Smarter Breitwegerich - Will Hofmann - E-Book

Smarter Breitwegerich E-Book

Will Hofmann

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Beschreibung

Wenn die Natur zurückschlägt. Intelligent. Unerbittlich. Grün. Eine genetische Mutation verleiht dem unscheinbaren Breitwegerich - Plantago major - Bewusstsein. Und Macht. Er verändert sich selbst, entwickelt Sinnesorgane, Beweglichkeit . . . Er erkennt das Leiden der Erde - und den Menschen als dessen Verursacher. Seine Konsequenz: Dieser Schädling muss verschwinden. Was als botanische Kuriosität beginnt, wird zur globalen Bedrohung. Mit der Fähigkeit, Moleküle zu manipulieren, formt der Plantago seine Umwelt neu - nach eigenen Regeln. Die Natur schlägt zurück. Radikal. Präzise. Basierend auf fundierten ökologischen Szenarien entfaltet sich eine erschreckend realistische Apokalypse - ebenso faszinierend wie furchteinflößend. Ein packender Öko-Thriller - realistisch, rasant, gnadenlos.

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Seitenzahl: 317

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Willi Hofmann,

Jahrgang 1949, bringt eine einzigartige Kombination aus naturwissenschaftlichem Wissen und literarischer Fantasie in seine Werke ein. Mit einem Hintergrund in Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, sowie einer langjährigen Tätigkeit als Dozent, verbindet er Fachwissen mit der Fähigkeit, komplexe Themen anschaulich und fesselnd zu erzählen.

Als Romanautor hat Hofmann zahlreiche Bücher veröffentlicht, die Themen wie Menschlichkeit, Natur und die Grenzen des wissenschaftlichen Fortschritts beleuchten. Sein Stil ist geprägt von skurrilen Wendungen, tiefgründigen Figuren und einer besonders durchdachten Mischung aus Wissenschaft und Fiktion.

Familie Walchhofer

im Alpenhof Filzmoos-Neuberg gewidmet

Inhalt

1 Erkenntnis

2 Eigenschaften

3 Kräuter

4 Heilkräfte

5 Verbreitung

6 Plantagon

7 Gedanken

8 Kreuzung

9 Koslan

10 Suizid

11 Sektion

12 Vergleich

13 Entwicklung

14 Wanderschaft

15 Nuuk

16 Antigon

17 Anpassung

18 Vermehrung

19 Fjodor

20 WCC I Bestandsaufnahme

21 Komische Wälder

22 Castle on the Seas

23 CO

24 WCC II Maßnahmen

25 Kadyktschan

26 WCC III Abschluss

27 Gas

28 Nachschlag

29 Verdacht

30 Mutation

31 Todesurteil

32 Hektik

33 Umweltminister

34 Quänner

35 Flämmen

36 Overkill

37 Verhandlung

38 Anschlag

39 Vollstreckung

40 Komi und Nuuk

41 Erwachen

42 Maßnahmen

43 Neuer Alltag

44 Umsiedlung

45 Teneriffa

46 Liebe

47 CERN

48 Modell

49 Genf

50 Wunschkind

51 Messias

52 End

Postscriptum

Bildnachweis

Albrecht Dürer, Das große Rasenstück

1 Erkenntnis

Ihr kennt mich. Klar, dass ihr mich kennt.

Ich weiß alles.

Am Anfang wusste ich nichts.

Ich weiß, dass ich der Breitzvegerich bin. Beziehungsweise dass die Spezies, die auf diesem Planeten das Sagen hat, mich und meinesgleichen so genannt hat.

Doch langsam!

Was ich am Anfang wahrnahm, war eine Ahnung. Ich ahnte, dass ich da bin. Ich spürte mich selbst und ich spürte, dass andere wie ich um mich herum waren, und gleichzeitig spürte ich mich mit denen um mich herum als eine Einheit. Ich war ich und ich war wir zugleich, und ich fühlte mich gut, fühlte mich geborgen, wir fühlten uns gut und geborgen.

Wir spürten auch andere Wesen um uns herum. In nächster Nähe waren das Gras und Löwenzahn. Auch diese Begriffe erfuhr ich später. Bald schon kam Neues hinzu. Tiere liefen umher; sie fraßen Gras und Löwenzahn. Wie kleine Eindruckswolken schwebte etwas über uns hinweg oder huschte vorbei – Kaninchen. Oder wir empfanden estwas Riesiges, spürten die Anwesenheit großer Gestalten - Pferde.

Bald bemerken wir: Gras und Löwenzahn wurden beeinträchtigt durch das Gefressenwerden, Kaninchen und Pferd fühlten sich wohl beim Fressen. Dennoch litten die Pflanzen nicht – sie regenerierten sich.

Wir spürten mehr, wir lernten mehr und mehr über uns und unsere Umgebung – die Atome, Moleküle, Zellen und Organellen. Wir spürten die feine Umgebung, die Atmosphäre, den Boden, die Stoffe dann – Wasser, Kalzium, Kalium, Zucker und viele weitere gelöste Stoffe. Wir erkannten die Lebewesen auch in der Tiefe – Bakterien, Würmer, Larven.

Wie es kam, dass ich alles erspürte, dass wir alles erspürten, erfuhr ich bald. Wir erkannten Primaten – eine Spezies der Primaten: die Menschen. Wir spürten ihre Anwesenheit. Wir spürten, dass sie sich bewegen konnten, und wir erkannten, wohin sie sich bewegten, was sie unternahmen; und bald konnten wir ihre Gedanken lesen.

Daher weiß ich, dass ich der Breilwegerich bin. Beziehungsweise dass die Menschen, die Spezies, die auf diesem Planeten das Sagen hat, mich und meinesgleichen so genannt hat.

Die Spezies, die bislang das Sagen hatte, müsste ich korrekt sagen.

2 Eigenschaften

Ich wuchs im Randbereich einer großen Stadt, auf einer Pferdekoppel am Pfuhlgelände in Mariendorf, einem Stadtteil von Berlin, genannt die Hauptstadt von Deutschland.

Ich bin der Breitwegerich, doch ich habe viele Namen, Plantago major, wissenschaftlich, auch Mausöhrle, Saurüssel oder Rippenblatt nennt man mich. Ganz zu schweigen von den vielen Namen weiter weg: Broadleaf plantain in England, Grand Plantain in Frankreich, Piharatamo in Finnland, Подорожник большой in Russland, in Japan. Es gibt mich nämlich fast überall.

