Lebenslinien - Jan Holmes - E-Book

Lebenslinien E-Book

Jan Holmes

0,0

Beschreibung

Weißt Du noch, was Du gestern Abend gegessen hast? Erinnerst Du Dich, wie das Wetter an Deinem Geburtstag vor fünf Jahren war? Kannst Du sagen, wer in der letzten Reihe saß, als Du in der ersten Klasse warst? Bist du sicher? Wirklich? Wenn Dein Leben ein offenes Buch ist, stelle sicher, dass Du weißt, wer es geschrieben hat ... Eine Gruppe von Freunden versucht, ein neuartiges Computerspiel auf den Markt zu bringen, in dem es um Biografien von Menschen und deren Erinnerungen geht. Mit der Übernahme ihrer Firma durch einen internationalen Konzern verlieren sie jedoch zunehmend die Kontrolle über ihr Produkt. Erst als einer der Freunde verschwindet, merken sie, dass sie selbst schon Teil eines Spiels sind. Bevor sie die Auswirkungen begreifen können, ist bereits ihr Leben in Gefahr - oder das, was sie dafür halten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 422

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jan Holmes – Lebenslinien© Copyright 2017 by Jan HolmesVerlag: Jan [email protected] – www.janholmes.dec/o KJ Funke, Bechlenberg 61, 42799 LeichlingenUmschlaggestaltung:Paul Trubas – www.paultrubas.deDruck: epubliNeopubli GmbH, Prinzessinnenstraße 20, 10969 BerlinISBN: 978-3-7450-0576-9

Jan Holmes

Lebenslinien

eins

Ferdi Arend von Finally Development hatte sich gut auf seinen Termin mit der Bank vorbereitet. Der Ausgang des Gesprächs, das in Kürze folgen sollte, würde über Gedeih und Verderb seiner Firma entscheiden, die zurzeit noch im hinteren Teil eines alten Industriegeländes residierte. Gegründet hatte er das Unternehmen mit einem Freund, mittlerweile beschäftigten sie eine Handvoll Mitarbeiter, alles junge Idealisten, die den ein oder anderen Monat auf ihr Gehalt warten mussten und dazu gern bereit waren, da sie an ihre Sache glaubten. Sie hielten sich eine Zeit lang mit kleinen Aufträgen über Wasser, schrieben Programme und verkauften Steuerungs-Software für Kleinanlagen, die Ferdi im Betrieb seines Vaters ausprobierte und sich dabei häufig am Rand eines Rauswurfs bewegte, da die Experimente des Öfteren dazu beitrugen, die Geräte alles Mögliche machen zu lassen, nur das nicht, wozu sie ursprünglich bestimmt waren. Das alles jedoch waren nur Schritte auf dem Weg zum eigentlichen Produkt, das den Durchbruch bringen sollte, aber Entwicklungszeit und damit Geld benötigte, um realisiert werden zu können. Und um dieses Geld aufzutreiben, betrat Ferdi an einem sonnigen Vormittag den Hauptsitz der Bank.

Er überlegte, dass trübes, nebliges Wetter dem Tag besser zu Gesicht gestanden hätte, ein schicksalsschwerer Tag, so fand er, der nicht so freundlich aussehen sollte, wie er es in diesem Moment tat. Schon mehr als einmal hatte er seine Aktentasche durchwühlt, nur um festzustellen, dass alles an seinem Platz war, dass er nichts vergessen hatte. Aber kaum hatte er das Schloss wieder einschnappen lassen, überfielen ihn abermals Zweifel, und er musste sich beherrschen, die Tasche nicht sofort wieder aufzureißen.

»Arend, ich habe einen Termin.«

»Guten Morgen, Herr Arend, bitte setzen Sie sich noch einen Moment.«

Selbst das »Guten Morgen« habe ich vergessen, ärgerte er sich jetzt. Er schwitzte. Bestimmt zogen sich die Schweißflecken durch sein Hemd schon bis zur Hüfte. Wäre ein weißes besser gewesen? Die Flecken wären dann bestimmt nicht so sichtbar. Warum hellblau? Sollte er das Jackett lieber anlassen, oder war das unhöflich? Ferdi bekam schlecht Luft, sein Hals war trocken, aber die Frau hinter dem Empfangsschalter hatte schon mehrfach zu ihm herübergesehen, er konnte jetzt unmöglich aufstehen, sie taxierte ihn bereits. Oder bildete er sich das nur ein? Er starrte angestrengt zu Boden, ließ seinen Blick dann wandern und fand einen Wasserspender an der gegenüberliegenden Wand der Eingangshalle, die mit teuren Ledersofas und exotischen Pflanzen in riesigen Hydrokulturtöpfen vollgestellt war. Niemals. Was wäre, wenn er gerade auf dem Weg zum Wasserspender war und in diesem Moment käme sein Sachbearbeiter? Nicht auszudenken. War ihm überhaupt ein Sachbearbeiter zugeteilt? Im Telefonat – mit Herrn Wiehiessernoch? – hatte er ausdrücklich um einen Termin mit der Geschäftsleitung gebeten, war dann aber wenig überraschend und freundlich darauf hingewiesen worden, dass sich jemand um ihn kümmern werde, der für seine Angelegenheit zuständig sei. Was hatten sie erwartet? Dass der Vorstand der Bank sich einen Vormittag freinahm, um sich die Hirngespinste einer Handvoll Computerspinner anzuhören? Je länger Ferdi in seinem Sessel saß, desto fadenscheiniger kam ihm ihre Idee vor. Hatten sie alles bedacht? Waren ihre Einfälle, ihre Technik, ihre Lösungen wirklich so revolutionär, wie sie selbst meinten? Gab es wirklich einen Markt für ihre Idee? Oder sollten die zahllosen Kritiker recht behalten, die ihnen in den vergangenen Monaten so hart zugesetzt hatten? »Wer braucht denn so was?« oder »Gibt’s das nicht schon?« waren die häufigsten Antworten. Dann waren da die Interessierten, die sich alles anhörten und erklären ließen, wissend nickten, den durch Stolz befeuerten Eifer bei den Erläuterungen noch anheizten, um dann zum Schluss in einer Äußerung dieser Art zu münden: »Ja, nett, aber das wäre nichts für mich.«

Natürlich nicht! Natürlich war das nichts für jedermann, schon gar nicht für fantasielose Idioten. Leider mussten Ferdi und sein Partner, Clemens Nolden, im Laufe der Zeit feststellen, dass die meisten ihrer Freunde zu diesen Idioten zu gehören schienen. Und ihr Fell war nicht dick genug, als dass sich nach einiger Zeit nicht doch der Gedanke eingeschlichen hätte, ob sie nicht vielleicht selbst die Idioten waren, die Zeit und Geld in etwas investierten, was sich nie im Leben auszahlen würde. Aber jetzt war es zu spät, der Termin war gemacht, Ferdi saß in seinem Sessel und meinte langsam, den Schweiß auch durch seine Hose sickern zu spüren, wo diese mit der Sitzfläche eine klebrige Verbindung einging. Wäre Clemens nur mitgekommen, dachte er ein ums andere Mal. Schickt mich hier allein auf die Schlachtbank. Aber dann stellte er sich seinen Freund bei einem Gespräch mit den potenziellen Geldgebern vor. Nervös, zitternd, Sturzbäche schwitzend und zu keinem klaren Gedanken fähig. Clemens war der Techniker, der Kopf hinter den Ideen, der wusste, wie sie umzusetzen waren. Ferdi hingegen war der Verkäufer, technisch nicht unbegabt, auch er hatte einen guten Teil ihrer Software geschrieben, aber für den Kern, die digitale Logik hinter ihrer Idee, war Clemens verantwortlich. Dafür musste Ferdi hier sitzen und darauf warten, dass sie sich die nächste Abfuhr einhandeln würden. Sie würden das Büro kündigen müssen, ihre Leute entlassen und sich auf dem freien Arbeitsmarkt nach etwas anderem umsehen. Das war das Aus für Finally Development. Warum stand er nicht einfach auf und verabschiedete sich von der Empfangsdame? Er würde etwas davon murmeln, dass sie es sich anders überlegt hätten, die Idee sei vielleicht doch noch nicht ganz so ausgereift, daran müsse noch einiges getan werden, das könne man wirklich noch niemandem zumuten.

