Leber, Lunge, Liebeskummer - Matthias Schuberth - E-Book

Leber, Lunge, Liebeskummer E-Book

Matthias Schuberth

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Beschreibung

Wie kommt die Energie vom Müsli in die Muskeln? Und warum vergessen wir ständig, wo unser Schlüssel liegt? Unser Körper ist für uns selbstverständlich, und doch wissen wir oft nicht, wie er funktioniert. Der Tiktoker und Medizinstudent Matthias Schuberth schaut auf alltägliche Situationen und erklärt dabei, was in uns vorgeht, wenn wir lernen, Sport treiben, uns verlieben oder traurig sind. Mit Humor und kreativen Vergleichen erzählt er in kleinen Geschichten, wie großartig unser Körper ist.


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Seitenzahl: 326

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Matthias Schuberth

Leber, Lunge, Liebeskummer

1. Auflage

© 2024 Community Editions GmbH

Weyerstraße 88 – 90

50676 Köln

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger aller Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten. Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Die Inhalte dieses Buches sind von Autor und Verlag sorgfältig erwogen und geprüft, dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Eine Haftung von Autor und Verlag für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Text: © Matthias Schuberth

Redaktionelle Mitarbeit: Ariane Novel

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

Umschlaggestaltung: Kristin Glanert

Umschlagillustrationen: stock.adobe.com: © Pixel-Shot (Leber und Lunge), © Thawatchai (Herz), © LIGHTFIELDSTUDIOS (Glühlampe)

Autorenfotos: © Matthias Schuberth

Projektleitung: Mareike Neukam

Textlektorat: Dr. Matthias Auer

Illustrationen im Innenteil: © Jannes Weber

Gesetzt aus der Adobe Garamond

Gesamtherstellung: Community Editions GmbH

ISBN978-3-96096-352-3

www.community-editions.de

Vorwort

»Die Waage ist kaputt, so schwer kann er nicht sein. Wir benutzen noch mal die andere … Oh, sie hat doch funktioniert«, ziemlich genau so lief meine allererste medizinische Untersuchung ab. Das war gegen 08:00 Uhr am letzten Samstag im Februar 2000, keine 20 Minuten nachdem ich das Licht dieser Welt erblickte. Vielleicht war es genau dieser Moment, in dem meine Begeisterung für die Medizin geweckt wurde, denn sie legt als Wissenschaft zwar allgemeingültige Maßstäbe an, wird aber doch von jedem Individuum wieder auf die Probe gestellt und manchmal überrascht. Für diejenigen von euch, die mich nicht kennen: Moin, ich bin Matthias und studiere Medizin. Stopp, dann ist das hier das Buch eines Medizinstudenten, also von jemandem, der noch kein abgeschlossenes Studium hat? Stimmt! Vielleicht ist aber genau das meine Stärke, denn es ist somit noch nicht lange her, dass Medizin auch für mich noch eine Fremdsprache war.

Nach meinem gewichtigen Start ins Leben blieb ich zum Glück größtenteils von außerplanmäßigen Arzt- oder Krankenhausbesuchen verschont, wobei ich erwähnen sollte, dass ich das Klischee erfülle und beide meiner Eltern selbst Ärzte sind. Ja, sogar mein Babybett stand eine Zeit lang neben meiner Mutter im Behandlungszimmer. Für mich war schon immer klar, dass ich irgendwann mal Medizin studieren würde – nicht, weil mich irgendwer dazu drängte, ganz im Gegenteil, sondern weil ich mir nichts Schöneres vorstellen konnte. Medizin heißt nämlich, Menschen helfen, die sich selbst nicht (mehr) helfen können, vielleicht Hoffnung schenken und weitere Chancen im Leben ermöglichen.

So fing ich also im Frühjahr 2019 an, Medizin zu studieren – und seitdem habe ich so viel Spannendes gelernt. Viele Dinge hätte ich auch gerne vorher schon gewusst, und deshalb möchte ich euch heute mitnehmen auf eine Reise quer durch unseren menschlichen Körper. Viele mögen ihn als eine Art Fahrstuhl betrachten, ein Mittel zum Zweck. Er bringt uns an einen anderen Ort, ohne dass wir uns stark anstrengen müssen. Man drückt auf eine Taste, und er funktioniert – in den meisten Fällen zumindest. Solange er das tut, denken wir nicht viel darüber nach, was da wirklich passiert. Will er aber nicht so wie wir, hauen wir auf den Tasten herum und werden nervös.

Mir ist klassisches Lernen immer eher schwergefallen. Egal ob in der Bibliothek oder in den eigenen vier Wänden – sich hinzusetzen und Bücher oder Texte im Stillen zu lesen ist einfach nicht mein Ding. Ich lerne am besten, wenn jemand anderes mir etwas erzählt, zeigt oder ich etwas sehe. Zeigen oder sehen, genau das versuche ich selbst in meinen Videos auf Social Media seit 2020: medizinisches Wissen bildlich rüberbringen, Eselsbrücken bauen und spielerisches Lernen ermöglichen. Jeder Name der Akteure im Körper, jede Kulisse, jedes Outfit kann womöglich einen Lern­effekt bringen.

Und nun erzählen: Lustig, da sage ich eben noch, dass ich durch Texte lesen nie viel lernen konnte und lege euch hier ein Buch vor die Nase. Doch keine Sorge, dieses Buch besteht zwar aus vielen Wörtern auf Papier, mein Ziel war es aber, es so einfach zu schreiben, dass ihr ihm wie einem guten Gespräch folgen könnt. Ein Gespräch, bei dem ihr hoffentlich Neues lernt über das, was in eurem Körper wirklich passiert.

1. Kreisverkehr ohne Ausfahrt —

Was wirklich passiert, wenn ihr etwas Neues lernt

Ich verlasse gerade mit brummendem Kopf das Haus: Mein Vater hat mir einen ziemlich zähen Vortrag über Finanzen gehalten. Euch wird schon beim Gedanken an das Thema langweilig? Ich musste mir das eine ganze Stunde anhören: ETFs, Aktien, MSCI-World, Ausschüttungen, Banktermin da und irgendwelche Broschüren dort. Nichts, was mich gerade auf Hochtouren bringt.

