Lebensraum Bett -  - E-Book

Lebensraum Bett E-Book

0,0

Beschreibung

Bettlägerige Menschen benötigen eine Betreuung, die über das „normale“ Maß hinausgeht. Häufig trifft die daraus resultierende Überforderung der Pflegenden auf das resignierte Schweigen der Betroffenen. Dieses Buch weckt Verständnis für die Lebenssituationen bettlägeriger alter Menschen. Aus der Sicht unterschiedlicher Fachdisziplinen werden bedürfnisorientierte Alltagsgestaltungen sowie adäquate Umgangsformen abgeleitet. Die im Praxisteil vorgestellten Interventionsstrategien können sowohl den Pflegenden als auch den Betreuenden zu mehr Kompetenz und Handlungssicherheit verhelfen. Dieses Buch ist ein Muss für alle, die Bettlägerige betreuen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 275

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gabriele Scholz-WeinrichMichael Graber-Dünow (Hrsg.)

Lebensraum Bett

Bettlägerige alte Menschen im Pflegealltag

schlütersche

Gabriele Scholz-Weinrich ist Diplom-Sozialgerontologin und Sozialarbeiterin. Nach langjähriger Tätigkeit bei der Hessischen Heimaufsichtsbehörde ist sie seit 18 Jahren als freie Fortbildnerin und Trainerin tätig. Sie führt auch regelmäßig Fortbildungen zur Lebenssituation bettlägeriger Menschen durch.

Michael Graber-Dünow

»Die Gewalt fängt nicht anwenn einer einen erwürgt.Sie fängt an, wenn einer sagt:›Ich liebe dich: Du gehörst mir!‹

Die Gewalt fängt nicht anWenn Kranke getötet werden.Sie fängt an, wenn einer sagt:›Du bist krank: Du musst tun was ich sage!‹

(…)«                      ERICH FRIED

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-89993-335-2 (Print)ISBN 978-3-8426-5845-1 (PDF)ISBN 978-3-8426-5846-8 (EPUB)

© 2015 Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,Hans-Böckler-Allee 7, 30173 Hannover

Alle Angaben erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie der Autorin und des Verlages. Für Änderungen und Fehler, die trotz der sorgfältigen Überprüfung aller Angaben nicht völlig auszuschließen sind, kann keinerlei Verantwortung oder Haftung übernommen werden. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle muss vom Verlag schriftlich genehmigt werden. Die im Folgenden verwendeten Personen- und Berufsbezeichnungen stehen immer gleichwertig für beide Geschlechter, auch wenn sie nur in einer Form benannt sind. Ein Markenzeichen kann warenrechtlich geschützt sein, ohne dass dieses besonders gekennzeichnet wurde.

Titelbild:

Bridge, Erica Shires – F1 online

Bildnachweis:

Demenz Support Stuttgart GmbH: 121, 122; Peter Barwitzki: 155, 162; Rainer Wohlfahrt: 174

Reihengestaltung:

Groothuis, Lohfert, Consorten | glcons.de

Satz:

INHALT

Vorwort

Teil 1Bettlägerigkeit: Die Perspektiven verschiedener Fachdisziplinen

Urte Bejick

1»Drei Mahlzeiten, das Bett, dann und wann eine Stimme« – Bettlägerige alte Menschen als Maßstab ethischen Handelns

1.1Ethik?

1.2Was bedeutet Bettlägerigkeit?

1.2.1Anderssein

1.2.2Der Verlust des sozialen und biografischen Raumes

1.2.3Intimität in der Öffentlichkeit

1.2.4Verlust des Körpergefühls

1.3Was bedeutet es »ethisch zu handeln«?

1.3.1Raum geben

1.3.2Wahlmöglichkeiten gewähren

1.3.3Beziehung gestalten

1.3.4Rückzug akzeptieren

1.3.5Scham ersparen

1.3.6Pietät wahren

1.3.7Auf der Grenze

1.4Haltung braucht Halt: Organisierte Ethik

1.5Worum es eigentlich geht

Literatur

Ingrid Büttner-Tillmann

2Medizinische Aspekte der Bettlägerigkeit

2.1Multimorbidität

2.2Auswirkungen auf den Organismus

2.2.1Knochen, Gelenke und Muskulatur

2.2.2Atmung

2.2.3Herz und Kreislauf

2.2.4Haut

2.2.5Magen-Darm-System

2.2.6Gehirn und Psyche

2.3Grenzen ärztlichen Handelns

2.4Schmerz

Literatur

Internet

Ruth Schwerdt

3Pflegerische Aspekte der Bettlägerigkeit

3.1Definition und Bedeutung von Bettlägerigkeit

3.2Umgebungsgestaltung

3.3Förderung der Bewegung

3.4Förderung sozialer Kontakte

3.5Einbindung der Ernährung

3.6Versorgung bettlägeriger Menschen als gemeinschaftliche Aufgabe

Literatur

Gabriele Scholz-Weinrich, Michael Graber-Dünow

4Milieugestaltung und Betreuungsmaßnahmen

4.1Biografiearbeit als Annäherung

4.1.1Mehr als warm, satt und sauber

4.2Gestaltung des räumlichen Milieus

4.2.1Zimmergestaltung

4.2.2Raumklima

4.2.3Beleuchtung

4.2.4Ausstattung

4.3Bedürfnis nach Sicherheit

4.3.1Im Bett

4.3.2Im Zimmer

4.4Soziale Kontakte und Interaktionen

4.4.1Aktivitäten nach Wunsch

4.4.2Gestaltete Interaktionen

4.4.3Kommunikativer Kontakt

4.5Möglichkeiten und Grenzen der Mobilisation

4.5.1Perspektivenwechsel

4.6Einbindung des sozialen Umfelds

4.6.1Angehörige und Freunde

4.6.2Ehrenamt und Bürgerschaftliches Engagement

4.6.3Kulturelle und therapeutische Angebote

4.7Die Sinne stimulieren

4.7.1Sehen

4.7.2Hören

4.7.3Riechen

4.7.4Schmecken

4.7.5Tasten

4.8Fazit

Literatur

Internet

Michael Knese

5Bewusstlos gewaschen? – Körpernahe Pflege bei Bettlägerigkeit therapeutisch gestalten

