu meiner Befriedigung noch in derselben Ecke stehen. Als ich es aber vorsichtig hervorholte und das in der Masse stehende Schwefelholz, welches zum Zusammenrühren gedient hatte, nur berührte, entstand eine gewaltige Explosion, die mir den Tschako vom Kopf schleuderte und sämtliche Fensterscheiben samt den Rahmen zertrümmerte. Der ganze obere Teil des Porzellannapfes war als feines Pulver im Zimmer umhergeschleudert, während sein dicker Boden tief in das Fensterbrett eingedrückt war.

Als Ursache dieser ganz unerwarteten Explosion stellte sich heraus, dass mein Bursche beim Reinmachen des Zimmers das Gefäß in die Ofenröhre gesetzt und dort einige Stunden hatte trocknen lassen, bevor er es wieder an denselben Platz zurücktrug. Wunderbarerweise war ich nicht sichtlich verwundet, nur hatte der gewaltige Luftdruck die Haut meiner linken Hand so gequetscht, dass Zeigefinger und Daumen von einer großen Blutblase bedeckt waren. Leider war mir aber das rechte Trommelfell zerrissen, was ich sogleich daran erkannte, dass ich die Luft durch beide Ohren ausblasen konnte; das linke Trommelfell war mir schon im Jahr vorher bei einer Schießübung geplatzt. Ich war infolgedessen zunächst ganz taub und hatte noch keinen Laut gehört, als plötzlich die Tür meines Zimmers sich öffnete und ich sah, dass das ganze Vorzimmer mit entsetzten Menschen angefüllt war. Es hatte sich nämlich sofort das Gerücht verbreitet, einer der beiden im Quartier wohnenden Offiziere hätte sich erschossen.

Ich habe infolge dieses Unfalles lange an Schwerhörigkeit gelitten und leide auch heute noch hin und wieder daran, wenn sich die verschlossenen Risse in den Trommelfellen gelegentlich wieder öffnen.

Im Herbst des Jahres 1840 wurde ich nach Wittenberg versetzt, wo ich ein Jahr lang die zweifelhaften Freuden des Lebens in einer kleinen Garnisonstadt genießen musste. Umso eifriger setzte ich meine wissenschaftlichen Studien fort. In jenem Jahr wurde in Deutschland die Erfindung Jacobis bekannt, Kupfer in metallischer Form durch den galvanischen Strom aus einer Lösung von Kupfervitriol niederzuschlagen.

Moritz Hermann vonJacobi, * 21. September 1801 in Potsdam – † 10. März 1874.

Dieser Vorgang nahm mein Interesse in höchstem Grad in Anspruch, da er offenbar das Eingangstor zu einer ganzen Klasse bisher unbekannter Erscheinungen war.  Als mir die Kupferniederschläge gut gelangen, versuchte ich auch andere Metalle auf dieselbe Weise niederzuschlagen, doch wollte mir dies bei meinen beschränkten Mitteln und Einrichtungen nur sehr mangelhaft glücken.

Meine Studien wurden durch ein Ereignis unterbrochen, welches durch seine Folgen die Richtung meines Lebensgangs wesentlich änderte. Die in kleineren Garnisonstädten so häufigen Zwistigkeiten zwischen Angehörigen verschiedener Waffen hatten zu einem Duell zwischen einem Infanterieoffizier und einem mir befreundeten Artillerieoffizier geführt. Ich musste dem letzteren als Sekundant dienen. Obgleich das Duell mit einer nur unbedeutenden Verwundung des Infanterieoffiziers endete, kam es doch aus besonderen Gründen zur Anzeige und zur kriegsgerichtlichen Behandlung. Die gesetzlichen Strafen des Duellierens waren damals in Preußen von einer drakonischen Strenge, wurden aber gerade aus diesem Grund fast immer durch bald erfolgende Begnadigung gemildert. In der Tat wurden durch das in Magdeburg über Duellanten und Sekundanten abgehaltene Kriegsgericht diese zu fünf, jene zu zehn Jahren Festungshaft verurteilt.