Erneut öffnete er seine Tasche, nahm die Notizen heraus, und die Buchstaben schienen zu verschwimmen. Auf dem Weg hierher hatte er in der Bahn noch Bemerkungen angebracht, der Rand der Blätter schien jetzt mehr Text zu enthalten als seine eigentliche Ansprache, die er in tagelanger Kleinstarbeit ausgefeilt hatte. Aber auch seine Handschrift schien ihm jetzt nicht mehr von dieser Welt zu stammen, die Farbe verlief förmlich auf den Blättern. »Vergleichswerte anführen«, hieß es an einer Stelle. Welche Vergleichswerte? Vergleiche womit? Ferdi schnappte nach Luft und entschied, dass es keinen Zweck hatte, sich mit einem derart windigen Vorhaben schon jetzt an die Öffentlichkeit zu wagen, noch war nichts verloren, er brauchte nur aufzustehen, sich zu erheben, festen Schrittes durch die Halle zu gehen und unerkannt zu verschwinden. Niemand würde sich an sein Gesicht erinnern, wenn jemand anrief, würde er nicht ans Telefon gehen, er wäre ein Schatten, den keiner zu fassen bekäme. Aber was würde er Clemens und den anderen sagen, die schon am Vorabend den Sekt kalt gestellt hatten, wie er zufällig gesehen hatte, als er als Letzter das Büro verließ, einem nagenden Hungergefühl nachgab und einen Blick in den Kühlschrank warf? Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er gerührt war, und eigentlich hatte er selbst daran gedacht, für die Jungs etwas Ähnliches zu organisieren, eine kleine Feier. Unsinn, eine große Feier, ein riesiges Fest, Anstoßen auf eine bessere Zukunft, schwelgend im Luxus, schwimmend im Strom des Geldes, das ihnen unweigerlich zufließen musste, wenn die Bank erst erkannt hatte, welchen Goldfisch sie da an der Angel hatten. Ja »wenn«. Nicht etwa »sobald«. Ferdi kam sich klein und verloren vor, er würde aus seinem Mund, in dem die Zunge wie eine alte Decke an seinem Gaumen pappte, kein Wort bringen, er musste hier raus. Gleichgültig wie, aber er würde es den anderen schon beibringen, die Bank hatte eben »Nein« gesagt, hatte die Idee nicht gut gefunden, nicht ausgereift, nicht passend, zu riskant. Oder der Sachbearbeiter war einfach nicht gekommen, hatte sie verarscht und lachte sich jetzt bestimmt in seiner Arbeitsnische kaputt über die dummen kleinen Jungen mit ihrem Spielzeug. In diesem Moment stand plötzlich ein untersetzter älterer Herr vor Ferdi, der vor Überraschung fast laut gejapst hätte.

»Guten Tag, Herr Arndt, nehme ich an, mein Name ist Reinbacher, entschuldigen Sie die kleine Verspätung.«

Ferdi brachte kein Wort heraus, korrigierte den Herrn noch nicht einmal, erhob sich umständlich, schüttelte die ihm dargebotene Hand und nickte unbeholfen. Zu lange gezögert, dachte er und überlegte nur, wie dämlich sein Grinsen eigentlich aussehen musste.

Herr Reinbacher führte Ferdi durch die Empfangshalle zu den Aufzügen und ließ dabei ein paar Bemerkungen über das Wetter und andere Belanglosigkeiten fallen, die Ferdi überhörte. Er konnte sich nicht konzentrieren, das Licht schien plötzlich zu hell zu sein, die Pflanzen zu grün, so als wären sie aus Plastik, die riesigen Fensterscheiben gaben den Blick auf einen Film frei, der draußen vor dem Gebäude ablief, ohne dass irgendjemand wusste, was hier drinnen vor sich ging. Aber wie sollten sie auch? Ferdi wischte sich etwas Schweiß von der Stirn und bemerkte dann, dass seine Hand vor Nässe tropfte. Hoffentlich hält mein Deo, war sein letzter Gedanke, bevor sich die Aufzugtüren vor ihnen schlossen und die Sorge um Atemnot den Gedanken an seinen Körpergeruch ablöste. Im achten Stockwerk wurde er in einen Raum geführt, in dem er kurz warten sollte. Schon schlichen sich wieder Gedanken an eine Flucht in seinen Kopf, er überlegte, ob und wie er möglichst unbemerkt aus dem Gebäude kommen könnte, welche Ausreden er haben würde, wenn sie ihn erwischten, aber in der Aufregung konnte er nicht einmal mehr sagen, wie oft sie abgebogen waren, nachdem sie den Aufzug verlassen hatten, ob er sich nach rechts oder links wenden musste, oder ob der Aufzug nur mit einem Schlüssel bedient werden konnte, er also sowieso bedingungslos ausgeliefert war.

»So, entschuldigen Sie die Wartezeit, das hier sind Herr Derigs aus der Kreditabteilung, Herr Selbach vom Risikomanagement, und Herrn Krosch haben wir als externen technischen Berater eingeladen. Wollen wir uns gleich setzen?«

Ferdi schüttelte Hände und hatte die Namen derer, zu denen sie gehörten, schon wieder vergessen. Er beeilte sich, auf seinen Platz zu kommen, denn die Frage schien rein rhetorisch zu sein, alle saßen bereits und warteten auf ihn. Hätte er nur noch etwas Zeit, sich vorzubereiten und aus dem raumhohen Fenster auf die Stadt zu blicken. Wenn er sich nur kurz frisch machen könnte, duschen, rasieren, noch eine Stunde schlafen, einen Tag vielleicht und dann auswandern und nie wieder hier auftauchen.

Mit quälender Langsamkeit öffnete er seine Tasche und fingerte an den Papieren herum, die er vorbereitet hatte.

»Haben Sie hier vielleicht einen Beamer?«, presste er hervor. Er hatte seinen Vortrag in Form einer kleinen Bildershow vorbereitet und hätte sich gern an deren Struktur festgehalten, um den Faden nicht zu verlieren und die wichtigsten Punkte nicht zu übersehen. Aber die fragenden Gesichter seiner Gegenüber machten ihm schnell klar, dass er mit dieser Stütze nicht rechnen konnte. Er probierte es dennoch etwas unbeholfen: »Ich hätte da etwas Material vorbereitet, ein paar Grafiken, Screenshots, und so weiter.«

»Das wird nicht nötig sein, Herr Arndt, wir kennen die Ausführungen ja schon aus den Unterlagen, die Sie uns geschickt haben. Es geht heute vielmehr darum, sie persönlich kennenzulernen, damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben, nicht wahr?«

Natürlich, klar, nickte Ferdi eifrig, dem überhaupt nichts klar war, außer dass er in Kürze ohnmächtig werden würde. Zu seiner Überraschung nickten seine Gegenüber aber durchaus freundlich und schienen ihren ursprünglichen Plan, ihn kurzerhand in Stücke zu reißen, nicht umsetzen zu wollen, zumindest noch nicht.

»Wenn es Ihnen recht ist, Herr Arndt, fasse ich die Angelegenheit kurz zusammen, damit wir feststellen können, ob wir auch alles richtig verstanden haben. Unterbrechen Sie mich bitte sofort, wenn ich etwas Falsches sagen sollte.«

Er stand auf, wies mit einer ausladenden Armbewegung auf seine Kollegen und fuhr direkt fort, wobei er sinnierend durch den Raum spazierte und Ferdi ab und zu anblickte, so als wollte er sich dessen Aufmerksamkeit versichern sowie der Richtigkeit seiner Ausführungen.

»Herr Arndt und sein Kompagnon haben vor einiger Zeit eine Softwarefirma gegründet mit Namen ›Finally Development‹. Neben Steuerungssoftware für Industrieanlagen liegt ihre eigentliche Kernkompetenz im Programmieren von artifizieller Intelligenz, die sie zur Fertigung einer neuartigen Software nutzen wollen. Dabei handelt es sich um eine Art Computerspiel, bei dem die Spieler über das Internet vernetzt sind, man spielt also nicht allein, sondern zusammen, mit weltweit Hunderten, Tausenden oder noch viel mehr Spielern. So ist jedenfalls das hehre Ziel, wenn ich sie richtig verstanden habe.«

Ferdi nickte und kam sich ein wenig überflüssig vor. Vor einem der Fenster zog eine Schar Tauben vorbei und verschwand hinter dem nächsten Gebäude. Der Raum roch etwas seltsam, so wie ein neues Auto, das noch nie oder nur sehr selten benutzt wurde. Er betrachtete den erzählenden Banker und dachte für einen Moment, dass das alles hier nicht echt sei. Er schlief wahrscheinlich noch oder wurde hinters Licht geführt. Genau, dieser Raum hier, der viel zu neu roch, der war extra für diesen Tag und dieses Treffen eingerichtet worden, er wurde zum Narren gehalten, gleich wurde ihm eröffnet, dass er im Fernsehen auftreten würde und Gast in einer Sendung mit versteckter Kamera sei. Aber das Einzige was passierte, war, dass er einen Teil der Ausführungen verpasst hatte.

