Lebensnacht - Will Hofmann - E-Book

Lebensnacht E-Book

Will Hofmann

4,5

Beschreibung

Menschen sterben weltweit in großer Zahl, ihre Leichname lösen sich in Pfützen auf, nur Knochen und Kleidungsstücke bleiben übrig. Und der Geruch nach Benzin. Der nicht für möglich gehaltene Super-GAU stellt selbst die Auswirkungen der Atombombe in den Schatten und wird Realität: Die Menschheit steht vor dem Aus. Professor Harry Kauffmann, Träger des Chemie-Nobelpreises und weltweit anerkannte Koryphäe auf seinem Gebiet, versucht mit seinem Team, den Schaden einzudämmen, der ihm bei seinen Experimenten unterlaufen ist. Er wollte Benzin mithilfe genetisch veränderter Bakterien herstellen. Um die tödlichen Folgen seiner Forschungen zu bekämpfen, fehlen aber die adäquaten Mittel. Ein dramatischer Wettlauf mit der Zeit beginnt. Wie wird dieser enden?

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Überarbeitete Neuausgabe des 2012 im Wiebers Verlag, Berlin,unter dem Titel »Oktan« erschienenen Romans.

© 2016 by Fabulus-Verlag, Tanja Höfliger, FellbachAlle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oderunter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Elmar Klupsch, StuttgartUmschlaggestaltung: r2 | röger & röttenbacher,büro für gestaltung, LeonbergHerstellung: Fabulus-Verlag, FellbachSatz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, LemfördeISBN 978-3-944788-06-7

Besuchen Sie uns im Internet unter:www.fabulus-verlag.de

INHALT

CoverTitelImpressumWidmungVORBEMERKUNGDAS INTERVIEWNACHBARSCHAFTDIE PRESSEKONFERENZVERLEIHUNGSFEIERDER FILMIN DER VORHALLESCHARNETZKYDER UNFALLENDEDAS KLEIDBEIM ABENDESSENGESPRÄCHABSCHIEDVON BUENOS AIRES …… NACH MENDOZABEIM ZAHNARZTPASO DE LA CUMBREDER ZERFALLLEISTUNGGESUNDHEITSAMTLAGUNA DEL INCADIE KNEIPEALLEINGANGEUROPAMEISTERSCHAFTAUSSPRACHERENATEWARNER»BALD«-BERICHTKRISENSTABLLAIMARÜCKFLUGPILOTPROJEKTIM LABORBOYKOTTLUNGENKLINIKDIE PETRISCHALEWIEDER ERDÖLSTRESSDER SAUGAPPARATHOFFNUNGSCHWELLENKONZENTRATIONPROENZYMEMARKTAPOTHEKEVERBOTENKRANKVALIUMMILLIONGEHEIMVOR DEM APPARTEMENTBESESSENUNFALLFOLGENGROSSANGRIFFFIEBERFIXIERTFÄLSCHUNGPHARMAZEUTENFORTSCHRITTSCHLUSSANSPRACHEFAMILIENLEBENBEI DEN ELTERNSTILLSTANDDER RECHNERANTIKÖRPERGTSTADTFLUCHTPUSTEBLUMESELBSTVORHALTUNGENFRANKFURTEINFALLIM BADZENTRIFUGENKABELDER SCHLAGDIE BEERDIGUNGMIT EIGENEN WAFFENIMPFUNGMITTELALTER?GLOSSAR

Für Kalle

VORBEMERKUNG

Alt bin ich geworden. Schaue ich in den Spiegel, wundere ich mich oft darüber, wie faltig Haut und wie grau Haar werden kann. Aber ich bin froh, dass mir noch welches sprießt. Eitel bin ich noch immer – trotz des biologischen Alterungsprozesses: Rheuma im Rücken, ich spüre es mal mehr, mal weniger; die Spannkraft hat nachgelassen; die Bewegungen sind geruhsamer.

Denke ich an die Katastrophe zurück, spüre ich einen Druck auf meinem Brustkorb lasten und einen Kloß im Hals. Dann erstaunt es mich, dass mir das Äußere wieder etwas bedeutet. Bin ich wirklich so abgebrüht? Ein unbehaglicher Gedanke. Oder denke, fühle und erlebe ich ähnlich wie zuvor?

Die schrecklichen Geschehnisse liegen fast fünfzehn Jahre zurück. Obwohl sie mir noch heute nahegehen, kann ich sie aus diesem zeitlichen Abstand mit einer gewissen Distanz betrachten. Manchmal erscheint mir trotzdem alles absurd. Insbesondere, dass ich zu den Überlebenden gehöre. Geschont wurde ich nicht. Meine Frau war eine der Ersten, die dem Unheil zum Opfer fielen. In der Folge verlor ich viele Freunde und Verwandte.

Mit diesen Schicksalsschlägen werde ich mich nicht abfinden können. Aber im Nachhinein ist daran nichts zu ändern, und vorher hatte den kritischen Stimmen niemand Gehör geschenkt.

Obwohl ich auf die achtzig zugehe, bin ich noch fit genug, die Ereignisse von damals aufzuschreiben. »Man ist so alt, wie man sich fühlt«, sagt eine Redensart. Vielleicht hat mich der erzwungene Neubeginn jung erhalten. Auf jeden Fall hatte ich mir meine letzten Jahre vollkommen anders vorgestellt. Ich hatte meinen Lebensabend genießen wollen. Das, was kam, war eher eine Lebensnacht. Und diese Nacht ein einziger Alptraum.

Ich will aus meiner ganz persönlichen Sicht erzählen, wie ich das Unglück erlebt habe.

Warum eigentlich?

Nun, beim Schreiben werden mir Dinge oft verständlicher. So kann ich das Vergangene bewältigen. Sachliche Berichte und theoretische Abhandlungen gibt es in Hülle und Fülle. Ich hingegen schreibe als Betroffener, als einer, der gelitten hat.

Wir stecken in den Anfängen des Wiederaufbaus, und das Leben verläuft wieder in halbwegs geordneten Bahnen. Die Gesellschaft und unsere Wirtschaft entwickeln sich stetig weiter. Eines Tages werden die Menschen auf dem gleichen technischen Niveau sein wie vor der Katastrophe.

Die Erinnerung daran darf nie verblassen, damit die Wissenschaftler ihre Erkenntnisse verantwortungsvoll anwenden.

Werden sie es?

Eines ist gewiss, ich werde das nicht mehr erleben.

