Treibholz - Jan Holmes - E-Book

Treibholz E-Book

Jan Holmes

0,0

Beschreibung

Eines Morgens verlässt Felix seine Wohnung und hat nicht vor, am Abend zurückzukommen. Er hat sich eine Woche Urlaub genommen, von der seine Frau Uta nichts weiß, weil er seine Beziehung zu ihr überdenken will. Er quartiert sich in einer Pension ein, aber vom ersten Moment an scheint sich etwas gegen ihn und seine Entscheidung zu stellen. Je länger sein Aufenthalt dauert, desto mehr gerät seine Realität aus den Fugen, und es ist fraglich, ob er jemals zurückkehren kann. Die Geschichte einer Flucht, vor Nähe, vor sich selbst. Ein surrealer Albtraum.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 403

Veröffentlichungsjahr: 2024

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jan Holmes

Treibholz

 

Jan Holmes

 

Treibholz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jan Holmes – TreibholzTexte und Umschlaggestaltung:© Copyright 2016/2024 by Jan Holmes

Umschlagfoto: KIVerlag: Jan Holmesjanhwriter@posteo.de – www.janholmes.dec/o KJ Funke, Bechlenberg 61, 42799 LeichlingenDruck: epubli

Montag

Kapitel Eins – Der Auszug

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und er hätte ein angemessenes Geräusch erwartet, etwas Anklagendes, das ihn zurückrief und ihn seinen Entschluss noch einmal überdenken ließ. Im Gegenteil hörte sich das metallische Schnappen frostig und abweisend an, er spürte es kalt in seinem Rücken, irgendetwas bestätigend, feindlich, er wurde davongestoßen wie von einem eisigen Stich, dem man ruckartig zu entfliehen sucht.

Jedoch sein Körpergefühl änderte sich nicht, der Ring um seine Brust schnürte ihn weiterhin ein, ließ nicht locker, so wie er es sich erhofft hatte, nachdem sein Plan gefasst war. Seine Erwartung kam ihm jetzt seltsam lächerlich vor, wie konnte er nur denken, dass etwas, das sich über Jahre hinweg aufgebaut hatte, in einem einzigen Moment verschwand? So wie manch einer, der sich endlich zu einer Diät durchgerungen hat, allein von diesem Schritt schon eine deutliche Veränderung dessen anstrebt, was zu erreichen ihn Jahre gekostet hat.

Er holte tief Luft, so als erwartete er, dass er den Ring damit sprengen würde, aber sein Brustbein knackte nur leise, mehr spürbar als zu hören, so wie ein Fingergelenk, aus dem die Luft entweicht. Der Druck blieb, er machte einen Schritt nach vorn, drehte sich dann zum Haus um, das er soeben verlassen hatte, und betrachtete die Fassade, blickte daran hoch und studierte die Schmutzschleier unter den leicht vorspringenden Fensterbänken, Stellen, die der Regen nie erreichen konnte. Hinter einem dieser Fenster wusste er ein Augenpaar auf sich gerichtet, wartend, vielleicht schon besorgt und fragend, warum er seinen Weg nicht fortsetzte, und er musste sich eingestehen, dass er selbst sich in diesem Moment dieselbe Frage stellte, eine Frage, die seinen Plan durcheinanderbrachte, ihn lückenhaft erscheinen ließ, falsch und feige, was der Wahrheit entsprach, aber Verzweiflung ist ein starker Motor, und Feigheit animiert zur Flucht, wo Klärung angebracht wäre.

Er zwang sich dazu, sich vom Haus abzuwenden, drehte sich in die Richtung, in die er normalerweise zu gehen hatte, und machte langsame, unsichere Schritte, so als müsste er sich bei jeder Bewegung aufs Neue versichern, dass er das Richtige tat, dass er auf dem richtigen Weg war. Aber gab es einen richtigen Weg heraus aus dem falschen Leben? Musste es nicht mit einem Knall enden, oder hätte er sich langsam herauswinden können, sich zurückziehen wie eine Schnecke in ihr Haus, fest umschlossen von einer Hülle, die ihn schützte, und eingeschlossen in einem Raum, der niemand anderem Platz bot als ihm? Er hatte diesen Gedanken seit Monaten vor sich hergeschoben, ihn gewälzt wie einen Stein, einen Schneeball, der sich mit jedem Meter noch vergrößerte und ihm irgendwann unverrückbar im Weg lag, bis er auf die Idee kam, zur Seite zu treten und eine andere Richtung einzuschlagen, das Hindernis einfach liegen zu lassen, wo es war, und es nicht weiter zu beachten. Was jetzt so einfach klang, bedeutete einen langen Prozess mit Höhen und Tiefen und vielen Fragen, was er denn habe, er sei so abwesend, ob ihn etwas bedrücke, woraufhin er stets beteuern musste, dass nichts davon zutreffe, er sei bloß überarbeitet, müde und abgespannt, dringend eines Urlaubs bedürftig. Diesen Urlaub hatte er sich letztendlich gegönnt, davon aber nichts erzählt, was ein weiterer Schritt in seinem Plan war, sich endlich zu befreien von dem, was er in diesem schicksalhaften Moment hinter sich gelassen hatte. Er lächelte dabei, denn wer war er denn schon, ein kleines Licht, ein unbedeutendes Rädchen in einem Getriebe, das er nicht einmal ansatzweise verstand, wie kam er dazu, seine Entscheidung als »schicksalhaft« zu bezeichnen? Sie war folgenschwer, nichts weiter, aber auch nur für ihn und für die Zurückgelassene, an die er jetzt wieder dachte, einen kurzen Augenblick des Bedauerns an sie verschwendete, bevor er den nächsten Schritt auf das Pflaster setzte und sich nach links wandte, ruhig, wie er hoffte, normal, was auch immer das heißen mochte, denn er wusste, dass die beiden Augen hinter dem Fenster ihn immer noch sehen konnten. Er musste nur noch die Straße überqueren, dann würde er hinter der nächsten Ecke verschwunden sein und konnte sich endlich entspannen.

Er wartete am Fußgängerüberweg, starrte angestrengt nach vorn, immer versucht, sich noch einmal zurückzuwenden und den Blick hinter dem starrenden Fenster zu suchen, aber das tat er auch sonst nie, daher musste er sich jetzt beherrschen, sich zusammenreißen, verdammt noch mal, nur noch diese paar Meter, über diese Straße hinweg, dann war es endlich vorbei. Er sah den Kiosk einige Hundert Meter weiter und konnte die Gestalten erkennen, die jeden Morgen davor standen und Bier aus Dosen schlürften. Einige spülten es mit klarem Schnaps herunter, dessen Flaschen sie beinahe schuldbewusst in ihrer Jackentasche verschwinden ließen, während sie die Dosen sich fast angeberisch auf dem Tisch sammeln ließen, so als wollten sie die Welt von ihrem Fassungsvermögen unterrichten oder sich selbst beweisen, was sie alles schaffen konnten, und sei es nur, eine Unmenge alkoholischer Flüssigkeit in sich hineinzuschütten.