»… so soll es dann möglich sein, dass die einzelnen Spielzüge von einem Zentralrechner überprüft werden, um feststellen zu können, ob der Zug gültig war und quasi auf das globale Spielbrett eingetragen werden kann, wo er für alle anderen Spieler sichtbar ist, die dann daraufhin wieder reagieren können. Stimmt das so ungefähr, Herr Arndt?«

»Arend«, korrigierte Ferdi jetzt und wunderte sich über seine plötzliche Sicherheit. Er stand ebenfalls auf und umrundete den Tisch, während er sprach. Je länger er redete, desto sicherer wurde er, was nicht verwunderlich war, denn schließlich hatten sie sich im Laufe der letzten Jahre ihres Lebens mit fast nichts anderem beschäftigt als mit diesem Projekt. Herr Reinbacher und jeder andere Schlipsträger hätte ihn nachts um drei Uhr aus dem Bett klingeln und nach Exil fragen können, und er hätte umgehend Rede und Antwort gestanden.

»So ungefähr ist das richtig, wenn auch kein Zentralrechner eingesetzt wird, um die Spielzüge zu kontrollieren. Bei dem hohen Durchsatz an gleichzeitigen Spielern, die wir anstreben, wäre ein derartiger Rechenaufwand von einem Rechner allein nicht zu lösen. Wir setzen daher auf eine verteilte Abarbeitung der Spielzüge, die von den Endgeräten der Spieler selbst übernommen wird. Wenn man davon ausgeht, dass ein Großteil der Spielzeit darauf verwendet wird, dass der Spieler seiner Fantasie nachhängt und seine Züge plant, sein Gerät in dieser Zeit aber nichts zu tun hat, liegt nichts näher, als eben diese Lösung. Über ein verteiltes, dezentrales Netzwerk werden die Spielzüge der einzelnen Spieler, sobald sie einmal getätigt wurden, an alle momentan zur Verfügung stehenden Spieler weitergeleitet und auf deren Geräten überprüft. Liegen Ergebnisse vor, wandern diese sofort wieder zurück in das Netzwerk. Das hat den Vorteil, dass wir keinen riesigen Zentralrechner mit unvorstellbaren Kapazitäten brauchen, wir sichern uns durch die verteilte Lösung auch gegen Ausfälle eines solchen Rechners ab. Bei einem Serverausfall wären sonst die schon angesprochenen Hunderte oder Tausende von Spielern nicht in der Lage, ihr Spiel fortzuführen, bei einem verteilten System gibt es immer einen Rückhalt, der einspringt, sobald jemand aussteigt. Bei der minimal vorstellbaren Spielerzahl von Eins übernimmt dann das Gerät des Spielers alle Berechnungen seiner Spielzüge.«

Ferdi war in seinem Element und fühlte sich langsam besser. Das Reden über ihr Projekt hatte ihn etwas beruhigt, seine Zunge gelöst und ihn in die Realität zurückgebracht. Allerdings schien jetzt die Stunde des externen Beraters zu schlagen, der die ganze Zeit über keine Miene verzogen hatte und auch jetzt sehr hölzern agierte, seine Worte mit Bedacht wählend.

»Sie sagen, dass es keine zentrale Speicherinstanz gibt, wie wird dann aber in diesem Fall der einzelne Spieler mit Daten versorgt, wenn er wirklich allein spielen sollte? Wenn Ihr Ziel einer weltweiten Spielergemeinde Wirklichkeit werden sollte, müssen die Datenmengen unvorstellbar groß sein, sodass es nicht möglich sein wird, diese alle redundant auf den Endgeräten vorzuhalten. Das Sicherheitsrisiko lokal gespeicherter Daten jedes einzelnen Spielers auf den Geräten aller anderen Spieler wird von dieser Frage noch nicht einmal berührt.«

Er lehnte sich steif zurück, sein Gesicht ließ auch weiterhin nicht erkennen, was seine Motivation war. Wollte er sich nur wichtigmachen, um sein Honorar zu rechtfertigen, sprach der Neid aus ihm und versuchte er deshalb, eine Schwachstelle in ihrem System zu finden? Aber Ferdi war nicht darauf aus, sich verunsichern zu lassen, sie hatten zu lange geplant und alle Für und Wider abgewogen, um jetzt angesichts solcher Anfängerfragen sofort die Waffen zu strecken.

»Das ist eine sehr gute Frage, aber ich kann Ihre Bedenken zerstreuen. Es ist richtig, dass Exil die Berechnungen, die nötig sind, um die einzelnen Spielzüge zu verifizieren, nicht auf einem zentralen Rechner durchführt, für die Datenhaltung aller gespeicherten Spielzüge und Spielstände sind wir allerdings auf zentrale Rechner angewiesen. Diese müssen allerdings nicht sonderlich leistungsfähig sein, sondern nur besonders viel Speicherplatz in einer durchdachten Struktur aufweisen, um zum einen die Datenmenge überhaupt speichern zu können und zum anderen den Zugriff darauf möglichst in Echtzeit zu gewährleisten. Wir arbeiten bereits mit einem anderen Unternehmen zusammen, und zwar handelt es sich dabei um die Firma BitFireS aus Großbritannien, die schon mehrere Preise für ihre innovative Datenspeicherung erhalten hat. Wir stehen in engem Kontakt mit den Entwicklern dieses Unternehmens und testen seit einigen Wochen neue Versionen von FireX, die noch nicht öffentlich erhältlich sind, in unseren Tests aber bisher hervorragend abschneiden.

Zum Thema Sicherheit kann ich auch noch kurz etwas sagen: Die Unversehrtheit der Spielerdaten hat höchste Priorität, daher werden alle Daten redundant vorgehalten, mehrfach gespiegelt und ständig auf Konsistenz überprüft. Dass alle Daten nur verschlüsselt übertragen und gespeichert werden, ist selbstverständlich. Verschlüsselung nach Militärstandards – und darüber hinaus – ist Grundlage unserer Arbeit, ebenso wie die Tatsache, dass kein Datensatz zurückverfolgt werden kann, selbst im unmöglichen Fall der Kompromittierung eines der Systeme würden die Einbrecher also nur Datenmüll erhalten, den sie weder entschlüsseln noch zurückverfolgen können. Aber wie gesagt: Diese Überlegungen sind rein hypothetisch.«

»Das sagt Facebook auch immer«, konnte sich der Externe nicht nehmen lassen zu sagen, aber der eigentliche Schwachpunkt in Ferdis letzten Ausführungen lag ganz woanders, wie ihm schon in der Sekunde, in der er es aussprach, klar wurde. Was lag denn über einem Militärstandard? Gab es das überhaupt? Er hatte sich in Rage geredet, um dem Wichtigtuer das Maul zu stopfen und sich dazu hinreißen lassen, etwas zu behaupten, angesichts dessen Clemens wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte. Was wäre, wenn er seine angebliche Verschlüsselung demonstrieren sollte, was wäre, wenn die Bank ihnen nur Geld bewilligen würde, wenn sie die Wunderwaffe zur Verfügung stellten, die sie ja angeblich bereits in Händen hielten und die sämtliche kryptografischen Bemühungen, die Militärs in der ganzen Welt jemals angestrengt hatten, locker in den Schatten stellte? Mit einem Mal war die Sicherheit verflogen, und Ferdi wurde kalt. Sein Hemd klebte an seinem Körper, der jetzt keine selbstsichere Wärme mehr verströmte, sondern sich zurückzog und sich vor den sanften aber klebrigen Berührungen des Stoffes ekelte, der sich von allen Seiten an ihn anzuschleichen schien. Aber Schützenhilfe kam von unerwarteter Stelle, als sich der Herr zu Wort meldete, der für das Risikomanagement verantwortlich war. Ferdi konnte sich weder an seinen Namen erinnern noch sich vorstellen, was seinen Beruf auszeichnete. Rechnete er Wahrscheinlichkeiten aus, um dahinterzukommen, wie risikoreich ein Unternehmen sein würde und ob es sich lohnte, Geld darin zu investieren? Oder durchleuchtete er Bittsteller, deren Lebenslauf und Familien, damit die Firma nicht jedem dahergelaufenen »Genie« mit einer windigen Idee auf den Leim ging? Durch den Dunst seiner Überlegungen trieben die Worte des Risikomenschen auf ihn zu.

»Danke, haben Sie noch Fragen, Herr Krosch? Wir würden Sie dann nicht mehr benötigen.«

Der schien überraschter von der Frage zu sein als Ferdi, zuckte kurz zusammen und verneinte dann. Seine Reaktion war anscheinend etwas übereilt, denn noch, während er sich erhob, richtete er eine weitere hastige Frage an Ferdi.

