Götter - Will Hofmann - E-Book

Götter E-Book

Will Hofmann

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Beschreibung

In Deutschland gibt es vier geheime Reservate, in denen, nach Geschlechtern getrennt, Männer und Frauen wie Sklaven gehalten und körperlich sowie sexuell durch sogenannte Götter ausgebeutet werden. Diese gebärden sich zu ihrem eigenen Vorteil als Herren über Leben und Tod und führen über ihre Untertanen ein strenges Regiment bis hin zur Todesstrafe. Diesem Terrorregime entfliehen unabhängig voneinander Agnes und Günter. Sie treffen sich zufällig in der Freiheit, tun sich zusammen und müssen das zivilisierte Leben von Grund auf neu lernen. Mithilfe von Freunden gelingt ihnen dieser Prozess erstaunlich schnell. Zugleich entsteht bei ihnen der Wunsch, die vermeintlichen Götter zu entmachten. Werden sie diesen Kampf erfolgreich bestehen?

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Will Hofmann

Götter

Roman

Fabulus-Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.© 2016 by Will HofmannAlle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Lektorat: Elmar Klupsch, StuttgartUmschlaggestaltung: Gestaltungsbüro Röger & Röttenbacher GbR, LeonbergSatz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-944788-26-5Besuchen Sie uns im Internet unter:www.fabulus-verlag.de

Inhalt

Prolog

Flucht

Freiheit

Rache

Prolog

Die Frau fiel ihm sofort ins Auge. Clemens Röder wollte sich drei Dosen Sauerkraut kaufen. Er liebte es, zwischendurch eine Gabel davon in den Mund zu schieben und genüsslich zu kauen. Er brauchte nichts dazu, es ersetzte ihm das zweite Frühstück. An seinem Kartoffelstand hatte er immer einen kleinen Vorrat stehen, und der war aufgebraucht.

Die Fremde stand neben ihm, als er im untersten Regal die richtige Marke suchte. Sie war merkwürdig gekleidet; eher nach der Herrenmode zu Kaisers Zeiten, wie Clemens sie von alten Bildern her kannte. Ja, die Dame trug Herrenkleidung, eine Art hellen Leinenanzug. Der war reichlich abgetragen und einen Tick zu groß, das kam nun noch hinzu.

Eigentlich waren Clemens zuerst die Schuhe aufgefallen, als er sich gebückt hatte. Die sahen aus wie selbstgemacht, halbprofessionell. Bei Schustern in Marokko hatte er ähnliche Gebilde gesehen, aus weichem Leder, ohne Sohle, über den Knöcheln wie ein Sack zusammengebunden.

Die Frau entfernte sich, Clemens blickte hinter ihr her. Sie hatte einen leichten, federnden Gang, die Bewegung war elastisch, fast tanzend – frisch, ganz im Gegensatz zu ihrer Kleidung.

Clemens konnte nicht anders, er ging der Fremden nach, bemühte sich aber, nicht aufzufallen.

Auch das war merkwürdig. Die Frau nahm Dinge aus den Regalen und musterte sie so, als hätte sie sie noch nie gesehen. War sie eine Ausländerin, die versuchte, die Etiketten zu entziffern?

Doch nicht nur die Dosen und Packungen erforschte sie. Sie starrte auch die Regale, die Preisschilder, die Wurst-, Fleisch- und Fischtheke an, als wäre das alles rätselhaft für sie.

Clemens gewahrte wohl, dass auch andere Kunden verwundert reagierten. Einige warfen der Frau neugierige, oft abschätzig Blicke zu.

Die Fremde entdeckte jetzt die Kühltruhen. Clemens konnte sich nicht helfen, es kam ihm so vor, als ginge sie nicht einfach nur dorthin, sondern sie schien regelrecht zu studieren und zu beobachten, was andere Kunden dort machten; so, als sei ihr das alles vollkommen unbekannt. Kurz darauf griff die Fremde in die Gemüsetruhe, ließ die Erbsenpackung aber sofort wieder fallen. Hatte sie etwa mit der Kälte in der Kühltruhe nicht gerechnet? Schnell fasste sie sich ein Herz, nahm die Erbsen nochmals heraus und betrachtete die Schachtel von allen Seiten. Sie schüttelte sie und legte sie leicht irritiert zurück.

Dann ging die junge Frau zu den Kurzwaren. Dort stand ein Mann in ähnlicher Aufmachung, er trug einen buschigen Vollbart. Die beiden gehörten ohne Zweifel zusammen. Sie zog ihn zu den Kühltruhen und zeigte ihm ihre Entdeckung. Auch er war von den gekühlten Artikeln mehr als beeindruckt. Von ihrer Unterhaltung konnte Clemens nicht jedes Wort verstehen, er merkte aber schnell, dass sie in einem merkwürdigen Tonfall sprachen. Es hörte sich nicht nach einem ausländischen Akzent an, eher nach einem Dialekt – einen, den er jedoch noch nie gehört hatte. Und herumgekommen war Clemens Röder schon ordentlich. Mehr als einmal hatte er Leuten, die er neu kennenlernte, sehr genau die Region benennen können, aus der sie kamen.

»Na ihr zwei, seid wohl aus dem Urwald geflohen?«, meinte ein anderer Kunde. Er kam sich offenbar besonders witzig vor und griente in sich hinein. Die beiden sahen sich verunsichert an, beratschlagten sich kurz und gingen zur Kasse, ohne aber etwas zu kaufen. An der Kasse starrten sie wieder wie gebannt auf die Vorgänge, die dort abliefen. Im Vorbeigehen musterten fast alle Leute das seltsame Paar, als käme es aus einer anderen Welt. Jemand scharwenzelte um sie herum, und Clemens machte ihn sofort als Ladendetektiv aus. Die Situation konnte sich zuspitzen.

Die beiden hatten längst bemerkt, dass sie beobachtet wurden. Schließlich nahm der Mann die Schöne bei der Hand, ging an der Kassiererin vorbei und brummelte: »Hab mein Geld vergessen.«

Clemens kam es eher so vor, als hätten sie überhaupt keines. Vielleicht wussten sie nicht einmal, was das war. Die Kassiererin nickte beiläufig. Die Zwei verließen den Laden, und Clemens bedauerte es, eine so lange Schlange vor sich zu haben.

Clemens schätzte die Frau auf Anfang dreißig. Dunkelblondes, kräftiges Haar, das lang hinter die Schultern fiel. Wettergegerbtes Gesicht mit betonten Wangenknochen. Nicht im üblichen Sinn schön, eher ausdrucksstark. Tiefliegende Augen, die neugierig in die Welt blickten und hellwach die Umgebung aufnahmen. Eine Frau, die schnelle Entscheidungen treffen konnte und Entschlusskraft ausstrahlte. Dazu die schlanke Figur mit den wendigen Bewegungen – äußerst anziehend.

Schade, dass sie weg war. Auch der Mann schien interessant. Doch ihn hatte Clemens längst nicht so genau beobachtet. Beide waren geheimnisvoll.

Offenbar hatten sie einen derart gewaltigen Eindruck auf Clemens gemacht, dass er in der Nacht von Ufos träumte. Und einem davon entstieg das seltsame Paar als Botschafter einer anderen Welt. Die Frau kam auf ihn zu – sehr elegant gekleidet.

Eine Weltraumprinzessin.

Flucht

Siebzehn Jahre zuvor

Was war das denn? So etwas hatte Agnes noch nie gesehen. Da war eine wie sie und doch anders. Zum ersten Mal seit ihrer Flucht sah sie ein menschliches Wesen. Alle möglichen Tieren gab es hier, große und kleine, ohne dass sie deren Namen gekannt hätte. Im Reservat gab es nur Hündinnen und Hühner. Jedenfalls waren das die Tiere, die man sehen durfte – außer den ganz kleinen wie Fliegen, Käfern und Würmern; und natürlich den Vögeln. Aber die waren weit weg, weil sie fliegen konnten und niemanden nahe an sich heranließen.

Doch Agnes wusste mehr. Sie kannte Mäuse und Großmäuse und hatte damit eines der vielen Verbote unterlaufen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man sie erwischte und zum Tod verurteilte. Dabei war noch nicht einmal alles herausgekommen, was sie mit den Nagern angestellt hatte.

Agnes hielt sich gut versteckt. Sie musste auf der Hut sein, denn es konnte sein, dass man sie noch suchte und ihr eine Häscherin hinterhergeschickt hatte. Doch Agnes schloss das beinahe schon aus. Dafür sah das fremde Wesen zu armselig aus, und es hatte, soweit sie es erkennen konnte, auch keine Waffen bei sich.

Merkwürdig verhielt sich die Fremde. Sie schaute sich suchend um und ging zu einem Baum. Dann öffnete sie die Hose, griff hinein und brachte ein fleischiges Röhrchen zum Vorschein. Damit zielte sie gegen den Baum, und jetzt trat gelbe Flüssigkeit aus.