5.1Langsamer und plötzlicher Verlust von Bewusstsein

5.2Bettlägerigkeit und drohende Verluste bewältigen

5.2.1Anpassung und Selbstaufgabe

5.2.2Widerstand und Selbstbehauptung

5.2.3»Auftrainieren«

5.3Der Weg zu Selbstbestimmung im Konzept Basale Stimulation® in der Pflege

5.3.1Selber bestimmen

5.3.2Zuerst Wahrnehmung organisieren

5.3.3Gedächtnis – Erinnerung bahnen durch wiederaufbauende Pflege

5.4Alltagshandlungen ermöglichen

5.4.1Die Handlungen der Pflegekraft als Alltagshandlung gestalten

5.4.2Ein normales Dasein leben

5.4.3Normalität im Bett

5.4.4Lebensraum Bett

5.5Lebensraum Körper

5.5.1So pflegen, dass der andere verstehen lernt und folgen kann

5.5.2Den Körper bewusst machen

5.5.3Über Berührung und Handling Vertrauen schaffen

5.5.4Mithilfe von Pflege selbst wieder wirksam werden

5.6Ist Pflege nun therapeutisch oder nicht?

Literatur

Monika Wiegand

6Hilfsmittelversorgung

6.1Körperpflege

6.2Ankleiden

6.3Essen und Trinken

6.4Transfer

6.5Mobilität

Axel Bauer

7Rechtliche Aspekte bei der Pflege und Betreuung bettlägeriger Menschen

7.1Einführung

7.2Beispiele für Verletzungen der Würde und der Rechte bettlägeriger Menschen

7.3Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen

7.4Alternativen zum Freiheitsentzug durch körpernahe Fixierung

7.5Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen in der betreuungsrechtlichen und pflegerischen Praxis

Literatur

Teil 2Exkurs Pflegeoase

Anja Rutenkröger, Christina Kuhn, Renate Berner

8Pflegeoasen – eine alternative Betreuungsform für Menschen mit schwerer Demenz?

8.1Was ist unter Pflegeoase zu verstehen?

8.2Wie sind die Auswirkungen der Pflegeoasen auf die Bewohner und Bewohnerinnen?

8.2.1Gesundheitsstatus der Bewohnerinnen

8.3Wahrnehmen der Bedürfnisse

8.3.1Kontinuierliche Personalpräsenz

8.4Wie bewerten Angehörige die Pflegeoasen?

8.4.1Entlastung

8.4.2Wohlbefinden, Verhaltenskompetenz und Aufmerksamkeitsniveau

8.5Wie bewerten Pflegende die Arbeit in Pflegeoasen?

8.6Welche Eckpfeiler zur Organisation und zum baulichen Milieu sind erforderlich?

8.6.1Gruppengröße

8.6.2Arbeitsorganisation und Konzeptentwicklung

8.6.3Bauliches Milieu

8.7Auf den Punkt gebracht: Wo gibt’s Handlungsbedarf?

8.8Auf ein »Wort zum Schluss«

Literatur

Teil 3Fokus Heimaufsicht

Ralf Schetzkens

9Betreuungssituationen bettlägeriger Menschen aus Sicht der Heimaufsicht

9.1Grundsätze

9.2Konsequenzen aus ordnungsrechtlicher Sicht

9.2.1Zusammenarbeit mit Angehörigen

9.2.2Bauliche Gegebenheiten

9.2.3Konzeptionelle Darstellung

9.2.4Qualifikation und Fortbildung

9.2.5Freiheitsentziehende Maßnahmen

9.2.6Biografieorientiertes Arbeiten

9.2.7Betreuungs- und Pflegeplanung

9.2.8Ausgestaltung der Betreuungs- und Pflegeleistungen stark immobiler Bewohnerinnen und Bewohnern

9.3Einsatz zusätzlicher Betreuungskräfte gemäß § 87b SGB XI

9.4Zusammenfassung

Literatur

Teil 4Praxisberichte

Angelika Heise

10Betreuung überwiegend bettlägeriger Menschen

10.1Rahmenbedingungen und Grundlagen

10.1.1Frankfurter Programm »Würde im Alter«

10.2Betreuungsziele

10.3Betreuungsmaßnahmen: inhaltliche Gestaltung

10.4Exemplarische Einzelbetreuungen

10.5Schlussfolgerung

Literatur

Ulrike Kremer

11Tiergestützte Therapie – Tiere öffnen Welten und vermitteln Lebensfreude

11.1Implementierung der Tiergestützten Therapie im Justina von Cronstetten Stift

11.2Praxisberichte

11.2.1Aufbau und Einblick in eine Gruppenaktivität

11.2.2»Bettgeschichten« – Einzelbetreuungen

11.3Fazit

Literatur

Internet

Elke Ottenschläger

12Musiktherapie – in Kontakt kommen und einfühlsam begleiten.

12.1Was ist Musiktherapie?

12.2Praxisbeispiel für aktive Musiktherapie

12.3Praxisbeispiel für rezeptive Musiktherapie

12.4Berufsalltag – musiktherapeutische Aspekte in der Arbeit mit bettlägerigen Menschen

Literatur

Ulrich Fey

13Clown am Bett – besondere Besuche bei bettlägerigen Menschen

13.1Grundbedingungen

13.1.1Begegnung auf emotionaler Ebene

13.1.2Das alles ist dem Clown einerlei

13.1.3Leben im Paradoxon

13.2Die Figur des Clowns

13.2.1Ziel der Begegnung ist die Begegnung

13.2.2Wahrnehmung, Intuition und Angst

Literatur

Die Autorinnen und Autoren

Register

VORWORT

Die Anzahl pflegebedürftiger Menschen, die ihr Bett nicht mehr oder nur noch kurzzeitig mit fremder Hilfe verlassen können, steigt. Trotzdem geraten diese Menschen im Pflegealltag der Heime oft in Vergessenheit. Hier sind es – vor dem Hintergrund einer vielfach mangelhaften Personalausstattung – eher die »Lauten«, um die sich die Pflegekräfte kümmern: Die Bewohner, die ihre Bedarfslagen artikulieren und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse noch einfordern können. Zuweilen herrscht seitens der Pflegenden auch die Annahme, dass Bettlägerige ohnehin »nichts mehr mitbekommen«. Dann werden sie aus Sicht dieser Pflegenden mitunter »nur noch zu Objekten von Pflegehandlungen«. Eine über die Grundversorgung hinausgehende Betreuung dieser Personengruppe findet daher häufig nur punktuell statt.