Ich sollte meine Haft in der Zitadelle von Magdeburg absitzen und musste mich nach der eingetroffenen Bestätigung des kriegsgerichtlichen Urteils daselbst melden. Die Aussicht, mindestens ein halbes Jahr lang ohne Beschäftigung eingesperrt zu werden, war nicht angenehm, doch tröstete ich mich damit, dass ich viel freie Zeit zu meinen Studien haben würde. Um diese Zeit gut ausnutzen zu können, suchte ich auf dem Weg zur Zitadelle eine Chemikalienhandlung auf und versah mich mit den nötigen Mitteln, um meine elektrolytischen Versuche fortzusetzen. Ein freundlicher junger Mann in dem Geschäft versprach mir, nicht nur diese Gegenstände in die Zitadelle einzuschmuggeln, sondern auch spätere Requisitionen prompt auszuführen und hat sein Versprechen gewissenhaft gehalten.

So richtete ich mir denn in meiner vergitterten aber geräumigen Zelle ein kleines Laboratorium ein und war ganz zufrieden mit meiner Lage. Das Glück begünstigte mich bei meiner Arbeit. Aus Versuchen mit der Herstellung von Lichtbildern nach dem vor einiger Zeit bekannt gewordenen Verfahren Daguerres, die ich mit meinem Schwager Himly in Göttingen angestellt hatte, war mir erinnerlich, dass das dabei verwendete unterschweflig saure Natron unlösliche Gold- und Silbersalze gelöst hatte. Ich beschloss daher, dieser Spur zu folgen und die Verwendbarkeit solcher Lösungen zur Elektrolyse zu prüfen. Zu meiner unsäglichen Freude gelangen die Versuche in überraschender Weise. Ich glaube, es war eine der größten Freuden meines Lebens, als ein neusilberner Teelöffel, den ich mit dem Zinkpol eines Daniellschen Elementes verbunden in einen mit unterschweflig saurer Goldlösung gefüllten Becher tauchte, während der Kupferpol mit einem Louisdor als Anode verbunden war, sich schon in wenigen Minuten in einen goldenen Löffel vom schönsten, reinsten Goldglanz verwandelte.

Louis Jacques Mandé Daguerre, * 18. November 1787 in Cormeilles-en-Parisis – † 10. Juli 1851 in Bry-sur-Marne, war ein französischer Maler und Erfinder des ersten kommerziell nutzbaren fotografischen Verfahrens, der Daguerreotypie.

August Friedrich Karl Himly, * 26. November 1811 in Göttingen – † 27. Januar 1885 Göttingen war deutscher Chemiker, Mineraloge und Universitätsprofessor in Kiel.

Die galvanische Vergoldung und Versilberung war damals, in Deutschland wenigstens, noch vollständig neu und erregte im Kreis meiner Kameraden und Bekannten natürlich großes Aufsehen. Ich schloss auch gleich darauf mit einem Magdeburger Juwelier, der das Wunder vernommen hatte und mich in der Zitadelle aufsuchte, einen Vertrag ab, durch den ich ihm das Recht der Anwendung meines Verfahrens für vierzig Louisdor verkaufte, die mir die erwünschten Mittel für weitere Versuche gaben.

Inzwischen war ein Monat meiner Haft abgelaufen, und ich dachte wenigstens noch einige weitere Monate ruhig fortarbeiten zu können. Ich verbesserte meine Einrichtung und schrieb ein Patentgesuch, auf welches mir auch auffallend schnell ein preußisches Patent für fünf Jahre erteilt wurde. Da erschien unerwartet der Offizier der Wache und überreichte mir zu meinem großen Schrecken, wie ich bekennen muss, eine königliche Kabinettsorder, die meine Begnadigung aussprach. Es war wirklich hart für mich, meiner erfolgreichen Tätigkeit so plötzlich entrissen zu werden. Nach dem Reglement musste ich noch an demselben Tag die Zitadelle verlassen und hatte weder eine Wohnung, in welche ich meine Effekten und Einrichtung schaffen konnte, noch wusste ich, wohin ich jetzt versetzt werden würde.