Die Ampel ließ sich Zeit, mehr Zeit als sonst, wie es den Anschein hatte, so lange blieb sie doch sonst nicht rot, wollte sie ihn zurückhalten, zum Nachdenken treiben und seinen Entschluss letztendlich revidieren? Ich lasse dich hier so lange stehen, bis du zur Vernunft kommst, schien ihm das rote Licht zu bedeuten, das er jetzt fieberhaft anstarrte, bis die Ränder zu verschwimmen begannen und in komplementärem Grün schimmerten, das ihn beinahe dazu verleitet hätte, die Straße zu betreten. Aber dann zeigte sich das Licht gnädig, hob die unsichtbare Barriere auf, die es ihm entgegengehalten hatte, und ließ ihn endlich passieren, den Blick wieder auf den Kiosk gerichtet und sich die Frage stellend, ob er sich nicht ebenfalls eine Flasche genehmigen sollte, um sich ein wenig zu entspannen. Jedoch entschied er sich dagegen, er musste sich disziplinieren und an die Nachbarn denken, die Passanten, die er jeden Morgen um diese Zeit sah und die ihn jetzt zu beobachten und seine Schritte zu kontrollieren schienen. War er heute nicht langsamer unterwegs, zögerlicher, so, als wäre er sich seiner Sache nicht sicher? War er krank, führte er etwas im Schilde, etwas, von dem man seine Frau beim nachmittäglichen Einkauf unterrichten müsste? Er schüttelte die Gedanken ab, starrte unbeirrt auf seinen Weg und verpasste es beinahe, der stürmischen Frau mit dem Kinderwagen zuzunicken, so wie er es jeden Morgen tat. Er schaffte es gerade noch, ein gequältes Lächeln zustande zu bringen, bevor sie mit ihrem dreirädrigen Sportvehikel an ihm vorbeigerauscht war und seine Anwesenheit mit einem leichten Nicken bestätigte, es legitimierte und Ordnung bescheinigte. Er wusste noch nicht einmal, wie die Frau hieß, wo sie wohnte oder ob das dick eingepackte Bündel in ihrem Wagen ein Junge oder ein Mädchen war. Aber im Lauf der Jahre hatte man sich aneinander gewöhnt, an den Zeitpunkt des Zusammentreffens, man wartete beinahe aufeinander, wunderte sich, wo der andere blieb, so kam es ihm zumindest vor. Er wusste von sich, dass er sich einredete, dass sie bestimmt im Urlaub sei, wenn er sie eines Morgens einmal nicht traf und sie sich nicht gegenseitig ihrer ordnungsgemäßen Existenz versichert hatten.

Jetzt kam der Kiosk in Hörweite, vor allem aber in riechbare Nähe. Ein beinahe körperlich spürbarer Dunst ging von der kleinen Hütte aus, die auf einer Verbreiterung des Bürgersteigs errichtet worden war, vor Jahrhunderten, wie es den Anschein hatte, es wäre nicht verwunderlich gewesen, hinter den stumpfen Scheiben Schlagzeilen aus längst vergangenen Zeiten vorzufinden. Aber änderten sich die Titel überhaupt? Über das Jahr hinweg betrachtet, waren sie doch alle gleich, dachte er jetzt wie so oft, die Themen waren gleich, die Orte und die Personen wechselten manchmal, aber der eigentliche Tenor war identisch, genau wie bei den Nachrichtensendungen, die sie nachts brachten und die die Nachrichten vom selben Tag vor zwanzig Jahren zum Besten gaben, bei denen man nur an der schlechten Qualität der Bilder, die man damals als das Bestmögliche akzeptiert hatte, merkte, dass es sich um längst Vergangenes handelte. Er senkte den Blick, um sich nicht erneut in Versuchung geführt zu sehen, sich ebenfalls ein Getränk zu kaufen, und fragte sich, ob er sich jeden Morgen genau so verhielt. Grüßte er sonst, betrachtete er die Vormittagssäufer an den anderen Tagen mit unverhohlener, abschätziger Neugier, mit dem Blick desjenigen, der von sich behauptet, dass es mit ihm nie so weit kommen werde? Sollte er seinen Schritt beschleunigen, um der Versuchung zu entgehen, oder würde gerade dieses Verhalten auffälliger sein als alles andere, würde man sich fragen, woher diese plötzliche Hast kam? Er fühlte sich wie ein Verbrecher, der einen Tatort möglichst schnell zu fliehen sucht, aber genau weiß, dass ihn die Hast schneller verraten wird als alles andere, der seinen drängenden Schritt bremsen muss, um nicht aufzufallen, und dabei nur noch auffälliger wird, weil seine Muskeln sich unnatürlich gezügelt fühlen und dadurch Bewegungen vollführen, die abgehackt und staksig wirken und gleichsam nach Aufmerksamkeit schreien. Seht her, wir können nicht anders, wir müssen fliehen, aber er lässt uns nicht, seht alle her, wie unnatürlich wir uns bewegen, hier ist etwas faul, haltet ihn auf! Aber natürlich findet dieses Schauspiel nur im Inneren des betroffenen Körpers statt, alle anderen sind mit sich selbst beschäftigt, und selbst wenn sie einen Hauch dessen spüren, wenn etwas aus diesem mit sich kämpfenden Körper strömt, das für andere wahrnehmbar ist, wird es nur ein kurzes Erstaunen geben über das Unerwartete, bis man sich wieder dem nächsten zuwendet und die Ausnahme vergessen hat.

Ein verunsicherter junger Mann bewegte sich unbeholfen in die Richtung seiner Arbeitsstelle, die er heute nicht aufzusuchen gedachte. Auch nicht am nächsten Tag, nicht in der nächsten Woche. Er hatte frei, der Frau, mit der er zusammenlebte und die seine zukünftige Ehefrau sein sollte, aber nichts davon gesagt. Felix Reiter, fünfunddreißig Jahre alt, von schlaksiger Statur mit leichtem Ansatz dessen, was man einen kleinen Bauch nennen könnte und was er meinte, mit geringem Aufwand und einigen gymnastischen Übungen schnell wieder abtrainieren zu können. Er hatte sich an diesem Morgen entschlossen, die gemeinsame Wohnung und das gemeinsame Leben mit seiner langjährigen Partnerin zu verlassen und zu verschwinden. Einfach so. Er wusste nicht, wie er das bewerkstelligen sollte, er hatte Urlaub eingereicht und bewilligt bekommen, darüber hinaus aber keinen Plan, wohin er sich wenden sollte. Er trug eine lederne Aktentasche unter dem Arm, deren abgeschabtes Äußeres von jahrelangem Gebrauch zeugte und an deren Boden sich ein dunkler, speckiger Fleck gebildet hatte, der von seiner Hand herrührte. Taschen dieser Art wurden früher von Schülern der höheren Klassen als Schulranzen verwendet, und hätte man die Innenseite betrachtet, hätte man noch Spuren dessen finden können, was damals als Rebellion betrachtet wurde, Unterschriften von Mitschülern, gegen Schule, Lehrer und das Leben im Allgemeinen gerichtete Sprüche, die er erfolglos zu entfernen gesucht hatte und die ihn jetzt nötigten, die Tasche nur zu öffnen, wenn er sicher sein konnte, dass niemand einen Blick hineinwerfen würde. In der Tasche war nichts Ungewöhnliches: Einige Stifte reihten sich ordentlich im vorderen Bereich auf, in einem Reißverschlussfach fand sich ein Notizblock mit aufgedrucktem Logo der Firma, für die er arbeitete, im hinteren Teil ein belegtes Brot für ein zweites Frühstück und der Laptop, der von Tag zu Tag schwerer zu werden schien, so als würden sich die darauf gespeicherten Daten tatsächlich physikalisch bemerkbar machen und sich in messbarem Gewicht niederschlagen. Für sein Vorhaben hätte er anderer Dinge bedurft, Bargeld zum Beispiel, das er noch abzuheben gedachte, aber Kleidung fehlte, ein Schlafanzug, dann kosmetische Artikel, eine Zahnbürste, ein Deo und ähnliche Dinge, jedoch hatte er kein Aufsehen erregen wollen und deswegen nur das eingepackt, was er an jedem normalen Arbeitstag benötigte, den Rest würde er sich irgendwie organisieren müssen.