Dieses Buch rückt die besondere Lebenssituation bettlägeriger Menschen aus Sicht verschiedener beteiligter Fachdisziplinen in den Fokus. Die Vielfältigkeit von Bettlägerigkeit soll verdeutlicht, für die jeweils individuelle Lebenslage der Betroffenen sensibilisiert sowie Möglichkeiten einer bedürfnisorientierten Begleitung aufgezeigt werden. Wir, die Autoren und Herausgeber, wollen Mut machen, sich trotz Personalmangel aktiv für eine Verbesserung der Lebensbedingungen dieser Personengruppe zu engagieren.

Dabei darf es aber keinesfalls um eine »Aktivierung um jeden Preis« gehen, wie sie zum Höhepunkt der Aktivitätstheorie in den 1980er- und 1990er-Jahren noch üblich war. Damals galt Bettlägerigkeit quasi als Pflegefehler, dem ohne Rücksicht auf die Ressourcen und Bedürfnisse der Betroffenen entgegengewirkt werden musste. Wie die gerontologische und pflegefachliche Forschung jedoch schon seit längerem zeigt, sollte die Pflege und Betreuung bettlägeriger Menschen vielmehr den jeweils individuellen Lebenslage der Betroffenen entsprechen. Dies gilt es in gänzlicher Breite in die Praxis zu transferieren.

Dieses Buch richtet sich daher an Pflege- und Betreuungskräfte im stationären aber auch ambulanten Bereich, an Auszubildende, Angehörige und ehrenamtliche Helfer.

Wir möchten uns an dieser Stelle bei allen Autorinnen und Autoren dieses Buches herzlich für ihre kritische Analyse der Problematik und ihre fachspezifischen Ausführungen zur Verbesserung der Lebenssituation überwiegend bettlägeriger Menschen bedanken. Ebenso danken wir der Schlüterschen Verlagsgesellschaft und im Besonderen unserer Lektorin Frau Petra Heyde für die in jeder Hinsicht positive Zusammenarbeit.

Bad Vilbel/Neuberg, im Juni 2014

Gabriele Scholz-WeinrichMichael Graber-Dünow

Anmerkung

Alle in den Praxisbeispielen geschilderten Handlungen, Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

TEIL 1:

1»DREI MAHLZEITEN, DAS BETT, DANN UND WANN EINE STIMME« – BETTLÄGERIGE ALTE MENSCHEN ALS MASSSTAB ETHISCHEN HANDELNS

Urte Bejick

1.1Ethik?

»Du, ich schreibe einen Beitrag für ein Buch.«

»Wow, klasse, toll! Was denn für ein Buch?«

»Es heißt ›Lebensraum Bett‹.«

»Oh là là!«

»Es geht um bettlägerige alte Menschen.«

»Oh.«

Genau hier hat Ethik ihren Ort – im Intervall zwischen »Oh là là« und »Oh«, im Stocken und Stolpern über den Abstand zwischen Erwartung und Wirklichkeit.

Das aus dem Griechischen stammende Wort éthos bedeutet zunächst einmal Haltung bzw. Lebensart. Ethik ist die Reflexion und Begründung dieser Haltungen und Entscheidungen. Bei der Kombination der Begriffe Ethik und Bettlägerigkeit denken wir vielleicht spontan an Themen wie PEG (perkutane endoskopische Gastrostomie), freiheitseinschränkende Fixierungen oder lebensverlängernde Maßnahmen. Und hier sollte das erste Stolpern einsetzen: Diese Themen sind zwar wichtig aber eine Beschränkung ethischer Reflexion auf sie würde bedeuten, die betroffenen Menschen zu »Fällen« zu machen – wenn nicht zu sprachlich inkorrekten »Pflegefällen«, so doch zu Objekten von »ethischen Fallbesprechungen«.

Es geht aber nicht um Fälle, sondern um lebendige Menschen mit einer je reichen Lebensgeschichte und in unterschiedlichen Befindlichkeiten. Bettlägerigkeit betrifft bis zuletzt kreative, wache Menschen wie als prominente Beispiele Heinrich Heine und die Dichterin Rose Ausländer zeigen. Ausländer schrieb etwa ihre konzentriertesten Texte im Zimmer ihres jüdischen Altersheims. Von ihr stammt das Zitat in der Überschrift (Ausländer 1992): »Drei Mahlzeiten, das Bett, dann und wann eine Stimme.«

Bettlägerigkeit betrifft Menschen im Endstadium einer Demenz oder Menschen im Wachkoma, und sie betrifft sterbende Menschen. Viele »große« ethische Fragen werden eher aufgrund dieser Lebensumstände und Krankheitsbilder relevant statt aufgrund der Bettlägerigkeit an sich. Anders als im Krankenhaus, geht es in der Altenpflege nicht allein um Entscheidungen am Lebensende (Heinemann 2010), es geht um viele kleine Grenzverletzungen und Beschämungen oder umgekehrt um die Wahrung der menschlichen Würde im Alltag. Dort werden ständig Entscheidungen getroffen – oft gar nicht bewusst –, die einer ethischen Reflexion bedürften. Sie sind abhängig von der eigenen Lebenserfahrung, Haltung, Berufsauffassung, gesellschaftlichen Werten und Pragmatismus.

1.2Was bedeutet Bettlägerigkeit?