Agnes war sprachlos. Das konnte nicht sein. Sie war völlig verdattert, die Knie wurden ihr weich, sie taumelte einige Schritte zurück und erschrak, als ein Zweig unter ihr knackte. Die Frau, oder was das war, schaute in ihre Richtung, entdeckte sie aber nicht hinter dem Laubvorhang. Agnes musste sich zusammenreißen und einen klaren Gedanken fassen. Die andere ging weiter, nachdem sie ihr Röhrchen wieder verstaut hatte. Sofort nahm Agnes die Verfolgung auf.

Bei Mäusen gab es zwei Sorten, das wusste Agnes. Aber doch nicht bei Frauen? Es gab nur Frauen. Alle gleich gebaut. Sie hockten sich hin beim Harnen. Wie sollte das auch gehen – im Stehen?

Lange hatte Agnes ihre Mäusefamilie gehegt. Schon als kleines Kind war sie ein fixes Mädchen gewesen. So lange sie denken konnte, waren ihr die verdammten Regeln auf den Geist gegangen. Immer gehorchen und tun, was die großen Frauen sagten, immer diese Beterei und Schufterei, das war nichts für sie.

Sommers wie winters früh ins Bett! Agnes konnte oft nicht schlafen. Das Schnarchen der anderen nervte sie. Doch sie fasste einen Plan. Wenn in der Frühe die Sonne aufging, bekam Agnes das fast immer mit. Eines Tages, als es dämmerte, tat sie, als müsse sie zur Toilette. Sie drehte ihre Decke so zusammen, sodass man bei flüchtigem Hinsehen denken konnte, sie liege noch im Bett. Leise verließ sie den Schlafsaal. Vida, die Aufseherin, lag mit dem Oberkörper auf dem Tisch und schlief. Wunderbar. Agnes räusperte sich, aber die Wache tat keinen Mucks.

Obwohl die Mädchen sich nur in den zugewiesenen Räumen aufhalten durften, hatte Agnes längst herausgefunden, dass es nicht weit weg von den Toiletten noch einen kleinen Ausgang gab. Dorthin ging sie, drückte vorsichtig auf die Klinke – und die Tür gab nach.

Agnes war in Freiheit. Große Sorgen, bemerkt zu werden, musste sie nicht machen, da auch die Großen ein gewaltiges Pensum an Arbeit und Gebeten zu verrichten hatten. Alle fielen abends todmüde ins Bett und bewegten sich nicht früher aus ihren Behausungen als unbedingt nötig.

Agnes schlich durch ein paar kleine Gassen zum Dorfrand. Wirklich niemand begegnete ihr. Bald umgaben sie nur noch Felder und Obstbäume. Hier würde sie nachher wieder arbeiten müssen. Doch nun kletterte sie in einen Baum und besah sich ihre kleine Welt von oben.

Dort das Dorf mit der Kapelle, dem Richtplatz und dem Galgen. Nicht weit weg von ihr die Mauer. Der konnte sie mit den Augen ein Stück weit folgen, bis sie hinter einem Hügel verschwand. Und Agnes wusste, sie umschloss das ganze Reservat lückenlos. Es gab ein einziges Tor. Und das wurde nur geöffnet, wenn Gehenkte hinausgeschafft wurden. Nach ihrem Tod durch den Strang hatten sie kein Recht mehr, in der Gemeinde zu bleiben.

Agnes kannte den Lauf der Sonne. Jeden Morgen schaute sie als Erstes aus dem Fenster und merkte sich deren Stand. So konnte sie abschätzen, wann geweckt wurde und sie zurück sein musste.

Das gelang ihr beim ersten Ausflug mühelos. Vida schlief noch. Agnes nahm ihren Platz im Bett wieder ein und wartete die kurze Zeit bis zum Wecken ab. Am Abend schlief sie so schnell wie noch nie ein.

Ihre innere Unruhe weckte Agnes am nächsten Morgen noch vor der Dämmerung. Sie machte sich auf den Weg hinaus in die Freiheit – allerdings eine Freiheit innerhalb der Mauern.

Das Ausbüxen wurde Agnes zum zweiten Leben. Sie untersuchte die Welt und bestaunte die Dinge, die verboten waren. Gern kletterte sie in die Bäume. Im Frühjahr beobachte sie aus nächster Nähe, wie geschickt Amseln ihr Nest bauten. Sie schlich sich behutsam heran, sodass das Amselpaar sie bald kannte und spürte, dass von Agnes keine Gefahr ausging. Also tolerierte es das Mädchen.

Eines Tages lagen Eier im Nest, die Agnes an die von Hühnern erinnerten, nur waren sie winzig klein und grün mit braunen Punkten. Ein Vogel blieb zwei Wochen darauf sitzen, der andere brachte ihm Futter. Dann waren die Eier entzwei, und fünf winzige, nackte Vögelchen piepsten im Nest herum. Agnes war außer sich vor Freude, dass sie verfolgen konnte, wie diese Kleinen versorgt wurden, wie sie wuchsen, Federn bekamen und eines Tages davonflogen.

Von da an blieb das Nest verwaist.

Gern hätte Agnes jemandem von ihren Beobachtungen erzählt und nach weiteren Einzelheiten gefragt. Aber sie hütete sich, denn sie war nicht dumm. Was sie tat, war absolut verboten. Von daher wäre die ihr auferlegte Strafe ziemlich streng gewesen. Einmal hatte sie erlebt, dass ein Kind namens Miriam erhängt wurde, kaum älter als sie. Alle hatten der Hinrichtung zur Abschreckung beiwohnen müssen. Was war ihr Verbrechen? Hatte sie gestohlen, jemanden verprügelt, gelogen? Nichts von dem, sondern Zweifel am Glauben hatte sie geäußert. Das war eine Todsünde. Auch Agnes hatte ihre Zweifel und konnte dafür gehenkt werden. Angeblich kannten die Göttinnen alle Gedanken der Frauen. Demnach hätte sie schon längst beseitigt werden müssen. Da das aber nicht der Fall war, bestärkte es Agnes in ihrer Überzeugung, dass keine der Göttinnen ihre Gedanken lesen konnte.

Besonders den Unterricht über das Lügen hatte Agnes hoch interessiert verfolgt. Da Lügen so etwas wie ein Kapitalverbrechen war, beschäftigten sich die Erzieherinnen ausführlich damit. Doch die offizielle Meinung führte bei Agnes zum gegenteiligen Effekt. Sie hatte von der Strategie des Lügens erfahren. Damit keimte in ihr der Verdacht auf, dass alles, was Menschen sagten, gelogen sein konnte. Damit begann Agnes, an Allem zum zweifeln. Gleichzeitig aber war sie aber klug genug, diese Erkenntnis für sich zu behalten. Sie glaubte nur noch das, was sie selbst gesehen und herausgefunden hatte.

***

Die Zeit in Salem, ach ja. Das Internat im Schloss, zur Reichsabtei gehörend, europa-, nein weltweit anerkannte Bildungsstätte für die höheren Töchter und Söhne.

Rudolph von Wallmoden war einer der Aufsässigen. Keinen Schabernack gegen Schüler und auch nicht gegen Lehrer ließ er aus. Juckpulver in den Kragen einer Pädagogin gestreut, Hundeflöhe in die Handtasche der Gemeinschaftskundelehrerin geleert, das waren noch die kleineren Vergehen. Nächtliche Partys mit Alkohol und Zigaretten machte er trotz aller Verbote mit. Später war er einer der Hauptorganisatoren solch illegaler Vergnügungen. Gelegentlich wurde er erwischt. Es hagelte Einträge ins Klassenbuch, mehrfach wurden seine Eltern unterrichtet.

Beliebt war das Eindringen in die Gemächer der Schülerinnen. Das fand fast regelmäßig statt. Doch bis auf einige Zungenküsse hatte sich mit den jungen Damen leider noch nicht mehr abgespielt. Die jungen Herren minderten ihren Druck durch Onanieren, und das oft in der Gruppe und als Wettkampf, wie Jungs das so machen. Es gab zwei Disziplinen: Schnelligkeit und Weitspritzen. Dabei mogelte Ebbi, indem er seinen Erguss mit den Fingern weiterschnickste. Das versuchte er, unauffällig mit den Wichsbewegungen zu kaschieren.

Der übelste Streich den Lehrern gegenüber war Rudolphs Rache mit dem Apomorphin gewesen. Damit hatte er kurz vor dem Schulverweis gestanden. Rudolph wurde eine Woche Zwangsurlaub verordnet, um zur Besinnung kommen. Nach seiner Rückkehr war er wie verwandelt. Von da ab war er ein Musterschüler. Direktor Klöbert fragte sich oft, wie die von Wallmodens dieses Wunder vollbracht hatten, und so mancher Lehrer hätte das auch gern gewusst.

