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Ralph hat auf einer Urlaubsreise vor zwanzig Jahren sein erstes Mal erlebt und kann die Erfahrung nicht vergessen. Jetzt ist er verheiratet und Vater von zwei Kindern, trotzdem fährt er immer wieder an denselben Ort zurück, um seine große Liebe wiederzusehen. Sein Alltag, sein ganzes Leben und die Beziehungen zu seiner Familie und seinen Freunden sind bestimmt von seiner Besessenheit. Manchmal ist die Unfähigkeit, vergessen zu können, kein Geschenk. Seine Freunde beschließen, dass sich endlich etwas ändern muss, aber sie haben nicht damit gerechnet, wie tief Ralphs Liebe ist und was sie heraufbeschwören, als sie daran rühren.
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Seitenzahl: 360
Veröffentlichungsjahr: 2021
Jan Holmes
Die Antwort auf Gestern
Jan Holmes
DIE ANTWORTAUF GESTERN
© 2021 Jan Holmes
Autor: Holmes, Jan
Umschlaggestaltung: Holmes, Jan
Umschlagfoto via Unsplash:
Howell, Edward (unsplash.com/@edwardhowellphotography)
Verlag & Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN Print: 978-3-347-35501-9
ISBN eBook: 978-3-347-35503-3
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Prolog
Ein alter Mythos: Wenn man einen Frosch in einen Topf mit Wasser setzt und das Wasser ganz langsam erhitzt, immer weiter, bis zum Siedepunkt, stirbt der Frosch. Angeblich gewöhnt er sich einfach an das immer wärmer, immer heißer werdende Wasser und merkt nicht, dass er bei lebendigem Leibe gekocht wird.
So dumm ist ein Frosch nicht, aber wie ist es bei den Menschen? Geht es uns so mit der Liebe – nur anders herum? Geraten wir in Hitze, die mit der Zeit abkühlt, immer weniger wird und uns schließlich erfriert, ohne dass wir es merken? Ist Gewöhnung der Feind, bedürfen wir eines plötzlichen Ereignisses, eines abrupten Wechsels, damit wir etwas spüren und diese Empfindung für immer behalten? Wirft man den Frosch direkt in kochendes Wasser, springt er sofort heraus und rettet so sein Leben. Wie retten wir unseres? Durch langsame Gewöhnung oder durch plötzliche Ereignisse? Sind wir überhaupt zu retten? Möchten wir gerettet werden?
Man sagt, dass das erste Mal, ein erstes Mal, unvergesslich bleibt. Was ist, wenn diese unauslöschliche Erinnerung zum Fluch wird? Was ist, wenn wir nichts zurücklassen können, wenn wir alles, was wir erleben, immer wieder vor dem unerreichbaren Maßstab dieses ersten Mals sehen müssen? Können wir dann glücklich werden? Oder sind wir es die ganze Zeit? Können wir das eine Mal für immer im Gedächtnis behalten oder müssen wir versuchen, es wieder und wieder zu erlangen, immer aufs Neue die einmal gekannte Höhe zu erklimmen – um dann doch wieder zu erkennen, dass das erste Mal unerreichbar sein wird, und um es dennoch erneut anzustreben.
Manchmal ist die Unfähigkeit, vergessen zu können, kein Geschenk.
Teil Eins
Infektion
Kapitel Eins: Anfang der Achtziger
Ein Campingplatz in einem Pinienwald, irgendwo am Atlantik, verstreute Zelte verstecken sich zwischen den Bäumen, die angenehm kühlen Schatten spenden. In der Sonne ist es kaum auszuhalten, trotzdem liegt man fast den ganzen Tag am Strand und lässt sich bräunen. Das eigentliche Leben beginnt abends und reicht bis in die frühen Morgenstunden, man hört Musik, isst, trinkt, raucht, betäubt sich, um bis in den Mittag zu schlafen und dann alles zu wiederholen. Nach diesem Urlaub wird man Urlaub benötigen, um sich zu regenerieren, den Körper zu entgiften und wieder aufnahmefähig zu sein im Alltag, im Studium, bei der Arbeit, bei all dem. Solange die Spielhalle am Campingplatz noch geöffnet hat, steht man vor den Automaten und füttert sie mit Kleingeld, manchmal gibt es eine organisierte Disco oder einen Folkloreabend, an dem man nicht teilnimmt, weil man sich nicht für den Touristen halten möchte, der man eigentlich ist. Man lacht über die, die mitklatschen, setzt sich ein wenig abseits hin, trinkt Wein aus Fünf-LiterKartons und schleicht sich hinter die Toiletten, um Joints zu rauchen. Als die Betreiber des Platzes genug haben und die Disco schließen, trifft man sich wieder vor den Zelten, fischt die letzten Flaschen Bier aus der Wanne mit dem zerstampften Eis, das schon lange geschmolzen ist, spielt mit Karten und Würfeln Saufspiele, bis auch der Letzte nicht mehr kann. Es handelt sich hierbei um die Ausläufer der Jugend, die noch wirken, man weigert sich, den Abschnitt zu verlassen, in dem alles erlaubt ist und nichts geahndet wird, obwohl man weiß, dass man schon lange darüber hinaus ist. Wer noch studiert, arbeitet in seiner freien Zeit und in den Semesterferien, verlängert so sein Studium, ermöglicht es in manchen Fällen aber auch erst. Einige haben eine abgeschlossene Ausbildung und arbeiten täglich, den ganzen Tag. Aber auch sie tun so, als gäbe es kein Morgen, sie weigern sich, zu akzeptieren, dass schon längst Verantwortung auf ihnen lastet, dass sie nie mehr zurückkönnen in frühere Zeiten mit freien Nachmittagen und Sorgen nur darum, was bis zum Ende des Tages passieren wird.
Auch später sollte es immer wieder Urlaube und andere Gelegenheiten geben, an denen sie sich zurücksehnten und dieses Jahr wiederzubeleben versuchten, aber es würde nie mehr dasselbe sein. Sie würden schon viel zu sehr verwurzelt sein in ihr jeweiliges Leben, ihren Entwürfen von dem, was sie Leben nannten. Es würde immer wieder Fluchten geben, Ausbrüche und Rückfälle in Jugendlichkeit, aber nie mehr würde es so unbeschwert sein wie in diesem Jahr, obwohl sie bereits spürten, dass es vielleicht das letzte Mal sein mochte. Sie alle hatten ein mehr oder weniger konkretes Bild davon, was auf sie wartete, sie kosteten jede einzelne Minute aus, und sei es nur auf die Weise, dass sie sie verschwendeten und gerade dadurch daraus gewannen.