DAS INTERVIEW

Auf dem Bildschirm erschien ein Ehepaar, beide um die sechzig. Sie saßen auf einem breiten, goldgelben Sofa, auf dem reich verzierte Häkelkissen lagen. Über der Rückenlehne hingen zwei Bilder: Das eine zeigte einen See im Gebirge, das andere einen prächtigen Sonnenuntergang über waldbewachsenen Hängen. Es war die gute Stube des Paares.

»Nun, Herr Kauffmann, Sie sind sicherlich stolz auf Ihren Sohn«, begann der Reporter. Der Angesprochene schien sichtlich überrascht. Ging es schon los? Er ruckte wie ein Motor, der startet.

»Selbstverständlich«, antwortete er, nachdem er seinen Gleichlauf gefunden hatte.

»Haben Sie schon immer große Hoffnungen in Ihren Sprössling gesetzt?«

»Schon als Kind lernte er schnell und hatte ein gutes Gedächtnis.« Die Worte kamen langsam und mit Bedacht. »Außerdem war er geschickt. Was der mit seinen Bauklötzen zum Beispiel für tolle Dinger gebaut hat, da konnte man nur staunen, dass die nischt umgekippt sind.«

Man merkte Herrn Kauffmann deutlich an, dass er es nicht gewohnt war, Hochdeutsch zu sprechen. Er bemühte sich, nicht in seinen Dialekt zu verfallen, doch das Hessische kam immer wieder durch.

»Was sind Sie selbst von Beruf?«, fragte der Reporter weiter.

»Fliesenleger, jetzt bin isch in Rente. Deshalb hätt’ isch’s auch lieber gesehn, mein Sohn wär Architekt geworden.«

»Sie waren also mit seiner Berufswahl, Chemiker beziehungsweise Biochemiker zu werden, nicht einverstanden?«

»Ja wissense, wenn man so ein Geschäft aufgebaut hat wie isch, dann hätt’ man’s doch gern, wenn’s einer der Söhne übernehmen würd’, nett wahr. Auch wenn’s nur ein kleines Geschäft ist.«

»Haben Sie noch weitere Kinder?«

»Ja, noch einen Sohn. Der ist Arzt.«

»Aha, interessant. Aber wie fühlen Sie sich als Vater eines Sohnes, der über Nacht in aller Munde ist und für die Gesellschaft Enormes geleistet hat?«

Vater Kauffmann blickte stolz zu seiner Frau. Er wirkte streng mit seiner Glatze und den tiefen, geraden Falten im wettergegerbten Gesicht. Er trug eine dunkelgrüne Strickjacke über hellgrünem Hemd. Sehr wohl fühlte er sich offenbar nicht. Er war konzentriert und angespannt, lehnte aufrecht am Polster. Die Unterarme hielt er vor dem Bauch verschränkt, so, als wolle er Magenschmerzen unterdrücken. Wenn er schwieg, kniff er den Mund zusammen und hielt den Kopf lauernd ein wenig vorgestreckt.

Unruhig entfernte die Frau Fussel vom Ärmel ihres Gatten, zupfte an ihrer grauen Bluse oder nestelte am Haarknoten. Ihre Gesichtszüge waren verkrampft und misstrauisch. Ihr Kopf wich abweisend zurück. Ärgerte sie sich über die Störung in den eigenen vier Wänden?

Das Ereignis riss die beiden Herrschaften aus ihrem Alltag. Dass ein Reporter mit Mikrofon vor ihnen saß und ihnen Fragen stellte, hatten sie noch nie erlebt. Sie ließen es aber über sich ergehen und schlugen sich tapfer in dieser für sie unangenehmen und ängstigenden Angelegenheit.

»Ja, wie schon gesagt«, fuhr Herr Kauffmann fort, »isch bin mit ihm zufrieden. Isch wusste ja von allem nix. Er hat nie was erzählt. Durfte er bestimmt auch nicht. Er hat aus sei’m Beruf was Ordentliches gemacht. Das muss man ihm lassen. Und seinen Lebensunterhalt verdient er schließlich selbst. Das ist die Hauptsache.«

»Das klingt, als wären Sie früher skeptischer gewesen.«

»Ja, genau, das war isch auch, das muss isch sagen. Das hat sich erst geändert, wie isch gemerkt hab, dass der Harry ernsthaft arbeiten kann. Vorher im Studium, wo er rumgelaufe ist mit lange Haar und einem Bart, da hätte Se vor dem sicher auch Angst gekriegt. Die Kleidung war richtig schlampich. Ich weiß ja net, in was für einer Gesellschaft der sisch rumgetrieben hat. Das war doch damals die Zeit kurz nach der Baader-Meinhof-Bande, von der RAF und so. Sie erinnern sisch bestimmt dran. Und in der Schule stand es auch nischt immer zum Besten. Isch dacht schon, aus dem wird nie was.«

»Das ist keine ideale Einstellung eines Vaters zu seinem Sohn.«

»Kann schon sein. Aber was sollt isch mache? Vielleischt hab isch’s ihm nett immer leicht gemacht, weil isch ihn halt nischt verstehn konnt. Isch kann auch nicht aus meiner Haut. Der Harry ist mir so richtig fremd geworde. Wissen Se, isch hab mein Lebe lang gearbeidt, und der hat vielleischt Revoluzzerideen im Kopf gehabt, so wie der damals ausgesehn hat. Und sei Ausbildung hat misch schließlich auch einiges gekostet.«

Vater Kauffmann kam jetzt so richtig in Schwung. Kamera und Mikrofon waren vergessen.

»Aber jetzt komm isch wieder klar mit mei’m Sohn«, fuhr er fort.

Das Interview flimmerte über den Bildschirm. Leider war die Sendezeit schon vorüber, denn ein Fernsehreporter kam ins Bild und sagte ins Mikrofon: »Sie sehen, meine Damen und Herren, auch die Väter berühmter Leute haben ihre Sorgen.«

Zum Ehepaar auf dem Sofa gewandt, beendete er das Interview mit der üblichen Phrase: »Vielen Dank, Herr Kauffmann. Wir bedanken uns für das wirklich interessante Gespräch.«

Damit war der aktuelle Bericht beendet. Es folgten ein paar Reklamespots, unterbrochen von Trickzeichnungen. Dann Schrifttafeln mit der Vorschau aufs Abendprogramm und zuletzt die Fernsehuhr. Der Sekundenzeiger ruckte gleichmäßig auf die große Zwölf zu. Beim letzten Ruck, um Punkt acht Uhr, begann mit einem gedämpften Gong die »Heute-Schau«.