Dr. Franke war Rudolphs Intimfeind. Chemie war nun einmal nicht sein Lieblingsfach, und daraus machte der Schüler auch keinen Hehl. Aber immerhin bemühte er sich, was der Lehrer jedoch nicht honorierte. Im Gegenteil. Genüsslich ritt er auf Rudolphs Schwächen herum. Der ließ sich das in seiner widerspenstigen Art wenig gefallen und stand oft am Pult. Der Doktor verdonnerte unaufmerksame oder missliebige Schüler nämlich gern zum Stehen, notfalls ohne Unterbrechung einen ganzen Unterrichtsblock lang. Fiel man in den ersten fünf Unterrichtsminuten auf, stand man fast 90 Minuten an der Wand. Das sollte nach Frankes Meinung die Aufmerksamkeitsfähigkeit steigern.

Franke hatte die Angewohnheit, sein Pult zu Beginn jeder Stunde an die Wand zu schieben, um freie Bahn zu haben, wenn er vor der riesigen Tafel herumrannte und Gleichungen über Gleichungen anschrieb. Auf dem Schreibtisch stand immer eine Tasse mit starkem Kaffee, die der Lehrer im Laufe des Unterrichts mehrfach nachfüllte. Neben dem Pult stand meist Rudolph.

***

Kinder werden von den Göttinnen gebracht. Das hatte Agnes gelernt. Die Vogelkinder kommen aus Eiern, das hatte Agnes mit eigenen Augen gesehen. Da Vögel keine Frauen waren, konnte das bei denen anders sein. Seitdem wuchs Agnes’ Misstrauen. Die Zweifel wurden ihr durch die Mäuse zur Gewissheit, und seitdem übertrug sie es auf all das, was man ihr erzählte. Nach außen hin tat sie so, als glaube sie inbrünstig alles, was man ihr vorbetete. Aber sie selbst war sich sicher, dass ALLES nichts als Lug und Trug war.

Mäuse waren noch interessanter als die Amseln. Agnes beobachtete sie, wie sie aus kleinen Löchern herauskamen, durch die Ackerfurchen liefen und in ihrem Unterschlupf auch wieder verschwanden. Vom Baum aus entdeckte sie ihre Wege und das, was sie taten – vor allem, woran sie knabberten und was sie in ihre Löcher schleppten. Dass es Mäuse waren, wusste sie von den Erzieherinnen. Denn ab und zu sah man auch mal eine im Dorf, manchmal sogar in den Häusern. Dort vertrieb man sie immer. Angeblich stahlen sie Lebensmittel und brachten Krankheiten.

Eines Morgens brachte Agnes eine Holzkiste mit, die sie aus der Gerümpelkammer entwendet hatte. Die würde bestimmt niemand vermissen. Agnes hatte ein paar Leisten, einen Hammer und Nägel dabei. Damit besserte sie die halb zerfallene Kiste aus. Ein Versteck hatte sie im dichten Gestrüpp an einem Erdwall gefunden. Dann legte sie sich auf die Lauer. Sie musste eine Engelsgeduld aufbringen und eine Ewigkeit warten. Sie wartete in der Nähe des Mauselochs, aus dem tatsächlich irgendwann ein Tierchen herauskam. Agnes ließ es gewähren, verfolgte es mit den Augen.

Die Maus rannte zu einem Erbsenbeet, nagte an etwas herum und eilte mit einer Schote im Maul zurück zu ihrem Zuhause. Doch hinein ins Loch kam sie nicht. Blitzschnell schoss Agnes’ Hand nach vorn und ergriff das Mäuschen. Das fing sofort an zu fiepen und zu beißen. Doch Agnes ließ nicht locker. Sie packte es mit der linken Hand so, dass das Köpfchen aus ihren Fingern hervorlugte. Da konnte es den Kopf drehen und wenden wie es wollte, seine Zähne erreichten nicht mehr ihre Finger. Die paar Kratzer vom ersten Biss machten Agnes nichts aus.

Ab in die Kiste, ein Drahtnetz darüber, und Agnes hatte ihr erstes Haustier. Das versorgte sie jetzt jeden Morgen, auch Heu und Stroh bekam das Mäuschen. Ein Schälchen fürs Trinkwasser musste Agnes noch entwenden. Damit wurde ihr Strafregister immer länger. Aber noch wusste niemand von ihren Taten. Und je länger die Strafen ausblieben, desto sicherer war sie sich: Keine ihrer Taten konnten die Göttinnen aus der Ferne sehen, keine ihrer Gedanken lesen.

Bald hatte Agnes drei weitereMäuse gefangen, denn die eine sollte nicht allein sein. Sie versorgte sie gut, und bald wurden die Mäuse richtig zutraulich. Sie schienen sich sogar darauf zu freuen, wenn Agnes das Drahtgeflecht anhob und es Futter gab. Bald konnte Agnes die Kleinen streicheln.

Irgendwann kam es Agnes so vor, als würde eine der Mäuse dicker. Der Bauch wuchs und wuchs – und dann die Riesenüberraschung: Eines Morgens purzelten sieben kleine Mäuse in der Kiste herum, nackt, rosig und ganz tapsig, und der Bauch der Alten war wieder dünn.

Niemand erklärte Agnes diese Beobachtung, sie zog alleine ihre Schlüsse daraus: Göttinnen und Priesterinnen logen und betrogen.

Von wegen, sie schenkten den Frauen die Kinder. Die Frauen sind es selbst, die die Kinder auf die Welt bringen. Bauch dick, keine Kinder, Bauch dünn, Kinder da. So war es immer wieder bei manchen Frauen. Aber was erzählte man stattdessen der Gemeinde?

Hatte eine Gläubige sich in treuem Gottesglauben wohlgefällig verhalten oder den Priesterinnen über Gotteslästerungen oder strafbare Handlungen anderer Frauen berichtet, dann wurde ihr die Gnade der Göttinnen zuteil.

Die Gesetze und das Leben waren hart. Die Frauen mussten arbeiten und die Göttinnen verehren. Ihre Geschlechtsteile durften sie weder berühren noch Lust auf ihrer oder fremder Haut erzeugen. Bei den Frauen war es die Regel, dass etwa alle vier Wochen Blut aus ihrem Geschlechtsteil floss. Das war eine Schande und eine stetige Erinnerung daran, dass eine jede von ihnen sündig sei.

Zweimal im Jahr, jeweils zur Sonnenwende, gab es große Dankesfeste. Die Göttinnen benannten die folgsamsten Frauen, die von Martha, der Oberpriesterin, vorgeschlagen worden waren, und belohnten sie in den nächsten sechs Monaten. Eine nach der anderen wurde von den großen, lauten Vögeln abgeholt. Die Auserwählten durften in weichen Betten liegen und wurden von Helferinnen bedient. Sie konnten essen und trinken, was sie begehrten. Dabei wurden Speisen zubereitet, die es auf der Erde nicht gab.

Nach einigen Tagen erreichte die Auszeichnung den Höhepunkt: Die Folgsame trank göttliche Getränke und war bald berauscht. Ein Gefühl, das die Frau bislang nie noch erlebt hatte. Wie auch? Auf Erden gab es nur Wasser und Tee zu trinken. Doch der Trank war längst nicht alles. Göttinnen mit wundervollen Masken erschienen und berührten die Auserwählte überall am Körper. Was dabei von der verbotenen Region zwischen den Beinen ausstrahlte, war fast nicht zu ertragen. Eine Göttin kam und legte sich auf die Glückliche, Helfer spreizten ihr sanft die Beine. Und nun drang Göttliches in den Schoß ein und schürte ein Feuer der Lust. Und das nicht nur einmal, sondern viele Male. Eine Göttin schöner als die andere. Das ging so eine Woche lang.

Dann gab es keine Getränke mehr, die Göttinnen blieben fern, und das Feuer im Schoße erlosch.

Am Tag darauf flogen die Göttinnen die Ausgezeichnete wieder zurück zur Erde. Dort bekleidete sie von diesem Tag an in der Regel ein höheres Amt.

Als äußeres Zeichen ihres besonderen Verdienstes blieb neun Monate lang die Blutung aus. Die Versündigung war für diese Zeit vergeben.

Der Bauch wuchs so lange, bis er kugelrund war. So konnten alle sehen, welch große Ehre der Ausgezeichneten durch die Göttinnen zuteil geworden war.

Nach Ablauf von neun Monaten wurde sie erneut geholt und bekamen nochmals Getränke, die einen Zustand des Glücks und der Berauschung verursachten. In dieser Zeit spielten sich gewaltige Vorgänge im Körper der Gläubigen ab. Davon merkte diese jedoch wenig. Sobald die Sinne wieder aufklarten, kehrte sie auf die Erde zurück. Der Bauch war fort, aber eine frische Narbe zog sich quer über den Unterleib. Erneut musste die Frau sie sich bewähren, wollte sie noch einmal die Auszeichnung erlangen.

Diese Großen konnte Agnes nicht verstehen. Wie still die ihrer Arbeit nachgingen und wie wenig Freude sie ausstrahlten. Dabei war das Leben doch spannend, wenn man die Augen nur aufmachte. Doch sie schauten weder nach links noch nach rechts. Hätte Agnes den Begriff Scheuklappen gekannt, hätte sie den benutzt. Nicht auffallen, nichts falsch machen, das schien das einzige Ziel. Darin drückte sich die Angst vor allem und jedem aus. Niemand konnte einer anderen Frau trauen.