»Wie sieht eigentlich Ihr Konzept für die Spielerbindung aus? Rechnen Sie damit, dass die Leute Ihre Spielchen lange mitmachen und dafür monatliche Gebühren bezahlen? Meinen Sie, dass für einen andauernden Spielspaß gesorgt ist?«

Aber Ferdi musste auf diese Provokation nicht antworten, denn Herr Risiko kam ihm zuvor.

»Danke, Herr Krosch, um die inhaltlichen Fragen kümmern wir uns dann.«

Damit war der Techniker entlassen, und Ferdi konnte langsam damit aufhören, zu zittern und die Zähne zusammenzubeißen, damit sie vor Kälte und Unbehagen nicht aufeinanderschlugen. Mit dem Klappen der Tür, die sich hinter Herrn Krosch schloss, überflog ein leichtes Lächeln Ferdis Gesicht, das zu Eis erstarrte, als der Dritte im Bunde jetzt das Wort ergriff.

»So, gut, dann hätten wir das. Vielen Dank für Ihre Ausführungen, Herr Arend, ich denke, wir können dann hier zum Abschluss kommen. Also. Wir haben Ihre Kostenschätzung ja vorliegen, ich kann Ihnen gleich sagen, dass unser Haus nicht in diese Art von Unternehmungen investiert. Die Welt der Computerunterhaltung ist eine große, aber auch eine wankelmütige Sparte der Unterhaltungsindustrie und Schwankungen unterworfen, die man weder vorhersehen noch in irgendeiner Weise nachvollziehen könnte. Sie werden am besten wissen, wie überraschend der Erfolg für Newcomer zuweilen sein kann, aber nicht, wie viele Firmen mit Potenzial einfach untergehen, weil sie es nie schaffen, ihre Ideen bis zur Marktreife zu produzieren und letztendlich auch am Markt zu platzieren. Der Grund, warum Sie keine Kenntnis davon haben, wie viele gescheiterte Ideen auf eine erfolgreiche kommen, ist einfach der, dass Sie niemals erfahren werden, wer alles gescheitert ist. Wir sind da in einer etwas anderen Position, daher glauben Sie mir: Die Zahlen machen keinen Spaß, zumindest den Verlierern nicht.«

Er ließ ein kurzes, gackerndes Lachen hören, aber sonst rührte sich niemand, anscheinend hatte er den Witz ganz für sich allein gemacht, oder seine Art von Humor war so hinreichend bekannt, dass niemand der anderen mehr darauf reagierte. Ferdi sah sich sein Gegenüber genauer an, so wie er redete, hätte er einen grauen, nervösen Buchhalter erwartet, hager und sich hinter dicken Brillengläsern verschanzend. Auf der anderen Seite des Tisches aber saß ein braun gebrannter Sportlertyp mit kurzen blonden Haaren und einem Anflug von dunklem Bartschatten, der verriet, dass er sich die Haare färbte, was in einem fast grotesken Widerspruch zur Position stand, die er vertrat.

Ferdi raffte seine Papiere zusammen und begann, sie wieder in seine Tasche zu packen, die Worte des Sportlers waren deutlich gewesen. Keine Investition in Computerspiele. Natürlich. Jetzt ärgerte er sich über die Zeit, die er hier verbracht hatte, die Energie, die sie aufgewendet hatten, um alles vorzubereiten, um gewappnet zu sein für alle möglichen Fragen. Er hatte alles erklärt, hatte die Felsen der Zweifel umschifft, was die Neuheit ihrer Ideen anging, hatte Bedenken zerstreut, was die technische Machbarkeit betraf. Aber die Antwort war ganz einfach: Zu risikoreich, die Bank hatte keinen Bedarf daran, Geld zu verbrennen, nur weil ein paar einfältige Computerjunkies sich für Genies hielten.

»Scheiße!«, brüllte Leo, als Ferdi mit dem Bericht über seinen Termin in der Bank geendet hatte. »Ich hab’s gleich gesagt!«

»Hast du nicht«, meinte Tim, »du hast sogar den Sekt kalt gestellt.«

»Klar, aber das war deine Idee!«

»Leck mich.«

Alle sahen betreten zu Boden, Clemens hatte die ganze Zeit noch überhaupt nichts gesagt, aber man konnte ihm ansehen, was in ihm vorging. Exil war ihr Kind, das sie über Jahre hinweg aufgezogen hatten, und plötzlich sollte sich herausstellen, dass sie nur eine Totgeburt gepflegt hatten?

Ferdi hatte die Ausbrüche seiner Kollegen bisher ignoriert und insgeheim sogar genossen. Beim Anblick von Clemens’ betretener Miene fühlte er sich allerdings verpflichtet, etwas zu sagen, so konnte er seinen Freund nicht noch länger hängen lassen.

»Auf jeden Fall erzählte dieser Finanztyp dann weiter: Unser Haus sieht sich nicht imstande abzuschätzen, welches Potenzial hinter Ihrer Idee steckt, Herr Arend, aber Ihr Auftreten hat uns überzeugt. Na ja, eigentlich ein Gutachten, das wir in Auftrag gegeben haben und das besagt, dass Ihre Idee durchaus Zukunft haben könnte.«

Alle starrten Ferdi jetzt an, aber er ließ sich nichts anmerken.

»Wir werden Ihre Idee also nicht persönlich unterstützen, allerdings wird sich eine unserer Tochtergesellschaften Ihrer Sache annehmen. Es handelt sich dabei um ein Venture Capital-Unternehmen, das heißt, wir investieren in Erfolg versprechende Ideen und schneiden uns nachher ein großes Stück vom Kuchen ab.«

An dieser Stelle folgte wieder das gackernde Lachen, das in Ferdis Erzählung aber unterging, denn die anderen fielen schon über ihn her.

»Du Arsch!« Mit diesen Worten war Leo als Erster bei und auf ihm, rang ihn zu Boden und trommelte lachend auf seinem Rücken herum. Tim und Johann leisteten ihm Gesellschaft, bis sie alle keuchend liegen blieben.

Clemens hatte sich immer noch nicht gerührt, stand jetzt seelenruhig auf, blickte Ferdi an und schüttelte traurig den Kopf, aber in seinen Mundwinkeln versteckte sich ein Lächeln. Er verließ das Zimmer, die anderen sahen sich irritiert an, aber da kam er schon zurück und hielt den Sekt in der Hand.

»Und jetzt füllen wir uns mal so richtig ab«, verkündete er und knallte den Hals der ersten Flasche auf die Tischkante, sodass Scherben flogen und der Sekt nur so spritzte.

zwei

»Kommst du endlich?«

»Nur noch eine Szene.«

»Wie oft willst du mir das noch sagen?«

»Nur noch eine Szene!«

»Kindergarten! Ich esse jetzt!«

Tine stürmte aus dem Zimmer und machte sich geräuschvoll und mit anklagender Heftigkeit in der Küche zu schaffen. Theo achtete nicht auf sie und beschäftigte sich weiter mit seinem Bildschirm. Er schob farbige Rechtecke hin und her und beobachtete die Ergebnisse seiner Aktionen. Es dauerte lange, bis er zufrieden war, immer wieder verschob er ein Element und sah die anderen sich an seine Änderung anpassen, dann wieder löschte er einen Block und zog andere aus einer langen Leiste auf das Spielfeld. Manche Blöcke bestanden wiederum aus kleineren Elementen und waren in mühsamer Kleinarbeit von ihm zusammengesetzt worden, andere waren fertige Elemente und einfarbig dargestellt. Immer gab es etwas auszusetzen, eine Kleinigkeit, die das Auge störte, immer musste noch etwas geändert, verschoben, angepasst werden, bis das Gesamtbild stimmte. Auch die Rückmeldungen, die er vom Computer erhielt, veranlassten ihn zu weiteren Änderungen, manche Blöcke konnten nicht in Kombination mit anderen gesetzt werden, färbten sich nach einiger Zeit schwarz und zerfielen, worauf sie entweder den Platz freigaben oder die benachbarten Blöcke nachrücken ließen. Die Kombinationen waren schier unendlich, und so verbrachte Theo jede Minute seiner freien und leider auch die seiner nicht freien Zeit mit diesem Spiel.

Als er endlich in der Küche auftauchte, war Tine schon fertig mit ihrer Mahlzeit, stand schmollend am Fenster und trank Kaffee.

»Tut mir leid.«

»Lass dir was Neues einfallen.«

»Tut mir echt leid.«

»Halt die Klappe.«

Theo setzte sich an den Tisch, sichtete die Reste an Brot und Aufschnitt und machte sich etwas zu essen. Er hatte kein Bedürfnis, über seine Leidenschaft zu reden, die Tine bereits als Sucht bezeichnete. Sie waren schließlich nicht verheiratet, hatten keine Kinder, jeder hatte seinen Job und seinen Freundeskreis. Sie gingen immer noch zusammen ins Kino und teilten das Bett, da durfte er sich doch seine Freizeit einteilen, wie er wollte, oder etwa nicht?