Der berühmte Nachrichtensprecher erschien. Der Herr …, verdammt noch mal, wie hieß der gleich? Ich komme nicht auf seinen Namen. Jeder kannte ihn, und besonders bei den Frauen war er überaus beliebt. In den Klatschspalten der Zeitungen wurde über ihn geschrieben. Der Name liegt mir auf der Zunge. Nun ja, sei’s drum.

»Guten Abend, meine Damen und Herren«, begann der Sprecher. »In Stockholm wurden heute in einer feierlichen Zeremonie durch die schwedische Königin die Nobelpreise für Chemie, Physik und Medizin verliehen. Alleiniger Preisträger für Chemie ist ein Deutscher: Professor Harry Kauffmann. Ihm gelang es, den Hauptbestandteil des Benzins, das Oktan, künstlich mithilfe genetisch veränderter Bakterien herzustellen.

In einer Rede anlässlich der Preisverleihung hob der schwedische Minister für Wissenschaft und Forschung, Olaf Fredericksen, besonders die energiepolitischen Konsequenzen der Forschungsergebnisse Kauffmanns hervor. Die Möglichkeit, aus organischen Abfällen Oktan herzustellen, werde ungeahnte Chancen im Energiesektor eröffnen.«

Kommentare aus dem In- und Ausland schlossen sich an, bevor der Sprecher zu anderen Themen des Tages überging.

Die Eltern Kauffmann verfolgten vor einem Fernsehapparat im Wohnzimmer die Nachrichtensendung. Nachdem das Ereignis des Tages gebracht worden war, stand der Vater in aller Ruhe auf, zwängte sich am Tisch vorbei zum TV-Gerät und schaltete es ab. Die übrigen Meldungen samt Wetterbericht interessierten ihn nicht.

Vater Kauffmann ging zurück und setzte sich neben seine Frau. Beide schauten eine Weile still und beeindruckt vor sich hin. Dann drehte Kauffmann senior sich um und sagte zu seiner Frau:

»Siehste, da waa mä sogaa noch im Firnseh uff unsä aale Daache.«

Sie schaute ihn an und meinte: »Du hätt’s dä abbä doch en Schlips oozie kenne.«

Abwehrend schüttelte er die Hand. »Ach was, so mondänn sinn die doch aach nemmä. Abbä du hättst doch aach emoo was saache kenne.«

»Ei wieso dann? Der hat misch doch gaanett gefraacht.«

NACHBARSCHAFT

So oder ähnlich musste es sich in dem bescheidenen Häuschen der Kauffmanns abgespielt haben. Ich kannte die Familie sehr gut. Wir waren seit langer Zeit Nachbarn und hatten engen Kontakt zueinander. Nach dem Studium wurde ich Referendar an der Schule in einem kleinen Taunusort. Zur Untermiete zog ich in ein Mansardenzimmer im Haus direkt neben den Kauffmanns. Bald verliebte ich mich in die Tochter meiner Wirtsleute. Als Schwiegersohn blieb ich viele Jahre dort. Später konnten meine Frau und ich ein ehemaliges Forsthaus günstig erwerben, in dem ich noch immer wohne.

Nach dem Umzug brach der Kontakt zu den Kauffmanns nicht ab, wir sahen uns zwangsläufig aber seltener. Zu diesem Zeitpunkt standen beide Söhne schon mitten im Studium. Mit Vergnügen hatte ich beobachtet, wie sie sich in jungen Jahren entwickelten. Wenn ich mich recht erinnere, wurde Wolfgang seinerzeit gerade eingeschult, wohingegen Harry bereits im dritten oder vierten Schuljahr war.

Sie waren aufgeweckte Kinder, die oft bei uns waren. Meine Frau und ich genossen ihr Vertrauen. Ich war stolz darauf, dass sie eher uns ihr Herz ausschütteten als den eigenen Eltern. Der Vater, ein aufrichtiger, ehrlicher Mann, hielt sie streng und glaubte, ihnen die eigenen Prinzipien abverlangen zu müssen. Bei uns fanden die Jungs einen Ausgleich, weshalb sie gern zu uns herüber kamen.

Wir selbst hatten keinen Nachwuchs, obwohl ich Kinder schon immer mochte. Renate, meine Frau, hatte die Buben ins Herz geschlossen. Die Kauffmann-Sprösslinge gehörten fast zu unserer Familie und machten uns die Kinderlosigkeit erträglicher.

Deshalb quälten mich die unglückseligen Ereignisse ganz besonders und gingen mir regelrecht zu Herzen. Ich durchlitt die gesamte Entwicklung. Ihre Höhen und Tiefen setzten mein Inneres wie einen Klangkörper in Schwingungen. Auch aus diesem Grund will ich die Begebenheiten im Zusammenhang schildern. Vieles erfuhr ich von den Kauffmanns selbst, sodass ich aus erster Hand berichten kann.

Nach meiner Pensionierung hatte ich genügend Zeit zum Lesen. Dabei beschäftigte ich mich mit politischen Veränderungen und wissenschaftlichen Entdeckungen. Schon Jahre vor der künstlichen Herstellung des Oktans war Harry Kauffmann in Fachkreisen bekannt. Wen wundert es, dass ich begierig alles aufsog, was über ihn und seine Forschungen berichtet wurde. Selbst die kleinsten Zeitungsnotizen hob ich auf. Nach der Verleihung des Nobelpreises wurde eine Pressekonferenz mit ihm im Radio übertragen.

DIE PRESSEKONFERENZ

Harry Kauffmann war von Reportern mit Mikrofonen umringt. Aufnahmegeräte liefen, Kameras klickten, Blitzlichter zuckten. Das Rednerpult war fast zu klein für die aufgeschossene Gestalt im dunkelblauen Anzug. Der Wissenschaftler war konzentriert und wartete gefasst auf die Fragen.

»Herr Professor Kauffmann, seit wann arbeiten Sie an diesem Projekt?«

Gelassen ging der Biogenetiker auf die Frage ein. Die Augenbrauen zogen sich zusammen, die senkrechten Falten dazwischen traten deutlich hervor. Sie zeugten von der Gabe, scharf nachzudenken und unbeirrt ein Ziel zu verfolgen. Die übrigen Gesichtszüge waren runder, aber keineswegs schwammig oder gedunsen, eher teigig-zäh. Sie erinnerten an ein großes Kind.