Angst und Misstrauen waren die grundlegenden Gefühle der meisten Bewohner in diesem Reservat.

***

Röder war nicht leicht aus der Ruhe zu bringen, doch heute tat sein Herz einen Hopser. Da war die Traumfrau von gestern, die ihm im Supermarkt aufgefallen und ihm in der letzten Nacht als Außerirdische erschienen war.

Sie stand da mit ihrem Mann am Nachbarstand bei Käse-Käthe, aber nicht mehr in diesem Opa-Outfit. Beide trugen jetzt ganz normale, wenn auch ein wenig abgegriffene Alltagskleidung. Geld hatten sie also doch. Gestern war es Clemens so vorgekommen, als wüssten sie vielleicht gar nicht, was das ist. Die Frau kaufte Käse und bezahlte mit einem Zehn-Euro-Schein. Statt der Metallscheiben wollte sie sich allerdings noch ein paar Scheiben Leerdamer geben lassen. Dabei duzte sie die Marktfrau. Diese ließ sich das nicht gefallen und fragte schnippisch, ob sie zusammen im Sandkasten gespielt hätten.

Die Fremde schien die Frage zu irritieren. Sie ging allerdings nicht darauf ein, sondern fragte, was die Verkäuferin meine. Jedem normalen Menschen war das klar. Wieder überlegte Clemens, ob sie vielleicht doch eine Ausländerin war, die den Unterschied zwischen »du« und »Sie« nicht kannte. Dafür waren ihre Grammatikkenntnisse aber zu gut. Dass sie die Münzen jedoch als Scheiben bezeichnete, passte wieder in kein Bild.

Käse-Käthe schnitt ein paar Scheiben Leerdamer herunter und legte sie auf die Waage, bis der Gegenwert des Wechselgeldes erreicht war. Sie machte noch eine lustige Bemerkung zu den Scheiben. Das forsche »Du« der Fremden schien vergessen.

Auch sie schien neugierig, weil sie die Kundin von früheren Einkäufen her nicht kannte. Deshalb fragte sie, woher sie komme.

Bei der unerwarteten Antwort »Aus dem Sperrgebiet« stellten sich Clemens die Nackenhaare hoch. Käthe jedoch lachte, hielt das für einen Scherz. Ihm kam das ganz anders vor, weil etwas mit den beiden einfach nicht stimmte. Die Antwort schien ihm ernst gemeint. Die Frau rief ihren Mann in diesem denkwürdigen Dialekt herbei. Bevor die beiden abzogen, rief Clemens: »Gnä’ Frau, wie wär’s mit Kartoffeln? Festkochend, mehlig, alle Sorten. Direkt vom Hof.«

Die Fremde drehte sich gewandt um, sah ihn mit festem Blick an. Ihre graugrünen Augen lagen tief in der Höhle und strahlten etwas Geheimnisvolles aus. Clemens sah darin ein tiefgründiges Feuer glimmen. Zumindest kam ihm das so vor.

»Nein, habet Dank«, entgegnete sie entschieden. »Heute brauche ich keine Grumbeeren.«

Sie drehte sich zu ihrem Mann um, nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm davon. Clemens schickte sich an, ihr hinterherzuspringen, um sie zu fragen, was sie mit dem Sperrgebiet gemeint hätte. Doch da hörte er eine Stimme von rechts: »Aber mir können Sie Kartoffeln verkaufen!«

Clemens bediente die Kundin so schnell er konnte. Gab aus Versehen zu viel Wechselgeld heraus, sagte noch kurz: »Tut mir leid, muss schnell mal weg.« Und, zu Käthe gewandt: »Kannst du mal einen Blick auf meinen Stand werfen und die Leute kurz vertrösten?«

Er rannte durch einige Gänge, doch das merkwürdige Paar war nicht mehr zu sehen. Es ging Clemens nicht mehr aus dem Sinn. Würde er in der kommenden Nacht wieder von einer außerirdischen Prinzessin träumen? Clemens hatte keinen Zweifel, dass das eine ganz besondere Frau war. Sie erinnerte ihn an jemanden, da war er sich sicher. Doch er musste sich noch eine Weile gedulden, bis er sie wieder sah.

***

Die Göttinnen schenkten den Nachwuchs. Bei Gottesdiensten brachten sie ganz kleine, hilflose Mädchen mit. Sie mussten gefüttert und gesäubert werden. Dafür gab es Häuser, in denen Frauen mit besonderer Ausbildung ihren Dienst verrichteten. Sie mussten die kleinen Wesen nach festgelegten Vorschriften ernähren und am Leben erhalten.

Die Kinder lernten laufen und sprechen. Sie kamen in Schulen und wurden fürs Leben geformt. Das bestand von klein auf aus Arbeit und Gottesfurcht. Sobald die Mädchen etwas tragen konnten, mussten sie Aufgaben übernehmen, damit sie ein gottgefälliges Leben führten. Dabei wurde in ihrem Gewissen schon früh verankert, dass die Scheide nur zum Wasserlassen da war und ansonsten den Göttern gehörte.

Wie konnten erwachsene Frauen auf dieses Geschwätz nur hereinfallen? Spürten sie denn nicht, dass da etwas in ihrem Bauch wuchs? Agnes traute sich und fragte Lisa danach. Lisa war eine der Glücklichen. Sie hatte die Würdigung durch die Göttinnen erfahren und so begeistert davon erzählt, dass alle neidisch waren, die noch keinen dicken Bauch gehabt hatten.

Und die kleinen Mädchen starrten sie mit offenen Augen an und wünschten sich nichts sehnlicher, eines Tages auch einmal von den Göttinnen geholt und belohnt zu werden. Aber das würde noch dauern. Dazu mussten ihnen erst einmal die Brüste wachsen. Vorher waren sie noch Kinder. Sie konnten zwar schon bestraft werden, aber Belohnung gab es nur für erwachsene Frauen. Reif mussten sie sein, wie die Göttinnen es lehrten.

Alle in der Gruppe schworen sich, so fromm wie nur irgend möglich zu werden; alle, bis auf Agnes.

»Wie fühlt sich ein derartiger Bauch denn an? Ist der nicht viel zu beschwerlich?«, fragte sie Lisa rundheraus.

»Doch«, gab Lisa zu. »Aber diese Schwere, die trage ich mit großer Freude.«

»Darf ich einmal herauf fassen?«, fragte Agnes und tat besonders ehrfurchtsvoll. Lachend stimmte Lisa zu, und Agnes strich über die große Wölbung. Bald schon würde Lisa wieder abgeholt werden.

»Da beweget sich etwas, da herinnen!«, stellte Agnes erstaunt fest. Das kannte sie auch von sich selbst. Manchmal hatte sie Blähungen, die taten sogar weh. Wenn sie ihre Hände darauf drückte, dann linderte das den Schmerz. Und sie spürte es im Inneren genauso rumpeln wie jetzt bei Lisa. Doch die Priesterinnen hatten ihr gesagt, was es war:

»Die Göttinnenkräfte in meinem Bauche ringen meine kleinen Teufel hernieder. Wissest du, in jeder von uns stecken die kleinen Teufel. Das wird auch dir bald von den Priesterinnen gelehret.«

Mochte Lisa noch so treuherzig erzählen, wieso nur tischten die Göttinnen ihr diese Lügen auf? Agnes verstand es nicht. Doch sie kam dahinter, dass es zwei Sorten von Mäusen gab. Ein Mäuschen lag eines Morgens tot im Kasten. Agnes nahm es heraus und vergrub es in der Nähe. Beim nächsten Sonnenaufgang hatte sie ein kleines Messer und eine Schere dabei. Die blieben fortan in ihrem Versteck.

Agnes schnitt das kleine Tier auf und schaute, was alles darin zu finden war. Sie nahm es auseinander und überlegte, was in ihrem eigenen Körper auch vorhanden sein mochte. Oben die Lunge, die hatte sie auch. Das hatte die Lehrerin ihr und der Gruppe beigebracht. Sie musste ja wissen, wohin die Luft beim Atmen ging. Auch das winzig kleine Herz entdeckte sie. Das machte bei ihr dieses Bum, bum – Bum, bum, das sie manchmal hören konnte, wenn sie still im Bett lag. Gern hätte sie ihr Ohr einmal auf die Brust eines anderen Mädchens gelegt, aber das war verboten.

Als sie ganz klein war, so erinnerte sie sich, hatte sie sich immer wieder einmal an die Brust einer Erzieherin gedrückt. Dort hatte sie ebenfalls dieses Bum, bum gehört. Sie hatte das dann mit ihrem Mund nachgemacht. Daraufhin hatte die Erzieherin sie mit einem Ruck von ihrer Brust weggerissen und unwirsch in ihr Bett geworfen. Sie konnte nie vergessen, wie erschrocken sie damals gewesen war.