»Wie lange soll das noch so weitergehen?«

»Was?«

»Stell dich nicht blöd. Wie lange spielst du hier noch das Versuchskaninchen?«

»Keine Ahnung.«

»Keine Ahnung reicht mir nicht.«

»Ich weiß es wirklich nicht. Die Tests sind wichtig.«

»Wichtiger als ich?«

»Erzähl nicht so einen Unsinn.«

»Pff.«

Tine nahm einen Schluck und sah ihn nicht an. Sie blickte aus dem Fenster, aber da gab es nichts zu sehen außer einer grauen Wand, Regen, Nebel und mehr Grau. Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Diskussion führten, und sie würde sich wieder beruhigen, wusste Theo, so viel war klar.

»Ich will, dass wir am Wochenende wegfahren.«

»Das geht nicht.«

»Sag jetzt nicht, du musst ›testen‹!«

Sie zischte das Wort, und Theo blieb stumm. Natürlich musste er »testen«, aber er spürte, dass ihr Streit eine andere Qualität bekam, so langsam wurde es ernst, und er musste sich etwas überlegen, um die Wogen zu glätten. Ein Wochenende. Zweimal vierundzwanzig Stunden. Dafür hätte er dann die nächste Woche mitsamt dem Wochenende Ruhe, konnte machen, was er wollte, konnte »testen«, wie sie es nannte. Natürlich hatte sie recht, es war ein Test, das Spiel war noch nicht ausgereift, noch nicht auf dem Markt, er testete die Software nur. Aber wenn er es tat, war er bei der Sache, als ginge es um sein Leben.

»Okay, lass uns wegfahren. Aber das Wochenende danach gehört mir.«

»Mach, was du willst.«

»Okay.«

Das war natürlich nicht die beste aller Möglichkeiten, aber wenigstens für den Moment war Ruhe, alles Weitere würde sich geben. So hoffte er.

Zwei Stunden später saß Theo wieder vor seinem Rechner, Tine arbeitete in der Spätschicht, und er hatte sich den Tag freigenommen, sodass er ungestört spielen konnte. Das Telefon klingelte, aber er zuckte nur abwehrend mit einer Augenbraue und konzentrierte sich auf seinen nächsten Spielzug. Er hatte sich alles sorgfältig zurechtgelegt und gerade die Rückmeldung erhalten, dass sein Spielzug so nicht übernommen werden könne. Sein mühevoll zusammengesetzter Block löste sich vor seinen Augen in Nichts auf. Verärgert blickte er auf das Telefon, das immer noch ungeduldig klingelte, erkannte die Nummer und hob ab.

»Ich habe gerade Arbeit von einer Stunde verloren!«

»Wovon redest du?«, wollte Ferdi am anderen Ende wissen.

»Was denkst du, wovon ich rede? Ich bastle hier seit einer Stunde an einem Biografieschnipsel, und die blöde Maschine erzählt mir, dass der Zug nicht gültig ist!«

»Wie war die Fehlermeldung?«

»Drohende Angstzustände oder so was.«

»Oder so was?«

»Keine Ahnung, mehr habe ich nicht gesehen, war zu schnell wieder weg.«

»Toll.«

»Ja, toll! Wieso kann ein Block, den ich mir zusammenbaue, eigentlich nicht in eine Art Ablage wandern, wenn der abgelehnt wird, nur weil ein kleines Teilchen nicht passt? Das nervt echt, wenn man die ganze Arbeit noch mal machen muss. Sofern man noch weiß, was man überhaupt gemacht hat in der ganzen Zeit …«

»Guter Punkt.«

»Natürlich.«

»Gebe ich weiter.«

Theo hatte sich etwas beruhigt.

»Danke. Was gibt’s sonst?«

»Wir werden am Wochenende eine neue Version des Kerns aufspielen und brauchen jede Minute zum Testen, die wir kriegen können. Ich hoffe, du hast noch nichts vor.«

Eine vage Erinnerung an ein Gespräch, das vor nicht allzu langer Zeit an diesem Tag stattgefunden hatte, schlich sich in Theos Kopf. Ausgerechnet dieses Wochenende. Eine neue Version des Kerns! Das würde neue Möglichkeiten in der Gestaltung bedeuten, neue Spielelemente, die man verwenden und deren Kombinationsmöglichkeiten man erforschen konnte. Und er sollte dabei sein. Und würde nicht können.

»Mist.«

»Was?«

»Ich habe eben mit Tine das Wochenende verplant, wir sind die ganze Zeit nicht da.«

»Mist.«

»Sage ich doch.«

»Kannst du das nicht auf das nächste Wochenende verschieben? Wir brauchen echt alle.«

»Könnt ihr das Update nicht auf das nächste Wochenende verschieben?«

»Keine Chance, wir kriegen seit Monaten schon Druck, dass es Zeit für ein Update wird, wir müssen abliefern, sonst sind wir geliefert.«

»Mist. Aber ich bin auch geliefert, wenn ich am Wochenende nicht parat stehe. Es gibt keine Möglichkeit, da noch auszuweichen, Tine ist schon am Limit.«

»Okay.«

»Glaub mir, ich brenne auf die neuen Sachen, ich will unbedingt dabeibleiben.«

»Ich weiß, ich mache dir keinen Vorwurf, Theo. Du hast uns schon echt so viel geholfen, das werde ich auch irgendwann wiedergutmachen, versprochen.«

»Was gibt’s denn da wiedergutzumachen?«

»Danke.«

Mit diesem Wort legte Ferdi auf, aber trotz seines Lobes wusste Theo, dass sein Freund sehr enttäuscht war. Ferdi hatte ihm schon vor Monaten von ihren Geldgebern erzählt und wie sich die Situation darstellte, welchem Druck sie ausgesetzt waren. Nachdem sie vor fast zwei Jahren das große Los gezogen und die Zusage für die Fördergelder erhalten hatten, mussten sie feststellen, dass die Bedingungen, an die die Auszahlung geknüpft war, nicht von Pappe waren. Ferdi hatte nicht mit vielen Einzelheiten herausgerückt, aber was er erzählt hatte, hatte gereicht, um Theo die Haare zu Berge stehen zu lassen. Zum einen war Finally Development zugesichert worden, dass sie machen konnten, was sie wollten, zum anderen war unmissverständlich klar geworden, dass sie genau das besser lassen sollten, wenn sie nicht umgehend wieder in ihren feuchten Backsteinbau ziehen wollten. Auf der einen Seite bekamen sie ein schickes neues Büro nahe dem Stadtzentrum, auf der anderen Seite nahm man ihnen viele Entscheidungen ab. So hatte sich Clemens gerade noch das Recht erstritten, bei Einstellungsgesprächen dabei sein zu dürfen, um den Bewerbern auf den Zahn fühlen zu können, die Vorauswahl aber trafen andere. So bestand Finally Development mittlerweile aus über fünfzig Angestellten, von den ursprünglichen Mitarbeitern waren nur noch Stefan und Tim übrig, Johann und zwei andere hatten nach Streitigkeiten, über die Theo nicht im Detail informiert worden war, gekündigt. Theo kannte Johann, wie auch Ferdi und Clemens, aus dem Studium und hatte ihn später noch einmal getroffen. Auf Nachfragen, was in der Firma passierte und wie sie vorankämen, hatte Johann nur ausweichend geantwortet und davon gesprochen, dass das Projekt strengster Geheimhaltung unterliege. Auch auf Theos Hinweis hin, dass er Tester sei, war ihm nichts mehr zu entlocken gewesen, kurze Zeit später hatte er die Firma verlassen.