1.2.1Anderssein

Da alltägliche Verhaltensweisen oft gar nicht mehr bewusst wahrgenommen werden, hilft manchmal eine verfremdete Darstellung der Situation:

»Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor Augen. ›Was ist mit mir geschehen?‹, dachte er.«

(KAFKA, 1975)

Franz Kafkas Erzählung »Die Verwandlung«(1912/1915), in der Gregor Samsa eines Morgens erwacht und sich in einen Käfer verwandelt findet, ist immer noch eine der eindrücklichsten literarischen Schilderungen, wie ein Mensch mit bestem Willen und Bemühen letztlich aus der Welt gedrängt wird. In ihrer fantastischen Skurrilität kann sie als Beispiel dienen, um den »ganz normalen« Umgang mit bettlägerigen und pflegebedürftigen Menschen in seiner gelegentlichen Absurdität und ethischen Ambivalenz zu entlarven.

Gregor Samsa erwacht und stellt fest, dass sich sein Körper verändert hat. Sein Eingeschlossen sein in einen Panzer, seine mangelnde Mobilität, verloren gegangene Sprachfähigkeit und veränderte Essgewohnheiten weisen ihn hinfort als »Käfer« aus. Er wird nicht mehr als Bruder, Sohn, junger Mann oder Büroangestellter wahrgenommen, sondern als der Andere und Fremde. Alle seine in sich logischen Versuche, Nähe herzustellen oder seine Identität zu verteidigen, werden deshalb als unsinnig oder aggressiv interpretiert und mit Isolation bestraft.

Bettlägerige Menschen würde niemand als Insekten bezeichnen, aber wie Samsa, der nach wie vor seine Gefühle, seine Liebe zur Musik, seine Ängste behält, werden sie oft nicht mehr primär als individuelle Personen mit ihren Eigenarten wahrgenommen. Vielmehr definiert man sie über ihre mangelnde Mobilität und körperliche Verfasstheit – als »bettlägerig« eben. Sie sind die anderen, die liegen, die aufschauen müssen, während die ihnen begegnenden Menschen stehen, sich bewegen, auf sie herunterschauen oder sich zu ihnen bücken und setzen. Je nach Krankheit sind sie die »Dementen« oder »Komatösen«. Ihr Schicksal dient etwa Autoren als Illustration einer säkularisierten Vorhölle: »Parkbänke, auf denen nur Alte sitzen, nebeneinander, ohne Kontakt, und vor sich hin stieren, Rollstühle mit zusammengefallenen Alten, Krankenhausbetten, in denen sieche Alte gefüttert und gewaschen werden, demente Alte« (Schenk 2005).

»Der vegetiert ja nur noch« ist umgangssprachlich oft zu hören. Menschen, die sich nicht mehr viel bewegen, werden hier in Pflanzennähe gerückt. Mag der Vergleich zum Knollengewächs beim Ausspruch »Couch Potatoe« noch amüsieren, so wird bereits mit dieser scheinbar lustigen Bezeichnung ausgedrückt, dass diese Leute dem Leitbild eines agilen, mobilen, aktiven Menschen widersprechen. Sie gelten eben nicht als beneidenswerte Lebenskünstler, sondern verlassen sprachlich bereits den menschlichen Bereich und verschmelzen mit ihrem Sofa. Der Weg zur Entpersonalisierung von Menschen ist dann schnell beschritten – »Die Pflegestufe – Nuller sind eigentlich viel aufwändiger als die Dreier, die liegen ja im Bett.«(Reitinger in Krobath 2001).

Noch viel weniger gilt eine positive oder neutrale Deutung ihrer Situation für bettlägerige Menschen. Sie widersprechen dem Bild des bis zuletzt aktiven, »selbstbestimmten« und halbwegs mobilen alten Menschen.

Sprache schafft Wirklichkeit. Und so stellt sich die erste ethische Frage: Wie werden bettlägerige Menschen gesehen und wie wird von ihnen gesprochen? Erfolgt der Blick beiläufig, ängstlich, von oben – oder kann er auf derselben Ebene stattfinden, ohne dass wortlos und umso energischer das Bett nach oben katapultiert wird? Und: Wie wird von/mit diese/n Personen geredet? Werden sie primär über ihren Zustand, ihre Krankheit wahrgenommen und definiert? Nach den Regeln der deutschen Grammatik »hat« niemand »Bettlägerigkeit«, sondern er oder sie ist bettlägerig – ist dies aber ein alles dominierender Seinszustand? Und wird primär nicht mit ihnen, sondern über sie geredet, wenn nicht direkt am Bett, so doch vor der Tür ihres Zimmers?

»Einsam werde ich, wenn die Menschen eher über mich sprechen als mit mir; wenn sie sich über meine Krankheit unterhalten und besorgt sind.«

(STEFFENSKY, 2005)

1.2.2Der Verlust des sozialen und biografischen Raumes

»Trotzdem sich Gregor immer wieder sagte, dass ja nichts Außergewöhnliches geschehe, sondern nur ein paar Möbel umgestellt würden, wirkte doch, wie er sich eingestehen musste, dieses Hin- und Hergehen der Frauen … wie ein großer, von allen Seiten genährter Trubel auf ihn, und er musste sich … unweigerlich sagen, dass er das Ganze nicht lange aushalten werde. Sie räumten ihm sein Zimmer aus; nahmen ihm alles, was ihm lieb war; den Kasten, in dem die Laubsäge und andere Werkzeuge lagen, hatten sie schon hinaus getragen; lockerten jetzt den schon im Boden fest eingegrabenen Schreibtisch, an dem er als Handelsakademiker, als Bürgerschüler, ja sogar schon als Volksschüler seine Aufgaben geschrieben hatte … Also, was nehmen wir jetzt? fragte Grete und blickte sich um«.