Felix dachte an Uta, seine Freundin, und ihre Beziehung, ihre gemeinsame Zeit, die in ihrem Studium begonnen hatte, an dem Tag, an dem sie zufällig ineinanderrannten, diese lustige Episode, die er nicht mehr hören konnte, die zu erzählen sie aber nie müde wurde. Wie sie zusammengeprallt waren und sich ein wahrhaftiger Wirbelsturm von Blättern erhob, gebildet aus dem Stapel an Unterlagen, die sie jeweils trugen, wie sie sich gebückt hatten und dabei mit ihren Köpfen kollidiert waren. Wie sie sich entschuldigt und ihre Blätter zusammengerafft hatten, um später am selben Tag zu merken, dass die Zettel heillos vermischt worden waren und jeder der beiden nun zur Hälfte die des anderen besaß, woraufhin sie sich suchten und fanden, ihre Mitschriften sortierten, sich auf einen Kaffee verabredeten und fortan ein Paar sein sollten. An diesem Punkt der Erzählung würde Uta ihren Felix verliebt ansehen und nach seiner Hand greifen, wenn er gerade in Reichweite war, was er wusste und sich meist schon vorher in eine sichere Entfernung brachte. Er selbst fand die Umstände ihres Kennenlernens anfangs ebenso witzig wie sie, aber im Gegensatz zu ihr wurde ihm die Geschichte immer peinlicher, je häufiger sie erzählt wurde, er kam sich unbeholfen dabei vor, trottelig und tapsig, wie jemand, der den anderen benötigt hatte, um klarzukommen, dabei war er sich sicher, dass sie es war, die nicht aufgepasst hatte, während es in ihrem ewigen Wiederkäuen der Erzählung so aussah, als wäre er der Trottel, der sie über den Haufen gerannt hatte. War es nicht vielleicht sogar Absicht gewesen, war er so schüchtern, dass er es nicht geschafft hatte, sie einfach anzusprechen, hatte er diesen Weg wählen müssen und dann ihre Unterlagen willentlich vertauscht, damit sie sich wiedersehen mussten? Je häufiger Uta von ihrem glücklichen Unfall berichtete, desto mehr kam es ihm so vor, als machte sie sich über ihn lustig, stellte ihn bloß, und bald kam es, dass er sich schnell entfernte, wenn er merkte, dass sie die alte Geschichte wieder einmal auspackte, obwohl jeder sie schon kannte, Hunderte Male gehört haben musste. Aber alle Anwesenden lachten immer beifällig und verstärkten nur Felix’ Unbehagen, so als wäre er bei etwas Unanständigem ertappt worden, das so schwerwiegend war, dass es die Jahre überdauerte und nach einem Jahrzehnt immer noch Schande für ihn bedeutete.

Felix hatte den Eindruck, dass stets Uta es war, die ihre Beziehung vorantreiben wollte, aber er hütete sich, darüber zu sprechen, zumal vor den anderen, ihren gemeinsamen Freunden und Bekannten, mit denen sie sich trafen, reihum jeder die anderen bekochend. Es waren freundliche Abende voller gegenseitiger Respektsbezeugungen über die kulinarischen Errungenschaften der anderen, wenn man auch an Wortwahl und Mimik erkennen konnte, wem es tatsächlich geschmeckt hatte und wer nur in einem Akt von höflicher Freundlichkeit so tat, als hätte er noch nie Besseres gekostet. Über die Zeit hinweg verkleinerte sich der Kreis, und es dauerte eine Weile, bis auch Felix auffiel, dass sich nur noch Pärchen in der erlesenen Runde befanden, alle Alleinstehenden hatten sich langsam aber sicher aus dem Kreis verabschiedet, spätestens, als die ersten von ihnen Kinder bekamen und sich der Themenkreis bei den Betroffenen sehr einschränkte und bei den bisher Verschonten mäßiges Interesse bis Befremden hervorriefen. Es war nicht erst zu diesen Gelegenheiten, dass Felix spürte, dass irgendetwas in ihm zu rebellieren schien, er schob es zunächst auf das Essen, das in geradezu unheilvoller Menge zubereitet und verzehrt wurde, sodass man sich schwor, in den nächsten Tagen enthaltsam zu bleiben, um die zu sich genommenen Kalorien über einen längeren Zeitraum zu verteilen. Als sich beim Näherrücken der nächsten Termine aber schon eine unterschwellige Übelkeit andeutete, verfestigte sich bei ihm der Eindruck, dass es nicht mit dem Essen selbst, sondern eher mit dem Umfeld und den beteiligten Personen zu tun hatte, das seinem Körper das Signal gab, zu rebellieren und sich gegen das Vorhaben zu sträuben. Jedoch stieß seine Abneigung nicht auf Verständnis, Uta riet ihm bloß, sich nicht wieder so vollzustopfen wie bei den letzten Malen, das sei ja schon fast peinlich gewesen, er solle halt einmal halblang machen und nur so viel essen, wie reinging, dann werde sich auch sein Magen gnädig zeigen und ihn die Nahrung bei sich behalten lassen. Felix hatte sich gefügt wie ein folgsames Kind, das einen logisch erscheinenden Rat nur widerwillig annimmt, weil es eigentlich weiß, dass ganz andere Gründe für ein Unbehagen vorliegen, die es sich jedoch aus Angst vor Konsequenzen auszusprechen scheut.

Einer der Letzten, die es noch in der Runde der Paare ausgehalten hatten, war Felix’ bester Freund Olaf, mit dem er bereits in die Grundschule gegangen war und mit dem er sich bis zuletzt einen Anschein von Junggesellentum bewahrt hatte, während andere sich schon mit ihrer Familienplanung beschäftigten. Sie trafen sich alle paar Wochen, gingen bis spät in die Nacht weg und kamen schwer betrunken zurück, nicht in der Lage, zu berichten, was sie getan und worüber sie sich unterhalten hatten, ein Umstand, den Uta nie zu begreifen in der Lage war. Als Olaf an einem ihrer Kochabende gefragt wurde, wie es denn bei ihm einmal mit einer Beziehung aussehe, hatte dieser nur unwirsch reagiert, weil er gerade einen Versuch, eine eben solche anzubahnen, erfolglos hinter sich gebracht hatte, was nur Felix wusste, aber Olaf hatte die Frage und die darauf folgende Diskussion darüber, was den jeweils anderen denn bestimmte Dinge angingen, persönlich genommen und als Ausdruck verstanden, dass es nicht mehr erwünscht war, dass er länger an der erlesenen Runde teilnahm. Felix hatte lange versucht, ihm diesen Glauben auszureden, jedoch letztendlich verstand er, dass Olaf schon seit Längerem eine Ausrede gesucht hatte, um den Abenden fernzubleiben, und die Gelegenheit als willkommen begrüßt und in Anspruch genommen hatte. Felix begriff weiterhin, dass Olaf nur seinetwegen noch zu den Treffen gekommen war, und er war versucht, mit Uta darüber zu reden, ob sie nicht ihrerseits aus der Runde aussteigen sollten, die offenbar so intolerant war, dass Alleinstehende nicht mehr erwünscht waren, aber er wusste, dass er nur eine Ausrede suchte, den Abenden seinerseits zu entsagen. Vielleicht fürchtete er auch, dass er der Nächste sein würde, dem gewisse Fragen gestellt wurden, denen er lieber entgehen wollte und die er als Eingriff in seine persönliche Lebensführung empfand. Und auch wenn niemand ihnen die Frage stellte, wie sie es sich denn mit ihrer Beziehung vorstellten und wann mit Nachwuchs zu rechnen sei, schwang die Erwartung, dass sie die freudige Nachricht jeden Moment verkünden müssten, in seinem Kopf ständig mit und machte ihn von Mal zu Mal befangener und weniger gewillt, noch länger an den Veranstaltungen teilzunehmen.