Breit – wege – rich. Ich bin breit, im Gegensatz zu meinem Namensvetter, dem Spitzwegerich. Ich stehe am Weg - wie mein Namensvetter auch. Wir sind verwandt, gehören zu den Wegerichgewächsen, den Plantaginaceae, und ich bin der König. Das rich kommt vom rih aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet König. Ich bin der König der Wege.

Plantago stammt von Planta, lateinisch für Fußsohle. Die humanen Gelehrten streiten sich, ob der Name gewählt wurde, weil ich so breit bin wie eine Fußsohle und ihrer Form her ähnele oder weil ich Heilkräfte für die Fußsohle in mir habe.

Woher ich das alles weiß? Geduld, davon später. Bleiben wir einfach erst einmal bei mir:

Ich bin tnttftest, ich bin hartnäckig, zäh, ausdauernd. Man bekommt mich nicht so schnell kaputt – man will es auch gar nicht. Ich bin zu unauffällig, zu bedeutungslos, sogar hässlich. Auf feinem Rasen allerdings gehöre ich ausgerottet.

Man zählt mich zur Ruderalvegetation, zu den Pflanzen, die zuerst auf brachliegenden Flächen, Abfallhalden oder Schutthaufen wachsen. Ich bin anspruchslos. Ich hole mir, was ich brauche, mit meinen fast einen Meter langen Wurzeln aus der Tiefe.

An mir ist nichts Schönes. Ich habe keine Farbe außer dem unscheinbaren Grün, dem bisschen Weißlich-Gelb der Blüten und Braun meiner Früchte. Die Blüten nimmt man (gemeint: der Mensch) kaum wahr, die Früchte erst recht nicht. Nur die Ähren fallen auf, weil sie aus der Rosette meiner Blätter beinahe senkrecht in die Höhe sprießen.

Früher hat man mich geachtet, heute tut man das kaum noch. Dennoch, ich bin ...

eine Trittpflanze, weil ich eben trittfest bin. Ich halte mich auf unbequemem Boden, an Wegen und auf Weiden. Tritte von Mensch und Vieh können mir nicht viel anhaben;

eine krautige Pflanze – ich verholze nicht, sondern treibe im Frühjahr neu aus, nachdem die oberirdischen Anteile im Winter abgestorben sind;

ein Hemikryptophyt – meine Überdauerungsknospen liegen an der Erdoberfläche, sie werden im Winter durch Laub und Schnee geschützt;

vorweiblich – meine weiblichen Fruchtblätter reifen vor den männlichen Staubbeuteln. Bekomme ich keine fremden Pollen ab, kann ich mich selbst befruchten;

ein Lichtkeimer – ich benötige zum Keimen neben Wasser, Wärme und Sauerstoff auch Licht;

ein Kältekeimer – mein Samen muss einmal Frost abbekommen, bevor er auskeimt;

ein Wind- und Tierstreuer – meine Samen oder Diasporen verbreitet sich durch Wind und Tiere, den Menschen ein geschlossen.

Ich habe ...

ein Rhizom – einen Wurzelstock, der überwintert. Es überwintert nicht nur das Wurzelwerk. Es überwintern im Rhizom all meine Gedanken, all mein Wissen, all unser Wissen – unsere Persönlichkeit;

klebrigen Samen – über Tierpfoten, Schuhe und Räder verbreite ich mich;

Zugwurzeln – ich kann meine Wurzeln zusammenziehen und damit das Rhizom tiefer in den Boden zerren. Das fördert meine Zähigkeit, meine Überlebensfähigkeit. Die Fasern in den Zellwänden verlaufen längs. Ich kann sie quellen lassen, den Turgor erhöhen. Der Turgor ist der Druck des Zellsafts auf die Zellwände. Steigt er, zieht sich die längliche Zelle zusammen, wird runder. Verringere ich den Turgor, dehnt sie sich aus. Diese Fähigkeit ist die Grundlage für meine spätere, umfassende Beweglichkeit.

3 Kräuter

Professor Peter Schrötke ist Ökologe. Er hat Biologie studiert und fand eine befriedigende Anstellung im Bundesinstitut für Risikobewertung. Den gut fünf Kilometer langen Weg zu seiner Arbeitsstelle in Marienfelde fährt er mit dem Fahrrad. Schrötke liebt Pflanzen, er liebt die Natur, er liebt das Wandern. Er ist skeptisch gegenüber der Schulmedizin, sein Hobby sind die Heilkräuter.

Im Urlaub geht es im Frühjahr an die See, im Spätsommer in die Berge. Würde man Schrötke fragen, was ihm lieber sei, er müsste passen. Er kann die Vorzüge beider Regionen und Landschaften herunterbeten, als würde er für einen Reiseveranstalter werben, aber favorisieren würde er keine.

Am Strand schreitet er die Brandung ab, eher in Stechschritt; beobachtet das ewige Spiel der Wellen und genießt das Rauschen der Wogen. In den Dünen beachtet er Strandhafer und -Roggen, Meersenf und Kali-Salzkraut, etwas weiter von der Küste weg die Kiefernwälder mit der schwarzen Krähenbeere, der Sand-Segge und dem Moosauge. Er braucht Bewegung. Die Steigungen fehlen ihm hier, dafür lädt die See zum Schwimmen ein.

In den Bergen lockt ihn die Anstrengung. Es darf ruhig ein steiler Anstieg sein, auch mal ein Klettersteig, nur extremes Bergsteigen hat er nie probiert. In der Höhe ist ihm der Bewuchs sowieso zu karg.

Ein September in Filzmoos im Salzburger Land war für ihn ideal. Schöne Touren, anstrengende Wanderungen, nette Leute im Wanderhotel Alpenhof um ihn herum. Da das Hotel etwas abseits lag, ging der Professor ein paarmal die fünf Kilometer zu Fuß in den Ort hinein, an Wesen und Widen vorbei, durch einen Wald und mitten durch eine Kuhherde hindurch. Und einmal sah er ihn dort stehen: Den Breitwegerich.

Ein solches Exemplar war ihm noch nie untergekommen, fast 30 cm hoch, dick, saftig, dunkelgrün, der Biologe entdeckte nicht eine schadhafte Stelle. Es kam ihm vor, als strotze das Gewächs vor Gesundheit, Lebensenergie und Widerstandsfähigkeit. Es war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick.