(KAFKA, 1975)

Was Gregor Samsa erlebt, widerfährt Menschen genauso, die in ein Pflegeheim ziehen – oft ungeplant nach spontaner Erkrankung: Sie müssen ihre gewohnte Häuslichkeit verlassen und damit auch die Dinge, die jetzt »unnötig« geworden sind. Natürlich brauchen weder Gregor sein Werkzeug und Schreibtisch noch die pflegebedürftigen Menschen ihre alten Küchenbuffets und den Inhalt zahlreicher Kramschubladen. Damit wird jedoch ein Teil ihrer Geschichte entsorgt und auf den Müll geworfen, oft ohne dass ein bewusster Abschied genommen wurde. Mit den »unnötigen« Gegenständen geht auch ein Stück Identität und Selbstdarstellung verloren, wer man war und innerlich noch ist. Allenfalls ein Kuscheltier findet noch Platz, verbliebene vertraute Möbelstücke, Fotos und Kleingegenstände stehen und liegen so, dass sie vom Betroffenen aus dem Bett heraus nur mit Mühe oder gar nicht gegriffen oder gesehen werden können. Ihr Gesichtsfeld und Spielraum verengen sich immer mehr. Dieser Verlust des biografischen Raumes setzt den Verlust des sozialen Raumes fort. Ist bereits das Pflegeheim ein Ort mit »sanfter Begrenzung« (Koch-Straube 1997), so ist es das Zimmer -darin das Bett – umso mehr. So wie Samsa die »gute Stube« als Ort gemeinsamer Mahlzeiten, des Gesprächs und des Musizierens nicht mehr betreten kann und bei einem einzigen Ausbruchsversuch als Störung und Ärgernis empfunden wird, können bettlägerige Menschen den Speisesaal, den Wohnbereich nicht mehr begehen oder nur mit großer Mühe. Koch-Straube bezeichnet den Speisesaal als »Dorfplatz« des Heimes (Koch-Straube,1997) Der »Dorfplatz« ist der öffentliche Raum, wer ihn besetzt, hat die Macht – zumindest die des Blickes, des Kommentars. Menschen, die auf dem »Dorfplatz« nicht vertreten sind, sind einerseits geschützt, andererseits aber auch aus der Öffentlichkeit als Kommunikationsraum ausgeschlossen.

1.2.3Intimität in der Öffentlichkeit

»Schon ihr Eintritt war für ihn schrecklich. Kaum war sie eingetreten, lief sie, ohne sich Zeit zu nehmen, die Türe zu schließen, so sehr sie sonst darauf achtete, jedem den Anblick von Gregors Zimmer zu ersparen, geradewegs zum Fenster und riss es, als ersticke sie fast, mit hastigen Händen auf, blieb auch, selbst wenn es noch so kalt war, ein Weilchen beim Fenster und atmete tief. Mit diesem Laufen und Lärmen erschreckte sie Gregor täglich zweimal …«

(KAFKA, 1975)

Der Isolation steht ein weitgehender Verlust des intimen Raumes entgegen. Im Bett werden Menschen gezeugt, geboren und sterben dort. Ungefähr ein Drittel unserer Lebenszeit verbringen wir im Bett. Das Bett ist Ort der Selbstauslieferung an Schlaf, Träume, Sexualität und Krankheit. Es ist Zufluchtsort, in dem Menschen unter Decken Trost suchen, sich zur Wand drehen. Im Bett wird gegessen, geschlafen, geliebt, geweint, sich gewälzt, sich in fremde Welten phantasiert, gebetet. Das Bett ist ein höchst intimer Ort. Man zeigt nicht jedem Gast als erstes das Schlafzimmer. Im Pflegeheim oder Krankenhaus wird das Bett aber zum öffentlichen Ort, wie es auch das Zimmer als sogenanntes erweitertes Umfeld wird.

Es begegnen sich gleichzeitig Isolation und Vereinsamung im Zimmer und ein Leben in der Öffentlichkeit – ein Paradoxon. Ob mit oder ohne Anklopfen: Das Zimmer, der Bett-Raum, kann jederzeit betreten werden, er ist – aus Sicherheitsgründen – auch nicht abschließbar. Bettlägerige Menschen haben keine Schlüsselgewalt mehr. Ihr Raum kann von anderen mit deren Aktivitäten, aber auch mit deren Haltungen okkupiert werden, so wie das Aufreißen des Fensters in der zitierten Geschichte Gregor Samsa als stinkenden Käfer stigmatisiert. Bettlägerige Menschen sind nicht nur dem Eintreten anderer Menschen ausgesetzt, sondern auch deren bewertenden Blicken ins Zimmer, auf ihres Zustandes und ihre Existenz.

1.2.4Verlust des Körpergefühls

»Er wusste nicht, was er zuerst retten sollte, da sah er an der im Übrigen schon leeren Wand auffallend das Bild der ganz in Pelz gekleideten Dame hängen. …Dieses Bild wenigstens, das Gregor jetzt ganz verdeckte, würde nun gewiss niemand wegnehmen.«

(KAFKA, 1975)

Gregor Samsa versucht, mit seinem Körper zuletzt noch ein erotisches Gemälde zu schützen. Da er aber als Käfer wahrgenommen wird, wird seine Handlungsweise als böswillige Aggression ausgelegt und mit ebensolcher beantwortet. Die »Dame im Pelz« steht für Schönheit, Ästhetik, Erotik. Der Reize im Außenraum immer mehr beraubt, zieht sich Gregor Samsa auf diesen Rest geschlechtlicher Identität und Körperlichkeit zurück.

Jean Améry hat in seinem Altersbuch auf die Ambivalenz hingewiesen, mit der der alternde Körper erfahren werde: »Den Körper, der ihm nunmehr als sein Ich präsent wird, verspürt er als Hülle, als etwas Äußeres und ihm Angetanes und zugleich doch als sein Eigentlichstes, auf das er sich mehr und mehr reduziert und dem er wachsende Aufmerksamkeit zuwendet.« Der bettlägerige Mensch verliert immer mehr an Raum, er wird zum Körper im Bett und verliert doch zugleich sein Körpergefühl (Amery 2010). Die Körperkonturen verschwimmen, Gliedmaßen werden nicht mehr gespürt oder das Liegen bereitet Schmerzen. Schon die Bibel schildert in einem poetischen Text, wie ein im Gehen unsicher gewordener Mensch aus einer wohl gefügten, behaglichen Welt fällt (Prediger 12,1–7). Für Jean Améry wird die Umgebung, die den Menschen »abschüttelt«, sogar zum »Anti-Ich« (Amery 2010). Körper und das Bett als Lebensraum sind dann Gefängnis und letzte Enklave von Sicherheit und Identität zugleich.