»Die Möglichkeit, den Stoffwechsel von Zellen zu beeinflussen, interessierte mich bereits im Studium. Ich habe meine Dissertation über dieses Thema geschrieben.«

»Wann begannen Sie mit ernsthaften Versuchen?«

»Erste konkrete Pläne fasste ich vor vierzehn oder fünfzehn Jahren. Die ersten Experimente starteten wir vor knapp zwölf Jahren.«

»Seit wann produzieren Sie Benzin?«

»Bereits vor neun Jahren hatte ich einen Bakterienstamm gezüchtet, der bestimmte Mineralöle produzierte. Zwei Jahre später begannen die Arbeiten zur großchemischen Herstellung.«

»Warum ließ sich die Synphat-Chemie so lange Zeit?«

»Dieser Eindruck trügt, da die Arbeiten von Anfang an auf Hochtouren liefen. Von der Reaktion im Reagenzglas bis zu einem Wirtschaftsprodukt ist es ein langer Weg. Das gilt auch für die Biochemie.«

Die Fragen kamen wie aus der Pistole geschossen, doch Harry Kauffmann ließ sich dadurch nicht beeindrucken. Seine Antworten blieben gut durchdacht und klar formuliert. Man merkte, wie souverän er sein Fachgebiet beherrschte.

»Was heißt Synphat eigentlich?«

»Diese Wortzusammensetzung bedeutet künstliche Mineralöle. So in etwa. Zur Synphat-Chemie AG haben sich mehrere Chemiekonzerne zusammengeschlossen.«

»Wieso das? Hätte eine Firma allein Ihr Verfahren nicht übernehmen können?«

»Die Anfangsinvestitionen waren zu hoch.« Harry Kauffmann strich sich die welligen Haare aus der Stirn.

»Produziert die Synphat denn schon nennenswerte Mengen an Benzin?«

Kauffmann bejahte.

»Seit wann?«

»Seit drei Jahren Benzin und ähnliche Stoffe.«

Der Reporter ließ nicht locker. »Warum hat die Öffentlichkeit erst vor Kurzem von den Forschungen Kenntnis erhalten?«

»In den ersten Jahren liefen die Arbeiten, wie Sie sich denken können, unter dem Siegel absoluter Geheimhaltung. Das hatte wegen möglicher Industriespionage wirtschaftliche, aber auch politische Gründe.«

»Und was hat nun zur Lüftung des Geheimnisses geführt?«

»Der Umfang unserer Produktion. Die Menge an eingeführtem Erdöl ist bereits zurückgegangen. Im Übrigen ist unsere Technologie inzwischen so weit fortgeschritten, dass wir in nächster Zeit keine Konkurrenz fürchten müssen.«

»Herr Professor Kauffmann, gibt es bereits Reaktionen aus den Erdölförderländern und aus den USA?«

Bevor er antwortete, knöpfte der Preisträger betont langsam sein Jackett auf und trank einen Schluck Wasser. Dabei blickte er in die Runde der Journalisten.

»Zum ersten Teil Ihrer Frage ist zu sagen, dass die Erdöl produzierenden Staaten – zynisch formuliert – keineswegs begeistert sind. Trotzdem werden wir auf deren Öl in den nächsten Jahren und Jahrzehnten nicht ganz verzichten können.«

»Und die USA?«

»Einen Moment noch. Die Abhängigkeit von diesen Ländern wird sinken, und sie hat bereits abgenommen.«

»Das hieße im Umkehrschluss, dass man sich willkürliche Preissteigerungen nicht mehr gefallen lassen müsste.«

»Genau. Der Preis wird sich in Zukunft wieder nach den fairen Bedingungen von Angebot und Nachfrage richten.«

»Dann ist bald mit Verbilligungen beim Benzin zu rechnen?«

»Das glaube ich eher nicht, da der Benzinpreis vorwiegend ein wirtschaftspolitischer Preis ist. Der wird nicht fallen, sondern eher mit der allgemeinen Teuerungsrate ansteigen.«

»Das ist aber widersprüchlich.«

Ein bissiges Lächeln glitt kurz über Kauffmanns Gesicht, bevor er antwortete: »Preisnachlässe würden zu Verschwendung führen. Das gilt auch für Heizöl. Dadurch würden Umweltschutzprojekte gefährdet werden. Die Regierung bekommt die Umweltbelastung allmählich aber in den Griff. Sie wird mit den Steuern weiter regulierend eingreifen.«

»Mit anderen Worten, der Verbraucher zahlt weiter, der Staat verdient noch mehr.«

»Wenn Sie so wollen, ja. Dafür entfällt die ständige Sorge um Erdölknappheit. Außerdem wird es langfristig sicherlich zu Erleichterungen für den Steuerzahler kommen.«

»Woran denken Sie?«

»An die Kfz-Steuer und andere Steuern. Nicht nur der Straßenbau kann durch die Öleinnahmen finanziert werden, sondern auch soziale Leistungen und so weiter.«

»Wird die Synphat denn so viele Steuern abwerfen?«

»Nicht nur das. Der Staat ist aufgrund eines komplizierten Vertragswerkes direkt am Umsatz beteiligt.«

»Woher haben Sie Ihre Informationen?«

»Aus unterrichteten Kreisen. Wie gesagt, unsere Firma ist mit staatlichen Stellen eng verknüpft. Der gesamte Themenkomplex wird demnächst in allen Parteien öffentlich diskutiert werden.«

Es entstand eine kurze Pause, in der Kauffmann noch einen Schluck Wasser nahm.

»Meine Frage von vorhin hinsichtlich der Haltung der USA ist noch nicht beantwortet«, erinnerte ein Journalist.

»Ach ja. Wir haben bereits seit Jahren intensive Kontakte zu den Vereinigten Staaten. Ein derartiges Projekt kann die Bundesrepublik Deutschland nicht ohne Wissen und die enge Zusammenarbeit mit ihrem wichtigsten Verbündeten durchführen.«

»Stimmt es, dass in den Staaten bereits Bakterien-Oktan produziert wird?«

»Das ist kein Geheimnis mehr. In der Wüste von Oregon ist ein Werk im Bau, das für die fünfhundertfache Produktionsmenge unserer Anlage konzipiert ist.«

»Welcher Anteil des Gesamtbedarfs kann damit gedeckt werden?«

»Der gesamte Bedarf der USA!« Anerkennende Ausrufe folgten auf diese Antwort.