Den Druck auf seiner Brust hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits als einen Teil seines Lebens akzeptiert, er versuchte, nicht mehr besonders darauf zu achten, fühlte sich jedoch manches Mal den Puls und bemühte sich erfolglos, zu ergründen, in welchen Situationen ein vermeintlich beschleunigter Herzschlag auftrat. Noch stellte er keine direkte Verbindung mit Utas Planungen ihrer gemeinsamen Zukunft her, noch sollte es dauern, bis er genau darin die Ursache für sein Unwohlbefinden zu gewissen Zeiten ausmachte, und erst viel später würde er seinen feigen Plan fassen, diesem Zustand zu entkommen, zu fliehen, der Situation den Rücken zu kehren, statt sie zu ändern.

Kapitel Zwei – Allein

 

Und jetzt ging Felix die Straße entlang und hatte keine Ahnung, wohin er sich wenden sollte. Ein seltsames Dröhnen umfing ihn wie ein drückender Nebel, dem er nicht entkommen konnte, er blieb stehen und sah sich um, aber da war nichts Auffälliges zu entdecken. Er befand sich auf dem Weg zur Arbeit, die aufgrund seines Urlaubs für ihn heute nicht das Ziel sein konnte, es war August, schon am Morgen angenehm warm, aber er spürte es nicht. Die Geräusche der Umgebung drangen nur gedämpft zu ihm vor wie das Donnern der Explosionen in einem benachbarten Kinosaal, während man selbst noch auf den Beginn des eigenen Films wartet. Felix rieb sich die Augen, befreite sie von einem Rest Schlaf, der sich noch in ihren Winkeln versteckt hatte, und ließ die Hand wieder sinken. Er wusste nicht wohin, im besten Fall würde er zurück nach Hause gehen und eine haarsträubende Geschichte erfinden. Er habe den Urlaub bereits am Anfang des Jahres eingereicht und ihn sich nicht im Kalender eingetragen, die Kollegen hätten ihn ausgelacht, als er an seinem ersten freien Tag trotzdem im Büro erschien, er fühle sich dumm und wolle jetzt zu Hause Dinge erledigen, die schon so lange auf ihn warteten. Er stellte sich Utas Blick vor, ihr ungläubiges Stirnrunzeln, die Augen, die sich verengten und ihn dazu bringen würden, doch endlich die Wahrheit zu sagen: Er hatte davonlaufen wollen, er hielt es nicht mehr aus mit ihr, in ihrer gemeinsamen Wohnung, mit ihrem Lebensentwurf einer gemeinsamen Zukunft, dem er nur zugestimmt, den er aber nie selbst entwickelt hatte. Er vermochte nicht, sich ihre Reaktion auszumalen, ihre Entgegnung auf diese abgrundtiefe Enttäuschung, die er ihr bereiten würde. Hatte er ihr die ganzen Jahre nur etwas vorgespielt, waren sie sich nicht einig gewesen? Es war ihm, als könnte er ihre Tränen bereits sehen, er drehte sich abrupt um, weil er meinte, ein Schluchzen an seinem Ohr gehört zu haben, so als umklammerte ihn jemand von hinten und weinte. So würde es sein, sie würde ihn in den Schraubstock ihrer Arme nehmen und ein Geständnis aus ihm herauspressen, sein Widerstand würde ihn verlassen, er würde gestehen und dann doch gehen müssen, denn was sollte er sonst tun, was war die Alternative?

Er wartete wieder an einer Ampel und merkte, dass er den Weg zum Büro gewählt hatte, so als wäre nichts geschehen. Ihm gegenüber, auf der anderen Straßenseite, stand eine ältere Frau, die er noch nie gesehen hatte. Beobachtete sie ihn? Wusste sie, was in ihm vorging, konnte sie es sehen, stand ihm die Schande ins Gesicht geschrieben? Es wurde grün, er zögerte zunächst, schlich dann aber doch langsam vorwärts, auf die Frau zu, die ihn direkt anzusteuern schien. Gehen Sie zurück zu Ihrer Frau, würde sie in einem Moment sagen, sie würde mit dem Finger auf ihn zeigen, ihn mit dessen Spitze berühren und durchbohren, ihn zurückschieben auf den Weg, den er gerade gekommen war, um ihn zurück in seine Wohnung zu treiben. Als die Frau ihn jedoch keines Blickes würdigte, als sie ihn passierte, fühlte er einen kalten Hauch an sich vorbeiziehen, der ihn frösteln machte. Hatte er die Alte nicht schon einmal gesehen, kannte er sie, kannte sie Uta? Würde sie ihr berichten? Wovon? Er erreichte die andere Straßenseite und drehte sich verstohlen um, aber die mutmaßliche Verräterin schlug einen anderen Weg ein und lichtete den Nebel seines Misstrauens, der seine Stirn umwölkt hatte. Er griff sich an den Kragen und versuchte, ihn zu lockern, weil er schlecht Luft bekam, aber er trug ein offenes Hemd, dort war nichts, was man lockern konnte, er musste den sich verkrampfenden Muskeln in seinem Hals befehlen, sich zu entspannen, wenn er nicht ersticken wollte.

 

Noch ein Grund für sein Unbehagen, ein weiterer Backstein der Mauer, die sich auf seiner Brust auftürmte: Tante Ilona. Wann hatte sich diese Frau in ihre Beziehung eingeschlichen, und warum hatte Felix es nicht von Anfang an verstanden, diesen ständigen Besuchen Einhalt zu gebieten? Weil Tante Ilona eine freundliche, lustige Frau war, der man keinen Wunsch abschlagen konnte, da sie allein war, alleinstehend nach langer Ehe. Ihr Mann, der stets etwas nebulöse Onkel Josef, von dem immer nur als »er« geredet wurde. Felix hatte jahrelang nicht gewusst, wer »er« sein sollte, weil niemals der Name fiel, aber er hatte aufgrund der frommen Atmosphäre, die dieses allmächtige »er« umflorte, nie gewagt, danach zu fragen. Manches Mal hatte er gemeint, es handele sich um ein göttliches »Er«, so groß geschrieben, dass man das kapitale »E« sogar beim Aussprechen hören konnte, wie um der Ehrfurcht eine weitere Dimension zu geben. Erst viel später fand er heraus, dass Onkel Josef mitnichten ein Heiliger war, er hatte im Gegenteil dafür gesorgt, dass Tante Ilona ihren typischen Blick erhalten hatte, das leicht hängende Lid des linken Auges, das sie stets etwas argwöhnisch dreinsehen ließ, was Felix in der ersten Zeit immer auf sich bezogen hatte, so als würde die alte Tante ihn gering schätzen und ihn gleichzeitig mit dem fehlenden Aufschlag des einen Auges davor warnen, ihrer Nichte bloß nicht zu nahezukommen. Wenn Tante Ilona ihn nicht gerade ansah, betrachtete er das betroffene Auge neugierig und versuchte, die feine helle Linie zu finden, die sich in ihren Falten versteckt hielt wie eine weißliche Made, die nur ab und zu hervorblitzte, wenn sie die Augenbrauen hochzog. Felix fragte nie nach Details, er hörte nur von einem Vorfall mit einem Küchenmesser und der darauf folgenden Trennung von Onkel Josef, der noch jahrelang versuchte, sie mit Liebesbeteuerungen wieder zurückzugewinnen. Aber Tante Ilona ließ sich nicht erweichen und schien nicht betroffen darüber, dass er sich irgendwann volllaufen ließ und im Anschluss daran seinen Wagen vor einen der prächtigen Kastanienbäume setzte, die die Landstraße säumten, die er befuhr, um seine Wohnung zu erreichen, seine Absteige, wie die Tante es abfällig nannte, mit einem Zucken ihres Mundwinkels, so als könnte sie den Dreck, der dort herrschte, auf ihrer Zunge schmecken. Und so wandelte sich das hoheitliche »er« in etwas Abwertendes, Geringschätziges, als die Bezeichnung für jemanden, dessen Name man nicht aussprechen möchte, aus Angst davor, sich mit dem zu beflecken, was diese Unperson ausmachte.