Ich bemerke einen kalten Luftzug und entscheide mich, doch zur Jacke zu greifen, während die Finanzbegriffe noch in meinem Kopf Purzelbäume schlagen. Ziemlich unsensibel von meinem Vater, mich gleich mit diesen Themen zu überfallen. Ich bin gerade mitten in meiner Prüfungsphase und habe die letzten Wochen quasi überall dort verbracht, wo ich mit meinen Fachbüchern erwünscht bin. Vor allem muss ich für mein Lieblingsfach – nicht – Histologie tonnenweise bunte Organe und Gewebe auf einzelner Zellebene unter dem Mikroskop untersuchen, sodass ich schon die ganze Zeit von Zellkernen, Mitochondrien und Membranen träume. Ich frage mich, wie ich da je wieder Platz für all die anderen wichtigen Dinge in meinem Gehirn schaffen soll, gerade wenn es um so etwas wie »Zukunftsabsicherung« geht. Ich sehe ja ein, dass es wichtig ist, und fühle mich auch etwas schlecht, dass ich den Vortrag nicht ganz so wertschätzen kann, wie ich es gern würde.

Eigentlich bin ich auf dem Weg zu einem Treffen mit Tom. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen und wollten uns mal auf den neuesten Stand bringen, was während des letzten Semesters so alles passiert ist. Während mir diese Gedanken durch das Gehirn schießen, fällt mir auf, dass gerade all meine Gehirnareale beansprucht sind.

Das Gehirn ist das persönlichste Organ, das man »besitzen« kann, aber eigentlich ist es andersherum: Das Gehirn besitzt eher euch, es ist euer Präsident, der alle Lenkungs- und Leitungsfunktionen im Körper übernimmt – vom ersten bis zum letzten Atemzug. Ein Herz kann man heutzutage transplantieren, das Gehirn nicht, weil es so individuell ist wie euer eigener Fingerabdruck. Und weil es so verführerisch und faszinierend ist, sich mit dem Gehirn zu beschäftigen, möchte ich gleich am Anfang damit los­legen und zeigen, was eigentlich wirklich passiert, wenn ihr etwas Neues lernt. Und Spoiler: Nicht nur in der Schule, auch im Alltag werden euch diese Lernprozesse ein Leben lang begleiten.

Welche Lerntypen es wirklich gibt

Zuerst muss ich diejenigen von euch enttäuschen, die sich erhofft haben, dass ich den »medizinisch« besten Weg zeige, wie man etwas Neues lernt: Es gibt nicht wirklich das »effektivste« und auch kein »bestes« Lernen. Das Lernen ist eben etwas Individuelles, bei dem jeder seinen eigenen Weg finden muss. Ganz nebenbei lernt man das Lernen selbst auch nicht im Medizinstudium. Viel lieber machen sie euch deutlich, dass es gar nicht möglich ist, alles zu lernen. Immerhin muss ich im Medizinstudium nicht nur jeden Knochen, den es im menschlichen Körper gibt, auswendig lernen, sondern auch all die biochemischen Prozesse innerhalb des Körpers und in Interaktion mit seiner Umwelt. Was passiert, wenn ein Norovirus den Körper befällt, oder bei einer Blutvergiftung? Wie teste ich einzelne Hirnnerven, oder wie baue ich eine neue Hüfte ein? Und so weiter. Das alles verlangt mir Stunde um Stunde an ganz verschiedenen Lernorten ziemlich viel ab. Es gibt allerdings bestimmte Lerntypen. Je nachdem, zu welchem ihr gehört, fällt es euch leichter, auf eine gewisse Art zu lernen. Vielleicht habt ihr schon mal davon gehört, zur Erinnerung gebe ich euch aber einen kleinen Crashkurs zu den vier Lerntypen, die ein deutscher Biochemiker und Systemforscher namens Frederic Vester (1925 – 2003) geprägt und benannt hat. Tja, viel Spaß beim Lernen …

Visuelle Lerntypen lernen am besten anhand von Texten, Grafiken, Skizzen etc.Kommunikative Lerntypen lernen am besten im Austausch mit anderen, indem sie erklären, erörtern und diskutieren.Auditive Lerntypen lernen am besten durch Zuhören.Motorische Lerntypen lernen am besten, wenn ihr Tastsinn zum Einsatz kommt und sie zum Beispiel Modelle haptisch anfassen können.

Falls ihr jetzt anfangt zu überlegen, wohin ihr gehört, euch aber partout nicht entscheiden könnt: Das kann ich voll und ganz nachvollziehen. Ich dachte immer, ich sei eher der visuelle oder auditive Typ, weil ich mir schon immer gut bildlich Dinge merken konnte oder wenn Lehrer*innen in der Schule etwas erklärten. Doch ich mochte es auch immer schon gern, selbst zu erklären, wie auf TikTok. Wenn ich anderen Fakten und Abläufe nahebringen kann, lerne ich selbst sehr gut dabei. Heute denke ich, dass ich wahrscheinlich von allen Lerntypen etwas habe. Vielleicht ist das ja meine Geheimwaffe?

So ganz lassen sich die verschiedenen Lerntypen auch nicht voneinander trennen, deshalb gibt es keinen ultimativen Test, an dem ihr ablesen könnt, wie ihr idealerweise lernen solltet. Drei der vier Typen entsprechen den Sinnen, nämlich Sehen, Hören und Fühlen, das Sprechen fällt hier etwas raus. Ihr könnt selbst ausprobieren, was euch am besten liegt, und euch anschließend danach richten. Falls ihr euch aber ganz klar einem Lerntyp zuordnen könnt – Chapeau!