Ein minimales Wissen über die inneren Organe hatte man den Kindern beigebracht. Dass das Essen in den Magen kam, zum Beispiel. Den konnte man sogar spüren, wenn er ordentlich voll war. Und dass der Darm die Nahrung aufsog, und das, was der Körper loswerden wollte, kam aus dem After wieder heraus. Und auch die Flüssigkeit musste irgendwo hin. Die trat aus der Harnröhre aus.

Agnes fand bei dem Mäuschen noch viel mehr, worauf sie sich keinen Reim machen konnte. Alles war so winzig klein. Sie fand auch so etwas wie die Brüste. An denen hatten die Mäusebabys zunächst genuckelt, bevor sie später selbst etwas fraßen. Aber es waren nicht nur zwei Brüste, sondern acht. Besonders interessierte sich Agnes für das, was da im Schoß war. Das durfte man nicht berühren. Ein winziges Kügelchen war dort. Darin konnten sieben kleine Mäusekinder doch unmöglich Platz finden? Oder war dieses Kügelchen tatsächlich so angeschwollen, dass alle hineinpassten?

Immer wieder starb eine Maus, und Agnes zerlegte alle. Dabei hatte sie schnell herausgefunden, dass es zwei Sorten von Mäusen gab. Die andere Art hatte nämlich keine Zitzen und nicht diesen Knoten hinter der Scham. Statt dessen ein winziges Röhrchen. Bald war ihr klar, dass die unterschiedlichen Maussorten ihre Scham unbedingt eine Weile aneinander reiben mussten, damit der Bauch der einen wuchs und drei Wochen später die Jungen herauskamen. Agnes hatte sogar das Glück, bei einer Geburt dabei zu sein. Ungläubig, aber begeistert, verfolgte sie genau, wie aus dem Schambereich ein Baby nach dem anderen herausgepresst wurde.

Ein Glücksfall kam Agnes zugute. Beim Herumstreunen entdeckte sie ein anderes totes Tier, das viel größer war als die Mäuse, obwohl es ähnlich aussah. Nur der Schwanz war viel länger und ganz nackt.

Auch dieses Tier zerlegte Agnes. Sie musste sich beeilen, denn es roch schon komisch. Sie hatte gelernt, dass die toten Mäuse nach einiger Zeit zu stinken begannen und die Organe grün und blau und schleimig wurden. Dieses größere Tier musste schon ein paar Tage tot sein.

Agnes erfuhr mehr. Es war kein Muttertier, sondern die andere Sorte. Sie beobachtete sehr genau. Ihr fielen Hoden, Prostata und Nieren auf. Leber und Milz hatte sie schon bei den Mäusen kennengelernt. Vorsichtige Nachfragen bei der Lehrerin, ob im Bauch noch mehr drin wäre als Magen und Darm, brachten kein Ergebnis. Agnes hatte das Gefühl, die Lehrerin wusste auch nicht mehr. Andererseits durfte sie nicht zu neugierig fragen. Damit hätte sie sich verraten können.

Wo aber gab es andere Großmäuse? Agnes vermutete, dass es nicht nur diese eine gab. Sie versorgte zwar noch ihre Mäuschen, aber nur noch halbherzig. Stattdessen hielt sie Ausschau nach den großen. Sie wollte die Mäuse freilassen. Es war schön, sie zu haben, mit ihnen zu spielen, aber viel von ihrer morgendlichen Extrazeit ging für Nahrungsbeschaffung drauf; auch wenn das wesentlich einfacher war, da die Mäuse gern Küchenabfälle fraßen, wie sie herausgefunden hatte.

Eines wollte Agnes aber noch abwarten: Eine ihrer Mäuse war wieder schwanger. Die Geburt wollte sie noch miterleben, dann sollten die Mäuse ihre Freiheit bekommen. Doch eines Tages lag das Muttertier tot im Kasten, und es gab keine Geburt. Neugierig sezierte Agnes die werdende Mutter und stellte dabei fest, dass fünf kleine Mäuschen regungslos in einem Sack steckten, der nichts anderes sein konnte als dieses Knötchen hinter der Scham.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis Agnes den Unterschlupf der Großmäuse entdeckte. Und natürlich würde sie sich eine davon schnappen. Nur war das ein anderes Kaliber als ein kleines Mäuschen. Das Vieh biss bei seiner Gefangennahme kräftig um sich, und Agnes hatte beim Morgenappell Mühe, die Wunden an ihren Händen zu erklären.

Für die Großmaus musste Agnes viel mehr Futter anschleppen. Dafür wurde sie aber umso zutraulicher, sodass sie sie ausgiebig streicheln konnte. Sie dachte sich sogar einen Namen für das neue Tier aus: Quicks. Quicks sollte natürlich nicht allein bleiben. Doch Agnes hatte Manschetten, nochmals eine Großmaus mit der Hand zu packen. Es wäre doch viel einfacher, sie gleich in einem Kasten zu fangen.

Agnes besorgte eine andere ausgediente Kiste und ein Gitternetz. Das Gitternetz legte sie im Großmaus-Revier auf den Boden. Sie wusste inzwischen, dass die Tiere gern Walnüsse fraßen. Deshalb legte sie eine Nuss in der Mitte aufs Gitter. Darüber stülpte sie die Kiste, deren eine Seite sie mit einem Stöckchen anhob. Dieses Stöckchen und die Nuss verband sie mit einem Faden, den sie zusätzlich durch eine Schlaufe im Gitter führte. Wenn alles klappte, wie sie es sich vorstellte, würde die Großmaus in die Kiste hineinschlupfen und versuchen, die Nuss herauszuschleppen. Durch den Zug am Faden müsste der stützende Stock umkippen und das Tier wäre gefangen.

Nach diesen Vorbereitungen legte sich Agnes auf die Lauer. Die Sonne stieg, aber nichts passierte. Schweren Herzens musste sie in den Schlafsaal zurückschleichen.

***

Zusammen mit Ebbi bewohnte Rudolph von Wallmoden ein Zimmer im Internat. Ein Glücksfall, denn sie verstanden sich von Anfang an.

»Wo ich herkomme, kann ich dir erzählen.« Und Rudolph erzählte, seine Familie entstamme einem uralten niedersächsischen Adelsgeschlechts, dessen Ursprünge bis ins 12. Jahrhundert zurückreichten. Aus ihm gingen immer wieder bedeutende Militärs hervor. Der bekannteste war der Reichsgraf und Feldmarschall Ludwig Johann von Wallmoden-Gimborn, ein unehelicher Sohn des englischen Königs George II.

»Unehelicher Sohn?«, hakte Ebbi nach.

»Ja«, bestätigte Rudolph, »die waren weniger verklemmt, als man heute denkt. Ludwig Johann machte richtig Karriere. Nur Napoleon ergab er sich 1803 kampflos. Meine Alten stritten immer wieder darüber, ob das klug war oder nicht.«

»Mein Gott, das ist ja der reinste Geschichtsunterricht.«

»Stimmt. Wenn Preußen drankommt, habe ich es einfach. Ich persönlich bin der Meinung, das war ganz schön klug von Ludwig und nicht feige. Damals gab es in Europa noch nicht die antinapoleonische Koalition. Und den Kampf gegen die Franzosen hätte er schwerlich gewinnen können.«

»Hör mir damit auf, das kommt noch früh genug dran. Erzähl mir lieber noch etwas von deiner Familie.«

»Warum willst du das so genau wissen?«, hakte Rudolph nach.

»Mein Vater hat bloß die Paulaner-Brauerei in München. Mich interessiert halt alles, was mit Adel und Militär zu tun hat.«

»Na, dann bist du bei mir ja richtig.« Rudolph fuhr fort und berichtete von Ludwig Johanns Sohn, Ludwig Georg Thedel. Der war österreichischer General und kämpfte im Deutschen Krieg gegen Preußen, obwohl er einige Jahre zuvor in dessen Diensten gestanden hatte. Seine Karriere war bunt. 1813 trat er der russischen Armee bei. Durch seine Siege wurden die Dänen zum Frieden gedrängt. 1817 ging er wieder nach Österreich zurück und wurde Oberbefehlshaber über dessen Truppen im Königreich Neapel.

Rudolphs Urururgroßvater Otto war der Ziehsohn dieses Ludwig Georg Thedels, der selbst kinderlos geblieben war. Ihm verdankte er das Interesse fürs Militär, die Kenntnisse und den Aufstieg in der Hannoveranischen Armee. Einer seiner Söhne, Karl August, fiel im Deutschen Krieg 1866 als junger Offiziersanwärter. Ottos Armee hatte den Untergang des Königreichs Hannover nicht verhindern können. Dieses wurde nach dem Krieg als Provinz Hannover ins preußische Staatsgebiet aufgenommen.

»Hatte deine Familie denn keinen Hass auf Preußen, weil die einen von euch gekillt haben?«

»Nö, die waren da nicht zimperlich. So was bringt der Krieg halt mit sich. Wir waren dem neuen Herrscher treu ergeben. Ottos Sohn Karl kannte seinen Vater nur aus Erzählungen. Und der hat ihn heiß und innig verehrt. Gehorsam, Treue, absolute Loyalität sind die unverrückbaren Leitlinien unserer Familie bis heute.«

»Toll!« Ebbi schwelgte in Begeisterung.