Tante Ilona kam jeden Sonntag bei Uta und Felix vorbei, Punkt fünfzehn Uhr klingelte es, ungeduldig, wie es schien, so als wäre jede Sekunde, die sie zu warten hatte, eine Anmaßung, eine Beleidigung und unnötige Verschwendung ihrer kostbaren Zeit, von der sie eigentlich mehr als reichlich zur Verfügung hatte. Schon morgens wurde die Wohnung geputzt und für den hohen Besuch vorbereitet, so als käme der Papst persönlich und als müsste der Eindruck erweckt werden, dass niemand hier lebte, als befände man sich in einem Museum für altertümliche Kunst, in dem den Besuchern kommender Jahrhunderte präsentiert werden sollte, wie man zu diesen Zeiten gelebt hatte: nett eingerichtet, nett anzusehen und ohne ein Stäubchen weit und breit. Felix hatte nie ergründen können, warum es dieser peinlichen Sauberkeit bedurfte, um Tante Ilona zu empfangen, und er fragte auch nie nach, was passiert sein mochte, um Uta in einen derart unnützen Tatendrang zu stürzen und etwas vorzutäuschen, was nicht der Realität entsprach. Selbst eine alte Frau wie Tante Ilona, die einem anderen Jahrhundert entstammte, in dem andere Regeln galten, in dem Wert auf Etikette und bestimmte Umgangsformen gelegt wurde, selbst einem solchen Relikt eines Menschen konnte nicht entgehen, dass niemand so lebte, dass es einfach unnatürlich war, sich in einer solchermaßen sterilen Umgebung aufzuhalten, die es einem verleidete, sich nur zu schnäuzen, aus Angst vor dem Schmutz, der dabei freigesetzt wurde.

Der erste Besuch der Tante wurde von Felix noch mit einiger Euphorie begleitet, er war irrtümlich davon ausgegangen, dass er sie lediglich kurz kennenlernen sollte und dass es darüber hinaus bei einem einmaligen Treffen bleiben würde. Später zog er sich bereits morgens zurück, nachdem er erfolglos versucht hatte, einfach länger im Bett zu bleiben, er aber schon nach kurzer Zeit herausgescheucht wurde, da die Betten natürlich gemacht werden mussten, obwohl die Tante es nie schaffte, sich aus der Küche herauszubewegen, in der sie sich schnaufend nach dem Erklimmen der Treppen auf einen Stuhl fallen ließ und sich erst wieder erhob, wenn sie entschieden hatte, dass es an der Zeit war, sich zu absentieren, wie sie es nannte. Nie benutzte sie die Toilette, nie nahm sie etwas anderes in Augenschein als den Flur der Wohnung und die direkt angrenzende Küche, aber man konnte durchaus meinen, dass ihr Blick die Wände problemlos durchdringen konnte und sie so sehen würde, wenn die Betten nicht gemacht waren oder das Waschbecken im Badezimmer nicht auf Hochglanz poliert.

Als die Besuche mit ständiger Regelmäßigkeit anhielten, wurde Felix etwas unwillig und versuchte, sich zu erkundigen, was man dagegen unternehmen könne, wurde aber von Uta mit einem vernichtenden Blick für seine Herzlosigkeit abgestraft, sodass er es künftig unterließ, derartige Fragen zu stellen. Er fügte sich in sein Schicksal, saß brav herum und hörte Uta und ihre Tante über alte Zeiten sprechen, an denen er keinen Anteil hatte, was sein Ausgestoßensein aus der kleinen Runde untermauerte und ihm mehr und mehr das Gefühl gab, dass er einen überflüssigen Teil dieser Gesellschaft darstellte, was niemand zuzugeben bereit war. Er unternahm einige Versuche, sich anderweitig zu beschäftigen, wurde aber schnell darauf hingewiesen, dass er die alte Frau doch nicht sitzenlassen könne, seine Unternehmungen hätten auch Zeit bis später, er solle sich nicht so anstellen. Auch ein Experiment mit Alkohol, den er kurz vor dem Besuch der Tante hastig konsumierte, zeigte nicht den gewünschten Erfolg: Er wurde nicht gleichgültig gegen die endlosen Erzählungen, sondern entwickelte im Gegenteil eine geradezu übertriebene Sensibilität gegen ihre Blicke, die aus ihren eisblauen Augen abgefeuert wurden wie gleißende Blitze, und ihre Mimik, die ihn gering zu schätzen schien, anzuklagen wegen seines Lasters, seiner Trunksucht geradezu, denn wer würde schon an einem Sonntagnachmittag trinken, wenn nicht gewohnheitsmäßige Säufer, so wie »er«, die immer kurz davor waren, Unschuldige mit Messern anzugreifen und sich später zu Tode zu fahren?

Also akzeptierte Felix Tante Ilona als einen Teil der Beziehung mit Uta, den er hinzunehmen hatte, auch wenn er bereits am Samstag mit Schrecken daran dachte, was ihm am nächsten Tag wieder bevorstehen würde.

 