Bei mir gelingt es am besten, wenn ich aufmerksam zuhöre, danach Notizen verfasse, ein passendes Modell betrachte und anfasse und es anschließend anderen erkläre – oder es zumindest versuche. Wenn ich zum Beispiel komplizierte Stoffwechsel von Hormonen erklären möchte, ist es nicht so einfach, geeignetes Publikum zu finden. Für die meisten ist das so quälend wie für mich der Vortrag meines Vaters zur Finanzvorsorge …

Was wirklich passiert, wenn das Gehirn neue Dinge aufnimmt

Okay, wir starten bei Level eins: Wir nehmen über unsere Sinne Informationen aus unserer Umwelt wahr. Doch wie geht’s im Gehirn dann weiter? Wie werden diese Fakten verarbeitet? Und wie können wir dafür sorgen, dass sie auch im Gedächtnis abgespeichert werden? Klar, wir alle träumen davon, die Lernzettel unterm Kopfkissen zu verstecken oder den Zaubertrank zu inhalieren, um uns beim Lernen auch ja nicht anstrengen zu müssen. Spoiler: Das können wir jedoch nicht vermeiden. Egal, welcher Lerntyp ihr seid, egal, welche super Methode ihr für euch gefunden habt: Lernen ist anstrengend. Niemand macht das gern, wirklich nicht. Auch ich nicht. Im Nachhinein frage ich mich manchmal, wie ich an meine Noten im Abi und bis jetzt gut durchs Studium gekommen bin (wo ist Holz, auf das ich klopfen kann?). Lernen ist anstrengend, weil es Arbeit bedeutet – Arbeit für euer Gehirn. Es ist so, als würdet ihr euer Gehirn ins Gym ausführen und nach einer viel zu kurzen Runde Dehnen und Aufwärmen ein Hardcore-Trainingsprogramm absolvieren, bei dem ihr fast erbrechen müsst vor lauter Anstrengung.

Gehen wir dem mal nach. Ich denke nämlich, je besser ihr wisst, was in eurem Oberstübchen so passiert, während ihr euch quält, desto leichter wird euch das Lernen dann vielleicht doch fallen. Und übt etwas Nachsicht mit euren Gehirnmuskeln … Wenn ihr lernt, habt ihr eine neue Fähigkeit oder neues Wissen erlangt, das muss sich euer Gehirn nicht nur aneignen, es muss auch dafür sorgen, dass es im Kopf bleibt – das heißt, in unserem Gedächtnis. Das ist unsere ganz persönliche Datenbank, die Informationen abspeichert.

Das menschliche Gehirn verfügt über ein fantastisches Gedächtnis, das sich in verschiedene Typen unterteilt. Einer dieser Typen ist das deklarative Gedächtnis, das Informationen aufbewahrt, auf die wir bewusst zugreifen können. Dieses Gedächtnis ist wiederum in zwei Bereiche unterteilt. Wenn wir uns an Fakten erinnern, nutzen wir den Teil des semantischen Gedächtnisses. Wenn ich euch jetzt also frage, wie eure Mutter heißt, und ihr »Sabine« antwortet, hat euer semantisches Gedächtnis gearbeitet. Im besten Falle ist der Satz des Pythagoras dort ebenso abgespeichert wie das banale Alltagswissen, dass es nachts dunkler ist als tagsüber. Wenn ich euch aber frage, wie die letzte Geburtstagsfeier eurer Mutter so war, greift ihr auf das episodische Gedächtnis zurück, das quasi neben dem Faktengehirn liegt. All eure persönlichen Lebensereignisse, die eure eigene Biografie prägen, sind hier abgespeichert.

Es gibt neben dem deklarativen Gedächtnis noch einen anderen Typ, der eure Erinnerungen managt und etwas gröber, weniger feinsinnig unterwegs ist. Das prozedurale Gedächtnis, das auch Verhaltensgedächtnis genannt wird. Wenn ihr Informationen von diesem braucht, ruft ihr sie unbewusst ab. Klingt irgendwie komisch, oder? Denn wie können wir unbewusst unser Gedächtnis befragen? Denkt mal darüber nach, was ihr zuletzt getan habt. Habt ihr euch vielleicht ein Glas Wasser geholt? Überlegt mal: Habt ihr euch bei jedem Schritt genau überlegt, was ihr tun müsst? In etwa so: Ich gehe in die Küche zum Schrank. Ich setze einen Fuß vor den anderen. Ich hebe meinen Arm, öffne den Schrank und greife zum Wasserglas. Ich nehme das Wasserglas heraus und gehe zum Spülbecken. Ich benutze den Wasserhahn und platziere das Glas unter dem Wasserstrahl. Ich warte, bis das Glas voll ist. Ich drehe den Wasserhahn zu, führe das Glas zu meinem Mund, kippe es und lasse die Flüssigkeit in meinen Mund hineinlaufen.

Denkt ihr jetzt, dass das doch komplett bekloppt ist? Ja, ich auch, und mein Gedächtnis erst recht. Das alles läuft nämlich auf unbewusster Ebene ab. Ihr könnt es ja beim nächsten Mal, wenn ihr euch ein Glas Wasser holt, ausprobieren – oder gleich jetzt, wir trinken doch eh alle viel zu wenig. Ich bin mir sicher, euer Gedächtnis wird euch so was von auslachen!

Das liegt daran, dass dieser Typ, wie gesagt, wenig feinsinnig ist und schon gar nicht gern spricht. Die Inhalte in diesem Teil des Gedächtnisses werden nicht sprachlich verarbeitet und entsprechend in Bewegungsabläufen und nicht in Form von Sprache abgerufen. Dazu gehört übrigens auch das Sprechen an sich: Das, was aus dem Mund rauskommt, entspringt dem deklarativen Gedächtnis und greift auf euer Faktenwissen oder eure persönlichen Erfahrungen zurück. Wie genau ihr das aber tut, ist im Verhaltensgedächtnis angelegt, das euch die Bewegung des Mundes für die Erzeugung der Laute vorgibt, ohne dass ihr darüber nachdenken müsst. Vielleicht verwechseln die einen oder anderen trotzdem manchmal die Wege und denken auch über das, was sie von sich geben, nicht groß nach …

Das Gedächtnis hat auch einen Typ, der immer auf die Uhr schaut, hier geht es um die zeitliche Komponente. Aber was erzähle ich euch, vermutlich kennt ihr das nur zu gut: In einem Moment wollt ihr etwas tun, und im nächsten habt ihr es schon wieder komplett vergessen. Da war doch was … Ich soll euch ganz liebe Grüße vom sensorischen Gedächtnis ausrichten. Mit einem Speicher von gerade mal wenigen Hundert Millisekunden nimmt dieser Kollege praktisch alle Sinneswahrnehmungen auf, bevor er entscheidet, ob die Wahrnehmung so wichtig ist, dass sie ins primäre Gedächtnis hinüberwandern darf. Das sensorische Gedächtnis ist unser hauseigener Kurator, der darüber entscheidet, welche Gemälde oder Exponate in die Sammlung aufgenommen werden. Mit ständigem Blick auf seine Uhr wählt er aus, welche der Wahrnehmungen so wertvoll sind, um sie weiterzuverarbeiten und in unserem internen Museum auszustellen.