»Wie viel wird heute schon produziert?«

»Wenig, und das nur zu Forschungszwecken. Die Anlage wird in zwei bis drei Jahren in Betrieb genommen werden können.«

»Dann müssen die USA kein Erdöl mehr importieren?«

»Zunächst schon noch, da bis zur vollen Auslastung der Anlage noch einige Zeit vergehen wird.«

»Herr Professor, wie reagiert eigentlich Russland?«

»Lassen Sie mich noch kurz etwas ergänzen. Ich bin sicher, dass durch unsere Kooperation mit den Vereinigten Staaten das deutsch-amerikanische Bündnis eine neue und wesentliche Stärkung erfährt.«

Kauffmann zog die Luft hörbar durch den Mund ein. »Das Problem mit Russland ist vielschichtig und schwierig. Es wurde in den letzten Wochen aus verschiedenen Perspektiven andiskutiert, doch die Gespräche darüber müssen weitergehen und sogar noch intensiviert werden.«

»Das ist aber sehr allgemein gehalten«, meinte ein Journalist.

»Mehr möchte ich dazu jetzt nicht sagen. Ich bin schließlich kein Politiker.«

Der Frager blieb hartnäckig. »Sie haben sich doch auch zu den USA und zu den Erdölförderländern geäußert.«

»Ich kann und will zu diesem Themenkomplex nichts sagen.«

»Verstehe. Sie haben wahrscheinlich Ihre Anweisungen.«

Kurzes, betretenes Gemurmel. Harry Kauffmann blieb gewollt ruhig. Seine hervortretenden Wangen verliehen ihm etwas Kindhaft-Trotziges. Jetzt wirkten sie zusätzlich gebläht, so, als wolle er zu verstehen geben, dass er es nicht nötig hatte, sich zu verteidigen.

Schon war der unliebsame Moment vorüber.

»Sie sprachen vorhin von Umweltschutz, Herr Professor Kauffmann. Wird durch die Benzinproduktion die Natur nicht noch weiter zerstört?«

»Im Gegenteil, das Verfahren ist umweltfreundlich.«

»Kann ich mir kaum vorstellen.«

»Sie müssen davon ausgehen, dass unsere Bakterien eine Reihe von Abfallstoffen als Nahrung benutzen. Man kann sie mit allem Möglichen füttern, wie zum Beispiel mit Altpapier, Holz, Stroh, Abwässern. Im Grunde mit jedem organischen Material. Sogar mit Altöl und vielen Kunststoffarten, wenn sie entsprechend aufbereitet worden sind.«

»Das klingt ja fantastisch. Aber gibt es dabei denn keine Abfallprodukte?«

»Nein. Als Nebenprodukt entsteht sogar ein hochwertiger organischer Dünger.«

»Das wäre ja eine ideale Recycling-Möglichkeit.«

»Ist es auch. Die neue Technologie ist keine Umweltbelastung, sondern eine -entlastung – ganz im Gegensatz zur Kernenergie. Der Vorteil ist, dass wir keine fossilen Energien mehr verwenden müssen. Bakterien-Oktan ist automatisch energieneutral. Die Energie, die das Oktan liefert, wurde zuvor der Umwelt entzogen.«

»Herr Professor Kauffmann, sehen Sie sich selbst als Biochemiker oder mehr als Wirtschaftswissenschaftler?«

»Die Frage ehrt mich. Selbstredend bin ich Biochemiker. Die Ausmaße meiner wissenschaftlichen Tätigkeit haben jedoch derart universell-wirtschaftliche Bedeutung, dass ich gezwungen bin, mich auch mit den volkswirtschaftlichen Auswirkungen zu befassen und vertraut zu machen. Zugegeben, dieses Denken fällt mir noch nicht leicht.«

»Herr Professor Kauffmann, ich möchte noch einen anderen Themenkreis anschneiden. Sie benutzen Bakterien als Produktionsmittel, sozusagen als Arbeitstiere. Ist das nicht gefährlich für die Menschheit? Schließlich sind Bakterien doch Krankheitserreger.«

»Ihre Frage kann ich ruhigen Gewissens verneinen. In der Natur gibt es für den Menschen viel mehr harmlose Bakterien als solche, die ihm schaden und Krankheiten hervorrufen. Viele sind sogar ausgesprochen nützlich, zum Teil unentbehrlich für das Leben und die gesamte Ökologie. Außerdem nutzt der Mensch Mikroorganismen bekanntlich schon aus.«

»Woran denken Sie dabei?«

»Zum Beispiel an Alkohol und Essig, die die Menschen seit Jahrtausenden nutzen, selbst wenn sie es nicht immer wussten. Oder an Penicillin, das bekannte Antibiotikum, das von Mikroorganismen produziert wird. Allerdings handelt es sich dabei um Pilze.«

»Trotzdem wird von namhaften Biochemikern immer wieder vor möglichen Gefahren bei Genmanipulationen gewarnt.«

»Im Prinzip haben Sie nicht unrecht. Rein theoretisch sind Störungen beim Menschen denkbar.«

»Und wie wollen Sie die umgehen?«

»Wir haben verschiedenartige Tierversuche durchgeführt.«

»Ohne negative Ergebnisse?«

»Exakt. So habe ich mir selbst eine Aufschwemmung mit meinen Bakterien spritzen lassen, ohne dass bei mir die geringste gesundheitliche Beeinträchtigung davon auftrat.«

»Donnerwetter, Sie haben Mut!«

»Nun ja, aufgrund der Tierversuche konnte ich ziemlich sicher sein, dass das Bakterium apathogen, also nicht krankheitserregend ist.«

»Welches Bakterium haben Sie denn verändert?«

»Ich weiß nicht, ob ich auf diese Frage wirklich antworten sollte. Das geht zu sehr ins Detail.«

»Und wie heißt Ihr Bakterium?«

»Ich merke schon, Sie geben keine Ruhe. Dann will ich Ihnen verraten, dass wir zur Züchtung Tuberkulosebakterien benutzt haben. Daraus leitet sich auch der Name ab: Mycobacterium tuberculosiformis ocanofabricans. Man erwägt derzeit die Kurzbezeichnung ›Oktobakter‹.«

Der Frager blieb skeptisch. »Und das erzeugt wirklich keine Tuberkulose?«

»Das sagte ich bereits, oder sehe ich so aus, als hätte ich Tuberkulose? Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass man sich Abkömmlinge von Tuberkulosebakterien zunutze macht. Heute wird fast jedes Neugeborene mit BCG-Impfstoff gegen Tuberkulose geimpft, der ebenfalls aus abgewandelten Tuberkulosebakterien besteht. Aus lebenden Bakterien, wohlgemerkt. Und die benutzt man schon seit Jahrzehnten.«

»Aber das ist doch etwas grundlegend anderes!«

»So grundlegend ist der Unterschied nun auch wieder nicht. Ich wollte damit nur verdeutlichen, dass Bakterien nicht immer mit Krankheit gleichzusetzen sind. Trotzdem treffen wir aus Sicherheitsgründen sämtliche uns möglichen Vorkehrungen, um einen Kontakt zu Menschen, vor allem zu unseren Chemiearbeitern, zu unterbinden.«

»Ist denn ein Zwischenfall schon vorgekommen?«

»Ein Zwischenfall? Nein! Oder doch: Ein Tank mit zwölfhundert Kubikmetern Nährflüssigkeit lief aus.«

Unheilvolles Grummeln im Raum.