Die Gruppe, die hier Urlaub machte, hätte von ihrer Zusammensetzung her unterschiedlicher nicht sein können.
Es gab ein paar alte Freunde, die sich schon seit Kindergartenzeiten kannten, die zusammen die Schule besucht hatten und jetzt gemeinsam studierten. Andere waren im Laufe der Zeit hinzugekommen, die meisten stammten aus derselben Gegend, wieder andere waren zugezogen und hatten sich erst langsam in die Gemeinschaft eingefügt. Es gab Kinder aus Arbeiterfamilien und welche, die Akademiker als Eltern hatten, der Vater des einen hatte sein Leben lang im Straßenbau gearbeitet, der des anderen dozierte an einer Universität. Manch einer wurde von seinen Eltern unterstützt, die ihm das Studium und einen Großteil seiner Freizeit finanzierten und ihre Unterstützung vielleicht zurückgezogen hätten, wenn sie gewusst hätten, welche immensen Anteile ihrer Zuwendungen für die Anschaffung der unterschiedlichsten Rauschmittel verwendet wurden. Andere hingegen hatten sich schon zu Schulzeiten mit kleineren Jobs aushelfen müssen, waren direkt nach Schule und Ausbildung arbeiten gegangen, wieder andere finanzierten sich mit den verschiedensten Tätigkeiten ihr Studium. Auch die Träume der Gruppe unterschieden sich sehr. Während einige genaue Vorstellungen davon hatten, was sie einmal tun würden und nie Schwierigkeiten damit gehabt hätten, die übliche Einstellungsfrage, wo man sich in zehn Jahren sehe, zu beantworten, war für die anderen die Zukunft ein unbeschriebenes Blatt, das zu beschriften sie sich nicht die Mühe machten. Manche Pläne schlossen Berufliches mit ein, andere sahen sich schon als Eltern, Eigenheime und große Autos waren ebenso Bestandteil ihrer Vorstellungen wie lange Reisen, lebenslange Unabhängigkeit oder Jobs, die erst noch erfunden werden mussten. Es gab einige Künstler unter ihnen, die sich im Laufe der Jahre davon überzeugen lassen mussten, dass ihre Veranlagung vielleicht doch nur zum Hobby taugte und nicht in der Lage sein würde, sie über einen längeren Zeitraum zu unterhalten, aber im Moment war ihr Drang noch ungebrochen.
Das Wichtigste an der Verschiedenartigkeit der Menschen, die hier zusammensaßen und sich im gemeinsamen Verschwenden ihrer Zeit glichen, war der Umstand und das große Glück, dass sie im Moment, in diesem Augenblick sehr zufrieden waren. Es stellte kein Problem dar, dass der eine sich vorstellen konnte, sein Leben lang nur noch Bilder zu malen und diese zu verkaufen, während der andere sich damit zufriedengab, sich mit den Jobs durchzuschlagen, die ihm gerade angeboten wurden, solange nur die Miete gezahlt werden konnte. Es war kein Anlass für Schwierigkeiten oder sogar Streitereien, dass der Lebensentwurf des einen dem eines anderen entgegengesetzt war, ihm gleichsam als Spiegelbild gegenüberstand, denn der Entwurf war nicht der Grund dafür, dass sie hier waren. Ihre aktuelle Gemeinsamkeit war ein ähnliches Verständnis der Gegenwart, auf das sie sich einigen konnten. Die zukünftigen Entwicklungen, die sie durchmachen würden, waren noch in viel zu weiter Ferne gerade einmal zu erahnen, als dass sie Anlass hätten sein können, sich jetzt schon zu entzweien. Wenn man die einzelnen Mitglieder der Gruppe befragt hätte, hätte sich bestimmt jeder dazu hinreißen lassen, die anderen als seine Freunde zu bezeichnen. Es gab Abstufungen und graduelle Unterschiede, nicht jeder war der beste Freund des anderen, manch einer würde einen Einzelnen auch nur als sehr guten oder guten Bekannten bezeichnet haben, aber am Ende der kurzen Wochen, die sie zusammen verbrachten, gab es trotz einiger weniger Auseinandersetzungen doch nichts Großes mehr, das sie trennte. Die gemeinsame Zeit hatte sie geeint, hatte ihnen etwas mitgegeben, das sie ihr Leben lang nicht mehr vergessen würden und das sie in alle Zukunft teilen konnten. Die Zeit würde zeigen, dass dieser Umstand nicht ausreichte, um auch nach Jahren noch in derselben Gemeinschaft dieselben Dinge tun zu können, zu rasant fand die Entwicklung statt, deren Anfang sie alle spürten und die sie auseinandertreiben würde. Aber dennoch: Es gab eine gemeinsame Grundlage, auf die man sich berufen konnte, und auch, wenn der aktuelle Aufenthalt, die momentane Befindlichkeit sich in Zukunft für einige in der Rückschau verklären würde, bliebe das Gefühl der jetzigen Gemeinschaft übrig und für alle auch bei zukünftigen Treffen immer noch positiv spürbar.
Was keiner der Gruppe zu diesem Zeitpunkt wusste: Sie würden in dieser Zusammensetzung nie wieder an diesen Ort zurückkehren. Einige wenige von ihnen würden versuchen, die Tradition noch etwas aufrechtzuerhalten, und noch einige Jahre später eine gemeinsame Auszeit nehmen, aber es war nicht mehr dasselbe. Die Gruppe veränderte sich stark, manche zogen sich ganz zurück, andere verließen die Gegend ihrer gemeinsamen Kindheit und kehrten nur noch selten zurück. Auch wandten sie sich anderen Urlaubszielen zu: War der Platz, den sie jetzt gerade besuchten, genau das Richtige für sie, die die Nacht zum Tag machten und ihre Zeltnachbarn mehr als einmal um den Schlaf brachten, wurden sie alle mit den Jahren ruhiger und störten sich später an denen, die ihnen nachfolgten und sie jetzt nicht mehr in Ruhe schlafen ließen.
Aber einen unter ihnen gab es, der würde zurückkehren, Jahr um Jahr, immer wieder aufs Neue, immer wieder an dieselbe Stelle. Er war Teil der Gruppe, die sich hier zusammenfand, aber er setzte sich ab und kam allein zurück. Grund dafür war ein Erlebnis, das in diesem Urlaub stattfand und das ihn für immer verändern sollte.