Theo lehnte sich in seinem Stuhl zurück, griff sich seine Tasse und nahm einen kleinen Schluck des mittlerweile kalten Kaffees. Angeekelt setzte er die Tasse wieder ab und ging in die Küche, um neuen aufzusetzen. Ausgerechnet dieses Wochenende. Vielleicht konnte er Tine noch umstimmen! Aber allein die Vorstellung, wie sie reagieren würde, wenn er versuchte, sie noch einmal hinzuhalten, löste schon Gänsehaut bei ihm aus. Besser nicht. Während er auf den Kaffee wartete, stand er am Fenster, seine Finger spielten gedankenverloren mit dem Vorhang, draußen gab es nichts von Interesse zu sehen, es war immer noch feucht und neblig, ein perfekter Tag, um Lifelines zu spielen. Das war auch noch so ein Punkt, wie er sich jetzt erinnerte: Die erste Änderung, die die Geldgeber vorgenommen hatten, war die Anpassung des Spieletitels. Er wusste, dass gerade Clemens viel an dem ursprünglichen Titel gelegen hatte, sie hatten stundenlang darüber diskutiert, wie er lauten sollte und was er bedeuten konnte, aber diejenigen, die das Geld in der Hand hielten und damit jetzt auch den Ton angaben, hatten sämtliche Bedenken mit Hinweis auf den Markt beiseite gewischt. »Wie wollen Sie ein Spiel verkaufen, das nach Einsamkeit klingt, nach Zwang? Da geht schon vor dem Kauf bei den Spielern jegliche Kreativität den Bach runter.« So hatte es geheißen, und dann wurde eine Art Kommission eingesetzt, eine Gruppe von Kreativen, die sich wahrscheinlich ein paar Wochen mit einer unüberschaubaren Menge von Drogen im Keller eingeschlossen hatte und dann irgendwann, bärtig, verdreckt, aber mit einem seligen Lächeln auf den ausgezehrten Gesichtern wieder ans Tageslicht kam und den neuen Namen des Spiels verkündete. So jedenfalls hatte Ferdi es ihnen ausgemalt, und selbst Clemens musste lachen. Das letzte Gespräch zu diesem Thema, bei denen Clemens sich noch einmal für seinen Einfall eingesetzt hatte, musste in etwa so verlaufen sein:

»Lifelines versteht jeder, das ist positiv, das weckt Neugier und Kreativität.«

»Warum nennen Sie es dann nicht Lebenslinien? Das versteht jeder.«

»Wollen Sie sich auf den deutschen Markt beschränken? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das in Ihrem Interesse liegt.«

Und damit war das Thema erledigt.

Den Rest des Tages verbrachte Theo damit, seinen Spielzug zu rekonstruieren, den er am Vormittag zusammengesetzt hatte. Irgendetwas musste er übersehen haben, eine Kleinigkeit, die nicht ins Bild passte. Er konnte sich nicht mehr an alles erinnern, was er ausgeführt hatte, und probierte ein ums andere Mal kleinere Blöcke aus, setzte sie zusammen, bildete größere Blöcke, verschob sie aufs Spielfeld und beobachtete die Reaktion der Muster. Was wurde abgelehnt, was wurde angenommen, womit kam er weiter, was wurde sofort zurückgewiesen? Er sah auf die Uhr und merkte, dass er schon mehrere Stunden gespielt hatte, ohne dass ihm aufgefallen war, wie die Zeit verging. Innerhalb der nächsten Stunde musste Tine nach Hause kommen. Um die Wogen ein wenig zu glätten, sollte er dann vielleicht nicht mehr am Computer sitzen und immer noch spielen. Er loggte sich aus und veranlasste damit das Spiel, seinen momentanen Spielstand zu speichern. Er lehnte sich zurück, streckte die Arme über den Kopf, verschränkte die Finger und ließ die Gelenke knacken. Lange starrte er auf das Telefon, bis er sich endlich entschloss und Ferdis Nummer wählte.

»Hi, was machst du?«, fragte der.

»Was glaubst du wohl?«

»Wieder den ganzen Tag gespielt?«

»Genau. Sag mal, was kommt mit dem Update am Wochenende? Was gibt’s Neues?«

»Keine Ahnung.«

»Verarsch mich nicht.«

»Ich verarsche dich nicht. Clemens hat irgendwas zusammengebaut und verrät nichts. Er meinte nur, dass er das Spiel komplett umgekrempelt hätte, er hat anscheinend elementare Teile des Kerns neu gebaut und erzählt irgendwas von Wagnisfaktoren und so.«

»Wenn er das baut, was mir fehlt, will ich nie mehr schlafen!«

»Wovon redest du?«

»Deswegen rufe ich an: Ich habe gerade versucht, meinen Spielzug von heute Morgen nachzubauen, habe es aber nicht hinbekommen. Auf jeden Fall habe ich so ziemlich jede mögliche Kombination der Blöcke ausprobiert, die ich verwendet hatte. Irgendwann wird das langweilig.«

»Kann ich mir vorstellen.«

»Ja, aber ich meine nicht nur das Nachbauen von etwas, was man schon gebaut hat, sondern das Spiel an sich. Irgendwie passiert immer dasselbe, man puzzelt rum und merkt dann, dass man immer nur bestimmte Kombinationen zusammenstellen kann, man kann nichts riskieren.«

»Riskieren?«

»Riskieren.«

»Was meinst du?«

»Ich nehme zum Beispiel einen Block für ›im Alter von fünf Jahren Prügel bezogen‹ oder so was, mit dem Block komme ich aber nie weiter, irgendwann wird jede Kombination mit der Episode immer abgelehnt, irgendwann kommt immer raus, dass der Block nicht passt. Warum habe ich den dann aber überhaupt zur Auswahl?«

»Weil es sonst langweilig wäre.«

»Klar, aber wenn ich den gar nicht verwenden kann, ist es zuerst frustrierend und dann langweilig.«

Ferdi brummte zustimmend.

»Verstehe«, sagte er dann.

»Ich hoffe, dass Clemens genau das meint, dass man Risikoblöcke einbauen kann, die eigentlich nicht passen dürfen, die sich aber unter gewissen Umständen doch durchsetzen können.«

»Okay.«

»Mein Nummer Eins-Wunsch ist dadurch natürlich nicht hinten angestellt.«

»Ich weiß, ich weiß, Clemens ist im Bild, er überlegt sich was. Deine Idee mit der Ablage wird er übrigens bauen, danke dafür.«

»Kein Problem. Aber baut mir Blöcke, die ich von Grund auf selber schreiben kann, und ihr werdet mich nie mehr los.«

»Ich weiß, hör mal, ich muss noch was für das Update vorbereiten, war’s das?«

»Das war’s, muss eh Schluss machen, Tine kommt gleich.«

»Okay, mach’s gut.«

»Mach’s gut.«

Das Wochenende verlief gut aber langweilig. Theo war nie ganz bei der Sache, dachte immer an das Spiel und welche Neuerungen Clemens sich ausgedacht haben mochte. Zur gleichen Zeit ging ihm Ferdi nicht aus dem Kopf, er hatte besorgt geklungen und irgendwie gehetzt. Zu der Zeit, als sie sich im Studium kennengelernt hatten, war er eigentlich ein eher ruhiger Typ, den so schnell nichts aus der Ruhe brachte, er hätte eher fünf gerade sein lassen, als nervös zu werden. Aber seit er sich mit Clemens zusammengetan und sie das Geld für ihre Firma bewilligt bekommen hatten, hatten sich die Dinge verändert. In den Anfangstagen von Finally Development hatte die ganze Sache etwas von Spielerei, von einem netten Zeitvertreib, mit dem man sich über einen gewissen Zeitraum beschäftigte, den man aber auch wieder fallen ließ, sobald sich etwas Besseres bot. Und etwas Besseres war eigentlich jeder X-beliebige Job, der einem über den Weg lief. Damals gab es viele Kommilitonen, die sich in den Boomtagen des Internets mit Agenturen selbstständig machten, und kaum jemand überlebte, für alle war es eine interessante, für die meisten aber auch eine anstrengende Zeit, die Nackenschläge austeilte und nur einen Bruchteil überleben ließ. Finally Development gehörte zu diesem Bruchteil, aber den Preis, den Ferdi und Clemens dafür bezahlt hatten, war hoch, fand Theo. Aus der fröhlichen Feiergesellschaft, die die Nächte durchmachte, um einen Auftrag fertigzustellen, und dabei Bier in Strömen fließen ließ, war eine ernsthafte Unternehmung geworden, eine Firma, deren Angestellte er kaum noch kannte. Während Clemens immer noch trotzig seinen Look zur Schau stellte, den man wohlwollend als »etwas vernachlässigt« bezeichnen konnte, kamen die neuen Angestellten zu einem großen Teil im Anzug zur Arbeit. Und der Begriff »Ernsthaftigkeit« war wahrscheinlich noch nicht einmal zutreffend für die Veränderungen, die seine Freunde zeigten. Wenn sich Theo das letzte Gespräch mit Ferdi ins Gedächtnis rief, passte der Ausdruck »Verbissenheit« besser, gepaart mit einer guten Portion »Verzweiflung«. Besonders der Umstand, dass Clemens nicht mit Details über seine Änderungen herausrückte, war seltsam, denn sonst war er es gewesen, der sofort mit Plänen und Ideen aufwartete und die Nächte damit verbrachte, sie mit seinen Freunden zu diskutieren. Oder vielmehr: sie vor seinen Freunden zu verteidigen, denn was immer er ausheckte, hatte Hand und Fuß und musste höchstens an der Oberfläche poliert werden, das, was darunter schlummerte, war meist nahezu perfekt, die anderen mussten das nur erst erkennen.

»Hey, wo bist du gerade?«

Tine saß ihm beim Frühstück im Hotel gegenüber und hatte mit den Fingern vor seinen Augen geschnippt, um ihn in die Realität zurückzuholen, der er offensichtlich schon seit geraumer Zeit entrückt war.