Der Ballast an Felix’ linkem Arm schien sich zu verselbstständigen. Er wechselte die Tasche auf die andere Seite, aber das fühlte sich derart ungewohnt und fehlplatziert an, dass er es schnell wieder aufgab. Er wäre sein Gepäck gern losgeworden, hing aber an der Tasche, und das Schwerste darin war sowieso der Laptop, der nicht ihm gehörte, sondern der Firma. Er spielte eine kurze Zeit mit dem Gedanken, das Gerät im Büro abzugeben, schreckte aber vor den Kommentaren zurück, die ihn erwarten würden. Darüber hinaus hatte er sich bereit erklärt, während seines Urlaubs ab und zu seine Mails zu überprüfen, um Notfälle schnell bearbeiten zu können. Er ärgerte sich jetzt über sein Zugeständnis, nachdem er noch nicht einmal gefragt worden war, er hatte es von sich aus angeboten und würde nicht vergütet werden, wie kam er also dazu, die Zeit seines Urlaubs freiwillig anzubieten? Er klemmte die Tasche fester unter den Arm, sie schien ihm entkommen zu wollen, seine Hand rutschte immer wieder ab, sodass er sie sich mit dem Oberarm an den Körper drückte, was nach kurzer Zeit anstrengend wurde und seine Muskeln verhärtete, die sich mit einem stechenden Schmerz dagegen wehrten. Er konnte die Tasche im Bahnhof einschließen, dachte er. Und dann? Er merkte, dass er seinen Plan nicht zu Ende gedacht hatte, wenn er ehrlich war, hatte er noch nicht einmal damit angefangen, sein Vorhaben überhaupt zu planen, sein einziger Gedanke war, dass er die Wohnung verlassen wollte, dass er Uta verlassen wollte. War das überhaupt richtig? Er liebte sie, dessen war er sich sicher, aber war es nach all den Jahren noch Liebe oder nur noch eine Gewohnheit, an die man sich hielt, weil man es eben nicht mehr anders kannte? Kälte schlich in seinen Körper, er ging schneller, um sie zu vertreiben, aber die Bewegung half nicht, das Zittern kam von innen und stieg frostig empor, klammerte sich an sein Herz und presste seine Lungen zusammen, sodass er zu keuchen begann. Er blieb stehen, sah sich um und steuerte dann eine Bushaltestelle an, wo er sich auf die Bank setzte. Seine Stirn fühlte sich feucht an, ungesund kalt wie nach dem Erwachen aus einem fiebrigen Traum. Ein Bus hielt, Felix merkte es erst, als der Fahrer ihn durch die geöffnete Tür anrief. Erschrocken sah er hoch und wollte gerade abwinken, da ging ihm auf, dass das die Rettung sein konnte. Er stieg ein, kaufte eine Fahrkarte bis zur Endstation und ließ sich auf einen Sitz fallen, dessen kunstledernes Polster sein Gewicht mit einem pfeifenden Geräusch willkommen hieß.

Er hielt seine Tasche auf dem Schoß umklammert wie ein Schutzschild und starrte aus dem Fenster, vor dem die Stadt vorbeizog, darin Menschen, die zur Arbeit gingen und fuhren, Läden wurden gerade geöffnet, Dinge auf die Straße geräumt, ein Mann sprang eben vom Trittbrett eines Müllwagens und begann, Abfallbehälter auf die Straße zu stellen. An der nächsten Haltestelle stieg eine Gruppe Kinder ein, die zur Schule mussten, eines setzte sich neben Felix, nahm dabei aber den Tornister nicht ab und hockte in einer sehr unbequem aussehenden Stellung auf der Kante des Sitzes. Felix sah weiterhin nach draußen und versuchte, das Geschrei der Kinder zu ignorieren, was ihm nur leidlich gelang. Er erinnerte sich an seine Schulzeit, er war immer mit einem Schulbus gefahren, der außerhalb des normalen Linienverkehrs bereitgestellt wurde, es gab keine anderen Fahrgäste, nur Schüler, die sich jeden Morgen darin zu überbieten suchten, dass sie abschätzten, wo die Türen des Busses zum Halt kommen würden, damit sie als Erstes einsteigen und sich einen Sitzplatz sichern konnten. Waren sie damals auch so laut gewesen? Sehr wahrscheinlich, und ebenso wahrscheinlich war es, dass sie die Lautstärke gar nicht wahrgenommen hatten, so wie die Schüler jetzt. Felix beobachtete, wie Hefte herumgereicht wurden und einige der Kinder mit zittriger Schrift Aufgaben kopierten, die sie zu Hause versäumt hatten. Felix lächelte und war für einen kurzen Moment abgelenkt, zwei Haltestellen später aber schon wieder allein, als der tobende Haufen ausstieg und ihn mit seinen Gedanken zurückließ.

Wohin sollte er sich wenden? Ihm fiel Olaf ein, wahrscheinlich konnte er bei ihm ein paar Tage unterkommen, aber auch der musste arbeiten, er würde ihn erst heute Abend antreffen können. Was sollte er bis dahin tun? Und was danach? Uta würde sich sorgen, wenn er nicht rechtzeitig nach Hause käme, sollte er ihr eine Nachricht schreiben, dass er eine plötzliche Dienstreise habe antreten müssen, die sich nicht verschieben ließe und eine ganze Woche dauern werde? Würde sie, würde er selbst eine derartige Geschichte glauben? Viel wichtiger aber war, dass er dennoch mit ihr kommunizieren musste, und gerade das wollte er nicht, er brauchte den Urlaub von seiner Beziehung, mehr als das, er wollte sie beenden und hatte keinen Drang, Kontakt aufzunehmen. Mehr und mehr wurde ihm klar, dass sein Plan so nicht funktionieren konnte, er hatte die Konsequenzen nicht bedacht, war geflüchtet, ohne sich darüber klar zu werden, was er mit seiner Freiheit eigentlich anfangen wollte. Uta tat ihm leid, sie würde sich Sorgen machen, ihn vermissen, nach ihm suchen. Ihn suchen lassen? Sie würde ihn als vermisst melden, zumindest würde er das tun. Warum hatte er ihr nicht einfach sagen können, dass er Abstand brauchte, eine Auszeit, dass er sich darüber klar werden musste, was er eigentlich wollte? Er war feige, daran gab es keinen Zweifel, das Problem war nur: Diese Erkenntnis half überhaupt nicht weiter.

Irgendwann hielt der Bus und machte keine Anstalten, sich weiter zu bewegen. Der Busfahrer stand auf, wollte das Fahrzeug verlassen und sich eine Pause gönnen, da bemerkte er, dass er noch einen Fahrgast hatte. Mit einer wippenden Zigarette im Mundwinkel rief er dem kränklich aussehenden jungen Mann zu, die Endstation sei erreicht, ließ die Tür offen stehen und trat aus dem Bus auf einen Schotterplatz am Rand der Stadt, den Felix noch nie gesehen hatte. Er folgte dem Fahrer und erfuhr, dass dieser erst in zwanzig Minuten wieder zurückfahren würde, also dankte Felix ihm und machte sich zu Fuß auf den Rückweg, denn er hatte keine Lust, zu warten, was sollte er sonst tun?

 

Ihre erste gemeinsame Wohnung hatte Uta ausgesucht. Sie eröffnete Felix, dass sie bereits seit einiger Zeit auf der Suche sei und nun habe sie etwas Passendes gefunden, ob sie es sich nicht einmal anschauen sollten? Felix war völlig überrumpelt, er hatte einen Moment überlegt, ob Uta ihm nur einen Streich spielte, aber ihr erwartungsvolles Gesicht verströmte reine Freude über den gefassten Entschluss, kein Anflug von Zurückhaltung zierte ihre Miene. Sie hatte geführt, er ließ sich führen, ging hinter ihr her wie ein treuer Hund, in Gedanken vertieft und mit einem Gefühl von Haltlosigkeit, wo ihm doch das Bauen des gemeinsamen Nestes eher Sicherheit hätte geben sollen. Er verschwieg ihr sein Empfinden, schlich vorsichtig, beinahe ängstlich durch die großzügigen Räume wie ein ungebetener Gast, der sich lieber wieder entfernen möchte, bevor die Hausherren ihn entdeckten. Uta bemerkte sein Zögern, ihr Blick verweilte einen langen Moment auf ihm, was ihn so nervös machte, dass er ein Lächeln zuwege brachte, das sie ihre Zweifel vergessen ließ. Sie tanzte förmlich durch die Räume und hinterließ eine Welle von Fröhlichkeit und Ahnung künftigen Wohlbehagens. Als der Vermieter ihnen versicherte, dass sie gute Chancen hätten, sich gegen die angeblich zahlreichen Mitbewerber durchzusetzen, bedurfte es nur noch eines bittenden Blickes, um auch Felix zu einer Zusage zu bewegen. Auf dem Weg zurück sprudelte Uta über vor Ideen, was man mit den Zimmern machen könne, wie die Einrichtung aussehen werde und welche Farben den Wänden stehen könnten, während Felix sich gequält hinter ihr herschleppte und sich zu überreden suchte, dass man durch die Zusammenlegung ihrer Haushalte eine Menge Geld sparte. In seinem Inneren allerdings tobte es, er fühlte sich überfahren und an die Wand gedrückt, er sah nach seiner Zusage keinen Ausweg mehr, diesen Schritt, der ein gemeinsamer sein sollte, zurückzunehmen, und suchte sich in dieser Nacht dadurch vom Druck zu befreien, indem er sich übergab, was er Uta gegenüber später auf den übermäßigen Weinkonsum schob, den sie sich zur Feier ihrer Entscheidung gegönnt hatten.