Kapitel Zwei: Das Gewitter
Nach einem langen Tag am Strand trieb der Hunger die Gruppe zurück auf den Platz. Am frühen Abend hatten sich die Wolken schon merklich zusammengezogen, das Wetter blieb jedoch trotz langsam aufkommender und später drückender Schwüle weiterhin heiß, deswegen kümmerte sich zunächst niemand um das Schauspiel am Himmel. Auch die übliche Abendgestaltung verlief wie an jedem anderen Tag, man aß zusammen und verbrachte dann die Zeit bis in den frühen Morgen im Rausch. Es hätte schon fast hell werden müssen, aber die Wolkendecke war undurchdringlich, als sich endlich alle Schleusen öffneten und ein Gewitter über das Land hereinbrach. Obwohl sie durch den Wald geschützt waren, fühlte es sich in den Zelten so an, als hämmerte jemand unerbittlich auf die Plane, es blitzte in einem fort, der Donner war ohrenbetäubend. Glücklicherweise lag ihr Platz auf einer kleinen Anhöhe im Wald, sodass keine Gefahr bestand, dass die Zelte übermäßig vollliefen, wie bei einigen der Nachbarn, die ihre Schlafplätze in einer Senke errichtet hatten, in der sich das Wasser sammelte. Niemand konnte schlafen, aber es dachte auch keiner daran, seine Behausung zu verlassen, um die Nähe der anderen zu suchen. So verharrten alle in ihren Zelten, überwiegend allein, es gab nur wenige Paare in der Gruppe, der Rest bestand größtenteils aus Alleinstehenden, davon die meisten männlich.
Einer von diesen war Ralph Jung, wie die anderen Anfang, Mitte zwanzig, Student des Maschinenbaus und in der Gegend aufgewachsen, aus der die meisten Mitglieder der Gruppe kamen. Er kannte die anderen seit langen Jahren, sie waren zusammen zur Schule gegangen, einer sogar mit ihm in den Kindergarten, er war aber in diesem Jahr nicht mitgekommen. Ralph galt als allgemein akzeptiertes Mitglied der Gruppe, weil er immer dabei war und immer dabei gewesen war, solange sich alle erinnern konnten, aber er hatte keine außergewöhnliche Position unter den Freunden inne. Er war eher ein Einzelgänger, hatte einen etwas seltsamen, sehr trockenen Humor und war der Einzige, der einen technischen Studiengang gewählt hatte, während die anderen sich mit Sozialarbeit, Germanistik, Fremdsprachen auf Lehramt, einer Ausbildung oder einfachen Jobs beschäftigten. Durch sein etwas eigensinniges Wesen war es so, dass er ein Freund der Gruppe zu sein schien, nicht aber ein Freund eines Einzelnen – abgesehen vielleicht von seinem bereits erwähnten Kindergartenfreund, der in diesem Jahr zu Hause geblieben war. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sich mit ihm allein zu verabreden, er war zwar immer dabei, aber jedes Mal nur als Teil der Gruppe, er stach nicht heraus. Einige fragten immerhin, was mit ihm sei, wo er bliebe, wenn er an einem Treffen nicht teilnahm, aber es gab wahrscheinlich niemanden, der »Schade« gesagt hätte, wenn er fehlte. In der gemeinsamen Runde nahm er an den Gesprächen und Witzen teil, schien sich aber oft etwas zurückzuhalten, so als müsste er zunächst feststellen, ob eine Bemerkung auch wirklich angebracht war. Das tat er weniger, weil er meinte, jemanden zu verletzen oder jemandem zu nahezutreten, sondern eher aus dem Grund, weil er selbst unsicher war und sich sehr davor scheute, sich zu blamieren oder zu viel von sich zu offenbaren. So kam es auch, dass er von den derbsten Scherzen ausgenommen wurde, es hatte beinahe den Anschein, als besäße er etwas Unnahbares, das ihn vor allzu heftigen Übergriffen schützte. Dieser Umstand, diese Art Aura, kann man vielleicht sagen, bedingte auch, dass man ihn nicht so schnell anfasste oder berührte, wie man es unter Freunden sonst oft tut. Aber all diese Eigenheiten waren eher unterschwellig vorhanden, niemand der Gruppe hätte genau sagen können, warum Ralph eine Sonderstellung einnahm, oder dass das überhaupt der Fall war. Es war wie ein stillschweigendes Übereinkommen, man »wusste über ihn Bescheid«, niemand sprach es aus, aber alle waren sich in ihren Handlungen einig.
Ein Umstand, über den ebenfalls jeder Bescheid wusste – und wovon Ralph der Meinung war, dass er damit sein größtes Geheimnis hütete –, war die Tatsache, dass er ein völlig unbeschriebenes Blatt war, wenn es um Beziehungen zu Frauen ging. In der Gruppe fiel das nicht weiter auf, da die Mehrzahl ungebundene junge Männer waren, aber an seinem Verhalten merkte man schnell, dass er zurückhaltender wurde, wenn es darum ging, von vergangenen Abenteuern zu berichten. Im Umgang mit Frauen zeigte er sich höflich und korrekt, für deren Empfinden aber oft etwas zu korrekt, es gab keinen Unterschied bei ihm festzustellen, er war »zu jedem gleich nett«, wie eine Bekannte es einmal formulierte. Das führte dazu, dass sein Verhalten, wenn auch unter der Oberfläche getrieben von Begehren und unerfülltem Verlangen, als Desinteresse an tiefer gehenden Beziehungen interpretiert wurde. Die Frauen nahmen ihn als guten Freund, mit dem sie sich über alles unterhalten konnten, nur nicht über die Möglichkeit, mit ihm ein intimes Verhältnis einzugehen. Angesichts dieses Umstands dämmerte Ralphs Liebesleben still vor sich hin, und er hatte es im Laufe der Jahre als Tatsache akzeptiert, dass er eben noch warten musste, bis ihm die Richtige über den Weg laufen würde. Was er in dem Fall tun sollte, war ihm zweifellos völlig unbekannt, aber er hoffte darauf, dass er dann endlich über seinen Schatten würde springen können, um sein Glück perfekt zu machen. Dabei hätte er nicht gesagt, dass er in seiner Situation unglücklich war, er hatte viele Hobbys, las auch abseits des Studiums eine Unmenge von Büchern, trieb Sport in einem Verein, hatte aus einer Laune heraus begonnen, Gebärdensprache zu lernen, und füllte den Rest seiner Zeit damit aus, Museen zu besuchen und sich die Grundlagen der Bildhauerei anzueignen.