Ich schrieb deshalb an den Festungskommandanten ein Gesuch, in dem ich bat, mir zu gestatten, meine Zelle noch einige Tage benutzen zu dürfen, damit ich meine Angelegenheiten ordnen und meine Versuche beendigen könnte. Da kam ich aber schlecht an! Gegen Mitternacht wurde ich durch den Eintritt des Offiziers der Wache geweckt, der mir mitteilte, dass er Order erhalten habe, mich sofort aus der Zitadelle zu entfernen. Der Kommandant hatte es als einen Mangel an Dankbarkeit für die mir erwiesene königliche Gnade angesehen, dass ich um Verlängerung meiner Haft gebeten hatte. So wurde ich denn um Mitternacht mit meinen Effekten aus der Zitadelle geleitet und musste mir in der Stadt ein Unterkommen suchen.

Glücklicherweise wurde ich nicht wieder nach Wittenberg geschickt, sondern bekam ein Kommando nach Spandau zur Lustfeuerwerkerei. Meine bekannt gewordene Erfindung hatte mich in den Augen meiner Vorgesetzten wohl als weniger qualifiziert für den praktischen Dienst erscheinen lassen! Die Lustfeuerwerkerei war ein Überbleibsel aus der alten Zeit, in der das „Konstablertum“ noch eine Kunst war, als deren Krone die Herstellung von Feuerwerken angesehen wurde. Mein Interesse für die mir zugewiesene Tätigkeit war groß; frohen Muts zog ich gen Spandau und nahm von den für die Lustfeuerwerkerei bestimmten Räumen in der Zitadelle Besitz.

Meine neue Beschäftigung war in der Tat ganz interessant, und ich lag ihr mit umso größerem Eifer ob, als der Luftfeuerwerkerei-Abteilung eine große Bestellung auf ein Feuerwerk zuging, welches am Geburtstag der Kaiserin von Russland im Park des Prinzen Karl in Glienicke bei Potsdam abgebrannt werden sollte.

Prinz Friedrich Carl Alexander von Preußen, * 1801 – † 1883

Durch die Fortschritte der Chemie waren in jener Zeit die Mittel zur Herstellung sehr schöner farbiger Flammen gegeben, die den alten Konstablern noch unbekannt waren. Mein Feuerwerk auf dem Havelsee bei Glienicke brachte mir daher namentlich durch die Pracht der Feuerwerksfarben viel Ehre und Anerkennung ein. Ich wurde zur prinzlichen Tafel gezogen und erhielt die Aufforderung, mit dem jungen Prinzen Friedrich Karl eine Segelwettfahrt zu machen, da das Segelboot, mit dem ich von Spandau nach Glienicke gefahren war, sich durch große Schnelligkeit auszeichnete. Ich besiegte mit ihm auch den späteren Sieger großer Schlachten, der mir schon damals durch sein entschlossenes, tatkräftiges Wesen oder durch seine „Schneidigkeit“, wie man sich heute ausdrückt, in hohem Grad auffiel.

Mit dem Abbrennen dieses Feuerwerks war mein Kommando zur Lustfeuerwerkerei beendet, und ich wurde zu meiner Freude nach Berlin zur Dienstleistung bei der Artillerie-Werkstatt kommandiert. Durch diese Versetzung wurde mein größter Wunsch erfüllt, Zeit und Gelegenheit zu weiteren naturwissenschaftlichen Studien und zur Vermehrung meiner technischen Kenntnisse zu erhalten.

Es waren aber auch noch andere Gründe, die mir diesen Wechsel sehr erwünscht machten. Nach dem Tod meiner Eltern lag mir die Verpflichtung ob, für meine jüngeren Geschwister zu sorgen, von denen mein jüngster Bruder Otto beim Tod der Mutter erst im dritten Lebensjahr stand. Die Domänenpachtung blieb zwar noch eine Reihe von Jahren in den Händen der Familie, aber die Zeiten waren für die Landwirtschaft noch immer unerhört schlecht, so dass die geringen Überschüsse, die von meinen Brüdern Hans und Ferdinand durch die Bewirtschaftung erzielt wurden, zur Erziehung der Kinder nicht ausreichten. Ich musste also suchen, mir eigene Erwerbsquellen zu eröffnen, um meine Verpflichtungen als Familienältester erfüllen zu können, und das schien mir in Berlin leichter möglich als an anderen Orten.