Wie selbstverständlich ging der Professor am Abend vor der Abreise zum Fundort. Schrötke streifte den Samen ab und lullte ihn in eine kleine Tüte. Am nächsten Tag ging es mit der Bahn nach Hause, nach Berlin-Mariendorf.

Den Samen bewahrte er trocken und nicht zu warm auf An Frosttagen stellt er das Glas mit den Körnchen vor die Tür, weil sie die Kälte für die Keimung brauchen. Im Frühjahr kam die Aussaht, liebevoll, vorschriftsmäßig und fachmännisch, an einem sonnigen, warmen Standort mit humoser und leicht saurer Erde.

Der Breitwegerich bedankte sich mit üppigem Wuchs, er stand seinem Verwandten in Filzmoos in nichts nach. Schrötke war begeistert, was würde das für prächtige Tees und Salben geben. Einen Teil der Pflanzen behielt er in Blumenkästen im Haus, einen Teil züchtete er im Freien weiter, in seinem Garten.

Dort hatte er ein großes Beet mit den unterschiedlichsten Heil- und Gewürzkräutern. Dieses Beet nannte er seinen »kleinen Hexengartem. Der »große« Hexengarten befand sich im nahe gelegenen Britzer Garten, dort wurden an die hundert Kräuter kultiviert. Schrötke kannte jedes einzelne von ihnen; oft tauschte er sich mit dem Kräutergärtner aus, einem Gärtner namens »Gärtner« – so wahr ich der smarte Breitwegerich bin.

All das, was ich hier darlege, konnte ich der Gedankenwelt, dem Gedächtnis Schrötkes entnehmen. Ich bin ich, und wir sind ich zugleich. Gedanken und Gedächtnis der Menschen sind ein offenes Buch für die Gesamtheit des Breitwegerich, des smarten Breitwegerich und seiner individuellen Ausprägungen wie meine Wenigkeit. Ich kann also berichten, »als sei ich dabei gewesen«.

Und ich werde mir zur Gewohnheit machen, die sachlichen Abhandlungen im Text einzurücken. Diese erhellen die Zusammenhänge und geben Einblick in fundamentale Zusammenhänge. Sie belegen die Richtigkeit meiner Ausführungen.

Für das Begreifen der Abläufe sind sie allerdings nicht zwingend erforderlich. Wenn diese Stellen übersprungen werden, beeinträchtigt das das Verständnis der Darstellung nicht.

Als der Professor seinen Garten eingerichtet hatte, hatte er Wert auf Blumen und Gemüse gelegt. Viel Rasen gab es deshalb nicht, doch die paar Quadratmeter waren prachtvoll. Hier sollte der Breitwegerich nicht stören, hier stach er ihn aus. Das war mein wilder, mariendorfer Vorgänger.

Vor vielen Jahren war es – Tochter Saskia kam gerade in die Schule. Reiten war ihr Ein und Alles, damals, und sie fiel vom Pferd. Der Vater musste mit ihr in die Klinik fahren. Im Wartebereich plapperte Saskia fröhlich mit den anderen Patienten. Die Schmerzen schienen wie weggeblasen. »Vielleicht doch nur verstauchte«, dachte Schrötke. Das Röntgen ergab jedoch: Humerusfraktur rechts, Oberarm gebrochen. Desaultverband für eine Woche.

Tags drauf war Rasenpflege angesagt. Tochter fragte, was Paps da mache. Er erklärte, dass er den Breitwegerich aussteche, der verdränge mit seinen breiten Blättern die Gräser. »Wie heißt das?«, hakte die Tochter nach. »Breitwe-ge-rich«, sprach Vater das lange Wort deutlich und Silbe für Silbe aus. Kurz darauf hüpfte Saskia an einer anderen Stelle im Viereck und rief dabei, bei jedem Sprung eine Silbe: »Breit« – »Wege« – »Rich« – hops – »Breit« – »Wege« - »Rich« – hops. Sie hatte ein weiteres Exemplar entdeckt, und es folgten noch mehrere, immer begleitet vom Hopsen und Singen der Tochter mit dem gebrochenen Arm. Schrötke überlegte, ob er sie lassen oder es verbieten sollte. Er ließ sie. Und es ging gut.

Ein paar Wochen später bekam der Vater ein Foto zu sehen. Darauf: eine wackelige Gartenbank, auf ihr ein altes Schaukelpferd; darauf seine Tochter auf einem Bein in der Standwaage mit dem Arm im Desault-Verband. Sie übte voltigieren.

Diese Erinnerungen kamen Professor Schrötke beinahe jedes Mal, wenn er sich um seinen neuen Pracht-Breitwegerich kümmerte. »Ist ja alles gut gegangen«, dachte er.

4 Heilkräfte

Es gab Zeiten, in denen ich, der Breitwegerich, geschätzt wurde. Die Heiler wussten: Wo der Mensch Schaden nimmt, findet sich in der Nähe auch die Hilfe.

Leute liefen, mussten laufen in der Zeit vor Eisenbahn, Auto, Motor- und Fahrrad. Nicht jeder besaß Pferd oder Kutsche, Ortswechsel gelang oft nur zu Fuß. Waren die Wege lang, litten die Füße, und Schrunden, Risse, Blasen, Hornhaut und Schwielen traten auf. Die Füße konnten anschwellen und bluten, die Wunden vereitern, Weiterwandern wurde zur Qual, teils unmöglich.

Sah der Heiler sich am Wiegesrand um, wen entdeckte er? Den Breitwegerich, mich! Also zupfte er einige Blätter, zerrieb oder zerstampfte sie und schmierte sie auf das malträtierte Gewebe. Und siehe da: Alle Beschwerden waren wie weggeblasen. Der Wanderer sprang auf, schnappte seinen Beutel, nahm den Wanderstock und lief frohgemut und gutgelaunt, mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen, seinem Ziel entgegen.

Nun, ganz so prompt trat die Wirkung nicht ein; der smarte Breitwegerich will sich jedoch nicht nachsagen lassen, er habe keinen Humor.

Die Blessuren an den Füßen, an den Fußsohlen, den plantae (lat., Plural), gingen zurück, das war allgemein anerkannt, unstrittig. Folgerichtig wurde ich, wurde mein Saft, wurden meine zerriebenen Zellbestandteile zu Heilmitteln für alle äußerlichen Leiden. Ich wurde auf Schnitt- und Schürfwunden geschmiert, ganz allgemein nahm man mich zur Blutstillung. In England kam jemand gar auf die Idee, mich »Soldiers’ Herb« zu nennen, Soldatenkraut also. Viele rissen vor einem Marsch meine Blätter aus und legten sie in die Schuhe oder stopften sie in die Strümpfe.