Gregor Samsa versucht seine Identität als Mann und einen Rest von Sinnlichkeit zu retten. Das »Bett« ist auch Metapher für Erotik und Sexualität. Dies jedoch nicht in Bezug auf bettlägerige Menschen – sei es, dass sie wirklich andere Interessen und Bedürfnisse haben, sei es, dass man ihnen diese abspricht. Selbst Autoerotik als Lust-und Sinnesquelle wird in der ständigen Halböffentlichkeit anrüchig: »Neulich habe ich Herrn N. mit einem Pornoheft erwischt.« Es gibt bereits Diskussionen über die Möglichkeiten erotischer Massagen oder den Besuch von Prostituierten und Sexualbegleitung im Heim, wobei offensichtlich männliche Bedürfnisse als relevanter oder existenter anerkannt sind. Das Versagen von Erotik und Sinnlichkeit umfasst aber viel mehr: Bettlägerige und andere pflegebedürftige Menschen werden in der Regel nur noch funktional berührt – beim Waschen, Ankleiden, Spritzen. Diese Professionalität der Berührung ist notwendig, um Menschen Scham zu ersparen. Die Funktionalität besetzt aber auch andere Räume ihres Umfeldes: Wasch- und Körperlotionen sind hygienisch, nicht luxuriös oder sinnlich, die Kleidung ist praktisch, Schmuck anzulegen ist zu zeitaufwendig und Make-up verschmiert das Bettzeug. All das nimmt den Betroffenen wieder ein Stück positiven Körpergefühls und biografischer Identität. Es signalisiert ihnen, »dass es sich für sie nicht mehr lohnt«.

Gregor Samsa entscheidet zuletzt für sich, dass es sich nicht mehr lohnt. Er nimmt keine Nahrung mehr zu sich und verhungert. Die letzte Stufe, nämlich als »Fall« in puncto einer künstlichen Ernährung diskutiert zu werden, bleibt dieser literarischen Figur erspart. Es ist aber hoffentlich deutlich geworden: Ethische Entscheidungen betreffen nicht erst das Lebensende. Wie Bettlägerigkeit in der Regel durch einen Prozess entsteht, so gehen den »letzten Dingen« viele andere, oft nicht mehr reflektierte voraus, in denen Würde gewahrt oder eben verletzt wird. »Die Antwort auf die Frage von Camus, ›ob das Leben lohne‹, also die Antwort auf die Lebenssinnfrage, hängt mehr von den nächsten Dingen ab als von den letzten«(Marquard, 1986).

1.3Was bedeutet es, »ethisch zu handeln«?

1.3.1Raum geben

Viele biblische Heilungsgeschichten enden mit der Weisung »Nimm dein Bett und geh!«. Kein Geheilter lässt das Bett liegen, trampelt als Zeichen seiner Befreiung darauf herum. Er nimmt es mit – als Teil seiner Biografie oder als nützliches Möbelstück. Am »Bett« allein kann also das Tabu »Bettlägerigkeit« nicht festgemacht werden.

Dieses Buch heißt »Lebensraum Bett« und nicht »Ans Bett gefesselt«. »Festgenagelt sein«, so ist das wegweisende Buch von Angelika Zegelin (Zegelin 2005) betitelt, das nachverfolgt, wie Bettlägerigkeit »gemacht« wird. Bettlägerigkeit kann – ohne Frage -die Folge einer Reihe von pflegerischen Fehlentscheidungen und Nachlässigkeiten sein. Ethisch verantwortungsvoll zu handeln, kann in diesem Fall nur heißen, den betroffenen Menschen so viel Raum und Beweglichkeit zu schaffen und wieder zu geben wie möglich.

Mobilität, wo sie Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit, Erleben und Kontakt bedeutet, ist ein hohes Gut – aber sie darf nicht zur Voraussetzung werden, einem Menschen nur dann Würde zuzusprechen (Schneider-Flume 2002). Sonst wird das Bett zur »Endstation« und gar zum Synonym für Abhängigkeit, Hilflosigkeit, Entmündigung. Um dies zu ändern, ist ein verändertes Denken Voraussetzung: Manche Menschen sind auf das Lebensfeld Bett beschränkt – dies ist natürlich nicht immer die Summe von Fehlern oder gar eine traurige Endphase -, sondern eine »Gegebenheit«. Diesen Begriff hat der Theologe Ulf Liedke in die Inklusionsdebatte eingebracht (Liedke 2009). Gegen eine »Gegebenheit« können Menschen rebellieren, nach Alternativen suchen – oder sie akzeptieren sie als die ihnen gegebene Lebensform. »Das Bett ist ihr wesentlicher Lebensraum« statt »Sie ist ans Bett gefesselt« – das mag nach Euphemismus klingen, aber ein gefesselter Mensch hat keine Wahlmöglichkeiten, ein Lebensraum erfordert dagegen geradezu Aktivität, um ihn ansprechend, schön, dem Menschen gerecht einzurichten und zu gestalten. Das Bett als Lebensraum darf auch nicht von anderen einfach okkupiert werden – sei es »besetzt«, als Ablage benutzt, ungefragt verstellt.