Carl Wilhelm Siemens, * 4. April 1823 in Lente, Königreich Hannover, heute Gehrden, Niedersachsen – † 19. November 1883 in London, war ein in Deutschland geborener Erfinder, Ingenieur, Naturforscher und Industrieller aus der Familie Siemens, der 1859 die britische Staatsbürgerschaft annahm.

Mein Bruder Wilhelm hatte inzwischen die Magdeburger Schule absolviert und war dann auf meine Veranlassung ein Jahr lang zu meiner Schwester Mathilde nach Göttingen gegangen, um dort naturwissenschaftliche Studien zu treiben. Darauf trat er als Eleve in die Gräflich Stolbergische Maschinenbauanstalt in Magdeburg ein. Er widmete sich dort mit großem Eifer dem praktischen Maschinenbau, der sich zu jener Zeit in Deutschland durch den beginnenden Eisenbahnbau schnell entwickelte. Ich korrespondierte stets eifrig mit Wilhelm und ließ mir dabei häufig die Aufgaben mitteilen, bei denen er konstruktiv tätig war. Eine solche Aufgabe war die exakte Regulierung von Dampfmaschinen, die durch Wind- oder Wassermühlen in ihrer Arbeitsleistung unterstützt werden. Wilhelms Plan gefiel mir nicht, und ich schlug ihm vor, als Regulierungsprinzip ein schweres, freischwingendes Kreispendel anzuwenden, welches durch einen Differential-Mechanismus mit der zu regulierenden Maschine verbunden, eine absolute Gleichförmigkeit ihres Gangs erzielen ließe, anstatt der Verminderung der Unregelmäßigkeiten desselben, wie sie durch den damals noch sehr unvollkommenen Wattschen Regulator nur herbeigeführt werden konnte. Es entwickelte sich aus diesem Vorschlag die Konstruktion des Differenz-Regulators, auf den ich im Folgenden noch zurückkommen werde.

In Berlin hatten meine Bemühungen, durch meine Erfindungen Geld zu verdienen, bald Erfolg, obwohl sie mir dadurch sehr erschwert wurden, dass ich als Offizier in der Wahl der Mittel zur Einleitung von Geschäften sehr beschränkt war. Es gelang mir, mit der Neusilberfabrik von J. Henniger einen Vertrag abzuschließen, nach welchem ich derselben eine Anstalt für Vergoldung und Versilberung nach meinem Patente gegen Beteiligung am Gewinn anzulegen hatte. So entstand die erste derartige Anstalt in Deutschland. In England hatte bereits ein Herr Elkington auf Grund eines anderen Verfahrens – des jetzt allgemein verwendeten Niederschlags aus Gold- und Silbercyaniden – eine ähnliche Anstalt eingerichtet, die schnell großen Umfang erreichte.

George Richards Elkington, * 17. Oktober 1801 in Birmingham – † 22. September 1865, war ein maßgebender Gründer der Galvanotechnik in England.