Vielleicht habt ihr schon einmal etwas über Autismus gehört oder eine Serie beziehungsweise einen Film mit einer autistischen Person gesehen. Autismus beschreibt eine Entwicklungsstörung, die vor allem die soziale Interaktion und Kommunikation betrifft. Einige Menschen im Autismus-Spektrum haben sich wiederholende und unflexible Verhaltensmuster oder Interessen. Man spricht von einem Spektrum, weil der Autismus stark oder weniger stark ausgeprägt sein und die Beeinträchtigung durch Betroffene unterschiedlich wahrgenommen werden kann.

Ein zentraler Aspekt dieser Entwicklungsstörung ist die Reizüberflutung. Diese kennen wir alle ab und an. Unser hauseigener Kurator, das sensorische Gedächtnis, erfüllt bei Menschen aus dem Autismus-Spektrum die Anforderungen seines Stellenprofils allerdings nicht besonders gut. Er kann zwar viel, aber auswählen und sich entscheiden gehören nicht gerade zu seinen Kernkompetenzen. Das führt dazu, dass er einfach alles reinlässt, was um diese Menschen herum passiert, und die Betroffenen deshalb unter einer extremen Reizüberflutung leiden können. Während ihr also in aller Seelenruhe dieses Buch lest, blendet ihr wahrscheinlich gerade das Surren der Heizung, das Poltern aus dem Treppenhaus oder die Farbe eurer Couch aus. Euer Kurator weiß, was zu tun ist, und lenkt eure Aufmerksamkeit ganz auf dieses Buch (merci an der Stelle, gut gemacht!). Theoretisch nehmt ihr all das wahr, aber weil euer sensorisches Gedächtnis es als nicht wichtig deklariert für euer internes Museum, wird es wieder rausgeschmissen beziehungsweise nicht weiter verbalisiert. Und schwupp, weg ist es. Es scheint so, dass bei Autist*innen diese Filterfunktion fehlt, da der Kurator, wie gesagt, nicht zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden kann. Der Effekt ist eine dauerhafte Befeuerung mit Sinnesein­drücken. Das ist kein Dauerzustand, sondern zeigt sich vor allem in Überforderungssituationen.

Ihr könnt es hier stark vereinfacht mal selbst testen: Lest diesen Text im Kasten noch einmal und befreit euren Kurator von seinen Aufgaben. Achtet währenddessen auf alles um euch herum: die Farbe eures Sofas oder Stuhls, auf dem ihr gerade sitzt, und die ihr aus dem Augenwinkel heraus erkennen könnt, die Geräusche aus der Umgebung – fasst dabei jeden einzelnen Sinneseindruck in Worte.

Na, leicht überfordert?

Sobald unser Kurator die Eindrücke ausgewählt hat, die als Exponate in unser Gedächtnismuseum aufgenommen werden sollen, werden sie zur weiteren Erfassung ins primäre Gedächtnis verschickt, das auch Kurzzeitgedächtnis genannt wird. Was denkt ihr, wie groß die Kapazitäten dieses Teils des Gedächtnisses sind?

Okay, ich löse auf: Es umfasst etwa sieben – plus minus zwei – Informationseinheiten, die für zwanzig bis dreißig Sekunden bewusst aufbewahrt werden und auf die ihr schnell zugreifen könnt. Erinnert ihr euch, dass ich, als ich das Haus verließ, die Jacke übergezogen habe, weil ich einen kalten Luftzug verspürte? Mein sensorisches Gehirn hat registriert: kalt, kälter als erwartet. Mein Kurator hat diese Info dem Kurzzeitgedächtnis übermittelt, um mich handlungsfähig zu machen: Das Verhaltensgedächtnis gibt mir die Anweisung, den Arm auszustrecken und nach der Jacke zu greifen, die an der Garderobe hängt.

Was passiert aber mit Informationen, die ihr länger im Gedächtnis behalten möchtet, weil ihr sie für eure Abi-Klausuren oder Prüfungen im Studium benötigt? Oder weil ihr einen Job habt, bei dem ihr euch neue Abläufe merken müsst? Oder ihr möchtet einfach eure Freund*innen beeindrucken und ihnen auf der nächsten Party möglichst viele random Fun Facts erzählen? Hier kommt das Langzeitgedächtnis ins Spiel, das sekundäre Gedächtnis.

Dein Körper bewertet alle Informationen und registriert ganz genau, welche für uns wichtig sind. Wenn wir uns freuen, ängstlich sind, neugierig oder uns ärgern, vermitteln wir damit unserem ­Gedächtnis: Schau genau hin, das hier ist gerade wichtig. Über die damit verbundenen Gefühle erreichen die Infos das nächste Level. Und mit lang meine ich hier: ein paar wenige Minuten. Kein Wunder also, dass unser primäres Gedächtnis nur eine halbe Minute durchhält … Das Langzeitgedächtnis hat aber einen riesigen Speicher und kann über Minuten bis Jahre Erinnerungen abspeichern. Das funktioniert so: Wenn eine ausgewählte Information es über das sensorische in euer Kurzzeitgedächtnis geschafft hat, dann ist die Chance groß, dass es auf eure Festplatte geladen wird. Das Endziel ist jetzt, diese Info in euer Langzeitgedächtnis, und zwar in einen besonderen Teil eures Langzeitgedächtnisses, zu bugsieren, damit ihr es von dort aus schneller abrufen könnt (dazu kommen wir gleich).

Warum erinnert man sich eher an das, was zuerst oder zuletzt gesagt wurde? Irgendwie ist es doch so, dass das, was in der Mitte ist, überhaupt nicht relevant ist. Ungefähr so wie das mittlere Sandwichkind, das in Familien gern mal so mitläuft.

Das liegt an den folgenden Effekten:

Primacy-Effekt: Für die erste Information ist es am einfachsten, den Weg ins Langzeitgedächtnis zu finden – zu dem Zeitpunkt ist es noch »leer« und sie wird eher nicht mit anderen Informationen vermischt.Recency-Effekt: Wenn die letzte Information nicht durch weitere Informationen überschrieben wird, kann sie länger im Gedächtnis bleiben.