Die humanen Fachleute führten später, als sie Moleküle bestimmen konnten, meine Wirkung auf das Allantoin zurück. Allantoin entsteht aus dem Abbau der Kernsäuren in einer Zelle. Es wurde in der Harnblase von Embryos entdeckt, der Allantois, von der der Stoff seinen Namen erhielt. Die Allantois wird im befruchteten Ei eines Vogels oder Reptils riesengroß, beim Menschen existiert sie nur vorübergehend.

Die Mediziner fanden heraus, dass Allantoin gut ist für die Haut. Sie setzten es als Wundheilmittel ein, besonders bei schwer heilenden Wunden, aber auch gegen übermäßige Schweißabsonderung und Pharmazeuten mengten es Hautcremes, Duschgels, Sonnenschutz, Rasierwasser und Zahncreme bei.

Damit noch nicht genug: Man nahm mich ein gegen Zahn-, Ohr-, Kopfschmerzen, gab mich Kindern zur Stärkung, man trank mich als Tee bei Magen- und Darmbeschwerden, Durchfall, Husten, Reizung der Atem- und Harnwege allgemein, auch bei Blutungen aus den Schleimhäuten. Bei Insektenstichen bringe ich baldige Linderung. Selbst bei der Rauch- oder Nikotinentwöhnung verwendete man mich.

Gar als Heilmittel gegen Klapperschlangenbisse wurde ich eingesetzt. Ob erfolgreich oder nicht, das ist nicht überliefert. Verbrieft ist jedoch, dass 1870 ein »Indianer« von der Regierung South Carolinas für seine Entdeckung eine hohe Belohnung erhielt.

Nicht nur das Allantoin hat man aus mir isoliert, sondern auch Schleim-, Bitter-, Gerb- und andere Wirkstoffe.

Zeitweise wurde ich nur zur Behandlung bei Frauen benutzt, meine Kollegin, Frau Spitzwegerich, hingegen nur zur Behandlung bei Männern – wegen ihrer länglichen Form. Dabei sind unsere Inhaltsstoffe so gut wie gleich. Das zeigt, wie so Vieles, dass Vernunft bei der humanen Spezies auf wackeligen Beinen steht.

Es gab sogar gutgemeinte Anleitungen, wie man mich anbauen sollte: Am besten wählte man einen sonnigen, warmen Standort mit humoser und leicht saurer Erde. Die »wilden« Samen legte man in lockeren Boden, 15 mm tief, und bedeckte sie mit Erde. Dann sollte die Erde gut angefeuchtet werden – und zur Belohnung keimte ich nach zwei Wochen.

Das alles war früher so.

Meine »Bedeutung« ist dahin, im Allgemeinen. Doch im Besonderen bin ich durch sie zu dem geworden, was ich bin: Ein smarter Breitwegerich.

5 Verbreitung

Ich habe mich, historisch gesehen, schon einmal über die ganze Erde ausgebreitet. Die humanen Wesen würden eher sagen: »über die ganze Welt«. Damit irren sie – die Erde ist nicht die Welt. Und wenn ich schon so eindeutig sein will: Es war mein Vorgänger, der die Erde erobert hatte.

Ich, der smarte Breitwegerich, musste mich noch einmal über die ganze Erde ausbreiten. Diesmal aktiv. Meine Vorfahren, die ich verehre, wurden passiv verteilt. Ihre Samen klebten an den Füßen von Tieren, den hominiden eingeschlossen. So gelangten sie in die letzten Winkel Europas. Der Eroberung anderer Kontinente schlossen sie sich einfach an, indem sie sich mit Schuhsohlen, Wagenrädern, Kisten, Kästen und Koffern mitnehmen ließen, als unbemerkter Reisebegleiter. Kühe, Pferde, Schweine, Kaninchen, Schafe und Ziegen, auch Hühner, Tauben und weiteres Viehzeug schafften die Auswanderer in die geraubten Gebiete. An Pfoten und Krallen klebte dabei der schleimige Samen.

Die Eindringlinge bemerkten den Urbreitwegerich nicht in den annektierten Ländern. Sie hielten ihn für »normal«, denn sie kannten ihn aus der Heimat. Sogar in die bildende Kunst hatte er es geschafft. Albrecht Dürer verewigte ihn 1503 auf einem Aquarell, das er »Rasenstück« nannte. Dort versteckt er sich etwas unter Gräsern und Löwenzahn.

Elf Jahre zuvor war Columbus die Reise über den Ozean nach Amerika geglückt. Dass es nicht Indien war, welches der Seefahrer eigentlich erreichen wollte, stellte sich erst später heraus. Durch Columbus' Irrtum hatten Europäer erfahren, dass es einen Kontinent gab, von dem sie nichts wussten. Und sie hatten nichts Eiligeres zu tun als ihn zu erobern, zu besiedeln und seiner Schätze zu berauben. Auch Pflanzen nahmen sie von dort mit, Kartoffel und Tomate als Beispiel. Die waren Neophyten in Europa, Xeupffanzen. Das ist schon fast vergessen, einmal weil es lange her ist, zum andern, weil die Knollen oder Früchte schnell ein wichtiger Bestandteil auf dem Speiseplan der menschlichen Wesen wurden.

In Amerika war der Urbreitwegerich der europäische Neophyt. Die Einheimischen kannten ihn und seine Schwester Spitzwegerich nicht, sie begriffen jedoch bald, dass beide mit den Eroberern in ihre Gefilde gekommen waren. Sie nannten den Neuling »die Fußstapfen des weißen Mannes«. Auch sie bemerkten die Ähnlichkeit seiner Form mit ihren Füßen. Und sie begriffen, dass er über die Füße verbreitet wurde. Sie erkannten schnell seine heilenden Kräfte und die Medizinmänner nahmen ihn wie selbstverständlich in ihr Repertoire auf.