Bei den Verhandlungen über die Berliner Anlage und bei der Einrichtung der Anstalt hatte mich mein Bruder Wilhelm, der eine Urlaubsreise zu mir gemacht hatte, wesentlich unterstützt, auch war es ihm gleichzeitig gelungen, eine Berliner Maschinenbauanstalt zur Anwendung des Differenz-Regulators zu bewegen. Da er offenbar Talent für solche Unterhandlungen zeigte und selbst gern England kennen lernen wollte, so kamen wir überein, dass er versuchen sollte, meine Erfindungen in England zu verwerten und zu dem Zweck einen längeren Urlaub von seiner Fabrik zu nehmen. Große Mittel konnte ich ihm freilich nicht mit auf den Weg geben, und ich habe mich immer darüber gewundert, dass er trotzdem seinen Zweck erreichte. Er hatte sich mit richtigem Takt gleich direkt an unseren Konkurrenten Elkington gewendet, der ihn zunächst damit abwies, dass wir nicht das Recht hätten, unser Verfahren in England anzuwenden, da sein Patent ihm das ausschließliche Recht gäbe, elektrische Ströme, die durch galvanische Batterien oder durch Induktion erzeugt wären, zu Gold- und Silberniederschlägen zu verwenden. Wilhelm hatte Geistesgegenwart genug, ihm zu entgegnen, wir verwendeten dazu thermoelektrische Ströme, verstießen also nicht gegen seine Patente. Es glückte mir auch in der Tat sogleich, eine vielpaarige Türkette aus Eisen und Neusilber herzustellen, mit der man Gold und Silber aus unterschweflig sauren Lösungen gut niederschlagen konnte. Infolgedessen gelang es Wilhelm, unser englisches Patent für 1.500 Lstr. an Elkington zu verkaufen. Dies war für unsere damaligen Verhältnisse eine kolossale Summe, die unserer Finanznot für einige Zeit ein Ende machte.

Nach seiner Rückkehr aus England war Wilhelm wieder in seine Magdeburger Fabrik eingetreten, fand aber an den dortigen kleinen Verhältnissen keinen rechten Geschmack mehr, nachdem er die Großartigkeit der englischen Industrie kennengelernt und das Leben in England ihm gefallen hatte. Er plante daher, ganz nach England überzusiedeln, und da ich sein Vorhaben billigte, so nahmen wir dort ein Patent auf den gemeinschaftlich weiter ausgebildeten Differenz-Regulator, um dessen Einführung in England zu betreiben.

Ich hatte in dieser Zeit noch zwei weitere Erfindungen gemacht, die Wilhelm dort ebenfalls verwerten wollte. Die Ausdehnung meiner elektrolytischen Versuche hatte mich dahin geführt, auch gute Nickelniederschläge aus einer Lösung des Doppelsalzes von schwefelsaurem Nickel und schwefelsaurem Ammonium zu erzielen. Diese Vernickelung schien von besonderer Wichtigkeit für gravierte Kupferplatten, die mit Nickelüberzug versehen eine weit größere Zahl von Abdrücken ertrugen, ohne dass die Feinheit des Stiches durch die Vernickelung Einbuße erlitt. Zur Ausbeutung dieses Verfahrens hatte ich einen Vertrag mit einem Berliner Haus abgeschlossen, von dem ich große Vorteile erwartete.  Leider wurde aber bald nachher der galvanische Niederschlag von Eisen aus der entsprechenden Eisenlösung erfunden, der vor dem Nickelüberzug den großen Vorzug hatte, dass er leicht erneuert werden konnte, wenn er abgenutzt war, indem sich das Eisen durch verdünnte Schwefelsäure wieder ablösen und die Platte dann von neuem mit Eisen überziehen ließ. Das machte meine Vernickelung für diesen Zweck wertlos. Sie wurde einige Jahre später von Professor Böttger wieder erfunden und publiziert, hat aber erst in neuerer Zeit größere Anwendung in der Industrie gefunden.

Rudolf Christian Böttger, * 28. April 1806 in Aschersleben – † 29. April 1881 in Frankfurt am Main, war ein deutscher Chemiker und Physiker.

Die zweite Erfindung bestand in der Anwendung des damals bekannt gewordenen Zinkdrucks zu einer rotierenden Schnellpresse. Mit Hilfe eines geschickten Mechanikers, des Uhrmachers (Ferdinand) Leonhardt, hatte ich ein Modell einer solchen Presse angefertigt, welches die nötigen Operationen zur Herstellung lithographischer Abdrücke von einer zylindrisch gebogenen Zinkplatte ganz befriedigend ausführte. Doch ergab sich später bei der durch Wilhelm in England bewirkten Ausführung im Großen, dass der Zinkdruck keine schnelle Wiederholung der Abdrücke vertrug. Nach etwa 150 bis 200 Abdrücken musste die Arbeit für längere Zeit unterbrochen werden, weil sonst eine Verwischung des Umdrucks auf dem Zylinder eintrat.