»Wann war das?«, wollte eine Journalistin wissen. Ihre Stimme klang aufgebracht.

»Bitte keine Panik, meine Herrschaften«, versuchte Harry Kauffmann zu beschwichtigen. »Es ist ja nichts passiert. Das war vor dreieinhalb Jahren«

»Und wie kam es dazu?«, fragte die Dame weiter.

»Schuld war ein automatisches Ventil, das klemmte. Der Schaden wurde erst bemerkt, als es bereits zu spät war.«

»Wieso hat man davon nichts erfahren? Oder war das reine Nährflüssigkeit?«

»Nein, die Flüssigkeit enthielt Bakterien. Sie war sogar gesättigt mit Bakterien. Das wurde damals streng geheim gehalten, wie Sie sich denken können. Das ganze Projekt war ja noch nicht öffentlich kommuniziert worden.

Selbstredend haben wir die zuständigen Behörden, den Richtlinien entsprechend, sofort informiert, die daraufhin Untersuchungen anordneten. Von deren Ergebnissen wollte man abhängig machen, ob der Schleier vorzeitig gelüftet wird oder nicht.«

»Das ist ja eine eigenartige Informationspolitik. Ich dachte, so verhalten sich nur autoritäre Staaten, in denen die Demokratie keine Rolle spielt.« Jetzt war es ein männlicher Journalist, der sich sichtlich aufregte.

»Und heute kann man offen darüber reden? Wenn damals etwas passiert wäre – ich wage gar nicht daran zu denken.«

»Es ist aber nichts passiert!« Harry Kauffmann schlug einen beruhigenden Ton an. »Glauben Sie mir, das Bundesministerium für Gesundheit untersuchte jeden neuen Tuberkulosefall akribisch genau. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte stand bereit, Mittel zur Bekämpfung von Tuberkulose wurden vorsorglich bestellt.

Auch wenn nichts davon erforderlich war, das alles hätte nicht vorkommen dürfen. Inzwischen sind die Ventile so umgebaut worden, dass sich ein derartiger Unfall nicht wiederholen kann. Vielleicht beruhigt es Sie, dass wir derartige Bakterienmengen erst züchteten, nachdem sämtliche Tierversuche zufriedenstellend verlaufen waren. Nach dem Vorfall wurden weitere Untersuchungen vorgenommen, bei denen keinerlei Schäden entstanden. Weder ein vermehrtes Fischsterben trat auf noch sonst irgendetwas. Letztlich ist das sogar ein Beweis für die Unschädlichkeit der Bakterien.«

Noch lag eine spürbare Unruhe in der Luft. Wortfetzen hier, Flüstern und Gestikulieren da. Doch keine neuen Fragen. Die Hektik der Presseleute nahm ab. Hatten sie endlich ausreichende Informationen auf ihre Fragen erhalten? Ein Reporter hatte noch einen Einfall.

»Etwas ganz anderes, Herr Professor. Was haben Sie als Nächstes vor?«

»Nun, zunächst werde ich mir einen Urlaub von zwei bis drei Monaten gönnen. Den hatte ich seit Jahren nicht mehr.«

»Und wohin geht’s?«

»Nichts gegen Sie persönlich, meine Damen und Herren, aber um einigermaßen ungestört zu sein, werde ich darüber kein Wort verlieren. Noch weitere, wichtige Fragen?«

»Ja, eine noch, Herr Professor Kauffmann. Könnten Sie vielleicht in wenigen Worten das Prinzip der Produktion von Benzin durch Bakterien erläutern?«

»Um Gottes willen, das würde hier und heute viel zu weit führen. Die Firma Synphat-Chemie hat aber eine populärwissenschaftliche Publikation zur Oktansynthese veröffentlicht, mit deren Hilfe Sie Ihren Wissensdurst stillen können.«

In einer erneuten Pause schaute sich Harry Kauffmann kurz um. »Ja, dann darf ich mich wohl verabschieden. Auf Wiedersehen!«

Mit diesen Worten wandte sich der Wissenschaftler dem Ausgang zu. Eine Horde von Reportern folgte ihm unter einem wahren Feuerwerk von Lichtblitzen zur Tür.

VERLEIHUNGSFEIER

Für den Abend nach der Auszeichnung hatte die Firma Synphat eine Festveranstaltung zu Ehren von Professor Kauffmann im Grand-Hotel in Stockholm organisiert. Harry hatte Renate und mich dazu eingeladen, worüber wir uns beide riesig freuten.

Das First-Class-Hotel lag direkt am Wasser mit Blick auf das Königsschloss gegenüber und über Gamla Stan, die Altstadt. Stolze Limousinen hielten vor den Säulen der Eingangshalle. Beflissene Hotelburschen in Livree sprangen zu den majestätischen Wagen und öffneten die Fondtüren. Sie geleiteten die hohen Herrschaften aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft über einen breiten roten Teppich in den hell erleuchteten Prachtbau.

Am Eingang zum Festsaal wurde meine Vorfreude ein wenig gedämpft. Unsere Einladungskarten reichten nicht aus, sondern der Page verlangte auch, unsere Ausweise zu sehen. Während ich diese umständlich in verschiedenen Taschen suchte, ließ er lächelnd die Damen in teurer Abendgarderobe und die Herren im Smoking passieren und nickte ihnen freundlich zu.

Nachdem wir dieses Procedere erfolgreich absolviert hatten, schritten wir über die Schwelle wie in ein Bilderbuch. Helles Eichenparkett und goldschimmernde Textiltapeten, geschmückt mit Jagdszenen auf großflächigen Gobelins. Vor den Fenstern hohe, schwere Vorhänge. Gewaltige Kronleuchter verbreiteten mildes Licht.

Der Raum war angefüllt mit Märchengestalten: Feen in Samt und Seide, gekonnt frisiert. Andere, mehr Walküren ähnelnd, waren geschickt geschminkt. Prinzessinnen trugen Schmuck, der so wertvoll war wie ein Haus mit Garten. Dezent die Mannspersonen, fast unauffällig ihre goldenen Uhrketten, die Krawattennadeln aus Silber, mit Diamanten besetzt. Helden hier und da in Galauniformen mit Orden auf der stolzgeschwellten Brust.