1.3.2Wahlmöglichkeiten gewähren

Es trägt wesentlich zur Lebensqualität alter Menschen bei, sich noch selbstwirksam und selbstständig zu erleben. Bettlägerigkeit bedeutet Hilflosigkeit und Angewiesensein auf andere Menschen. Das Bewusstsein dieser Abhängigkeit vertieft die Scham, »es nicht mehr selber zu können«. Abhängigkeit gehört im Gegensatz zu Selbstständigkeit und Autonomie zu den größten Tabus, die mit der Vorstellung von Alter und Pflegebedürftigkeit verbunden sind. Abhängigkeit wird dabei schnell mit Würdelosigkeit gleichgesetzt. Abhängigkeit gehört aber zum menschlichen Wesen vom ersten Tag an – neu geborene Menschen bleiben lange Zeit abhängig von anderen Menschen; Kranke sind auf Hilfe angewiesen, alte Menschen auch. Jeder Tag auch eines völlig »selbstständigen« Menschen ist von zahllosen Abhängigkeiten geprägt: vom Funktionieren des fließenden Wassers bis zum Bus, der zur Arbeit bringt – als soziale Wesen sind Menschen immer abhängig voneinander. Abhängigkeit als menschlicher Zustand kann also nicht würdelos sein. Aber sie kann unterschiedlich gestaltet werden.

Das Gefühl, nicht nur abhängig, sondern auch ausgeliefert zu sein, wird dadurch befördert, dass bettlägerige Menschen »keine Wahl« haben. Sie unterliegen meist einem von anderen bestimmten, in der Regel eintönigen Tagesablauf – und dies über Wochen, Monate, Jahre. Sie können vielleicht nicht mehr bestimmen, was sie anziehen möchten, da die Bettkleidung praktisch sein muss (»Also, den BH brauchen Sie doch wirklich nicht mehr!«), was es zu essen gibt, welche Blickrichtung ihr Bett hat.

Autonomie und Würde werden oft auf die Wahl einer angeblich selbst bestimmten Lebensbeendigung reduziert. Es geht aber (auch) um das Leben davor, die vielen kleinen, alltäglichen Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten, die ein selbstwirksames Leben ausmachen.

Ethisch zu handeln heißt, bettlägerigen Menschen Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten zu lassen – hinsichtlich der Raum- und Bettgestaltung, ihrer Zeitgestaltung und Kleidung, ihres Essens und Trinkens, ihres Wunsches nach Gesellschaft und Rückzug usw.

1.3.3Beziehung gestalten

»Hilflose«, bettlägerige Menschen machen allgemein menschliche gegenseitige Abhängigkeit sichtbar. Wolfgang Heinemann empfiehlt daher eine »Ethik der Relationalität« und des gegenseitigen Vertrauens anstelle einer Ethik der vermeintlichen Autonomie (Heinemann 2010). Die viel gepriesene »Patientenautonomie« reproduziert letztendlich die marktwirtschaftlich geforderte »Eigeninitiative« und »Eigenverantwortung« anstelle einer Gemeinwohlorientierung und einer Kultur der gegenseitiger Hilfe und gegenseitigen Vertrauens. Wie alle anderen Menschen brauchen bettlägerige Menschen Gemeinschaft, Kontakt, eine Bedeutung für andere, das Gefühl, noch etwas geben zu können. Sie brauchen nicht viele, sondern echte Kontakte. Kontakte, aus denen sich Interesse am Gegenüber offenbaren und es nicht darum geht, aktivieren, beschäftigen oder beschwichtigen zu wollen: »Aber Frau Krause – der Pfarrer ist da, der will sie besuchen. Sie können doch nicht den ganzen Tag im Bett liegen. Draußen scheint die Sonne. Wollen Sie nicht wenigstens aufstehen?« (Sprakties 2013) Diese Form der »Ermutigung« will das Gegenüber, hier eine depressive alte Dame, eher unseren Bedürfnissen nach Normalität und Pflegeleichtigkeit anpassen. Erst das Nichtstun und nichts zu wollen des Pfarrers ermutigte die alte Dame schließlich, sich aufzurichten.

Die meisten Kontakte im Pflegeheim sind – notwendigerweise – zweckorientiert, das Zimmer der bettlägerigen Menschen wird betreten, »um zu …«. Bastel- und Beschäftigungsangebote folgen bei allem guten Willen meist auch dieser Zweckorientierung. Eine Ethik der Relationalität würdigt hingegen einmal die professionellen, zweckorientierten Abhängigkeiten und Kontakte in ihrer eigenen Notwendigkeit, gleichzeitig aber auch das Bedürfnis nach echten, an dem individuellen Menschen interessierten Begegnungen. Solche können durchaus im Rahmen der Pflege oder Zimmerreinigung quasi nebenbei geschehen oder durch eine Kultur der Gastfreundlichkeit – gegenüber Angehörigen, ehrenamtlichen Besuchsdienstgruppen, durch Ermunterung von gegenseitigen Besuchen der Bewohner und Bewohnerinnen – gefördert werden.

1.3.4Rückzug akzeptieren

Bewegung und Beweglichkeit, Kommunikation sind Grundbedürfnisse von Menschen, die erfüllt werden müssen. Sie dürfen aber nicht zum Diktat werden, an dem sich das Zugestehen von Menschenwürde entscheidet. Das Modell des »aktiven Alterns« hat die Theorie des »Disengagements« ersetzt, um alten Menschen soziale Isolation und Abwertung zu ersparen; dies darf aber nicht zur Folge haben, menschliche Rückzugsbedürfnisse nur noch als Defizit wahrzunehmen. Besonders gravierend wird dieser Rückzug, wenn er in die letzte Phase einer Demenz oder in die Bewusstlosigkeit führt. Selbst die Pionierin der Validation, Naomi Feil, benennt das letzte Stadium der Demenz »Vegetieren« und widmet ihm gerade zwei Seiten in ihrem Lehrbuch (Feil 1990).

Rückzug kann als Elend gedeutet werden – »Das ist doch kein Leben mehr« – oder als Versuch der Lebensbewältigung: »Koma oder das apallische Syndrom können heute als Überlebensstrategie verstanden werden. Das Bewusstsein scheint sich hierbei auf eine Ebene zurückzuziehen, die wir funktional nicht feststellen oder beweisen können, was jedoch nicht heißt, dass es nicht in irgendeiner Form vorhanden wäre« (Nydahl/Bartoszek 2000).