Also, falls ihr euch wundert, warum das Buch mega­stark anfängt und supergut endet: Ich setze einfach auf den Primacy- und Recency-Effekt. Wird schon gut gehen …

Wenn ein Wort auf euren Lippen liegt, das ihr irgendwann einmal im Langzeitgedächtnis abgespeichert habt, dann habt etwas Geduld mit eurem Hochleistungsprozessor – er arbeitet im Hintergrund, auch wenn es sich gerade nicht so anfühlt. Und plötzlich taucht es dann auf, wie aus dem Nichts, weil es seinen Weg ins Kurzzeitgedächtnis zurück gefunden hat. Da muss das Wort nämlich hin, damit ihr es aussprechen könnt. Jetzt vermögt ihr wieder darauf zugreifen.

Es gibt aber auch manche Informationen, die schießen aus euch heraus. Da muss nur ein Triggerwort genannt werden, und ihr könnt ganze Vorträge halten. Hinter dieser Glanzleistung steckt das tertiäre Gedächtnis – hier ist alles mehr oder weniger lebenslang aufbewahrt, was ihr intensiv gelernt habt und immer wieder aufruft. Wenn ihr also für euren Job ein bestimmtes ­Computerprogramm bedienen müsst, mit dem ihr jeden Tag arbeitet, wird es sich einspeisen. Und weil unser Gehirn kurze Wege mag, hat es eine fette Autobahn zu dieser Art von Informationen gebaut, damit ihr immer einen superschnellen Zugriff darauf habt.

Ihr seht: Unser Ziel ist also das tertiäre Gedächtnis, der eben erwähnte besondere Teil des Langzeitgedächtnisses. Aber das heißt auch, dass ihr wirklich viele Levels überwinden müsst, bis ihr diese Bonusebene erreicht. Und dafür müsst ihr leider lernen, lernen, lernen – genauer: wiederholen, wiederholen, wiederholen. Immer wieder die Infos aus dem sekundären Gedächtnis ins primäre Gedächtnis holen und sie dort wieder und wieder ablegen. Wie eine endlose Schleife, bis die Information irgendwann in das tertiäre Gedächtnis gelangen kann.

Schon einmal davon gehört?

So, dann schauen wir uns doch eine solche Schleife an und verfolgen ganz genau den Weg, wie eine neue Information in euer Gedächtnis gelangt. Solltet ihr (Hobby-)Handwerker*in sein oder schon einmal das Vergnügen gehabt haben, ein Bad zu renovieren, wird es jetzt leider so semi interessant für euch – tut mir leid. Für alle anderen: Es geht um das Ding, den Hebel am Waschbecken, mit dem man die Wasserstärke und -wärme am Wasserhahn regulieren kann. Wir wollen jetzt gemeinsam lernen, wie dieses Ding fachlich korrekt heißt: Einhandmischer.

Geht mal in euer Bad und macht das Wasser an, dann seht, hört und fühlt ihr, worum es geht. Das erste Level haben wir geschafft: Wir haben verschiedene Sinneskanäle mit dieser neuen Information gefüttert, die wir uns merken wollen. Eure Augen haben die Struktur des Einhandmischers erkannt, eure Hände haben ihn haptisch erfasst, eure Ohren das Rauschen des Wassers aus ihm heraus wahrgenommen. Und auch hier im Buch haben eure Augen die Buchstaben zu einem Wort zusammengefügt. Eure Ohren wiederum dürfen den Klang des Wortes hören, wenn ihr es einmal laut vorlest.

Die Information »Einhandmischer« jagt nun über eure Nerven – die Informationsautobahn – weiter im Kopf und erreicht das zweite Level. Wisst ihr, wie schnell diese Datei jetzt hochgeladen wird? Mit einer Geschwindigkeit von 1 Gigabit pro Sekunde. Das heißt, es werden 1 Milliarde Bits pro Sekunde durch euer neuronales Netz im Gehirn gejagt – und diese Skills können sich durchaus messen lassen, sie jagen in (zugegeben schlechter) Glasfaserqualität durch euren Kopf (1 Gigabit/s bis 100 Gigabit/s). Das heißt trotzdem: Euer Gehirn ist besser abgedeckt als so manche Regionen in Deutschland …

Jetzt habt ihr es für einen Bruchteil einer Sekunde ins sensorische Gedächtnis geuploadet. Was nun passiert: Die wichtigsten Informationen werden gefiltert und in Worte gefasst – an der Stelle entsteht der berühmte Gedanke in eurem Kopf. Euch ist völlig klar, dass die Information »Einhandmischer« ein zentraler Aspekt eurer täglichen Hygiene ist und ihr nicht vergessen solltet, wie das Ding heißt, womit ihr das Wasser ganz nach euren Bedürfnissen regulieren könnt. Weil euer Körper darauf reagiert, findet »Einhandmischer« die nächste Abzweigung auf der Informationsautobahn – die wir ab jetzt IAB nennen – Richtung primäres Gedächtnis. Da die Info im Kurzzeitgedächtnis angekommen ist, könnt ihr mir nun aktiv sagen, wie das Teil heißt, mit dem wir Wasserstärke und -wärme einstellen können: Einhandmischer. Sprecht es noch mal laut aus.

Okay, damit haben wir das dritte Level erreicht. Glückwunsch! Aber ich muss euch gleich enttäuschen – nur weil ihr es wahrgenommen habt, das Wort nun kennt und im besten Fall ausgesprochen habt, heißt das nicht, dass ihr es jetzt schon verinnerlicht habt. Ab jetzt beginnt die wahre Arbeit: wiederholen, wiederholen, wiederholen. Am besten, ihr schreibt das Wort einmal auf und sprecht es zweimal laut aus. Damit gebt ihr dem Wort die Chance, auf der IAB die Abfahrt »Langzeitgedächtnis« zu finden. Momentan steckt es noch im Kreisverkehr. Es dreht Runde um Runde um Runde, ohne dass sich eine Ausfahrt auftut. Und das liegt nicht daran, dass es blind ist, nein, sie existiert noch gar nicht. Dieser Kreisverkehr hat auch einen Namen: Papez-Neuronenkreis. Verschiedene Bereiche des Gehirns bilden diesen Nervenkreis, und das ständige Wiederholen entspricht der kreisenden Bewegung.