Ein Plaudern und Scherzen allenthalben, ein Lächeln mit unverbindlichen Blicken. Unbesiegbare Selbstherrlichkeit, jenseits von Mühe und Sorgen. Eingedrungen war ich in die Welt der Gebieter, jemand, der kurz in ihre weichen Sänften unter verziertem Baldachin schauen durfte.

Nicht lange hielt mich die Märchenwelt in ihrem Bann. Einen Teint hatten die Damen, kein Gesicht. Der Schmuck blendete, um nicht die Leere hinter der Fassade zu zeigen. Die Männer mochten Macht haben, doch hatten sie auch Freunde? Kam ich mir zunächst fremd und schäbig vor unter all der Pracht, so fand ich schnell mein Selbstvertrauen wieder.

Rund vierhundert Personen bevölkerten den Saal. Renate und ich saßen an einem langen Tisch mit Freunden und Verwandten von Harry Kauffmann. Auf einer Bühne sorgte eine James-Last-Revival-Band für musikalische Unterhaltung. Obwohl der Meister gut zehn Jahre schon tot war, hatte seine Musik von ihrer Popularität nichts eingebüßt. Ich konnte ihn nie leiden, auch zu Lebzeiten nicht, fand die Musik zu fad und seine Show läppisch. Doch das ist Geschmackssache.

Nachdem sich der große Raum gefüllt hatte und keine Gäste mehr nachströmten, verließ das Orchester die Bühne. Ein Herr in dunkelblauem Anzug ging zu einem seitlich stehenden Rednerpult. Sein Konterfei wurde auf eine riesige Leinwand projiziert.

»Sehr geehrter Herr Wirtschaftsminister Gumpert, sehr geehrter Herr General von Bülow, hochwürdiger Bischof Grösing, liebe Freunde und Bekannte, meine Damen und Herren.«

Mit diesen Worten begann Dr. Densing, der Vorstandsvorsitzende der Synphat AG, seine Ansprache und richtete dabei das Mikrofon ein.

»Besonders begrüßen möchte ich die schwedischen Außen- und Wissenschaftsminister, die Herren Lasse Maduskan und Olaf Fredericksen. Ich schätze mich besonders glücklich, auf der Feier aus Anlass der Nobelpreisverleihung unseren wissenschaftlichen Leiter, den Nobelpreisträger persönlich, Herrn Professor Doktor Harry Kauffmann, unter unseren Gästen zu wissen.«

Beifall erhob sich bei der Nennung des Namens. Harry saß neben seinen Eltern und seinem Bruder am vorderen Ende unseres Tisches. Er hatte ins Leere geschaut, so, als behage ihm die Feier nicht sonderlich. Als man ihm applaudierte, sah er sich genötigt, aufzustehen. Er tat das mit hochgezogenen Brauen und halb geschlossenen Lidern, zwang sich zu einem Lächeln und blickte in die Runde. Lieber hätte er wie bei anderen langweiligen Veranstaltungen dieser Art, die er aus Prestigegründen besuchen musste, abgeschaltet. Doch richtig abschalten konnte er nie. Meist kreisten seine Gedanken um Probleme seiner Forschungsvorhaben.

»Meine Damen und Herren, die Bedeutung der Arbeiten Kauffmanns ist uns allen klar, wenn auch deren Ausmaße noch lange nicht abzusehen sind. Mithilfe seiner Forschungsergebnisse werden wir in Kürze in der Lage sein, Energieträger in beliebiger Menge und zu einem verschwindend niedrigen Preis herzustellen.«

Dr. Densing führte die wirtschaftliche Bedeutung wortreich weiter aus und umriss mit blumiger Sprache die unbegrenzten Möglichkeiten der neuen Biogenetik-Industrie. Schließlich gelangte Dr. Densing zum Schluss seiner Ansprache.

»Vielen Leuten ist nicht klar – und mir auch nicht«, gestand er mit abfallender Tonlage, »da ich kein Naturwissenschaftler bin –, wie dieses Wunder der Oktanherstellung funktioniert. Deshalb hat unsere Abteilung für wissenschaftliche Information einen Film erstellt, der die Grundlagen dieses Vorgangs möglichst einfach und verständlich darstellt. Der gesamte Prozess ist äußerst komplex. Zugunsten der besseren Verständlichkeit ist in diesem Film vieles vereinfacht dargestellt worden.

Doch urteilen Sie selbst. Er soll Ihnen, meine Damen und Herren, heute Abend zum ersten Mal vorgestellt werden. Mit anderen Worten, Sie erleben nun die Uraufführung. Darf ich um Ihre geschätzte Aufmerksamkeit bitten.«

Unter zurückhaltendem Applaus verließ Dr. Densing das Rednerpult. Sein Abbild auf der Leinwand war mit ihm zusammen verschwunden. Die Lichter im Saal erloschen langsam.

DER FILM

Der Film begann malerisch. Die Kamera fuhr durch ein kleines, verwinkeltes Taunusdorf, den Geburtsort Harry Kauffmanns. Sie umkreiste die ehemalige Volksschule und die Kirche, in der er konfirmiert worden war. Dann zeigte sie das Gymnasium und speziell den Chemiesaal, in dem er damals schon wütete.

Weitere Stationen waren die Universität und seine Laufbahn als Chemiker. Der Film musste brandneu geschnitten worden sein, denn die Nobelpreisverleihung war ebenso eingebaut wie, in gekürzter Form, das Interview mit den Eltern.

Dann folgte eine exzellente Beschreibung der Oktanproduktion. Eine Reihe bunter Trickzeichnungen stellte den komplizierten Sachverhalt einleuchtend dar.

Der Film verglich die Zelle mit einer vollautomatisierten Fabrik.

Die Grundprinzipien der Anlage sind einfach: Die Rohstoffe, lediglich zwanzig verschiedene Bausteine, ähneln einem Baukastensystem. Aus ihnen baut die Fabrik sämtliche Maschinen, die Wände und zum Teil auch die Produkte. Die Bausteine werden zu langen Ketten aus tausend und mehr Gliedern verbunden, sodann geknäult, verwickelt, geflochten oder zusammengeleimt. So entstehen die mannigfaltigsten Strukturen.

Per Trickzeichnungen wurden die Ketten zu Hämmern, Meißeln, Zangen, Schraubendrehern und Schrauben und diese alle zu Bestandteilen von komplexen Automaten.