»So toll find ich das nun nicht. Mit dem Gehorsam habe ich’s nicht so. Deshalb bin ich ja auch hier. Mein Alter meint, die könnten mir hier ein paar Manieren beibringen.«

Ebbi war begierig, von der Wallmoden’schen Familiengeschichte mehr zu erfahren. Und Rudolph gab zum Besten, was bei den Erwachsenen immer wieder die Runde machte.

Die von Wallmodens halfen mit, Preußens Ruf als ausgezeichnete Militärmacht auszubauen. Bis dann der Erste Weltkrieg kam und damit das Ende des Kaiserreichs.

»Und da war nicht Schluss mit den Wallmodens?«

»Wo denkst du hin? Mein Großvater Johann Heinrich machte in der Reichswehr der Weimarer Republik gleich wieder Karriere. Er unterstand Generalmajor Werner von Blomberg, falls du von dem schon mal was gehört hast.«

Als Ebbi den Kopf schüttelte, meinte sein Klassenkamerad, dass er direkt Paul von Hindenburg und später Reichskanzler Adolf Hitler unterstellt war.

»Mit den Nazis hab ich’s ja nicht so.«

»Meinst du ich? Meine Familie ist da einfach so hineingeschlittert. Was sollten die denn machen? An Kriegsverbrechen hat sich jedenfalls keiner beteiligt. Das haben wir schriftlich. Oder glaubst du, man hätte uns sonst auf Schloss Bredebeck wohnen lassen?«

»Wo ist das denn?«

»Schloss Bredebeck liegt in der Lüneburger Heide. Meine Eltern hatten sich den Herrschaftssitz mit der Familie Kühling geteilt.« Nach Rudolphs Worten stellte der Untergang des Dritten Reiches für die Familie nur eine kleine Zäsur dar. Sie verlor zwar einen Teil ihrer Ländereien an die Sowjetisch Besetzte Zone, später DDR, doch hatte der größte Teil ihrer Güter ohnehin im Raum Celle gelegen.

Rudolph wuchs in diesem weitläufigen Schloss auf. Trotz der Anwesenheit der Kühlings gab es in räumlicher Hinsicht keinerlei Einschränkung. Selbst nach Eröffnung des Truppenübungsplatzes Bergen wurde seiner Familie, unbemerkt von der Öffentlichkeit, Wohnrecht gewährt. Die Kühlings zogen es allerdings vor, den Grund und Boden gegen eine gute Entschädigung zu verlassen. Ihnen waren die andauernden Schieß- und Gefechtsübungen ein Gräuel.

»Sag mal, so ein Schloss kenne ich nur aus Filmen. Tanz der Vampire und so. Kann man es damit vergleichen?«

»Nö, nicht wirklich. Denk mal mehr an ein größeres Herrenhaus. Trotzdem hatten wir große Säle mit Ahnengalerien, Wandteppichen, antiken Möbeln, kostbarem Besteck. Außerdem gab’s riesige Ländereien. Und Angestellte für alles: Gärtner, Köche, Kindermädchen, später auch Privatlehrer. Und so weiter.«

Ebbis Eltern hatten zwar auch reichlich Personal. Doch erinnerten ihn Rudolphs Schilderungen an eine märchenhafte Wunschwelt.

»An Wohlstand hat’s euch also nicht gemangelt.« Ein bisschen Neid kam durch.

»Daran musste ich keinen einzigen Gedanken verschwenden. Immer feine Gesellschaft um uns herum. Es gab große Bälle mit eigenem Orchester. Und weißt du, was das Beste war?«

Ebbi zuckte die Schultern.

»Wenn die englische Königsfamilie zu Besuch kam.«

»Wirklich?«

»Ja klar, oder meinst du, ich flunkere dich an?«

»Natürlich nicht. Das kommt mir nur so unrealistisch vor. Wie im Fernsehen.«

»Doch, doch, ein paar Mal waren sie da, wenn sie ihre Truppen besuchten. Wir hatten ja Platz, die Gemächer der Kühlings waren frei. Und sie hatten es nicht weit zu ihren Soldaten. Jedes Mal gab es ein riesiges Fest. Was meinst du, was man da für kostbare Uniformen sehen konnte.«

»Und bestimmt prachtvolle Ballkleider?«

»Das schon, aber ehrlich gesagt, die haben mich gar nicht so gereizt.«

»Dann kannst du bestimmt auch schießen?« Ebbis Neugierde war unerschöpflich.

»Klar doch, Jagen, Reiten, das habe ich quasi mit der Muttermilch aufgesogen.«

»Wow. Und gehst du auch zur Bundeswehr?«

»Mein Vater will schon, dass ich beim Militär Karriere mache und die Offizierslaufbahn einschlage. Möglichst bis weit nach oben. General oder Admiral oder so was. Hat er selbst ja nie geschafft. Aber ich weiß noch nicht. Hab’s ja nicht so mit dem Drill.«

Mit offenem Mund hatte Ebbi Rudolphs Ausführungen gelauscht, damals, als sie sich kennengelernt hatten. Er war zu seinem treuen Anhänger geworden. Aber auch der hatte ihn verraten.

***

Am nächsten Tag lag die Kiste flach auf dem Gitter. Agnes drehte sie herum und hielt dabei das Gitter auf der Öffnung fest. Tatsächlich saß eine zweite Großmaus darin. Es hatte geklappt, Agnes hatte mit Erfolg ihre erste Falle gebaut. Sie hatte noch weiter vorgesorgt und sich alte Handschuhe beschafft. Damit griff sie in die Kiste. Natürlich biss das Tier um sich, doch die Zähne kamen nicht durch den Schutz.

Zwei Sommer lang züchtete Agnes nun Großmäuse. Die zweite bekam den Namen Quacks. Auch hier Nachwuchs – Anna, Lena, Olga, Merta und Frieda – und Todesfälle. Agnes wurde immer besser in Anatomie. Sie verstand zwar nicht alles, aber vieles. Sie hatte sogar eine Vorstellung von der Zeugung entwickelt – aufgrund genauer Beobachtung und durch ihre Untersuchungen.

Ein trauriges Ereignis entpuppte sich für Agnes als weiterer Glücksfall: Bei einem ihrer morgendlichen Ausbrüche stellte sie fest, dass Hassa, die alte Hündin, sich nicht rührte. Es hatte schon länger geheißen, sie würde es wohl nicht mehr lange machen. Hündinnen waren von den Göttinnen geduldet. Sie sollten den Frauen Freude bereiten. Wer ein totes Tier zuerst fand, musste es hinter dem Feld begraben. Bei den Feierlichkeiten zu Ehren der Göttinnen wurde es denen mitgeteilt. Und beim nächsten Gottesdienst brachten sie dann eine neue Hündin mit.

Agnes war ganz aufgeregt. Sie nahm Hassa mit und brachte sie zu ihrem Versteck. Mit Messer und Schere öffnete sie schnell Bauch und Brustkorb. Besonders fiel ihr diesmal die Röhre auf, durch die die Luft in die Lungen gelangte. Was wäre, fragte sie sich, wenn man die einfach aufschneiden würde? Könnte das Tier dann weiter atmen, ohne dass die Luft durch Mund und Nase strömte? Das musste sie ausprobieren. Am liebsten hätte sie noch ein Beil geholt, um den Schädel zu spalten. Denn sie wollte in Erfahrung bringen, was sich dahinter verbarg. Das hatte sie bei Mäusen und Großmäusen noch nicht herausgefunden. Doch die Sonne stand zu hoch. Sie musste zurück.

Agnes legte Hassa in die Hundehütte und schlich in den Schlafsaal. Nach dem Wecken ging sie sofort raus, kam nach kurzer Zeit zurück und sagte zur Wärterin, Hassa liege tot in ihrer Hütte. »Gut, du wissest ja, was du zu tuen habest.« Agnes war erleichtert, dass die Wärterin selbst nicht nachsehen ging. Die zerschnittene Hundeleiche hätte sicherlich einigen Wirbel verursacht, auch wenn man Agnes damit nicht automatisch hätte in Verbindung bringen können.

Das war viele Jahre her.

Jetzt folgte Agnes einem Wesen von der anderen Sorte. Überaus merkwürdig und sehr aufregend. Wieso hatte man die nie im Reservat gesehen? Und warum gab es nicht auch Hunde von der anderen Sorte? Bei Mäusen und Großmäusen gab es die doch auch? Agnes vermutete, dass es bei Amseln und Hühnern genauso war. Nur hatte sie von denen keine zerlegen können.

Agnes war in den Nächten nach ihrer Flucht weit gewandert. Die Göttinnen sollten sie nicht sehen, wenn sie mit ihren großen, lauten Vögeln über das Land flogen. Das war eine ziemliche Strapaze. Außer ein paar Körnern und etwa Wasser aus irgendeinem Rinnsal gab es nichts zu essen und zu trinken.