Schreibt das Wort noch einmal auf und sprecht es zweimal laut aus. Sobald ihr diesen Kreisverkehr oft genug umrundet habt – und keine Angst, ihr macht euch dabei nicht zum Affen, es geht uns allen so, dass wir zuweilen im Kreisverkehr stecken bleiben –, öffnet sich das Tor nach Narnia … äh zum Langzeitgedächtnis. Das Wort biegt ab und gelangt in einen Stadtteil des deklarativen Gedächtnisses (ihr erinnert euch, der Teil, in dem alles in Worten abge­speichert wird). Ganz konkret: Es erreicht die Faktenwissen-Straße.

Weil der Weg ganz schön gedauert hat, werdet ihr auch am nächsten Tag noch eine Weile brauchen, bis ihr auf das Wort kommt. Es wohnt noch am Ende der Faktenwissen-Straße. Da der Wohnungsmarkt aber relativ entspannt ist (die Glücklichen!), hat es immer die Möglichkeit, umzuziehen. Wenn ihr euch immer wieder auf den Weg zum »Einhandmischer« macht, der noch am Ende der Straße wohnt, wird er früher oder später einige Häuser vorrücken – und damit in den Premiumbereich der Straße ziehen. Jetzt ist der »Einhandmischer« im tertiären Gedächtnis angekommen und wohnt direkt neben deiner Körpergröße und dem Namen deiner Mutter. Easy, oder?!

Wir haben im Rahmen eines »Bottom-up-Prozesses« gelernt, und unser Gehirn hat anhand eines äußeren Reizes eine mentale Repräsentation geformt. Der »Top-down-Prozess« verläuft andersherum: Das Gehirn ergänxt fehlxxde Informaxxxnen. Den Text können wir trotzdxx gut lxsen.

Vielleicht kennt ihr folgende Situation: Ihr liegt nachts im Halbschlaf und kriegt im Dämmerzustand mit, dass wie wild Begriffe herumkreisen, denen ihr tagsüber begegnet seid. So erging es mir zumindest während meiner Prüfungsphase. Irgendwelche ­Mitochondrien, die sich in Zellkerne verliebt haben, die aber schließlich von ihnen geghostet wurden. Nicht gerade Albträume, aber ich kenne deutlich süßere Träume … Ihr habt das Gefühl, es endet nie. Das ist genau dieser Lernprozess und zeigt, wie aktiv euer Gehirn ist und wie krass es arbeitet, während ihr euch ein paar Stunden Ruhe gönnen dürft. Aber weil so ein Kreisverkehr ohne Ausfahrt auch kein Ende hat, könnt ihr euch immer weiter hineinsteigern, und das ist echt zermürbend!

Wenn also Informationen auf der Autobahn von einem Nerv auf den nächsten übertragen werden und euer Körper feststellt, dass etwas Wichtiges auf bestimmten IABs unterwegs ist, sorgt er dort für eine gute Infrastruktur und stellt stärkere Motoren für die Vehikel zur Verfügung. Die Information »Einhandmischer« zum Beispiel nimmt nämlich stets die gleiche IAB. Neurobiologisch gesprochen: Für die Informationsübertragung zwischen den Nerven sind zwei Rezeptoren wichtig – die NMDA- und AMPA-Rezeptoren. Sie werden vom Transmitter Glutamat unterstützt, das Kanäle öffnet. Gemeinsam sorgen sie dann für die Verstärkung der viel benutzten Autobahnen. (Aber diese Fachausdrücke sind nur für diejenigen von euch relevant, die Lust haben, gleich noch mehr neue Begriffe zu lernen.)

Was bedeutet das für uns? Es gibt keine Pille, die euch das Lernen abnimmt. Je häufiger ihr etwas übt, desto besser werdet ihr darin. Es tut mir leid, es so deutlich sagen zu müssen, aber ich bin nur derjenige, der euch das ausrichten soll …

So krass ist euer Körper

Warum mutet der Rückweg immer kürzer an als der Hinweg? Auf dem Hinweg verarbeitet das Gehirn sehr viele neue Eindrücke, auf die es auf dem Rückweg ganz einfach zugreifen kann. Was bedeutet das für uns? Zeit ist relativ. Gut, das wusste schon Albert Einstein, das ist jetzt keine besondere Sache. Aber stellt euch das mal vor: Wenn euer Gehirn immer weniger arbeiten muss, weil es so viel schon kennt, dann vergeht die Zeit schneller. Ziemlicher Mindfuck, oder?

2. Die Reise aus der Nebenniere -

Was wirklich passiert, wenn ihr Stress habt

Mein sehr persönliches Problem ist ja, dass ich wirklich schlecht Nein sagen kann. Ich lebe ganz nach dem Motto: Man kann nicht auf allen Hochzeiten tanzen, aber man kann es zumindest ver­suchen. Und so sehen auch gerade meine Tage aus. Tagsüber lerne ich für meine Prüfungen, die mit jeder Sekunde näher rücken, was mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen lässt. Am Wochen­ende bin ich zum Geburtstag meiner guten Freundin ­Leonie eingeladen, für die ich noch ein Geschenk brauche, worüber ich mir in meinen Lernpausen den Kopf zerbreche. Ein Gutschein? Das ist langweilig. Vielleicht doch eine weitere Zimmerpflanze für ihre sehr eigenwillige Sammlung? Aber wo kriege ich die jetzt her? Ihren grünen Daumen hätte ich jedenfalls gern … Am Abend besuche ich noch Grethe und Ted. Und natürlich bin ich im Dauerkontakt mit Tom, der mir bei unserem letzten Treffen von seinem neuesten Crush erzählt hat: Lilli. Er kann also gerade wirklich ­einen guten Freund gebrauchen. Und deshalb treffe ich auch ihn am Wochenende, obwohl ich eigentlich gerade viel zu viel um die Ohren habe.

Was mir natürlich bei dem vollen Programm gar nicht hilft, ist mein zweites Prinzip, nach dem ich lebe: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe ruhig auf morgen. Denn was du heute kannst erleben, kann dir morgen keiner geben. Und was ist die Folge davon? Genau: Ich denke mir beim Lernen – ach, einmal mit Philipp beim Unisport vorbeizuschauen, das schadet doch nicht. Die Zimmerpflanze besorgen? Vielleicht kommt mir über Nacht die Eingebung, wo ich die herbekomme. Morgen ist ja auch noch ein Tag.