 

Nur wenige Monate später war der Einzug erledigt, und Felix fand sich in einer Wohnung wieder, die ihm viel zu groß erschien. Der Flur war weitläufig und so breit, dass sie auf beiden Seiten Schränke aufstellen konnten. Es gab neben Küche und Bad noch drei weitere Zimmer, von denen zwei durch einen Durchgang verbunden waren. Die Wände strahlten eine kalte Gleichgültigkeit aus und machten keinerlei Anstalten, Felix willkommen zu heißen. Während Uta durch die Zimmer wirbelte und alles schon fertig eingerichtet sah, bahnte sich Felix seinen Weg durch die Türme aus Kartons, die ihm an jeder Ecke im Weg standen und ihn überlegen ließen, was diese wohl enthalten mochten. Die schiere Menge an Dingen, die seiner harrten, seine Aufmerksamkeit verlangten und von ihm mit ihrer stillen Präsenz erwarteten, dass er sich kümmerte, erdrückte ihn. Die Größe der Wohnung bot ihm paradoxerweise keine Möglichkeit, sich auszubreiten, sich zu entfalten und sich, entkommen aus der Enge seiner vorherigen Einzimmerwohnung, zu strecken und durchzuatmen. Im Gegenteil schienen die hohen Decken sich immer weiter von ihm zu entfernen, die Räume zogen sich zurück, verhöhnten ihn und flüsterten ihm mit ihrer Stille, unterbrochen vom leise pochenden Echo seiner Schritte, zu, dass er sich hier verlaufen werde. Utas Vorschläge wurden von ihm allesamt abgenickt, nicht weil er mit ihr übereinstimmte, dass der Flur in einem zarten Rosa gestrichen werden musste oder in die Ecke hinter der Badezimmertür eine schmale Anrichte gehörte, sondern einfach aus dem Grund, weil er so jeglicher Entscheidung enthoben war. Er konnte durch die Gänge der Baumärkte und Einrichtungshäuser, die sie besuchten, wandeln und stand den Gegenständen hilflos gegenüber, während Uta zielstrebig auf das ein oder andere Regal zuging, Dinge herauszerrte, sie verwarf oder freudig nickend in ihren Wagen packte. Hätte man Felix in dieser Zeit einen Wasserhahn, eine Bohrmaschine oder einen Farbeimer gezeigt, er hätte mit den Schultern gezuckt oder hilflos genickt, in völliger Unkenntnis von Sinn und Zweck der ihm vorgehaltenen Objekte.

Während Utas Freunde sie zur Wohnung beglückwünschten und auf ihren Besuchen mit juchzendem Lob nicht geizten, nickten seine Freunde die Räumlichkeiten ab und setzten sich dann in die riesige Küche, um Bier zu trinken und über andere Dinge zu reden. Felix beobachtete sie genau und versuchte, in ihren Gesichtern Meinungen zu lesen, die seine stützten. Was bedeutete dieser Blick, war er abschätzend oder sogar abschätzig? Fand Olaf nicht auch, dass die Räume viel zu groß waren, schrien sie nicht gerade nach einer Steigerung der Anzahl ihrer Bewohner? Das war ein Thema, das Uta und Felix nie angesprochen hatten, was sich aber jetzt förmlich aufdrängte und Felix in weitere Bedrückung brachte. War es nicht nur logisch, dass man die höhnische Leere der Räume mit weiteren Menschen füllen musste, war das ein heimlicher Hintergedanke gewesen, als Uta die Wohnung ausgesucht hatte? Er hatte das Gefühl, entwurzelt zu sein, er hatte sich nie mit einem Umzug auseinandergesetzt, bis Uta ihn in ihre Pläne eingeweiht hatte. Wie lange hatte sie sich schon damit beschäftigt, was waren ihre Hintergedanken? Felix musste sich hüten, diese Fragen nicht tatsächlich zu stellen, denn er verdrängte zu leicht, dass Uta ihn gefragt hatte, mehr als einmal, dass sie wissen wollte, was er von der Wohnung hielte, ob er sich vorstellen könne, hier zu leben, mit ihr zu leben. Das hatte er alles abgenickt, hatte Ja und Amen gesagt, aber war er in diesen Momenten überhaupt Herr seiner Gedanken? War er nicht noch viel zu beschäftigt mit der Überlegung, überhaupt umzuziehen, war er nicht völlig überwältigt von dieser gravierenden Änderung in seinem Leben, sodass er sich um die Einzelheiten gar keine Gedanken machen konnte? Die Entscheidung, dass sie zusammenziehen würden, schien unverrückbar, da war es für ihn eine Nebensache, wie die Wohnung aussah, wo sie lag und ob sie Räumlichkeiten bot, deren Größe und Aufteilung die Einrichtung eines Kinderzimmers geradezu forderten.

Und mit jedem Zimmer, das eingerichtet wurde, mit jedem Karton, der verschwand und Platz freigab, wurde der Raum in Felix enger, so als würde er etwas von sich hergeben, um ihre Wohnung damit auszustatten. Es schien ihm, dass die Luft, die die übergroßen Zimmer füllte, ihm selbst zum Atmen fehlte, sie wurde ihm gleichsam entzogen, um sich in den Räumen auszubreiten, die damit verschwenderisch umgingen und weiter von ihm zehrten. Aber er bemerkte auch, wie glücklich Uta mit ihrer Entscheidung war – ihrer, das heißt, Utas Entscheidung, er sah es nicht als ihrer beider Entscheidung an, hier zu wohnen. Er redete sich ein und gut zu, dass es nur eine Frage der Zeit sein musste, bis er sich daran gewöhnt haben würde, bis die Wohnung ihn annehmen würde und er sie, bis der Druck nachließ, der auf ihm lastete. Und dann kamen Tante Ilonas Besuche hinzu.