Von den Bäumen aus hatte Agnes Blicke in die Ferne schweifen lassen können. Am Horizont schien sich die Erde zu erheben. Dorthin hatte sie gewollt, und dorthin hatte sie es auch geschafft. Es gab richtigen Wald, nicht nur ein paar Sträucher oder vereinelte Bäume. Es gab Hügel, bei denen die Vögel der Göttinnen nur selten vorbeikamen.

***

Geschichte gegen Geschichte, so war es abgemacht. Wo sollte Clemens beginnen? Am besten ganz von vorn.

Dunkle Erinnerungen an eine Frau. Das muss seine Mutter gewesen sein. Am deutlichsten spürte er noch ihre Wärme, ein wohliges Gefühl, wenn sich sein kleiner Körper an ihren schmiegte. Nicht weit entfernt von diesen Erinnerungen waren laute Worte, Schreien und Schimpfen – und die Angst dieser Frau, die sich auf ihn übertrug.

Konkreter waren die Bilder im Heim. Die langen Essenstische, der Schlafsaal, die vielen anderen Jungen um ihn herum. Kommandierende Erzieherinnen, später herrische Lehrer. Regeln über Regeln, drakonische Strafen bei Vergehen. Dabei waren Prügel noch harmlose Maßnahmen. Die konnte Clemens wegstecken. Schlimmer war die Dunkelzelle, in der er immer wieder für ein, zwei oder drei Tage landete. Einmal sogar für eine Woche.

In dieser Zeit gab es nichts zu essen. Das hatte man sich selbst zuzuschreiben. Wasser wurde einmal am Tag im Napf durch die Klappe gereicht. Kein Waschbecken und keine Toilette. Nach Beendigung der Strafe kam gleich die nächste. Schimpfe wegen der Scheiße und der Pisse in den Ecken. Das war Hohn und Willkür. Was blieb einem anderes übrig, als da hinzumachen? Mit bloßen Händen musste man die eigenen Ausscheidungen einsammeln und mit dem eigenen Handtuch alles sauber und trocken wischen.

Die Woche Kerker war dafür, dass Clemens Horst vermöbelt hatte. Der hatte es verdient: Er hatte die Hausaufgaben nicht geschafft, die er immer für ihn machte. Klar war Horst schwächer, doch der hätte sich bei Mager, dem Deutsch- und Sportlehrer, nie beschwert. Das wäre ihm nicht gut bekommen, und das wusste Horst auch. Leider hatte Schwester Karla mitbekommen, wie Clemens auf Horst eindrosch. Sie stand plötzlich im Zimmer und zerrte den Schläger am Ohr in die Dunkelzelle. Eine Woche lang musste er darin verharren.

Dort schwor Clemens Rache.

So ging es viele Jahre: Gewalt einstecken und austeilen. Kleine kriminelle Handlungen wie Diebstahl, Betrug, Erpressung waren an der Tagesordnung. Am coolsten war der, der bei den Ausflügen und später, als sie raus durften, in Läden und Geschäften am meisten klaute. Erfahrungen mit Zigaretten, Alkohol und auch ein paar Drogen kamen hinzu. Doch Hasch, Speed und Kokain waren nichts für Clemens. Das beeinflusste sein Gemüt zu stark. Mochte es sich noch so gut anfühlen, das war ihm nicht geheuer. Er musste Herr seiner Sinne bleiben. Härtere Sachen probierte er erst gar nicht. Seine Clique ließ das Lästern bald bleiben, weil sie postwendend seine Fäuste spürte.

Ja, Clemens, vor dem hatten sie Respekt.

***

Kaum jemand hatte es so geschickt verstanden wie Agnes, Feuer anzufachen. Das war nur selten nötig, denn die Feuerstelle wurde Tag und Nacht bewacht. Die Glut sollte nie verlöschen. Manchmal geschah das doch. Dann musste man einen spitzen Stock mühsam auf einem anderen Holzstück drehen, bis die Spitze heiß wurde, zu rauchen anfing und das trockene, feine Gras sich entzündete, das sie daran hielt.

Diese Fähigkeit kam Agnes in der Wildnis zugute. So konnte sie sich an kalten Tagen nicht nur an den Flammen wärmen, sondern entdeckte auch, dass es außer Früchten, Getreide, Nüssen und Gemüse noch andere Nahrung gab. Das waren allen voran die Tiere mit den riesigen Ohren. Deren bemächtigte sie sich, indem sie mit Steinen nach ihnen zielte. Nach einem Treffer waren sie nicht immer gleich tot, aber zumeist so benommen, dass sie nicht mehr fliehen konnten.

Anfangs quälte sie sich ab, den Langohren das Fell abzuziehen. Es dauerte eine Ewigkeit, die Haut an einer Steinkante soweit aufzuschaben, dass sie sie herunterreißen konnte. Das Fleisch war fast zu zäh, um es roh zu essen. Agnes fand jedoch schnell heraus, dass es zarter wurde, wenn sie es über die Flammen hielt. Wurde die Oberfläche dabei dunkelbraun, schmeckte es richtig gut.

Eine andere Art, der Tiere habhaft zu werden, waren Fallen. Agnes musste dazu eine Art Korb flechten. Darin wurde sie immer perfekter, und sie litt schon lange keinen Hunger mehr. Auch Mäuse und Großmäuse fing sie mitunter. Doch an den Mäuschen war nicht viel dran, und die großen schmeckten nicht besonders. Eine Vogelart, die nicht fliegen konnte, gab dagegen eine ordentliche Portion ab. Sie ähnelte Hühnern, nur war sie kleiner und farbenprächtiger. Agnes fand bestätigt, dass es diese Großvögel in zwei Sorten gab: die eine bunt, die andere grau. Nur die grauen Vögel legten Eier.

Agnes fand Stellen, an denen wildes Getreide wuchs. Allerdings war das so wenig, dass es sich kaum lohnte, es zu mahlen. Manchmal nahm sie eine Handvoll davon und kaute es, was aber viel mühsamer war als mit Früchten oder Nüssen. Sie wusste aus dem Schulunterricht, was die Bauern damit machten, sodass sie in ihrem neuen Leben über diese Kenntnisse froh war. Statt alle Körner aufzuessen, sammelte sie sie und hob sie auf.

Im Frühjahr kratzte sie mit einem Stock ein Stück Erde auf, streute die Körner in die Furche und scharrte sie zu. Bald schon kamen die ersten grünen Blättchen aus der Erde, Halme bildeten sich, später Ähren. Nach wenigen Monaten waren sie gelb, und Agnes fuhr ihre erste, bescheidene Ernte ein. Das Mahlen der Körner zwischen zwei flachen Steinen war anstrengend, aber es klappte. Das Mehl mischte Agnes mit etwas Wasser und den Eiern, die sie den Großvögeln stibitzt hatte. Daraus buk sie ihr erstes Stück Brot. Das schmeckte anders als im Reservat, doch für sie war es eine Köstlichkeit.

Ganz anders war es Agnes im ersten Winter in der Freiheit ergangen. Da wäre sie fast verhungert und erfroren. Mit viel Mühe hatte sie den erlegten Tieren die Felle vom Körper gezogen und sich notdürftig eine Art Umhang daraus zusammengeknotet. Doch der schützte nicht richtig vor der Kälte. Auch die Fußlappen boten keinen ausreichenden Schutz. An mehreren Stellen bekam Agnes kräftig schmerzende Erfrierungen. Außerdem riss sie sich an vielen Stellen die Fußsohlen und die Unterschenkel an Eis und verharschtem Schnee auf.

Tagsüber musste sie ständig in Bewegung bleiben, damit die Kälte nicht in sie drang. In der Nacht suchte sie Schutz unter einem riesigen Berg getrockneter Blätter. Trotzdem musste sie mitten in der Nacht oft aufstehen, Kniebeugen und Liegestütze machen, um den Kreislauf anzuregen und warm zu werden. Oft kauerte sie vor einem kleinen Lagerfeuer, das immer nur eine Körperseite erwärmte. Zu groß durfte sie das Feuer nicht machen, da sie befürchtete, dass Funken ihren Blätterberg anzünden konnten.

Durch ihre körperlichen Anstrengungen gegen die Kälte wuchs der Hunger. Agnes hatte zwar eine Menge an getrocknetem Obst und Fleisch gesammelt, aber die Vorräte gingen schneller als gedacht zur Neige. Sie teilte sich die Reste bis zum Frühjahr genau ein und aß mit eiserner Disziplin nicht mehr, als für einen Tag vorgesehen war. Oft stand sie sehnsüchtig davor und kämpfte mit der Versuchung, sich ausnahmsweise etwas mehr zu gönnen. Doch die Vernunft siegte.

Zusätzliche Nahrung gestattete sie sich nur in Form erlegter Tiere. Doch die waren nicht mehr so zahlreich und schienen viel mehr auf der Hut zu sein als im Sommer. Am meisten Glück hatte sie bei den kleineren oder größeren Vögeln, vor allem den ganz schwarzen mit den bedrohlichen Schnäbel. Von denen konnte sie immer wieder mal einen bewusstlos werfen.