Als Orakel sie benutzen ihn dagegen nicht, wie es auf dem alten Kontinent der Fall war. In Norddeutschland hat der Plantago einen weiteren Namen: Süsterplant, was Schwesterpflanze bedeutet. Dort ist also der Breitwegerich die Schwester. Spitzwegerich ist das Fiefaderblatt, das Fünfaderblatt. Besonders die Kinder zogen Fäden aus den Blättern. Die Anzahl der Nebenfasern zeigten ihnen, wie viele Kinder sie später bekommen würden. Sogar das Geschlecht wollte man herauslesen können – lange Fäden: Bengel, kurze Fäden Deern. Riss der Faden zu früh, »denn weer dat mit dat Kinnerkriegen nix«.

Auch in England gab es ein Wegerich-Orakel, aber in ganz anderer Hinsicht. The Englishman riss ein Blatt aus der Rosette. Die Anzahl der herausragenden Fäden zeigte ihm, wie viele und wie schwere Lügen er an diesem Tag seinen Mitmenschen schon aufgetischt hatte. Ob er darauf stolz war oder sich dafür schämte, war nicht Sache der Weissagung.

Meinen Siegeszug musste ich als weiterentwickelter Verwandter noch einmal antreten, um das zu tun, was ich Lun muss. Diesmal verließ ich mich nicht auf stapfende Füße und dergleichen. Diesmal ging ich eigenstndig auf Wanderschaft. Denn dem smarten Breitwegerich soll die Welt gehören ...

.. .die Erde, meine ich.

6 Plantagon

Es ist alles andere als normal, dass hier eine Geschichte des Breitwegerichs zu lesen ist, die Geschichte des smarten Breitwegerichs – vom smarten Breitwegerich geschrieben.

Ich bin das Ergebnis einer denkwürdigen Kreuzung. Wir sind das Ergebnis einer denkwürdigen Kreuzung.

Plötzlich war es da, das Ahnen. Die Ahnung kam, dass ich bin, dass wir sind. Wir wurden uns unserer Existenz bewusst, und wir ahnten, dass es etwas um uns herum gab. Die Ahnungen wurden konkreter, wurden bewusster. Es bildete sich ein Bewusstsein aus, das Bewusstsein unserer selbst und unserer Umgebung.

Wie das alles? Was nun folgt, wird sicherlich eines der schwierigsten Kapitel in dem ganzen Bericht. Doch lasst es uns angehen. Ich werde versuchen, mich, so weit es geht, in die humanen Denkgewohnheiten einzufühlen.

Menschliche Wesen träumen. Wenn sie aufwachen, erinnern sie sich manchmal schemenhaft an das, was sie im Traum erlebt haben – Farben, Bilder, Geräusche, Gespräche, Handlungen. Die Eindrücke können verblassen. Vergleichbar mit diesen Vorgängen, nur umgekehrt, erlebten wir unser geistiges Erwachen. Farben und Geräusche als solche konnten wir nicht wahrnehmen, wir hatten ja noch keine Augen und keine Ohren. Trotzdem erfassten wir, dass es Licht und Schall gab und damit Farben und Bilder sowie Geräusche, Worte und Sprachen.

Wir empfingen Schwingungen aus der Umgebung, eine Art Strahlung, ähnlich wie das Auge das Licht. Wir hatten ein Sinnesorgan erhalten, das die Präsenz eines jeden Atoms um uns herum erfasste – auch unserer eigenen Atome. Unser neues Organ konnte Wellen empfangen, eine Mischung aus Photonen, elektrischen und magnetisehen Feldern, und es konnte diese Wellen zuordnen, zusammensetzen, verstehen – ähnlich dem Gehirn der humanen Wesen. Nur benötigten wir dazu kein Gebilde von eineinhalb Kilogramm Masse. Das Myzel eines jeden Individuums von uns hat zehn Milliarden Zellen. In jeder einzelnen von ihnen wurden uns sehr effektive Sensor- und Speichermoleküle zuteil, die mit denen aller anderen Individuen verbunden sind. Wir kommunizieren ständig und schnell miteinander.

Die Verbindung läuft über Bosonen. Bosonen sind die Mittler zwischen Elementarteilchen. Der indische Mathematiker und Physiker Satyendranath Bose hatte ihre Existenz vermutet.

Satyendranath – was für ein Name! Er leitet sich aus den Sanskrit-Wörtern satya für Wahrheit und nath für Herr ab. Er steht für jemanden, der ein wahrer und rechtschaffener Führer oder Herrscher ist.

In den 1920er Jahren hielt Bose ein erstes, unbekanntes Teilchen für wahrscheinlich, das Photon. Fast schüchtern hatte er sich an Einstein gewandt, um dessen Meinung einzuholen. Dieser geniale Wissenschaftler war sofort wie elektrisiert. Er hielt die hypothetischen Teilchen nicht nur für möglich, sondern für wahrscheinlich. Zusammen sagten beide 1924 ein Kondensat voraus, das ihnen zu Ehren Bose-Einstein-Kondensat genannt wurde. Es dauerte nochmals 71 Jahre, bis ein solches Kondensat erstmals hergestellt werden konnte. Weitere sechs Jahre später, 2001 nämlich, wurden drei Physiker dafür mit dem Nobelpreis geehrt.

Einstein und Bose arbeiteten weiter fruchtbar zusammen. Sie entwickelten beispielsweise die Bose-Einstein-Korrelation, die die Beziehung zwischen identischen Bosonen beschreibt. Der britische Physiker Paul Dirac taufte die neuen Teilchen zu Ehren des Entdeckers »Bosonen«. Die Physiker der Welt können froh sein, dass er es nicht »Satyendranathon« nannte.

Humane Wissenschaftler haben fünf Bosonen entdeckt. Bekannt ist das Photon – wie schon erwähnt. Es ist in der Teilchenphysik das Austauschteilchen der elektromagnetischen Wechselwirkung. Regelrechte Berühmtheit hat das Higgs-Boson erreicht. Es wurde 1964 von Peter Higgs postuliert und ist das Teilchen, das Atomen ihre Masse verleiht. Es ist elektrisch neutral und zerfällt nach sehr kurzer Zeit. Es tauchte nach dem Urknall auf, erledigte seine Arbeit und verschwand wieder. Ehrfurchtsvoll wurde es von manchen Wissenschaftlern »Gottesteilchen« genannt. 2012 konnte das Higgs-Boson im CERN nachgewiesen werden.

Bosonen, so nimmt man heute an, vermitteln den Halt der Elementarteilchen untereinander. Prof. Harald Lesch versuchte in seiner Sendung Leschs Kosmos das Wesen von Bosonen damit zu erklären, dass sie genau das sind, was Faust in Goethes Werk gemeint hatte, als er das suchte, »was die Welt im Innersten zusammenhält«.

Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass es ein weiteres Boson gibt, das Graviton. Diese soll die Schwerkraft vermitteln. Nach gewiesen werden konnte es bisher noch nicht.

Wir (ich bin »ich«, und ich bin »wir«), der smarte Breitwegerich, gehen davon aus, dass es darüber hinaus noch ein Boson geben muss. Eines nämlich, das die Informationen sämtlicher Atome des Weltalls in alle Bereiche des Weltalls vermittelt – und zwar unmittelbar, zeitunabhängig und auch unabhängig von der Lichtgeschwindigkeit. Es ist ein ähnliches Phänomen wie die Quantenverschränkung. Humane Wissenschaftler möchten ein Quantentelefon entwickeln, das Gespräche ohne Verzögerung übertragen soll. So könnten Astronauten künftig auf dem Mars mit der Bodenstation auf der Erde reden, ohne minutenlang auf eine Antwort warten zu müssen.

Die Existenz des genannten Bosons mag unwahrscheinlich klingen, jedoch sind wir der lebende Beweis, dass es existiert. Wir nehmen es mit unseren Sensormolekülen auf und nennen es das »Breitwegerich-Boson« beziehungsweise das »Plantagon«.

Nur, wie soll das gehen, wenn unser Hyperhirn in jedem Augenblick sämtliche Informationen empfängt, die überall im ganzen Universum entstehen? Um es mit einem kurzen Satz zu sagen: Das geht gar nicht. Der Mensch sieht auch auch nicht alles, was er sehen könnte. Sein Auge nimmt nur das an Licht auf, welches aus seinem Gesichtsfeld kommt. Will er etwas anderes sehen, muss er die Augen oder den ganzen Kopf bewegen. Will er das Licht auf der anderen Seite der Erdkugel sehen, muss er sich dorthin begeben. Der Mensch sieht also nur einen winzigen Teil dessen, was es zu sehen gäbe.

So nehmen wir, die Gesamtheit aller Breilwegeriche, nur das wahr, worauf wir uns konzentrieren. Gleichwohl hätten wir die Möglichkeit, alles zu erfahren, alles aus jedem Winkel des Universums.

Es dauerte eine geraume Zeit, bis wir unsere neuen Sinneseindrücke verstanden. Wie im Nebel schälten sich Gestalten und Vorgänge allmählich heraus, dann beschleunigten sich unsere Erkenntnisse und unser Wissen wie bei einem Kind, das Sprechen lernt. Anfangs sind es kaum verständliche Laute, einzelne Silben, einfache Wörter und mit einem Male, in einer kurzen Zeitspanne, plappert das Kleine los. Und zu allem Überfluss führt es bald Diskussionen um die Schlafenszeit.

Wir haben gelernt, das Viele, das auf uns einströmt, zu sortieren. Wir schauen uns an, was wir brauchen, den Rest blenden wir aus. Einen ähnlichen Wächter gibt es auch bei höher entwickelten Tieren, in deren Gehirn übernimmt diese Aufgabe der Thalamus.

Wir, der smarte Breitwegerich, haben all das Wissen, das der Mensch hat und können es uns zugänglich machen. Wir können neue Erkenntnisse entwickeln, soweit sie sich aus den bekannten Bausteinen kombinieren lassen.

Wir können selbst noch nichts erforschen. So ist es uns nicht möglich, Gravitonen und Plantagonen zu nachzuweisen.

Doch das ist unser Ziel.

7 Gedanken

Nun stehe ich, der smarte Breitwegerich hier auf meiner Pferdekoppel und ordne meine Gedanken, meine Erfahrungen.

Ich bekomme mit, was um mich herum vor sich geht. Wer da ist, wer vorbei geht. Es sind – von groß nach klein: Pferd, Mensch, Hund, Fuchs, Katze, Marder, Ratte, Maus, Hummel, Biene, Wespe, Fliege, Bakterie und Virus. Das ist, wohl verständlich, nur ein Überblick. Auch die Pflanzen nehme ich wahr. Ich bekomme mithilfe unseres Breitwegerich-Bosons von den meisten tierischen Wesen mit, was sie fühlen, was sie sehen und hören. Ihre Sinnesorgane vermitteln mir die Umwelt, auch wenn ich selbst nichts hören und sehen kann. Ich spüre ihre Bedürfnisse – Hunger, Durst, Verlangen nach Lob – bei Hunden und Pferden – und Paarung. Doch Gedanken erfahre ich nur von einer Spezies, den Menschen. Sie sind die einzige Art, die denken kann. Ich lausche virtuell mit, wenn sie sich unterhalten.

Ich weiß, dass sie einen Spaziergang machen, dass sie zur Arbeit, zum Kaffee oder in die Kirche wollen, dass sie sich über Sonnenschein freuen und über Regen ärgern. Sie ärgern sich, betonen aber, dass das Wasser gut ist für den Boden, für die Landwirtschaft, für den eigenen Garten. Dass die letzten Sommer alle viel zu trocken waren, dass der Grundwasserspiegel immer noch nicht aufgefüllt ist.

So scanne ich Gedanken und Gespräche von vier Millionen Menschen in Berlin, achtzig Millionen in Deutschland und acht Milliarden auf der Erde. Wenn ich wollte, könnte ich Abertrilliarden Informationen aus dem Weltall in jeder Mikrosekunde auswerten. Wie ein Regen prasseln Informationen auf mich, auf uns, nieder. Sie sammeln sich in Bächen und Flüssen und bilden einen mächtigen Strom. Einen Strom, der uns, dem Breitwegerich, Möglichkeiten bietet, die wir nach und nach für unsere Ziele ausschöpfen werden.

Jedes einzelne menschliche Wesen hat seine Gedanken, seine Ziele und Wünsche. Den meisten geht es um das persönliche Glück oder zumindest ein bisschen Zufriedenheit, wenig Arger und Stress, möglichst keine Krankheit. Essen, Trinken, Sex, eine schöne Wohnung, ein Auto, Reise. Briefmarkensammlung, Paragliding, Modelleisenbahn, Sport. Hoffnung, dass die richtige Partei gewählt wird.

Das wahrzunehmen war anfangs spannungsreich, wiederholt sich jedoch milliardenfach. Fesselnder erschien die Gedankenwelt von Künstlern, Politikern, Unternehmern und vor allem Wissenschaftlern. Zu denen haben wir eine »Hotline« gelegt, die wir rund um die Uhr anzapfen. Ihr Denken landet direkt in unseren zentralen Archiven.