Also kam die Nacht des Gewitters, und da an Schlaf nicht zu denken war, begann Ralph, in seiner Urlaubslektüre zu lesen. Er versuchte, sich durch die Sämtlichen Erzählungen von Franz Kafka zu arbeiten, und kämpfte mit der düsteren Stimmung der Geschichten, die in diesem Moment – sonst allerdings überhaupt nicht – zu dem zu passen schienen, was um ihn herum in diesem Urlaub passierte. Nach einiger Zeit merkte er, dass jemand draußen war, er sah das Licht einer Taschenlampe über die Zelte streifen und auf dem Eingang seines Zeltes Halt machen. Zunächst dachte er sich nichts dabei, aber als das Licht heller wurde und aufhörte, durch die Gegend zu zucken, legte er das Buch nieder und runzelte die Stirn. Vor dem Zelt war jemand, der sich jetzt niederhockte und fortfuhr, die Plane mit einer Lampe zu bestrahlen. Kurz darauf wurde eine Hand gehoben, Ralph sah den Schatten der Finger, dann kratzte es am Zelt.
»Kann ich reinkommen?«, hörte er, erkannte aber die weibliche Stimme nicht.
»Wer ist da?«, fragte Ralph zögerlich, aber nicht ohne Interesse.
Anstelle einer Antwort bewegte sich die Hand zum Reißverschluss und zog diesen auf. Geblendet durch das Licht konnte er zunächst nicht sehen, um wen es sich handelte. Er beschirmte die Augen mit der Hand.
»Kannst du die Lampe runternehmen?«
»Oh, Entschuldigung.«
Durch die Öffnung des Zeltes schob sich jetzt ein Kopf, zuerst waren nur die Haare zu sehen, von denen ein leichter Geruch von nassem Heu ausging, eine Mähne von dunkelblonden Locken, die Ralph nicht zuordnen konnte.
»Hi«, sagte die Stimme, das Mädchen hob den Kopf und lächelte Ralph scheu an. Er hatte sie in seinem Leben noch nie gesehen und wusste mit der Situation nichts anzufangen. Hatte sie sich im Platz geirrt, war sie betrunken und wusste nicht mehr, wo ihr Zelt stand, hielt sie ihn für jemand anderen?
»Ich habe Licht gesehen«, eröffnete sie ihm, aber das erklärte erst einmal überhaupt nichts.
»Ich kann nicht schlafen bei dem Gedonner«, entgegnete Ralph etwas dümmlich und kam sich sehr unbehaglich vor.
»Wir sind heute Abend angekommen, aber meine Leute sind irgendwohin gegangen, um Bekannte zu suchen, ich weiß nicht, wo die sind«, erklärte seine Besucherin. Sie lächelte freundlich und einnehmend. »Keine Ahnung, wahrscheinlich bleiben sie weg, bis der Regen vorbei ist. Kann ich reinkommen?«
Ralph wusste nichts, was dagegen spräche, hatte aber eigentlich auch keinen Grund, den er dafür anbringen konnte. Wieso blieb sie nicht einfach in ihrem Zelt? Sie würde ja kaum unter freiem Himmel campieren.
»Ist euer Zelt kaputt?«, fragte er, und ihm wurde erst dann klar, wie abweisend seine Frage klingen musste. »Ich meine …«, fügte er schnell hinzu, wusste dann aber auch nicht, was er gemeint haben konnte. Erst jetzt betrachtete er sie eingehender, seine Lampe, die er um seinen Kopf geschnallt hatte, beleuchtete ihre grünen Augen, die Haare, von denen ein paar Tropfen perlten, und ihre breiten Lippen, die die ganze Zeit ein überaus schönes Lächeln entblößten. Auf ihrer Nase erkannte er ein paar Sommersprossen, die ihrem Aussehen etwas von einem kleinen Mädchen gaben, aber als sie jetzt ins Zelt krabbelte und er ihren Körper sah, erkannte er, dass dieser nichts von einem Mädchen hatte. Sie musste ungefähr in seinem Alter sein, sie trug ein nasses T-Shirt, das an ihrem Körper klebte und verriet, dass sie nichts darunter trug. Außerdem hatte sie eine kurze Hose an und Sandalen, an denen Sand und Piniennadeln klebten, die sie jetzt abwischte.
»Tut mir leid, aber ich hatte Licht gesehen«, wiederholte sie unnötigerweise, und Ralph beobachtete, wie die Wörter ihren Mund verließen. Er konnte nicht sagen, was an seiner Besucherin so besonders war, aber er war regelrecht fasziniert von dieser Erscheinung, die ihn derart unverfroren vereinnahmte.
»Und du warst heute Abend allein, deswegen dachte ich, du hättest vielleicht noch etwas Platz für mich.« Sie lächelte erneut und sah ihn so unschuldig an, dass Ralph nicht überlegte, woher sie das wusste, und ihr alles verziehen hätte. »Das Gewitter macht mir ein bisschen Angst«, fügte sie hinzu, »kann ich kurz bleiben?«
Diese letzte Frage wurde von einem lauten Krachen begleitet, das der nächste Donner zu ihnen herunterschickte. Sein Besuch zuckte kurz zusammen und verzog den Mund zu einer vagen Entschuldigung. Ralph konnte nichts erwidern, er lag immer noch wie vom Schlag getroffen auf seiner Luftmatratze und versuchte einzuordnen, was gerade mit ihm passierte. Er schlief nicht, so viel war klar, bei dem Lärm war wahrscheinlich der ganze Campingplatz aufgewacht, aber trotzdem meinte er zu träumen. War nicht genau das der heimliche Wunsch eines jeden Jungen, der sich allein zu Hause Erleichterung verschafft, in Gedanken an eine Frau, die es nicht gab? Sah nicht exakt derart die Vorstellung aller derjenigen aus, die zu schüchtern waren, um es ihren Freunden gleichzutun, die sich scheinbar überhaupt nicht anzustrengen brauchten, um die Frauen geradezu magisch anzuziehen? Er erinnerte sich an die zahllosen Geschichten eines seiner Freunde, der – schenkte man ihm Glauben, aber Ralph hatte keinen Anlass, an seinen Worten zu zweifeln – nicht nur einmal eindeutige Angebote erhalten hatte: »Ich stand vor dieser Kneipe, die anderen waren noch drin und mussten irgendwas erledigen, aber ich war schon draußen. Auf jeden Fall kommt dieses Mädel an, ich kannte die gar nicht, nur ein oder zweimal kurz gesehen. Kommt an, grüßt mich, erzählt irgendwas, keine Ahnung was, kann mich nicht erinnern, und sagt auf einmal ›Wir können ja auch ficken.‹.«