Womöglich retteten drei Langohren ihr das Leben, an denen aber auch nicht so viel dran war wie im Sommer. Vielleicht hatte sie deshalb Jagdglück mit ihnen, weil sie geschwächt waren. Einen Vorteil hatten die tiefen Temperaturen allerdings: Das Fleisch verdarb nicht so schnell. Agnes musste davon nichts wegwerfen und hatte von jedem der Tiere fast eine Woche lang zusätzliche Kost.

Trotzdem magerte Agnes in dieser Zeit ab. Im Frühjahr war sie nur noch ein Gerippe, das mit etwas Haut überzogen war. Doch sie lebte. Kaum spross irgendwo der erste Halm oder zeigte sich die erste Knospe an einem Ast, riss sie sie ab und zermalmte diese mit ihren Zähnen. Es war mit Sicherheit nicht die ideale Nahrung, aber ihr ausgemergelter Körper konnte selbst daraus noch etwas an Energie gewinnen. Manches davon bekam ihr auch nicht. Eine Sorte mit rundlichen Blättern schmeckte sauer, eine andere mit langen, gezackten Blättern war bitter, doch beide vertrug sie gut. Zum Glück wuchsen beide Arten bald reichlich.

Später entdeckte Agnes große, braune Tiere, deren Köpfe ihr bis etwa zur Brusthöhe gingen. Bei diesen Tieren trug die andere Sorte ein komisches, verzweigtes Gestänge auf dem Kopf. Agnes gab ihnen den Namen Asttiere. Auch davon erlegte Agnes hin und wieder eines, aber sie konnte nur einen kleinen Teil davon essen, weil nach einigen Tagen das meiste Fleisch verdorben war.

Genauso ging es ihr mit den Hügeltieren. Die waren ungefähr genauso groß, aber überwiegend weiß, zum Teil mit schwarzen Flecken. Sie hatten eine längliche Schnauze und ein freundliches Gesicht. Die Augen waren jedoch sonderbar: Statt der schwarzen Löcher in der Mitte hatten sie schwarze, waagerechte Striche. Die andere Sorte trug auch etwas auf dem Kopf, das aber kürzer und spitzer war als bei den Asttieren und nicht so verzweigt. Wegen der Menge an verdorbenem Fleisch bevorzugte Agnes Großohren und Großvögel als Nahrungsgrundlage. Als Umhang allerdings waren die Felle der Hügeltiere ideal.

Dann gab es noch eine Sorte Tiere, die den Hündinnen im Reservat ähnelten. Sie waren aber dünner und größer. Eines Nachts war Agnes durch langgezogenes Jaulen aus dem Schlaf gerissen worden. Weil das ein für sie unbekanntes Geräusch war, war sie sofort hellwach. Sie ging diesem Jaulen nach. Es war eine wolkenlose Vollmondnacht, sodass sie sich gut orientieren konnte. Nach einer halben Stunde Wanderung fand sie sie auf einer kleinen Erhebung mitten in einer Lichtung sitzen: sieben von diesen Hundetieren, vier große und drei kleine. Sie saßen dort, friedlich, wie es schien, reckten ihre Hälse dem Mond entgegen und stimmten immer wieder dieses klagende Geheul an.

Agnes war rund zweihundert Meter von den Tieren entfernt. Näher traute sie sich nicht heran. Denn sie wusste, Hunde hatten scharfe Zähne und konnten beißen. Ein lauer Wind wehte von den Tieren zu ihr herüber, weshalb sie sie nicht witterten. Nach einer Weile hatte Agnes genug gesehen und wollte wieder gehen. Dabei trat sie auf irgendetwas, das knackte, wahrscheinlich einen trocknen Zweig. Sofort schreckten alle sieben Tiere auf und stoben in die entgegengesetzte Richtung davon.

Auf dem Heimweg dachte Agnes über diese hundeartigen Wesen nach. Vielleicht waren sie wirklich Hündinnen, von denen es verschiedene Sorten gab. Konnte man mit denen das gleiche machen wie im Reservat und als Haustiere halten? Agnes hätte dann eine Begleiterin, wäre nicht mehr so allein. Es war doch immer wieder schön gewesen, ein solches Tier zu streicheln. Und es könnte auf sie aufpassen, hörte mit den feinen Ohren viel mehr als ein Mensch und stieß bei Gefahr Warnlaute aus.

Vielleicht konnte man diese Tiere sogar essen.

Noch ein paar Mal hatte sich Agnes zu den nächtlichen Versammlungen geschlichen. Immer waren es sieben Tiere, wahrscheinlich stets die gleichen. Die kleinen waren bald ausgewachsen und von den großen nicht mehr zu unterscheiden. Doch im nächsten Frühjahr waren zwei neue da, und damit waren sie jetzt neun.

Einmal konnte Agnes beobachten, wie zwei der Hundetiere ein großes Tier jagten. Es sah ähnlich aus wie ein Hügeltier, aber der Kopf war gedrungener, und aus der Stirn sprossen keine Stangen hervor. Insgesamt war es runder und dicker.

In großen Sätzen sprangen die Hündinnen neben dem Tier her und bissen ihm beim Rennen mehrmals in den Hals. Bald brach das Opfer zusammen, und die Jäger zerrten es in den nahen Wald. Agnes wusste nun, dass diese Tiere ausgezeichnete Räuber waren, die ihr mit Sicherheit gefährlich werden konnten. Sie fragte sich, ob der Knüppel, den sie immer bei sich trug, zur Verteidigung ausreichte.

Doch schien die Gefahr verhältnismäßig gering. Die Hundetiere nahmen immer Reißaus, sobald sie Agnes aus der Ferne witterten. Eines von ihnen zu fangen würde ihr vielleicht gelingen. Doch wie würden die übrigen acht reagieren? Denn das gefangene Tier würde mit Sicherheit Hilfeschreie ausstoßen.

Doch jetzt ging es nicht um die Hundetiere, sondern Agnes beobachtete ein Wesen wie sie selbst. Das ging auf einen Busch vor einer Felswand zu. Es schaute sich um. Nein, das war kein Häscher, eher jemand auf der Flucht, wie sie selbst. Das Wesen drückte einige Zweige zur Seite und verschwand im Gebüsch.

Agnes wartete gespannt ab. Nichts passierte. Sie näherte sich dem Busch, alle Sinne angespannt. Auch sie drückte die Zweige zur Seite, sorgfältig darauf bedacht, nicht das leiseste Geräusch zu verursachen. Darin hatte sie eine Menge Übung. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an das Dunkel in dem dichten Blattwerk. Steine lagen herum, einige Mauerreste ragten aus dem Boden. Sie tastete sich daran entlang und gewahrte eine Öffnung, vor der eine halb verfallene Treppe in die Tiefe führte. Dort war es sehr dunkel. Sie hörte das andere Wesen darin herumhantieren.

Nach einer Weile wurden die Geräusche weniger, dann vernahm Agnes ein leises Schnarchen. Was sollte sie tun? Sie hätte die Fremde im Schlaf töten können, doch wusste sie nicht, ob sie gefährlich war. Wenn sie wie sie selbst auf der Flucht war, konnte man sich verbünden und sich das Leben wesentlich erleichtern. Doch sie musste auf der Hut sein. Sie wusste jetzt, wo die andere wohnte. Es war allerdings keine Höhle, sondern ein fast zerfallenes Gebäude. Wie das an diese Stelle gekommen war, darüber hatte sich Agnes viele Gedanken gemacht. In dieser Gegend gab es mehrere solcher Ruinen. Ob hier auch einmal ein Reservat gewesen war?

Wie auch immer, die Ruine bot einen guten Unterschlupf. Allerdings lag sie ziemlich weit weg von ihrer Höhle. Sie war heute nur in diese Gegend gelangt, weil sie einen ihrer Erkundungsstreifzüge unternommen hatte. Immer wieder erforschte Agnes die Umgebung und wechselte ihren Standort, um Neues und Besseres zu finden. Zum Beispiel eine bessere Unterkunft, mehr Früchte, mehr Tiere. Oder ein Fließwasser in der Nähe, das das Trinken erleichterte.

Es gab also Zeiten der Ruhe und der Wanderschaft. In den Ruhephasen kümmerte sich Agnes um Dinge, die ihr das Leben erleichterten. Sie fand heraus, dass es Pflanzen mit festen Fasern und fünfgliedrigen, spitzen Blättern gab. Eine andere Sorte wuchs bis Hüfthöhe und hatte hellblaue oder weiße Blüten. Die Namen sollte sie erst später kennenlernen. Daraus konnte sie sich Stoffe weben, so mühsam das auch war.

***

Rudolph wurde an einem denkwürdigen Freitag nach vorn zitiert. Er sollte seine Hausaufgaben zum Ablauf des Citratzyklus in einer Zelle vorweisen. Eine komplizierte Materie. Was Wunder, dass der Schüler sich schnell verhaspelte? Als er versuchte, sich an die entsprechende Formel zu erinnern und sie natürlich falsch an die Tafel zeichnete, überflog Franke die Notizen, die der Schüler zu dieser Stunde mitzubringen hatte.