Das Problem dabei ist – ihr ahnt es vielleicht schon –, dass der nächste Tag kommt, und zwar schon am nächsten Tag. Und das Einzige, was passiert, ist dann, dass wir Stress haben. Und bei all dem soll ich auch noch entscheiden, was ich morgens anziehen soll!

Was ist Stress überhaupt?

Okay, wir alle sind ab und an gestresst. Das gehört zu unserem Leben dazu, da bilde ich bestimmt keine Ausnahme. Aber letztlich braucht es gar nicht viel, um in Stress zu geraten. Also schauen wir uns mal genau an, was im Körper passiert, wenn Stresssignale gesendet werden. Bei diesem Thema berührt die Medizin die Psychologie, und wir unternehmen daher einen kleinen Abstecher ins Psychologische, aber unser Hauptaugenmerk wird nach wie vor auf den Geschehnissen im Körper liegen. Auch Ängste können für Stress eine Rolle spielen.

Diese Situation kommt euch vielleicht bekannt vor: Ihr seid gestresst, weil ihr morgens den Bus verpasst habt. Davor seid ihr natürlich zum Bus gerannt in der Hoffnung, ihn noch zu erwischen, nur um dann zu sehen, dass er vor eurer Nase davondüst. Na toll. Ihr könnt gestresst sein, wenn euch das passiert, müsst es aber nicht. Weitere Faktoren spielen nämlich in das Ganze mit hinein. So ist das auch, wenn ihr euch auf eine Prüfung vorbereiten müsst. Für manche bedeuten Prüfungen einen Antrieb, sich selbst zu beweisen, für andere puren Stress, gerade wenn sie schon sehr viel früher hätten beginnen sollen, sich auf sie vorzubereiten (hier spreche ich aus Erfahrung). Andere wiederum können sich beim Shoppen einfach nicht für ein T-Shirt entscheiden: das grüne? Oder lieber in der Lieblingsfarbe? Aber davon habe ich doch schon so viele. Also doch lieber gar keins?

Vielleicht denkt ihr euch jetzt: Naaa ja, sich für ein T-Shirt zu entscheiden ist doch etwas anderes, als kurz vor knapp eine Prüfung vorzubereiten. Der Ausdruck »Kurz vor knapp« ist ein hervorragendes Beispiel für einen weiteren Faktor für die Entstehung von Stress. Dieser Faktor ist die Zeit. Bei der Prüfungsvorbereitung dürfte es uns allen klar sein. Den Bus zu verpassen kann allerdings einfach nervig sein, weil ihr lieber um neun Uhr im Laden sein wolltet, statt eine halbe Stunde später, wie es nun der Fall sein wird. Es kann aber auch äußerst stressig sein, wenn ihr erst um neun Uhr dreißig am Prüfungsraum ankommt, obwohl ihr doch schon um neun Uhr fünfzehn hättet da sein müssen. Und ebenso beim Shoppen des T-Shirts. Ein Shirt auszuwählen ist per se zwar nicht gerade stressig, wenn ihr aber durch euer ewiges Hin und Her vielleicht euren Bus verpassen könntet, der euch pünktlich nach Hause bringt, dann entsteht bei euch sehr wohl Stress.

Grundsätzlich wird zwischen Eustress (positivem Stress) und Disstress (negativem Stress) unterschieden. Wie kann Stress positiv sein, mögt ihr vielleicht denken, aber kennt ihr das, wenn ihr im Flow seid, weil ihr euch mit etwas beschäftigt, das euch Spaß macht? Und dennoch eine Deadline am Horizont steht? Ihr habt durchweg das Gefühl, den Anforderungen gerecht zu werden. Das heißt, ihr habt zwar Stress, aber der Stress fühlt sich gut an. Vielleicht treibt er euch zur Hochleistung an, zumindest fühlt er sich nicht schlecht an.

Bei negativem Stress hingegen habt ihr das Gefühl, niemals die Anforderungen erfüllen zu können. Ihr habt also eine Deadline vor Augen, aber nicht das Gefühl, es zu schaffen. Im Gegenteil, ihr seid konstant mit dem Gedanken beschäftigt, dass ihr das niemals, niemals schaffen werdet.

Sofort springt die Gedankenspirale an: Ich schaffe das nicht, wie soll ich auch? Die Prüfung kann ich vergessen, das ist einfach viel zu viel. Wenn ich die Prüfung verhaue, verhaue ich damit den ganzen Kurs. Kann ich ihn wiederholen? Werde ich überhaupt zugelassen oder direkt rausgeworfen, weil ich zu schlecht bin? Was werden meine Freunde und Familie sagen? Ihr merkt schon, worauf ich hinauswill: In diesem Moment denkt euer Gehirn das Schlimmste, und der Auslöser dafür ist Stress. Aber wie ihr mit Stress umgeht, ist sehr individuell. Wenn ihr eher anfällig für Stress seid, habt ihr bestimmt diese*n eine*n Freund*in, der*die immer tiefenentspannt wirkt, egal, ob gerade die Welt untergeht oder nicht. Während ihr schon dabei seid, alles an den Nagel zu hängen.

Aber so individuell der Umgang mit negativem Stress auch ist, so griffig ist doch die Definition davon: Stress entsteht aus einem Ungleichgewicht zwischen äußeren Anforderungen (Stressoren) und persönlichen Bewältigungsmechanismen. Stress ist also eine Einstellungssache. Damit möchte ich in keiner Form sagen, dass ihr euch nicht so anstellen und einfach eure Einstellung ändern sollt. Schön wäre es ja, wenn die Aussage »Stress dich nicht« so einfach funktionieren würde. Aber so ist das natürlich nicht. Genauso ist es auch, wenn ihr Ängste habt: Nur, weil euch eine außenstehende Person sagt, dass ihr doch keine Angst zu haben braucht, verschwindet sie ja nicht automatisch – zack, weg! Wäre super, aber wir Menschen ticken eindeutig komplizierter …

Das ist vielmehr die Erklärung für unterschiedliche Stressanfällig­keiten und warum ihr auf dieselbe Situation anders reagiert als eure Freund*innen: Ihr habt unterschiedliche Bewältigungsmöglichkeiten. Das bedeutet, dass ihr Wissen, wie sie auf eine Situation reagieren sollen, einfach besser oder stärker ausgeprägt ist als bei euch in dem Moment. Die gute Nachricht an der Stelle ist: Wir alle können lernen, unsere Bewältigungsmöglichkeiten zu verbessern – natürlich nicht bei allem, aber in Maßen ist das durchaus möglich. Zum Beispiel, wenn ihr einen Vortrag vor eurer Klasse, im Studium oder bei der Arbeit halten sollt.