Informationen über all diese Abläufe sind auf Magnetbändern gespeichert, die nach Bedarf angefordert werden können.

Auf die Chemie der Zelle übertragen, entsprechen die Bausteine den Aminosäuren und die Ketten den Proteinen oder Eiweißen. Diese haben in der Biologie, so der Sprecher, eine ganz entscheidende Bedeutung. Zum einen bilden sie die Zellstrukturen, entsprechend den Wänden der Fabrik. Zum anderen haben die Enzyme ebenfalls Proteinstruktur und sind somit den Maschinen gleichzusetzen.

Dieses Grundprinzip ist gleich bei den Bakterien, bei pflanzlichen, tierischen und menschlichen Zellen.

Der Film faszinierte mich. Doch nicht jeder schien meine Begeisterung zu teilen. In der Reihe hinter mir hustete jemand auffallend oft, worüber ich mich ärgerte. Ich hatte das Gefühl, dass sich jemand langweilte. Wie konnte man nur so unverschämt und dümmlich sein!

Die Informationsübertragung beruhe, so der Film weiter, auf ähnlich einfachen Mechanismen. Auf den Magnetbändern – im Fabrikbeispiel – sind in der richtigen Reihenfolge die Bausteine angegeben. Die Informationen werden vom Band abgelesen und die Bausteine in der richtigen Reihenfolge miteinander verknüpft.

In der Zelle entsprechen die Bänder den Kernsäuren. Vier verschiedene Moleküle stellen die Buchstaben dar, sodass man vom Lebensalphabet spricht. Millionen solcher Buchstaben bilden eine Kernsäure. Schreibt man 5000 Buchstaben eng auf eine Seite, benötigt man für die Kernsäure eines einfachen Bakteriums 2000 Seiten. Für den Menschen bräuchte man eine Bibliothek von 600 Büchern à 1000 Seiten.

In der Zelle gibt es bestimmte Einrichtungen zum Ablesen der Information auf der Kernsäure. Das sind die Mitochondrien, die den Tonköpfen am Lesegerät entsprechen. Sie können aber noch mehr und knüpfen die richtigen Aminosäuren aneinander, bis das ganze Protein gebildet ist. Der Abschnitt auf der Kernsäure, der ein Eiweiß codiert, wird als Gen bezeichnet.

Ein explosionsartiger Hustenanfall brach sich in meinem Rücken Bahn. Unwillig drehte ich mich um und bemerkte in dem schwachen Flimmerlicht, dass auch andere den Störenfried strafend musterten. Es erfüllte mich mit tiefer Befriedigung, als er hustend und prustend aufstand und den Saal eilig verließ.

Der Film erläuterte jetzt die Gentechnik. Dabei greift der Wissenschaftler in den Informationsgehalt ein. Im Fabrikbeispiel wird ein falsches Band eingeschleust. Die Apparaturen stellen dann fremde Erzeugnisse her.

Genchirurgisch wird eine gewünschte Kernsäure in eine Zelle eingebracht. Diese produziert das zugehörige Eiweiß, obwohl es ihr fremd ist. Als Arbeitstiere nutzt der Genchirurg ausschließlich Bakterien. Auf diese Weise gelang es in den frühen Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts, Insulin, Interferon und andere Substanzen gentechnisch herzustellen.

Das Bakterium produziert die fremden Eiweiße, weil sie in seinem Genbestand festgeschrieben sind. Und es muss die Informationen auf sämtliche Tochterbakterien weiter vererben. So kann man große Mengen von Bakterien züchten, die einen gewünschten Stoff herstellen.

Harry Kauffmann machte sich die gentechnischen Mechanismen zunutze und übertrug auf ein Tuberkulosebakterium die Informationen für verschiedene Enzyme. Diese stellen zunächst ein Fett her, das aus Glycerin und drei Oktansäuremolekülen besteht – so wie Butterfett aus Glycerin und drei Buttersäuremolekülen besteht. Dann spaltet ein Enzym aus dem Fett das Oktan ab. Dieses entscheidende Enzym bekam den Namen Oktanase.

Oktan gehört zu den aliphatischen Kohlenwasserstoffen. Das sind in der organischen Chemie Moleküle, die nur aus Kohlen- und Wasserstoffatomen bestehen wie zum Beispiel Propan und Butan, zwei Erdgase. Bei Oktan liegen acht Kohlenstoffatome nebeneinander. Daher der Name, der vom griechischen οϰτὠ »acht« abgeleitet ist.

Der Sprecher erklärte, eine Vielzahl von Veränderungen habe im Stoffwechsel des Bakteriums vorgenommen werden müssen, um das Endziel der Oktanherstellung zu erreichen. Doch es ist gelungen. Aus einer Masse von Wasser, Bakterien und Nährstoffen, die in riesigen Kesseln brütet, steigt ein Strom von Benzin unaufhörlich nach oben. Pumpen saugen es an der Oberfläche ab, sodass es zu technischen und gewerblichen Zwecken genutzt werden kann.

Bewundernd schaute ich zu Harrys Platz hinüber, der allerdings leer war. Zu Beginn des Films hatte er seinem Bruder Wolfgang auf die Schulter getippt und ihm etwas ins Ohr geflüstert. Darauf hatten sich beide erhoben und waren leise hinausgegangen. Das war mir bei meiner Begeisterung für den Film entgangen.

IN DER VORHALLE

Die beiden Brüder standen in der Vorhalle. »Na, Bruderherz, was ist los?«, fragte der Mediziner.

»Das kotzt mich, ehrlich gesagt, alles an. Findest du das nicht auch absolut langweilig?«, brachte Harry Kauffmann mürrisch hervor.

»Nun, die Vorträge sind ja nicht für uns gemacht, sondern dienen der PR. Aber einen Nobelpreis kriegt man nicht alle Tage.«

Harry stöhnte wie unter einer großen Last. »Da siehst du es selbst. Bis zum Nobelpreisträger hat man’s gebracht. Und ist man deshalb frei? Denkste! Verpflichtungen über Verpflichtungen. Die reine Zeitverschwendung für ein solch albernes Gefasel. Und ulkigerweise sollst du auch noch die Hauptperson von dem Ganzen sein. Tut mir leid, Wolfgang, aber jetzt muss ich mich mal richtig selbst bedauern!«

»Immerhin hast du den Saal verlassen dürfen«, tröstete ihn der Bruder.

»Ja, als es dunkel war. Dabei wusste ich schon vorher, was für ein lahmer Film da gezeigt wird. Trotzdem musste ich ihn mir antun.«