 

Felix ging eine Straße entlang, durch einen Vorort, den er noch nie betreten hatte, und musste sich mehrfach zurückhalten, nicht den Daumen auszustrecken und sich mitnehmen zu lassen. Von einem Sportplatz, der sich vor seinen Blicken hinter einem bewachsenen Erdwall verbarg, drangen Stimmen und Geschrei zu ihm herüber, er hielt einen Moment inne und versuchte, sich die Gesichter hinter den Stimmen vorzustellen. Schließlich stieg er den Wall empor und setzte sich auf eine Bank, die bereits von einem anderen Mann genutzt wurde. Dieser sah ihn kurz an, nickte mit dem angedeuteten Lächeln verborgener Gemeinsamkeit und wandte sich dann wieder dem Spiel zu, offenbar war er der Vater einer der kleinen Fußballer und hielt Felix für seinesgleichen. Auf dem Platz ließen die Kinder flüchtige Wölkchen roten Staubs aus ihren Spuren aufsteigen, es roch nach frisch gemähtem Gras und entfernt nach Schweiß und Umkleidekabinen. Wie lange würde er hier wohl sitzen können, bevor er ein Gespräch führen und unweigerlich auffallen musste, dass er hier nichts zu suchen hatte? Würde man ihn für einen Perversen halten und ihn verjagen? Felix fröstelte, er sah argwöhnisch zu seinem Banknachbarn herüber, aber der war gefesselt vom Spiel, fieberte mit, machte Bewegungen vor und nach, feuerte sein Kind oder die Kinder in Gesamtheit mit unhörbaren Rufen an. Felix beugte sich ein wenig vor und sah eine Plastiktüte neben der Bank stehen, bei der sich verdächtige Ausbeulungen zeigten, entweder der Mann sammelte Leergut, oder er war gerade dabei, aus vollen Flaschen ebensolches zu erzeugen, auf jeden Fall befand Felix diesen Umstand als hinreichende Erklärung dafür, warum jemand im arbeitsfähigen Alter zu dieser Tageszeit auf einer Bank saß. Aber sein Nachbar konnte genauso gut Urlaub haben, dachte Felix, suchte aber weiter nach Anzeichen, um seinen ersten Eindruck zu bestätigen. Sah das Kinn des Mannes nicht nachlässig rasiert aus? Nicht nach einer unterlassenen Rasur an diesem Morgen, nicht nach einem Dreitagebart oder dem Ansatz eines Vollbartes, sondern vergessen und nachlässig behandelt wie ein unergiebiges Stoppelfeld, auf dem es brache Stellen gab, dann aber wieder unansehnlich zurückgelassene Halme, lang und geknickt, so lang, dass sie bei der letzten und vorletzten Ernte schon übersehen worden sein mussten. Und dann seine Nase: War sie nicht etwas zu knollig, erkannte man dort nicht die typischen roten Adern des Säufers?

Felix wandte sich wieder ab und starrte auf den Platz, folgte aber dem Spiel nicht. Die kurze Ablenkung hatte ihm gutgetan, beinahe hätte er den Mann um ein Bier gebeten, um einen Schluck wenigstens, fand sich dann selbst aber peinlich berührt von seinen Gedanken, lehnte sich zurück und musste sich wieder seiner Situation stellen, die sich wie eine Mauer vor ihm auftürmte, die zu erklimmen er nicht die Kraft hatte. Er musste ihr aus dem Weg gehen, sich abwenden, um sie herum laufen oder einfach den Rückzug antreten. Und genau das hatte er heute Morgen getan, mit jeder Minute, die verstrich, wurde er sich aber unsicherer, ob er den Weg weiter gehen wollte. Noch konnte er zurück! Er würde einfach nach Hause kommen, so tun, als sei er im Büro gewesen, berichten, was er zu Mittag gegessen habe, ein wenig über seine Kollegen erzählen und was sie alles zu tun hätten – ganz so wie jeden Tag, es würde Uta nicht auffallen. Und genauso könnte er es am nächsten Tag machen und für den Rest der Woche, bis sein Urlaub vorbei wäre und er ganz regulär wieder ins Büro musste. Es wäre das Einfachste und der bequemste Weg, es genau so zu machen, dachte er, er musste sich dafür noch nicht einmal anstrengen. Vielleicht konnte er den Tag in einer Bücherei verbringen, vielleicht könnte er Museen besuchen, Ausflüge machen, ganz allein, sich ausruhen, entspannen vom Alltag zu Hause, von der Enge der Wohnung.

Aber er wusste, dass es nicht funktionieren würde, der Schatten dessen, vor dem er tatsächlich geflohen war, lag über allem, und die Erkenntnis packte und schüttelte ihn, als er es sich eingestand. Nicht der Alltag und die Wohnung waren das, was ihn einengte, sondern Uta. Nein, auch nicht Uta, nicht sie als Person, aber ihre Beziehung, ihr Zusammenleben, ihr … ja, ihr Leben. Utas Leben und seines, Felix’, das daneben stattfand, in völliger Abhängigkeit, von jeder Entscheidung befreit. Befreit in einem negativen, drohenden Sinn, denn er war nicht nur davon befreit, er war jeder Entscheidung enthoben, er hatte keine Freiheit. Uta entschied für sich, für sie beide, für ihn mit, die Möglichkeit des Widerspruchs bestand nicht, nicht für ihn, den Feigling, der sich nicht zur Wehr setzte, der alles über sich ergehen ließ, der eher zwei Augen zudrückte, als einmal einen Protest zuzulassen, der lieber zurücksteckte, als einmal etwas auszudiskutieren, seinen eigenen Willen anzumelden.

Nun sah er sich selbst in ihrer Wohnung – ihrer, Utas, nicht ihrer beider. Er stand im Wohnungsflur vor den Wänden, denen er nie eine andere Farbe als Weiß zugetraut oder gar zugemutet hätte, vor sich die Anrichte hinter der Tür, die so perfekt passte, in seinem Rücken ein flacher Schrank mit geräumigen Schubladen, auf den man sich setzen konnte, es war eigens ein Kissen, das farblich mit den Wänden harmonierte, zu diesem Zweck darauf gelegt worden. Und er fühlte sich mittendrin wie ein Fremdkörper, ein Gast, ein ungeladener Eindringling, der nicht hierher gehörte, in dieser falschen Welt nicht zu Hause war. Die Gegenstände um ihn herum bildeten eine perfekt aufeinander abgestimmte Gemeinschaft, sie gehörten zusammen, alles war an seinem Platz und bedrückte ihn mit stummer Klage über ihn, der nicht passte. Wie sah Uta ihn? Musste sie nicht erkennen, dass er nicht dazugehörte, dass er nicht in diese perfekt aufeinander abgestimmte Welt von Räumen und Dingen gehörte, dass er ein Fremder war in dieser Harmonie, in die er wie eine missliebige Dissonanz hereintrat? Immerhin, er war eingeladen worden, er hatte die Dinge in Augenschein genommen und dazu genickt, aber er hatte keinen Anteil daran, scheute sich teilweise sogar, sie zu benutzen, so als würde er ein Sakrileg begehen, eine Entweihung, wenn er sie in ihrer Existenz nicht in Ruhe ließ.

Und Uta? Wie konnte sie ihn in seiner Fremdartigkeit ertragen? Musste sie nicht merken, dass er nicht dazugehörte? Oder war es genau das, was sie wollte? Hatte sie ihn nicht zu dem gemacht, was er war, hatte sie ihn nicht geformt in den Jahren? Ein Blick von ihr konnte ihm mehr zusetzen als eine stundenlange Diskussion. Die Trauer, die Enttäuschung, die aus ihr sprach, wenn sie sich abwendete und sich in Demut von ihm entfernte, sagte ihm klarer als alles andere, dass er versagt hatte, dass er der Grund für ihr Leiden war, das er in jedem Fall heilen musste. Warum? Um des Friedens willen? Oder weil er sie liebte? Tat er das? Liebte Uta ihn, konnte man etwas wie ihn lieben, einen formbaren aber immer formlosen Klumpen Lehm, der sich an alles anpasste und in seiner Duldsamkeit treuer war als ein Hund, aber genau so dumm?

Kapitel Drei – Unter Leuten

 



Tausende von E-Books und Hörbücher

Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.