Dieser letzte Satz war Ralph in Erinnerung geblieben, er hätte nicht gedacht, dass es Frauen gab, die derartige Dinge äußern würden, ganz einfach aus dem Grund, weil ihm gegenüber noch nie ein solcher Satz gefallen war – was er sehr bereute. Er versuchte stets, freundlich zu sein, dabei aber zurückhaltend zu bleiben, weil er niemanden überfallen, keine Frau erdrücken wollte mit dem Geständnis seiner Zuneigung. Er wartete darauf, dass die Dinge sich entwickelten, und war der Ansicht, dass das schon irgendwann passieren müsse, nur trat dieser Fall nie ein. Während er sich still und heimlich verzehrte und versuchte, seinen nächsten Schritt zu planen, verschwanden die Angebeteten über kurz oder lang mit jemand anderem, er erfuhr, dass sie schon lange einen Freund hatten, oder es passierten noch merkwürdigere Dinge, so zum Beispiel, dass sie einem anderen vor einer Kneipe eindeutige Angebote machten und ihm sagten, dass man ja auch ficken könne. Nur eben nicht ihm gegenüber. Warum war das so? Wie die Bekannte gesagt hatte: Man könne nicht wissen, dass er jemanden besonders nett fand, aber wie sollte er das auch anstellen? Er hatte das typische Verhalten oft genug beobachtet: Eine Gruppe von Männern stand zusammen, man unterhielt sich ganz unbefangen, und plötzlich stieß eine Frau dazu. Mit einem Mal brach aus den Anwesenden ein geradezu lächerliches Balzverhalten hervor, jeder wurde übermäßig freundlich, fragte nach, ließ ausreden, offerierte seine Dienste und lächelte derart einfältig, dass es schon oft vorgekommen war, dass Ralph die Gruppe in einer Situation wie dieser einfach verließ. Es war ihm bewusst, dass er mit seinem Verhalten Desinteresse zeigte und es sich nicht einfacher machte, mit den Umworbenen in Kontakt zu kommen, aber er redete sich ein, dass Frauen, die auf diese billige, durchsichtige Tour hereinfielen, eben sowieso nichts für ihn sein konnten. Dass er durch sein Benehmen auch niemals die Gelegenheit haben würde, eine Frau näher kennenzulernen, war ihm ebenfalls klar, aber was sollte er denn tun? Sich verbiegen und ihr jemanden vorspielen, der er nicht war? Was wäre dann, wenn man sich näherkam und sie merkte, dass er sie nur getäuscht hatte? Darüber hinaus hätte er gar nicht gewusst, was er hätte spielen sollen, außer, dass er sich in einen balzenden Gockel verwandelt hätte, und dabei wäre er sich wahrscheinlich so blöd vorgekommen, dass er die Vorstellung keine zwei Minuten durchgehalten hätte.
Aber was war jetzt? Er lag in seinem Zelt, versuchte mitten in der Nacht, oder schon beinahe am Morgen, in einem tosenden Gewitter ein Buch zu lesen, das ihn mit seiner Sprachgewalt geradezu niederzudrücken schien, und mit einem Mal geschah genau das, was Inhalt der feuchten Träume aller Männer war: Es klopfte und herein kam eine schöne Frau, sie hatte sich nicht in der Tür geirrt, sie wollte zu ihm, nur zu ihm und nicht zu seinem Freund, der sich die Frauen mit einem Stock vom Leib halten musste und ständig gefragt wurde, ob man denn nicht endlich mal ficken solle!
All diese Gedanken verwirrten Ralph in dieser Situation nur noch mehr, er starrte seinen Besuch weiterhin an und konnte kein Wort herausbringen, so unglaublich schien ihm das alles.
»Was liest du?«, fragte sie ihn jetzt und zwang ihn auf diese Weise, aus seinen Überlegungen und unerquicklichen Gedanken aufzuschrecken und sich mit ihr zu beschäftigen. Er nahm das Buch, in dem sein Daumen als Lesezeichen klemmte, zog diesen heraus und klappte es zu. Er sah das Cover an und schien nicht mehr zu begreifen, woher dieser seltsame Gegenstand kam, den er da in der Hand hielt, das gesamte Konzept eines Buches ging ihm völlig ab, sein Kopf war wie leer gefegt, er hatte keine Ahnung von irgendetwas, hätte wahrscheinlich noch nicht einmal seinen Namen nennen können, wenn man ihn danach gefragt hätte.
»Äh …«, stotterte er und verfluchte sich innerlich selbst für seine Hilflosigkeit. »Kafka«, sagte er schließlich und hielt ihr das Buch hin, als müsste er beweisen, dass er sie nicht anlog.
»Ist mir zu düster«, sagte sie kurzerhand und verzog abschätzig den Mund.
»Was liest du denn?«, fragte er und wunderte sich selbst, woher die Frage mit einem Mal gekommen war, sowie darüber, dass er überhaupt zu sprechen in der Lage war.
»Ach, gar nicht viel, eigentlich«, entgegnete sie und schien es dabei bewenden lassen zu wollen. »Ich mach mal zu, oder?«, fuhr sie fort, drehte sich dann um und zog den Reißverschluss des Zeltes wieder zu, ohne eine Antwort abzuwarten. »Mir ist kalt«, sagte sie, nachdem sie sich ihm wieder zugewandt hatte, und blickte ihn erwartungsvoll, beinahe auffordernd an. Ralph entgegnete nichts und starrte sie nur an. »Rauchst du?«, fragte sie nach einer schier endlosen Weile und blickte sich suchend im Zelt um.
»Im Moment nicht«, antwortete Ralph wenig geistreich und konnte selbst nicht fassen, wie dämlich seine Entgegnung sein musste, aber sein Besuch schien anderer Meinung zu sein. Sie legte den Kopf in den Nacken und lachte ein helles, natürliches Lachen, dem jeder Anflug von Spott oder Lächerlichkeit fehlte. Ralph lächelte und musste sich daran erinnern, wie oft selbst seine Freunde die Augen verdreht hatten, wenn er einen seiner Witze machte, die die anderen oft »seltsam« nannten.
»Alles klar bei dir?«, ertönte plötzlich vor dem Zelt eine Stimme. Es war Jürgen, einer seiner Freunde, der aus unerfindlichem Grund im Gewitter vor dem Zelt herumstapfte.
»Alles klar!«, rief Ralph zurück und blickte seine Besucherin an, die die Hand verschwörerisch vor den Mund hielt und sich kaum beherrschen konnte, nicht zwischen den Fingern hervorzuprusten. Ihre Augen strahlten dabei, aber er wusste ihre Reaktion nicht zu deuten. Durfte oder wollte sie nicht hier sein? Sollte niemand wissen, wo sie war? Aber sie war doch freiwillig zu ihm gekommen, weil sie sich vor dem Gewitter fürchtete. War sie letzten Endes nicht allein hier, war sie mit ihrem Freund im Urlaub, der jetzt gerade noch unterwegs war, um die besagten Bekannten zu treffen, und jeden Moment zurückkehren konnte? Oder war das Ganze nur ein kokettes Spiel, das sie trieb?