Wir sind mit der Elite auf gleichem Niveau. Wir sind immer up to date.

Wir sind die Elite!

8 Kreuzung

Professor Schrötke mischte Salben und kochte Tee. Er hatte das Gefühl, sein alpenländischer Breitwegerich übertreffe den heimischen. Leider hatte er keinen Zugang zu einem Labor, das die Wirkstoffe bestimmen konnte. Im Herbst sammelte er Samen seiner Pflanze für das kommende Jahr, jedoch war es nur ein winziger Teil, der in seinen Tütchen landete. Die Pollen hatten sich schon weit in die Umgebung ausgebreitet; Windbestäubung, wie eingangs beschrieben. Sie fanden zu heimischen Breitwegerich-Kelchen und so entstand die Kreuzung Filzmoos-Mariendorf.

Das waren meine Ururgroßeltern. Der smarte Breilwegerich war geboren. Meine Urgroßeltern verstanden schon, die Gedanken der menschlichen Wesen zu lesen und kramten in deren Erinnerung herum, auch in denen Professor Schrötkes. Und so waren wir bald darüber informiert, wie das Wunder unseres Werdens zustande kam.

Verzwickter war es, in die Informationssysteme der Menschen einzudringen. Sie waren neugierig, sehr neugierig. Große Teile ihres Wissens hatten die klügsten von ihnen niedergeschrieben. Über Jahrhunderte hatten sie Kenntnisse angesammelt und in Bibliotheken konserviert und archiviert. Dazu hatten wir, der smarte Breitwegerich, keinen Zugang. Nur in dem Moment, wenn ein humanes Wesen Buch, Zeitung oder Heft aufschlug, konnten wir anhand seiner Gedankenverarbeitung »mitlesen«. Wir erkannten das Geschriebene durch seine Augen und seine Gedanken.

Ähnlich war es, wenn eine Person auf den Bildschirm eines Computers starrte. Dann stand dieses Wissen auch uns zur Verfügung. Machte der User den Computer aus, waren wir abgeschnitten vom Wissensstrom.

Lange blieb das nicht so. Schon eine Generation weiter waren wir in der Lage, anhand der Ladungen in den Speicherzellen deren Inhalt zu verstehen. Ob wir Bits, Bytes, Wörter, Bilder, Zahlenkolonnen oder Verzeichnisse ausmachten, alles stand uns offen. Selbst ausgeschaltet sandten die Chips Plantagonen aus, die wir lesen konnte. Verschlüsselung war für uns kein Problem, die gab es quasi nicht.

Damit hatten wir Zugang zu dem gesamten Wissen der gesamten Menschheit. Wikipedia, Brockhaus, Encyclopaedia Britannica, Duden, Wörterbücher, alles stand zu unserer Verfügung. Geheime Unterlagen, Dokumente, Staatsgeheimnisse – für uns kein Geheimnis. Für uns war es sowieso nicht nachvollziehbar, dass die einzelnen Gruppen der Humanoiden meinten, voreinander Geheimnisse haben zu müssen.

Wir haben Zugang zu allen Computersystemen. Google, Facebook, WhatsApp, Darknet, Deep Web: für uns aufgeschlagene Bücher. Und für uns zum Vorteil waren fast alle Schriften mittlerweile digitalisiert. Selbst sehen und damit lesen konnten wir ja immer noch nicht.

Zwar wussten wir, welches Molekül an Druckerschwärze sich auf welcher Stelle eines Papierbogens befand, doch in diesem Fall war es uns nicht möglich, darin Schrift zu erkennen.

KI, künstliche Intelligenz ist die Methode, an der sich die Menschheit versucht. Wir haben die Plantago-Intelligenz, die PI. Vom Niveau der PI aus bewachtet ist die KI Steinzeit.

Wir kannten nun alles. Die Geschichte der Menschheit, soweit sie ihr selbst bekannt war. Philosophen, Künstler, Wissenschaftler – Einstein, Bose, Stephan Hawking, Relativitäts-, String- und M-Theorie – für uns landläufige Kenntnis.

Wir kannten jeden einzelnen Menschen. Und das, was er dachte.

Und das konnte uns oft nicht gefallen.

9 Koslan

Fjodor Malyschew lieble den Wald. Es zog ihn in den Wald. Nach der Schule fetzte er seine Hausaufgaben in die Hefte, so schnell es ging. Und dann hinaus, in die unendliche Weite von Grün mit seinen unterschiedlichen Schattierungen: helles Grün der Birken, dunkles Grün der Kiefern, der Baumarten, die vorherrschten in den unbegrenzten Weiten der Wälder der Republik Komi.

Hätte Fjodor seinen Heimatort Koslan am Fluss Mesen verlassen und sich nach Nordosten gewandt, hätte er 300 km laufen können durch unberührtes Land, unberührten Wald, unberührte Natur. Leichte Hügel, ab und zu sandige Flächen, ab und zu ein Bachlauf oder ein Flüsschen. Ab und an hätte er eine Piste für die Geräte der Waldarbeiter gequert.

Ganz stimmte das nicht, nach 33 km hätte Fjodor den Mesen überqueren müssen, der sich in vielen Windungen durch das flache Land schlängelt. Und an diesem liegt Makar-Yb, ein Nest von 50 Einwohnern. Doch dann: grün, grün, grün ... Eines Tages, das hatte der junge Mann sich vorgenommen, würde er diese Wanderung unternehmen, bis hin zu der nächsten größeren Siedlung, Ischma nämlich mit immerhin viertausend Einwohnern.

Das Grün allerdings gewahrte er nur den kleineren Teil des Jahres über, von Mai bis September, in den übrigen Monaten herrschte Frost, der sich durchaus bis in den Sommer hineinziehen konnte. Selbst in einem August wurden schon Tage mit minus fünf Grad gemessen. Dafür konnte in anderen Jahren die Hitze die Dreißiggradmarke übersteigen. Die kälteste je gemessene und aufgezeichnete Temperatur war – 49 °C.