Dieser Bewältigungsversuch erscheint Außenstehenden so erschreckend, weil sie ihn nicht verstehen und ihr Handeln zum Scheitern kommt. Der in unserem Sinne nicht mehr kommunizierende Mensch löst in wohlmeinenden Helfern und Besucherinnen Ohnmacht und Scham aus, auch geheime Aggression, die dann in Form von Mitleid auf ihn übertragen wird, indem ihm Lebensqualität abgesprochen wird. Ethische Reflexion heißt in diesem Fall, sich der eigenen Hilflosigkeit und auch Wut bewusst zu sein, diese zu akzeptieren. Sie bedeutet aber auch, dem »sprachlosen« Gegenüber sein eigenes Leben und seinen Rückzug ins Innere zuzugestehen und zu schützen.

1.3.5Scham ersparen

Bettlägerigkeit ist mit Scham behaftet. Der betroffene Mensch kann aus eigener Kraft das Bett nicht verlassen. An ihm werden Pflegehandlungen vorgenommen: Entblößung, Inkontinenz, das Nichtvermögen sind besonders schambesetzt. Menschen, die vielleicht noch mit Unterstützung selbst auf die Toilette gehen könnten, bekommen wegen des großen Aufwandes dafür lieber Katheter gelegt. Die »2-Liter-Einlage« ist eine einzige Scham- und Würdeverletzung. »Scham ist deshalb so unerträglich, weil sie Isolation bedeutet und weil sich die Wut, die aus der Scham entsteht, zwangsläufig gegen das eigene Ich richtet. Scham heißt, dass das aktuelle Selbst und das ideale Selbst in Konfrontation zueinander stehen.« (Gröning 2001) »Scham ist Hüterin der Schwelle« (Marks 2010) – bei bettlägerigen Menschen ist diese Grenze das Zimmer, das Bett, die eigene Haut.

Scham ersparen, heißt Schwellen und Grenzen zu achten und diesem idealen Selbst Achtung zu zollen. Dazu gehört auch die Wahrung der nach außen sichtbaren Identität: »Wir müssen uns inszenieren, um wir selbst zu sein. … Nicht mehr entscheiden zu können, wie wir anderen Menschen gegenübertreten, d. h. keinen Spiegel zu haben, keine Kämme, Cremes und Kosmetik, sowie die Kleidung, die wir tragen, nicht als einmalig empfinden zu dürfen, bedeutet Kränkung und Scham.« (Marks 2010)

1.3.6Pietät wahren

Scham zu ersparen, ist Gebot der jüdisch-christlichen Tradition (Matthäus 5, 21–22). Pietät zu wahren, heißt, die Heiligkeit, die Würde jedes Menschen zu achten. In manchen konfessionell geprägten Einrichtungen gibt es noch Lautsprecher in den Zimmern, über die Gottesdienste übertragen werden. Eine »Zwangsmission«, der bettlägerige Menschen hilflos ausgeliefert sind – wie übrigens auch Musikberieselung oder Fernseher – darf es nicht geben.

Aber Hospizbewegung und Palliative Care gehen davon aus, dass jeder Mensch »spirituelle Bedürfnisse« habe und auch sein spiritueller Schmerz gestillt werden müsse. Spiritualität steht hier für das Bedürfnis nach Selbstvergessenheit, Selbstüberschreitung oder Transzendenz, sei es in den Rahmen einer Religion gefasst oder auch nicht. Einem Menschen – auch dem demenziell erkrankten oder komatösen – diese Dimension abzusprechen, hieße ihn auf die scheinbare Realität, auf seine Lebensum-stände, seinen Körper zu beschränken. Spirituelle Sorge für einen Menschen umfasst beides – die Achtung seiner Kreatürlichkeit und Vergänglichkeit als Körper, der an das Bett gebunden ist, und ebenso für sein unfassbares Selbst, das diese Gebundenheit übersteigt. Im Rahmen des Rechts auf freie Religionsausübung steht auch bettlägerigen Menschen der Besuch von Geistlichen oder Ehrenamtlichen ihrer Konfession oder Religion frei (und natürlich dessen Ablehnung). Dies muss auch für verbal nicht mehr kommunizierende Menschen gelten! Die christliche Religion kennt dabei überraschend viele Riten einer nicht verbalen Kommunikation und Begleitung wie z. B. Einzelabendmahl/Kommunion, Salbung und Segnung (Kunz 2007). Spiritualität heißt darüber hinaus auch, Raum zu schaffen für die Einbettung in etwas über die eigene enge Realität hinaus Gehendes. Dies können, auch für Atheisten, die Natur sein (vom Bett aus den Sternenhimmel sehen, dem Regen lauschen), Musik, Ästhetik und Kunst. Der spirituellen Dimension von Menschen gerecht zu werden, ist allerdings nicht allein auf den Kreis von Geistlichen, von Begleitung von außen delegierbar, sie drückt sich auch in Haltung und Achtsamkeit aller Mitarbeitenden aus, in ihrer Bereitschaft offen zu sein für die religiösen Bedürfnisse von Menschen – gleich welcher Konfession oder Religion –, für Suchbewegungen und auch Abwehr (Stockmeier/Giebel/Lubatsch 2012). »Pietät zu wahren« bedeutet, ebenso nicht mobilen, auch scheinbar bewusstlosen Menschen noch ein Wachstum nach innen zuzugestehen. Dies impliziert aber auch, dass zumindest konfessionelle Träger eine seelsorgliche Kultur im Heim fördern, dass die Kirchen – trotz Zeit- und Personalmangels, der auch hier besteht – sich gerade bettlägerigen und komatösen Menschen zuwenden. Denn sonst ist ihre Botschaft von der menschlichen Würde jenseits aller Leistung unglaubwürdig. Dies gilt natürlich ebenso für humanistische Verbände, denn die Wertschätzung des Humanen zeigt sich eben dort, wo es schutzbedürftig ist und von allen gängigen Idealvorstellungen abweicht!

1.3.7Auf der Grenze

Als die ethische Frage in der Pflege alter Menschen gilt die Anwendung oder Unterlassung parenteraler Ernährung und Flüssigkeitszufuhr. Ihre juristischen Aspekte sind an anderer Stelle in diesem Buch dargestellt (vgl. Kap. 7