»Bier?«, kam jetzt von draußen die Frage, Jürgen hatte sich noch nicht wieder bewegt und musste mitbekommen haben, was im Zelt vorging. Er wusste, dass Ralph allein zeltete, wie er selbst auch, und dass eine zweite Stimme zu hören gewesen war, aber was sollte es? Es ließ sich nun nicht mehr ändern, sollte er doch denken, was er wollte.
»Nein, danke, ich habe genug«, rief Ralph zurück und blickte seinen Gast an.
»Aber ich nehm eins!«, rief dieser jetzt, und Ralph stockte der Atem. Das Mädchen drehte sich um, öffnete den Reißverschluss nur einen kleinen Spalt und streckte eine Hand aus dem Zelt. Kurze Zeit später zog sie ihren Arm wieder zurück und hielt eine Bierdose in der Hand, die vom Regen tropfte. Sie riss den Verschluss ab, das
Bier schäumte über, woraufhin sie schnell versuchte, ihren Mund darüber zu stülpen, was nicht wirklich gelang. Ralph beobachtete, wie ihr der Schaum am Kinn herunterlief, und überhörte das ungläubige »Gute Nacht«, das jetzt noch von draußen herübertönte. Er nahm die Dose an, die das Mädchen ihm entgegenhielt, während sie sich umdrehte, um das Zelt wieder zu schließen.
»Willst du nicht?«, fragte sie, als er ihr das Getränk zurückgeben wollte. Er betrachtete die Dose ungläubig, zuckte mit den Achseln und nahm dann ebenfalls einen tiefen Schluck. Er musste dabei ein ungläubiges Gesicht gemacht haben, denn als er das Getränk absetzte, blickte sie ihn fragend an.
»Soll ich wieder gehen?«, sagte sie beiläufig und lächelte gewinnend.
»Nein, nein«, beeilte sich Ralph zu sagen und versuchte sich ebenfalls an einem Lächeln. Er gab ihr die Dose zurück, die sie ihm fast aus der Hand riss, sie ansetzte und in einem Zug leer trank.
»Das ist das Blöde beim Bier. Trinkt man eins, will man noch fünf. Oder?«
Ralph wusste daraufhin nichts zu entgegnen, er sah sie nur an, konnte aber immer noch nicht begreifen, was ihm hier eigentlich geschah. Er drehte sich auf seiner Matratze herum, griff hinter sich und holte noch zwei Dosen aus seiner Tasche.
»Ich habe doch gesagt, ich habe genug«, sagte er und hielt ihr ein Bier hin. Sie antwortete nicht, griff nur danach, öffnete es und trank tiefe Schlucke.
Kapitel Drei: Der nächste Morgen und die folgenden Tage
Am nächsten Tag saßen alle schon beim gemeinsamen Frühstück zusammen, als Ralph endlich aus dem Zelt krabbelte. Sie hatten ihre Tische zusammengestellt und versucht, diese unter dem einzigen Pavillon, den sie besaßen, zusammenzudrängen, um den letzten Tropfen des Regens zu entgehen, der noch immer von den Bäumen perlte. Es war bereits Mittag, die Luft heiß und durch die Feuchtigkeit des Bodens und der gesamten Landschaft unbeschreiblich schwül und drückend. Einige der Freunde hatten bereits erste Bierdosen geöffnet, die sie zum Frühstück – oder anstatt dessen – leerten. Heiko lief gerade mit einer Pfanne um den Tisch, um Rührei zu verteilen, und hielt jetzt inne, als er merkte, dass alle zum Zelt von Ralph herübersahen, aus dessen Eingang dieser gerade kroch. Ein paar der Freunde blickten sich wissend an, offensichtlich hatte Jürgen sie schon zeitig informiert, aber letzte Zweifel wurden beseitigt, als hinter Ralph ein Mädchen aus dem Zelt kam, dessen Gesicht sie zunächst gar nicht sehen konnten, da ihnen eine zerzauste, lockige Mähne im Weg war, die ihre Besitzerin jetzt erst umständlich richtete und dann hilflos aber freundlich in die Runde blickte. Lars begann zu applaudieren, und innerhalb von Sekunden klatschte die ganze Runde begeistert in die Hände. Ralph wäre am liebsten direkt wieder im Zelt verschwunden, weggerannt oder hätte wild um sich geschlagen vor Scham, aber er beherrschte sich, so weit er konnte, und bekam nur einen hochroten Kopf.
»Heiko, hol noch einen Teller«, rief Tanja, aber die Unbekannte aus Ralphs Zelt hob nur abwehrend die Hände.
»Ich muss zurück«, entschuldigte sie sich. »Die anderen suchen mich bestimmt schon.«
Sie wandte sich Ralph zu, sah ihm etwas länger in die Augen, als es ihm in Anwesenheit der anderen angenehm war, fasste dann kurz seine Hand, ließ sie aber sofort wieder los, als sie merkte, wie betreten Ralph dreinsah.