»Bei Ferdi«, gab er zu, bereute aber schon im nächsten Moment seine Ehrlichkeit.

»Mein Gott, verfolgt uns der Typ jetzt schon an unserem gemeinsamen Wochenende? Ich wette, du denkst die ganze Zeit über das Spiel nach, habe ich recht? Du willst lieber jetzt als gleich zurück an deinen Computer.«

Theo blickte über den Tisch und sah in Tines Gesicht, das durch die einzelne Rose inmitten des »Wohlfühlfrühstücks«, das das Hotel bot, halb verdeckt war. Er neigte den Kopf leicht zur Seite, blickte in ihre braunen Augen und sah eine rötliche Strähne darüber fallen. Ihre Stirn war in Falten gelegt, aber er meinte zu wissen, dass ihr Ärger nur gespielt war. Schließlich war er hier mit ihr und nicht zu Hause geblieben. Trotzdem war seine geistige Abwesenheit natürlich eine Beleidigung ihres Wochenendes, an dem er nur ihr gehören sollte. Er lächelte, atmete tief ein und vernahm den schwachen Duft der Rose. Er reichte über den Tisch und legte seine Hand auf ihre.

»Ich habe nur darüber nachgedacht, wie sich Clemens und Ferdi verändert haben, seit sie dieses ganze Geld haben und machen können, was sie wollen.«

»Eben nicht.«

»Ja, genau, eben nicht. Ich habe vorgestern noch mal mit Ferdi telefoniert, und er war irgendwie komisch. Nicht kurz angebunden, auch nicht unfreundlich, aber irgendwie anders. Er wirkte gehetzt, unter Druck, in Eile, irgendwie so was.«

»Ich weiß, was du meinst.«

»Clemens habe ich schon längere Zeit nicht mehr gesehen. Mit ihm war ich zwar auch nie so befreundet wie mit Ferdi, aber trotzdem kenne ich ihn auch schon Jahre. Er hat sich immer etwas zurückgezogen und viel nur für sich gemacht, nie eine Freundin gehabt und so. Aber Ferdi meinte, er sei jetzt richtig verschlossen und …«

»Was?«

»Ich weiß nicht, Ferdi wusste es auch nicht.«

»Unglücklich?«

»Wahrscheinlich. Aber egal, das soll uns jetzt nicht kümmern. Bestellen wir uns Sekt?«

»Klar!«

Sie ließen sich eine Flasche Sekt aufs Zimmer bringen, verbrachten den halben Tag im Bett und unternahmen dann einen langen Spaziergang in der frischen Luft des herbstlichen Sonnenuntergangs. Ferdi und sein Befinden waren für den Moment vergessen, und Theo war froh, dass Tine sich wieder etwas beruhigt hatte.

So sehr Theo das Wochenende und die Versöhnung mit Tine genossen hatte, stellte sich sofort die Nervosität ein, kaum dass sie am Sonntagabend wieder zurück waren. Sie aßen zu Abend, und er musste sich beherrschen, um nicht ständig zu seinem Computer herüberzuschielen. Tine beobachtete ihn argwöhnisch, aber sie grinste verschmitzt, als sie anordnete: »Na, geh schon!«

Er bedankte sich, verließ den Tisch, schaltete den Rechner ein und wartete darauf, dass sich das Update installieren würde. Jetzt, wo er wieder an seinem Platz saß, konnte er kaum erwarten zu sehen, was Clemens sich ausgedacht hatte. Die Minuten zogen sich quälend dahin, er stand mehrmals auf und setzte sich sofort darauf wieder hin, aber nichts hielt ihn auf seinem Stuhl. Schließlich schnappte er sich das Telefon und versuchte, Ferdi zu erreichen, aber der ging nicht ran. »Verdammt.« Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Nun mach schon!«

Tine sah sich das Schauspiel eine Zeit lang an, schüttelte den Kopf über das Spielkind und ging irgendwann ins Bett, während Theo gebannt vor dem Bildschirm hockte, seine Bausteine verschob und Tine nicht einmal bemerkte.

Er erreichte Ferdi auch am nächsten Tag nicht und rief in der Firma an, um sich durchstellen zu lassen. Eine freundliche und vor allem weibliche Stimme wies ihn darauf hin, dass Herr Arend zurzeit nicht zu sprechen sei. Etwas irritiert legte Theo wieder auf und fragte sich, seit wann die Firma eine Empfangsdame beschäftigte. Ihm blieb allerdings keine Zeit, sich weiter darum zu kümmern, denn auch er musste an diesem Tag wieder arbeiten.

drei

Es dauerte Wochen, bis Theo Ferdi wieder traf, und als es endlich so weit war, verabredeten sie sich in der Stadt und beschlossen, Essen zu gehen. Spontan, wie Theo meinte. Ferdi war wie verwandelt, er strahlte bis über beide Ohren, war außer sich, sprang herum, machte Witze und lachte in einem fort.

»Was ist los, hast du irgendwas eingenommen?«

»Warte, ich erzähle dir gleich alles.«

Ferdi winkte ein Taxi heran und zog Theo mit sich. Im Wagen kurbelte er das Fenster herunter und hängte seinen Kopf in den Fahrtwind. Er ließ sich nicht dazu überreden, mit der Sprache herauszurücken, lachte nur, forderte den Fahrer auf, laute Musik zu spielen und wedelte mit einem großen Schein, als der sich zunächst zierte.

»Sag mal, ist alles klar?«

»Bestens. Bestens!«

Er hatte dem Fahrer eine Adresse genannt, vor der sie kurze Zeit später hielten. Theo staunte nicht schlecht, denn sie standen vor einem noblen Hotel, die Tür des Taxis öffnete sich direkt vor dem roten Teppich, der zur Eingangshalle führte. Quer über dem Teppich waren schmutzige Fußspuren sichtbar, die in Richtung des Bürgersteigs verliefen. Sie aber schritten geradewegs darüber hinweg und betraten die üppige Halle, von der zu beiden Seiten eine Treppe im Halbkreis in die nächste Etage führte. An der Decke hing ein monströser Lüster von der Größe eines Kleinwagens. Zunächst hielt Theo die Sache für einen Witz und wollte Ferdi schon zurückhalten, bevor der Schwindel auffiel, aber als dieser dem Concierge seinen Namen nannte und bat, an den reservierten Tisch geführt zu werden, ging ihm auf, dass es sich mitnichten um einen Scherz handelte. Zumindest eine Reservierung gab es, aber in einem Haus wie diesem, in dem man wahrscheinlich für ein Glas Wasser mehr bezahlen musste, als Theo an einem Tag verdiente, rechnete er schon damit, dass sie später entweder Teller abwaschen oder einen guten Fluchtweg ausspähen mussten. Sie wurden an den Tisch geführt, ein Kellner schob ihnen die Stühle zurecht, und ein anderer war schon dabei, Wasser in zwei der Unmengen von Gläsern zu füllen, die im Rund um ihre Plätze angeordnet waren.

»Was geht hier vor sich? Hast du im Lotto gewonnen?«

»Entspann dich, wir bestellen erst mal was zu trinken.«

»Das können wir uns nie leisten, lass uns woanders hingehen!«

»Kein Problem, zahlt alles die Firma, bleib ruhig.«

»Die Firma?«

»Geschäftsessen unter Geschäftspartnern, klar?«

Ferdi zwinkerte und war zu keiner weiteren Aussage zu bewegen, bis der Kellner die Karte gebracht hatte. Ferdi bestellte mit Kennermiene Menüs und verschiedene Weine, Theo sah nur sprachlos zu und konnte nicht aufhören, sich zu wundern. Wieso Geschäftsessen? Es war Ferdis Geschäft, also zahlte letztendlich er selbst. Und warum sollte er Geschäftspartner sein? Er war Tester, bekam dafür aber nichts, das war schließlich reiner Freundschaftsdienst.

»Okay, es reicht, was ist los?«

»Hältst es nicht aus, was?«

»Nein, lass hören.«

»Okay, warte.«

Ferdi ließ sich eine Flasche Wein zeigen, nickte das Etikett ab und probierte einen kleinen Schluck. Wohlwollend bestätigte er die Auswahl und grinste Theo unverschämt an, als sich der Kellner wieder entfernt hatte.

»Wie hat dir das Update gefallen?«

»Schleppst du mich deswegen hierhin? Um mich das zu fragen?«

»Hat’s dir nicht gefallen?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Also?«

»Es ist großartig!«

Ferdi nickte, grinste und stürzte den Wein herunter.