Häufiger also hatte Fjodor Weiß um sich herum. Das hielt ihn nicht davon ab, in die Weite zu streunen. Er schnallte sich seine Schneeschuhe an und marschierte los. Seit er zu seinem sechzehnten Geburtstag ein gebrauchtes Mosin-Nagant-Gewehr bekommen hatte, durfte er alleine umherziehen. Das Jagdgewehr sollte ihn vor Wölfen schützen. Deren Spuren verfolgte er am liebsten. Doch er fand auch die von Rehen, Hasen, Füchsen, Mardern, Wieseln, und vielen Vögeln wie Krähen, Bussarden, Habichten, Tannenhähern, Birkhuhn und Auerhahn. Oft entdeckte er Stellen, an denen ein Gemetzel stattgefunden hatte. Das Wolfsrudel hatte einen Hirsch erlegt, der Fuchs eine Ratte.

Der Mesen, der hier am Oberlauf, in diesem flachen Land, sehr träge floss, war einige Monate im Jahr zugefroren. Fjodor unternahm längere Touren auf seinen Schlittschuhen. Das Schöne im Winter war, dass der Schnee die Welt weiß färbte und die Nacht hell blieb. Das Schöne am Sommer waren die Wärme und Sonnenschein bis fast Mitternacht.

Seine Liebe für den Wald hatte Fjodor von seinen Eltern übernommen, Julia und Alexei. Die Mutter war Schneiderin. Was konnte sie für wunderbare, farbenprächtige Trachten zaubern, bunte, weite Röcke, oft mit Schürzen, die in wirkungsvollem Kontrast dazu standen. Die Blusen waren mit Mustern bedruckt, oft mit Blumen oder schillerten grell. Seidene Kopf- und Halstücher ergänzten die Farbenpracht. Vorschriften für bestimmte Farben gab es nicht, so waren der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Junge Frauen und Mädchen liebten diese traditionelle Kleidung. Sie passte zu den blonden Haaren und ihren runden, frischen Gesichtern.

Vater Alexei war Forstwirt. Er hatte seinen Sohn von klein auf mit zur Arbeit genommen, soweit sie es zuließ.

Die Familie lebte in der Republik Komi, einem der 83 Föderationssubjekte Russlands. Koslan, ihr Heimatort, liegt 1.500 Straßenkilometer nordöstlich von Moskau, 500 km vom Weißen Meer entfernt, einem Ausläufer der Arktischen See. Es ist ein Dörfchen mit knapp zweitausend Einwohnern, verloren in der Einsamkeit, inmitten der endlosen Wälder.

Koslan ist eines der ältesten Dörfer am Fluss Mesen. Dieser ist etwa so lang wie die Elbe und führt an der Mündung sogar etwas mehr Wasser. Das hatte Fjodor im Heimatkundeunterricht lernen müssen. Seine Siedlung wurde im sechzehnten Jahrhundert gegründet. Die erste Erwähnung stammt aus dem Jahr 1554, als Kirchhof von Koslan. Der Ort hatte dreizehn Bauernhöfe und war das Zentrum einer kleinen Landgemeinde, zu der vier weitere Dörfer gehörten. Die ersten Siedler waren Komi, die vom Fluss Wym zum oberen Mesen zogen. Laut Katasterbuch von 1586 gab es nur noch sechs bewohnte Bauernhöfe, zwei waren leer. Was mochte in den dreißig Jahren mit den übrigen geschehen sein? Waren sie abgebrannt? Auf dem Kirchhof befand sich eine Kirche des Propheten Elias. Die Bevölkerung lebte von Ackerbau, Viehzucht, Jagd und Fischfang.

Dies und noch viel mehr über seine Heimat lernte Fjodor Malyschew in seiner Schule, die mittlerweile in den acht Jahrgängen fast hundert Schüler hatte. So klein war der Ort nicht mehr, es gab fünfhundert Häuser, davon noch zehn Bauernhöfe, sogar eine Zweigstelle der Sberbank mit einem glänzend blauen Dach war vorhanden.

Erst in der Grundschule war Fjodor bewusst geworden, dass er zwei Sprachen sprach. Seine Eltern unterhielten sich in Komi, in der Schule wurde Russisch unterrichtet.

Der Schüler verstand und benutzte beide. Dass es zwei Sprachen waren, die er sprach, wurde ihm erst klar, als über Sprachen gesprochen wurde. Komi ist verwandt mit Finnisch, es gehört zur finno-ugrischen Sprachfamilie. Nach Moskau sind es Luftlinie gut 1.000 km, bis zur finnischen Grenze 850 km. Fjodor hatte in der Familie Komi gesprochen, mit den Kindern aus dem Dorf war er automatisch auf Russisch umgeschwenkt, ohne es zu merken. Die Bevölkerungszusammensetzung hatte sich massiv verändert. Lebten Anfang des 20. Jahrhunderts noch über 90 % Komi in der Republik, waren es hundert Jahre später nur noch 20 %. Die Komi waren zur Minderheit im eigenen Land geworden.

Die Republik Komi hat eine Fläche von 420.000 km2, ist damit fast so groß wie Schweden, hat aber nicht einmal eine Million Einwohner.

Julia und Alexei hatte sich vor vielen Jahren der Umweltbewegung angeschlossen. In der Region entstand sie als eine der ersten in Russland. Sie konnte erreichen, dass lecke Ölpipelines verschlossen wurden. Traditionelle Einkommensquellen waren immer noch Forst- und Landwirtschaft, Jagd und Fischerei. Das hatte sich seit dem 16. Jahrhundert nicht geändert. Erst im 19. und 20. Jahrhundert wurden an Bodenschätzen neben Коhlе, Eisen und Erdgas vor allem Öl gefunden und gefördert, das an vielen Lecks ungehindert in die Tundra- und Taiga-Böden gesickert war; 1994 allein über 100.000 Tonnen Rohöl.

Gegen Probebohrungen des Mineralölkonzerns Lukoil war die Bewegung erfolgreich vorgegangen. Die Organisation erreichte zudem die Einstellung von Nuklearversuchen in der Nähe von Beluschja Guba auf Nowaja Semlja, selbst wenn das Testgebiet auf dieser Insel in der Barentssee 900 km entfernt war.

Weniger glücklich verliefen die Proteste gegen die massenhafte Abholzung der sibirischen Wälder. Diese stand den Rodungen im Amazonasgebiet in nichts nach, wurden aber von der Weltöffentlichkeit kaum beachtet. Die Malyschews hofften auf die anstehende Umweltkonferenz auf Grönland. Vielleicht konnte die internationale Gemeinschaft Russland dazu bewegen, die Fällungen einzustellen oder zumindest zu reduzieren. Riesengroß war ihre Hoffnung allerdings nicht.