»Machs gut«, raunte sie ihm kaum hörbar zu, neigte ihm ihr Gesicht kurz entgegen, er aber ergriff die Gelegenheit nicht und starrte nur betreten vor sich hin. Erst als sie sich umdrehte und sich anschickte, den Platz zu verlassen, hielt er sie kurz zurück und flüsterte: »Wie heißt du?«
Sie drehte sich herum, lächelte und zögerte. »Anja«, sagte sie dann und verschwand. Ralph blieb so lange stehen, bis er sie nicht mehr sehen konnte, und wusste dann nicht, was er tun sollte. Er wäre ihr am liebsten hinterhergegangen, hätte sie gepackt und nie mehr losgelassen, aber er stand nur wie angewurzelt da und starrte ihr nach. Sein Geist war wie benebelt, was nicht nur am Bierkonsum des vorigen Tages lag, er konnte nicht überlegen, wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, und fürchtete sich am meisten davor, sich zu seinen Freunden umzudrehen, so als wäre er ihnen eine Erklärung schuldig. Aber irgendwann musste es sein, und er erinnerte sich an ihre Gesichter, als sie applaudiert hatten. Sein erster Impuls war gewesen, sie zum Schweigen zu bringen, und das, was er in der Nacht erlebt hatte, nicht zu einem Ereignis von allgemeinem Interesse werden zu lassen, etwas Öffentlichem wie eine Sportveranstaltung, bei der man gute Leistungen honorierte. Er war wütend darüber, dass sie sein Erlebnis so entehrten, aber langsam kam ihm die Erkenntnis, dass sie sich nur mit ihm und für ihn gefreut hatten. Was hätten sie sonst tun sollen? Anja ignorieren? Anja … der Name ging ihm im Kopf herum, und er erinnerte sich, dass sie ihn nicht nach seinem Namen gefragt hatte, die ganze Nacht und auch jetzt nicht. War auch sie noch so gefangen von dem, was sie erlebt hatten? Er spürte, dass etwas Großes geschehen war, und wollte am liebsten sofort damit herausplatzen, es allen erzählen, dann wiederum erzitterte er bei diesem Gedanken, das Wertvolle, was er erlebt hatte, mit anderen teilen zu wollen, so als würde das seiner Erfahrung ihren Wert nehmen, sie erniedrigen und zu etwas Alltäglichem machen. Allmählich begriff er, dass es genau das war, zumindest für alle anderen. Es war an der Tagesordnung, dass über Freunde und Freundinnen, Beziehungen und Sex geredet wurde – nur nicht bei ihm. Aber jetzt würde er dazugehören, jetzt teilte er ihre Erfahrung, konnte mitreden, wenn es auch noch lange dauern würde, bis er das tatsächlich tun würde, da ihm sein erstes Mal als etwas Besonderes vorkam, etwas, das sonst niemand hatte. Er brauchte Zeit, um zu verstehen, dass jedes erste Mal für jeden anders war, aber immer auf dieselbe Art und Weise etwas Besonderes für denjenigen, der es erlebte.
Langsam schwand seine Wut, er drehte sich wieder der Runde unter dem Pavillon zu, sah freundliche, lachende Gesichter und konnte keinem von ihnen böse sein. Sie hatten sich mit ihm gefreut, sie wussten, was er getan, was er erlebt und gespürt hatte, sie alle hatten es getan, sie wussten Bescheid, und jetzt freuten sie sich mit ihm und für ihn. So sehr ihn ihr Applaus zunächst geärgert hatte, so sehr erkannte er jetzt seinen wahren Wert, und er errötete noch einmal, als er sich endlich in Bewegung setzte und am Tisch Platz nahm, um mit den anderen zu frühstücken. Niemand stellte eine Frage, ab und an trafen ihn ein Blick und ein Lächeln, er erwiderte beides gern, und die Scham schwand mit jedem Mal ein bisschen mehr.
In den nächsten Tagen schien es Ralph, als würden ihn seine Freunde anders behandeln, rücksichtsvoller, aber auch einnehmender. Es gab keine Witze auf seine Kosten, aber manches Mal dachte er, dass Blicke oder Anspielungen sich auf das bezogen, was jemand einmal flapsig »Abenteuer« genannt hatte. Er gewöhnte sich daran und fand Gefallen an der neuen Qualität der Beziehung zur Gruppe, fast kam es ihm vor, als wäre er nun ein vollwertiges Mitglied geworden, so als gehörte er erst jetzt wirklich dazu. Doch schon kurze Zeit nach der Nacht des Gewitters befiel ihn eine unbestimmte Unruhe, und diese hatte nichts mit seinen Freunden zu tun, sondern mit Anja. Wo war sie? Würde sie ihn wieder besuchen? Er nahm sich des Öfteren Zeit, um planlos über den Platz zu laufen, und brauchte nicht lange, um sich einzugestehen, dass er sie suchte – jedoch, vergeblich. Er verbrachte einige Zeit damit, die Zelte in der Nähe zu beobachten, um zu sehen, ob er sie vielleicht entdecken würde, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt. Einige Tage später fragte er sogar die anderen Urlauber nebenan, ob sie Anja kennen würden, aber es schien nur eine Anja auf dem Platz zu geben, diese entsprach jedoch nicht seiner Beschreibung. Als ihm jemand ihr Zelt zeigte und er lange genug in der Nähe gewartet hatte, um sie zu sehen, musste er sich eingestehen, dass es sich um ein anderes Mädchen handelte.
Einige Tage vor ihrer Abreise saß er mit einem seiner Freunde, die er schon seit Längerem kannte, am Strand und unterhielt sich über den besagten Abend.
»Was meinst du, wo sie jetzt ist?«, fragte er Christoph, der ihn wenig erstaunt ansah, offenbar war Ralphs häufige Abwesenheit bemerkt worden, jeder schien zu wissen, was ihn beschäftigte.
»Anja?«, fragte sein Freund überflüssigerweise, trank von seinem Bier und blickte Ralph verschmitzt von der Seite an.
»Ne, deine Oma, du Pappnase.«
Christoph lachte und nahm noch einen Schluck.
»Keine Ahnung. Vielleicht abgereist?«
»Ohne was zu sagen?«
»Vielleicht hat sie einen Freund?«
Dieser Gedanke war auch Ralph nicht fremd, aber er weigerte sich beharrlich, daran zu glauben. Wenn sie nicht ungebunden war, hätte sie sich dann mit ihm eingelassen? Aber selbst, wenn sie einen Freund hatte, wäre nicht ihre Affäre mit ihm ein Zeichen dafür, dass es in ihrer Beziehung nicht gut lief? Er hatte sich mit Anja in ihrer gemeinsamen Nacht noch lange unterhalten, und selten hatte er das Gefühl gehabt, einem Menschen auf Anhieb so nahe zu sein, sich so öffnen zu können wie bei ihr. Er hatte ihr von seinem Studium und seinen Hobbys erzählt, und sie hatte nicht ein einziges Mal gelacht oder seltsame Bemerkungen gemacht, wie er es gewohnt war. Im Gegenteil, sie hatte schlaue Fragen gestellt und schien wirklich interessiert. Immer wieder sah er das Bild vor seinen Augen, wie sie zum Abschied kurz seine Hand nahm, ihn anblickte und sich wegdrehte, um dann zu verschwinden. Er wehrte sich selbst dagegen, dieses Bild in leuchtenderen Farben zu malen, als es tatsächlich zu sehen gewesen war, aber er konnte sich nicht helfen: Er war Hals über Kopf verliebt in diese Frau, die ihm sein erstes Mal geschenkt hatte.