Beim ersten Mal ist das Problem – die äußere Anforderung – neu. Das bedeutet für euer Gehirn und euren Körper, dass sie noch nicht wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Erst im Nachhinein, wenn ihr also den Vortrag gehalten habt und keiner gelacht oder dumme Fragen (die es bekanntlich ja nicht gibt) gestellt hat, ihr im Idealfall sogar eine ordentliche Portion Applaus bekommen habt, registriert euer Gehirn: Aha, wir haben diese Situation überlebt. Und zwar buchstäblich. Das ist wichtig, weil Körper und Gehirn besser wissen, wie sie reagieren sollen, wenn ihr mal wieder einen Vortrag halten sollt. Jede neue Erfahrung bedeutet für euren Körper und euer Gehirn Stress. Erst wenn ihr abgespeichert habt, dass die Welt davon nicht untergeht und sich sogar – egal, wie es ausgeht – munter weiterdreht, könnt ihr besser damit umgehen.

Doch so läuft das leider nicht immer ab, weil sich eine Situation zwar wiederholen kann, aber unvorhersehbare und abgewandelte Momente auftreten können. Stress und Angst reichen sich häufig die Hand, was zur Folge hat, dass wir zwar meinen, gestresst zu sein, in Wahrheit aber mehr Angst davor haben, die Situation oder das Problem nicht bewältigen zu können. Das bedeutet für unseren nächsten Vortrag: Es stresst uns trotzdem wieder, wenn wir ihn halten müssen, aber Angst verbinden wir damit eher nicht mehr. Angst führt stets zu Stress, aber Stress nicht unbedingt zu Angst.

Jetzt haben wir uns aber genug mit der Psychologie des Stresses auseinandergesetzt, gehen wir also mal eine solche Situation durch und schauen uns an, was wirklich im Körper passiert, wenn er Stress ausgesetzt ist.

Grundsätzlich gilt: Was bei Stress in eurem Körper passiert, ist natürlich, also im Prinzip gut und hat im biologischen Sinn wenig mit Leiden zu tun, auch wenn sich das vielleicht anders anfühlt. Stress ist der Mechanismus, der greift, wenn ihr euch auf eine neue Situation einstellen müsst.

Was wirklich in eurem Körper ­passiert, wenn er ­gestresst ist

Alles beginnt mit einer Miniwahrnehmung: Ich wache auf und schaue auf die Uhr. Oh nein! Wieso ist es schon sieben Uhr? Den Wecker habe ich doch auf sechs Uhr dreißig gestellt! Ich muss das Klingeln überhört haben … Als Nächstes werfe ich einen Blick auf mein Smartphone, um meine Zugverbindung zu checken. Die halbe Stunde kann ich noch locker aufholen, das macht nichts, beruhige ich mich selbst. Ich werde es noch pünktlich zum Bahnhof schaffen. Ich aktualisiere die Seite, und schon ploppt, wie sollte es anders sein, die nächste Hiobsbotschaft auf: Meine Bahn hat Verspätung. Ich habe meine Verbindung allerdings so getimt, dass ich pünktlich zum Treffen mit Tom in der Stadt bin, damit er nicht auf mich warten muss. Und eigentlich hatte ich auch etwas Puffer eingerechnet, aber der ist jetzt futsch …

Ich renne schnell in die Küche, werfe den Wasserkocher an, mache mir rasch ein Müsli und ziehe die gleiche Jeans wie gestern und das nächstbeste T-Shirt über. Okay, beim Outfit hätte ich mir ein wenig mehr Mühe geben können, aber ich habe schließlich keine Zeit, und Tom wird es mir schon nicht übel nehmen, falls ihm überhaupt etwas auffällt.

Während ich also in den Stressmodus verfalle und das Gefühl habe, keinen klaren Gedanken fassen zu können, ist mein Zwischenhirn bereits aktiviert. Dieser Teil des Gehirns befindet sich an der Unterkante des Großhirns, und darin sitzen fünf äußerst wichtige Mitarbeitende, die wir alle im Laufe dieses Buches ­genauer kennenlernen werden: Thalamus, Hypothalamus, Meta­thalamus, Epithalamus und Subthalamus. Sie nehmen alle Informationen auf, die gerade auf mich einprasseln: Mist, verschlafen. Oh nein, Zug hat Verspätung. Ich bin hungrig, muss etwas essen. Ich brauche einen schwarzen Tee, denn wer mag schon Kaffee. Und was zur Hölle ziehe ich an? All diese Informationen werden umgehend an die Chefetage weitergeleitet, das Großhirn. Und das lässt sich natürlich liebend gern von meinem Stress anstecken. Also drückt es den Knopf für: »Alarm! Stress! Wir müssen rasch reagieren!« Und weil das der Großalarm ist, verlassen alle rasch die Betten und werden aktiv. Währenddessen wird der Hypo­thalamus vom Chef beauftragt, den Körper für den Kampf vorzubereiten.

Den Hypothalamus könnt ihr euch als Innenminister eures Körpers vorstellen. Er verwaltet, wie ihr im Laufe des Buches merken werdet, enorm viele Abläufe in eurem Körper. Es lohnt sich also, euch seinen Namen zu merken. Als erste Amtshandlung an diesem Tag schickt er, beflügelt durch diesen wichtigen Auftrag, einen Boten los, ein Hormon, das dem übrigen Körper die Nachricht »Stress« überbringen soll. Der Empfänger ist eine kleine Drüse namens Hirnanhangsdrüse mit folgender Postanschrift: Hinter-den-Augen-mittig-zwischen-den-Ohren-Straße in 27499 Unterseite des Gehirns.

Eure Chefetage hat aber nicht nur den Hypothalamus beauftragt. Nein, dafür ist diese Nachricht viel zu wichtig! Wie wir später feststellen werden, hat das Großhirn heimlich auch eine direkte Nachricht an jemanden versendet, ohne die öffentlichen Kanäle zu nutzen …