»Klasse, oder?«

»Auf jeden Fall. Ich wünschte, mein Tag hätte vierzig Stunden oder mehr. Diese Level, oder wie auch immer ihr das nennt, sind der Knüller. Jeden Abend nehme ich mir vor: ›Nur noch einen‹, und dann hänge ich doch wieder die ganze Nacht dran. Diese … unfertigen Geschichten sind um Längen besser, als immer wieder von vorne anfangen zu müssen. Echt gut.«

»Clemens.«

»Dachte ich mir, der Kerl ist Gold wert.«

»Kannst du laut sagen.«

»Auf Clemens.«

Sie prosteten sich zu und schwiegen eine Weile. Theo ließ den Blick schweifen, sie waren die einzigen Gäste und saßen an einem Tisch mitten in einem riesigen Raum. Alle anderen Tische waren zwar ebenfalls gedeckt, voll ausgestattet mit Garnituren von Gläsern und Besteck, Platztellern, Kerzen, Dekoration, Blumen und allem, was dazugehörte, nur die Leute fehlten. Er fühlte sich ein bisschen erinnert an den Film »Shining«, an den leeren Speisesaal des Hotels »Overlook« und an Jack Nicholson, wie er langsam durchdrehte und sich in Gesellschaft von Schemen, Geistern, imaginären Gästen an der Theke betrank. Ihn schauderte, und er nahm einen weiteren Schluck.

»Guter Stoff«, nickte er anerkennend.

»Sollte er, für hundertfünfzig Schleifen die Flasche.«

Theo blieb der Wein fast im Hals stecken.

»Bist du wahnsinnig?«

»Ich habe dir gesagt, du sollst dich beruhigen. Ich bin gerade dabei, eine hoch qualifizierte Fachkraft zu einem Geschäftsessen einzuladen, um sie davon zu überzeugen, uns in Zukunft mehr ihrer kostbaren Zeit zur Verfügung zu stellen. Die Firma wird davon sehr profitieren, wir sehen es als eine Investition in unsere geschäftliche Zukunft.«

»Wovon redest du?«

»Du hast doch gerade gesagt, du hättest gern einen Tag mit vierzig Stunden. Warum? Weil du dann mehr spielen könntest. Was hindert dich denn daran, den ganzen Tag zu spielen? Tine!«

Er lachte.

»Nein, das Geld. Du musst deine Miete bezahlen, du musst was zu Essen kaufen, Benzin für dein Auto, und so weiter und so weiter. Also, wie können wir dieses Dilemma auflösen? Klare Sache: Du schmeißt deinen Job hin …«

Er gebot Theo zu schweigen, als dieser schon antworten wollte.

»… und nimmst einen neuen Job an. Zufälligerweise bin ich darüber informiert, dass ein aufstrebendes Softwareunternehmen hoch bezahlte Stellen für qualifizierte Fachkräfte zu vergeben hat, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als am Computer rumzuspielen und sich vielleicht ab und zu dazu bewegen lassen, über das, was sie da machen, das ein oder andere Wort zu verlieren. Also, bist du dabei? Ja oder ja?«

»Was?«

»Also ja.«

»Moment mal. Ich soll meinen Job hinschmeißen und bei euch arbeiten? Spielen?«

»Genau das.«

»Wie stellst du dir das vor?«

»Ganz einfach.«

»Ja, toll.«

»Wo ist das Problem? Was machst du jetzt gerade für eine Arbeit? Wie viel Geld verdienst du noch mal? Ist der Job einmalig? Ist dein Chef dein bester Freund?«

»Nein …«

»Alles klar, du hast wahrscheinlich eine gewisse Kündigungsfrist, dazu kommt Resturlaub, ein paar Tage wirst du plötzlich noch krank, das heißt, du fängst nächsten Monat bei uns an …«

Er sah auf die Uhr.

»… also in knapp drei Wochen.«

Theo starrte Ferdi nur ungläubig an, griff sich die Weinflasche, schenkte sich großzügig ein und kleckerte dabei ebenso großzügig auf die Tischdecke, woraufhin er sofort rot anlief und hilflos versuchte, den Fleck zu kaschieren.

»Kein Problem«, kommentierte Ferdi, »ist im Preis inbegriffen.«

Er grinste, wurde aber direkt wieder ernst.

»Jetzt mal Butter bei die Fische. Ich hätte dich gern dabei. Du warst von Anfang an Teil der Sache, wir haben mittlerweile einen riesigen Stab von Testern, ich weiß noch nicht mal die Namen der meisten Leute, die jetzt dabei sind. Du kennst dich mit der Nummer aus wie kein anderer, du hast die meiste praktische Erfahrung damit, wahrscheinlich mehr als wir selbst. Du hast gute Ideen, bist clever und zuverlässig, kannst dich ausdrücken, siehst gut aus …«

»Hey, was war noch mal genau meine Aufgabe? Soll ich dir mit nacktem Oberkörper Luft zufächeln?«

»Darüber könnte man sprechen …«

Jetzt lachten sie beide, und Theo merkte, dass Ferdi sein Angebot ernst meinte. Er überlegte und musste feststellen, dass er tatsächlich in einem Job arbeitete, den er lieber heute als morgen hinschmeißen würde, wenn er das Geld nicht bräuchte. Und die Aussicht, für Finally Development zu arbeiten und den ganzen Tag mit einer Tätigkeit zu verbringen, der er sowieso liebend gern ausschließlich nachgehen würde, schien ihm fast zu schön, um wahr zu sein.

»Weißt du, was passiert, wenn man Menschen Geld dafür zahlt, dass sie etwas tun, woran sie Spaß haben und was sie auch ohne Bezahlung sowieso schon machen?«, fragte er. Es war ein letztes Aufbäumen.

»Was?«

»Die Motivation sinkt.«

»Kein Witz?«

»Kein Witz.«

»Kein Problem, dann zahlen wir dir halt nichts.«

»Ist das wirklich euer Ernst? Das mit dem Angebot?«

»Würde ich sonst mit dir hier sitzen und dich sündhaft teuren Traubensaft aufs Tischtuch schütten lassen? Klar ist das unser Ernst, meiner zumindest, die anderen wissen noch nichts davon. Clemens gegenüber habe ich es kurz erwähnt, der wird sich den Arsch abfreuen, wenn du mitmachst, und bei deinen Referenzen kann sonst niemand was dagegen haben. Der Rest ist Formalität, glaub mir.«

Theo sah seinem Freund in die Augen und meinte, ihn noch nie wirklich angesehen zu haben. Er hatte sich verändert, war gereift und erwachsen geworden. Theo spielte Computerspiele, aber Ferdi machte sie, verkaufte sie und war dabei, einen Markt zu erobern, zielstrebig und unbeirrbar im Glauben an seine Sache. Theo beneidete ihn um seinen Willen und seinen Ehrgeiz, allerdings nicht um den Preis, den er dafür zahlen musste. Innerhalb des letzten Jahres war er nicht nur reifer, sondern auch sichtbar älter geworden, unter seinen Augen zeichneten sich Ringe ab, die nicht nur von ein paar wenigen durchwachten Nächten herzurühren schienen, sondern die er sich über einen längeren Zeitraum hinweg erarbeitet haben musste. Aber wenn er sich die gute Laune ansah, die Ferdi versprühte, hätte er selbst dafür bestimmt auch ein paar Augenringe riskiert.

Er sah sich noch einmal um, als wollte er sich von der Umgebung, von etwas Wohlbekanntem verabschieden und aufbrechen zu etwas Neuem. Er ließ den Blick schweifen und beendete die Runde wieder bei den erwartungsvollen Augen seines Freundes. Er nickte langsam.

»Ich denke, ich bin dabei.«

»Super, das freut mich. Echt.«

Sie stießen mit dem Wein an, das Essen kam, und es gab nichts mehr zu besprechen.

Es war schon spät, als Theo nach Hause stolperte, weinselig und froh. An jeder zweiten Straßenlaterne machte er kurz Pause, um zu verschnaufen und sich den Tag noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Sie hatten gespeist wie die Könige, bevor der Abend langsam undurchsichtig wurde und im Schleier viel zu teuren Weins versank. Er erinnerte sich nicht mehr an Details, aber es hatte auch einige unschöne Szenen gegeben, zumindest für Hotel und Personal, Ferdi und er waren glimpflich und übermütig lachend davongekommen. Was im Einzelnen passiert war, würden sie wahrscheinlich erst mit der astronomisch hohen Rechnung erfahren.

An der Wohnungstür stocherte er eine Zeit lang mit dem Schlüssel am Schloss herum, bevor er merkte, dass er versuchte, mit seinem Autoschlüssel in die Wohnung zu gelangen. Bevor er den richtigen Schlüssel heraussuchen konnte, öffnete sich die Tür schon, und Tine stand im Nachthemd vor ihm. Ihr Gesichtsausdruck verriet nichts Gutes.