»Warum war sie dann bei mir?«
»Weil der Freund nicht da war? Hast du doch erzählt, die anderen waren irgendwelche Bekannten suchen, oder so.«
»Ja, aber …« Ralph wusste nicht mehr, was er entgegnen sollte, und er beließ es für den Moment dabei. Sie blickten eine Weile auf das Meer hinaus und tranken ihr Bier. Erst als sie aufstanden, um zu ihren Zelten zurückzugehen und zu sehen, ob jemand vielleicht etwas zu essen gemacht hatte, hielt Christoph ihn kurz zurück.
»Mach dich nicht verrückt, okay? Genieß doch einfach, was passiert ist.«
Ralph nickte, sein Mundwinkel zuckte kurz zur Bestätigung. Er wusste, dass sein Freund recht hatte, aber um dessen Rat auch in die Tat umzusetzen, dazu bedurfte es mehr als die bloße Einsicht.
Sie gingen zurück zum Campingplatz, die Sonne stand schon tief, trotzdem waren sie gerade erst wieder ein paar Stunden auf den Beinen. Im Wald roch es angenehm frisch nach Pinien und Zapfen, Nadeln knirschten unter ihren Schlappen und stachen in ihre Zehen. Bald würde das Abendprogramm beginnen, die Betreiber des Platzes hatten erneut eine Disco ausgerufen, und die Freunde hatten sich dazu verabredet. Auch Ralph würde mit von der Partie sein und genau Ausschau halten nach einer gewissen Person. Ihm würde nicht mehr viel Zeit bleiben, bald ging es daran, die Sachen zu packen, den Sand aus ihren Habseligkeiten zu schütteln und den Platz in einem Zustand zu hinterlassen, der es den Besitzern ermöglichen würde, ihnen ihre Kaution auszuzahlen, die sie bei ihrer Anreise aus gutem Grund hatten hinterlegen müssen. Niemand verlässt gern den Ort seiner Ferien, aber für Ralph gab es in diesem Jahr eine neue Qualität des Abschieds, er hatte den Eindruck, er werde etwas sehr Wichtiges, Großes hinterlassen und eine Chance vertun, wenn er ging, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, er musste zurückkehren und seinen Alltag wieder aufnehmen. Kurz dachte er darüber nach, was passieren würde, wenn er einfach hierbliebe, aber das währte nur für eine kleine Zeitspanne, er machte sich nichts vor. Am Tag der Abreise gab es kein Zögern mehr, keine Überlegung, ob er vielleicht doch noch hierbleiben würde, trotzdem sah sich Ralph noch einmal um, so als könnte Anja plötzlich erscheinen, aus dem Nichts auftauchen, ihm zuwinken, ihn rufen und ihn zurückhalten, um für immer bei ihm zu bleiben.
Den Tanzabend hatte Ralph beinahe nüchtern verbracht, er beobachtete die ganze Zeit über die Gäste, die kamen und gingen, und blieb so lange, bis ihn die Angestellten wegschickten, damit sie endlich sauber machen konnten. Er vertraute sich keinem mehr an, aber sein veränderter Zustand blieb natürlich niemandem verborgen. Er wusste nicht, ob er es sich nur einbildete, aber er hatte den Eindruck, dass sich in der Folge die anderen intensiver um ihn kümmerten, ihn mehr einzubeziehen versuchten in ihre Aktivitäten, ihn häufiger ansprachen und nach seiner Meinung fragten. Aber all das konnte auch nur bloße Einbildung sein, vielleicht lag es an ihm, vielleicht war er sensibler für die Gespräche und Gesten seiner Freunde geworden. Auch las er kaum noch, er lag herum und streifte ziellos über den Platz, immer in der Hoffnung, er könne sie doch noch einmal sehen, wenn er auch nicht wusste, was er dann tun würde. Es jedoch unversucht zu lassen, das wollte er auch nicht.
Als sich die Landschaft auf der Rückfahrt vor den Fenstern allmählich änderte, wurde er ruhiger, er setzte sich zurück und versuchte zu schlafen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Die Aufregung des Neuen hatte sich gelegt, war zu einem Teil seiner Erfahrungen geworden, aber er wehrte sich dagegen, die Erinnerung daran verblassen zu lassen, er wollte diese Nacht für immer in seinem Inneren bewahren als etwas Besonderes, Einmaliges, das nie wiederkommen würde, das niemals erreicht werden konnte von einem zweiten und dritten Mal. Er hatte noch keine Ahnung, wie sehr sein Empfinden in diesem Moment zukünftige Entscheidungen beeinflussen würde, aber selbst, wenn er es gewusst hätte, hätte das keinen Unterschied gemacht, er war geprägt und Produkt seiner Vergangenheit worden, eine Antwort auf Gestern – wie wir alle.
Kapitel Vier: Ein Jahr nach dem Gewitter
Ziemlich genau ein Jahr später reiste die Gruppe erneut an. Dieses Mal waren nicht alle vom vergangenen Jahr wieder anwesend, dafür andere, die das letzte Mal nicht mitgefahren waren. Insgesamt war die Gruppe aber kleiner, und sie würden auch nicht so lange bleiben wie bei ihrem vorigen Besuch. Die Gründe dafür waren vielfältig, es hatte sich einiges getan, Beabsichtigtes wie auch Unvorhergesehenes. Einer der Teilnehmer war wie geplant eine neue Beziehung eingegangen und mit seiner Partnerin ungeplant in anderen Umständen. Einer der Freunde war durch einen Unfall längere Zeit bettlägerig gewesen und blieb mit seiner Freundin zu Hause. Wieder ein anderer war umgezogen, um seiner Karriere Vorschub zu leisten, der Kontakt zu den anderen bestand nur noch sporadisch, man sah sich seltener, für einen gemeinsamen Urlaub reichte es nicht mehr.
Aber Ralph war dabei, er hatte dieses Mal sogar schon frühzeitig darauf gedrängt, zusammen den Urlaub zu buchen, während er in den Jahren davor eher derjenige gewesen war, der zwar gefragt wurde, ob er nicht mitkommen wolle, ansonsten wäre aber eben einfach etwas anderes passiert. Zu seinem Bedauern war Christoph in diesem Jahr nicht mitgekommen, er hatte die einmalige Gelegenheit erhalten, mit einem Onkel auf dessen Kosten seine Farm in Connecticut zu besuchen. Das hatte er sich nicht zweimal sagen lassen, für einen Flug in die
Vereinigten Staaten hätte sein Geld sonst niemals gereicht, er würde New York sehen! Ralph hingegen hätte nichts dafür eingetauscht, wieder hiersein zu können. Er war noch weit davon entfernt, sich selbst einzugestehen, was der eigentliche Grund für seinen Besuch hier war, er war aber auch nicht so vernagelt, um sich einzureden, dass Anja nicht auch zumindest ein
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