Legasthenie und andere Wahrnehmungsstörungen - Mechthild Firnhaber - E-Book

Legasthenie und andere Wahrnehmungsstörungen E-Book

Mechthild Firnhaber

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mechthild Firnhabers langjähriger Bestseller zum Thema Legasthenie vermittelt Hoffnung, macht Mut und befreit Eltern von Schuldgefühlen. Der Bericht einer Mutter, die ihre Kinder vor der Sonderschule und einer überlebensfeindlichen Situation bewahren konnte, enthält neben Hilfen für Eltern, Pädagogen und Therapeuten auch wissenschaftliche Forschungsergebnisse mit dem Schwerpunkt Früherkennung und sprachliche Entwicklung. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 368

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mechthild Firnhaber

Legasthenie und andere Wahrnehmungsstörungen

Wie Eltern und Lehrer Risiken frühzeitig erkennen und helfen können

FISCHER E-Books

 

Unter Mitarbeit von Dietrich Firnhaber und Heidi Rupp

Inhalt

Mein besonderer Dank gilt [...]Einführung Die Leiden des jungen D. oder: Ein Drama in unzähligen Akten mit unerwartet gutem AusgangStatt eines Vorwortes: Eine Bestandsaufnahme im Jahre 2005Teil I: Theorie1. Unsere Kinder sind Legastheniker!2. Legasthenie – was ist das?1. Unterscheidungsmerkmale der verschiedenen Lese-Rechtschreib-Schwächen2. Mögliche Folgen einer Legasthenie3. Legasthenie und die Ergebnisse der modernen Hirnforschung4. Einführung in die nachfolgenden Berichte1. Seine Füße schienen nicht zum Laufen gedacht zu sein Über den Leidensweg eines Kindes mit sensomotorischen Integrationsstörungen2. Die Alarmglocken im Herzen der Großmama …5. Ein Kapitel über Wahrnehmungen, über Wahrnehmungs- und Entwicklungsstörungen und ihre Folgen1. Erworbene Wahrnehmungsstörungen2. Vorbemerkungen zu möglichen Wahrnehmungsstörungen bei Legasthenikern3. Was ist Wahrnehmung?4. Um welche Wahrnehmungs- bzw. Sinnesbereiche kann es sich bei den Legasthenikern handeln?5. Was kann passieren?6. Wie können die einzelnen Störungen aussehen oder sich bemerkbar machen?7. Folgen der Entwicklungsdefizite und der Legasthenie8. Abhilfe für die psychischen und psychosomatischen Probleme9. Literatur6. Auffälligkeiten bei Risikokindern in den verschiedenen Altersstufen1. Auffälligkeiten als Säugling und Kleinkind2. Auffälligkeiten im Kindergarten3. Auffälligkeiten im Vorschulalter4. Auffälligkeiten im Schulalter5. Checkliste für Lehrer über Auffälligkeiten in den ersten Schuljahren beim Risikokind6. Überweisungen zur Therapie7. Literatur8. Dietrich Firnhaber: Mein Schulweg (1995)7. Frühwarnsignale und die Bedeutung einer Entwicklungsverzögerung im sprachlichen Bereich8. Was Eltern und Pädagogen über Legasthenie unbedingt wissen solltenWie äußert sich Legasthenie in der Schule?Legasthenie-ErlasseZu welchem Zeitpunkt kann sich eine Legasthenie bemerkbar machen?Dokumente zum Verlauf einer schweren Legasthenie9. Der Zappelphilipp oder Die Hyperaktivität – leider oft ein zusätzliches Problem10. Hochbegabte Legastheniker – Chance oder Unglück?11. Die Fremdsprachenlegasthenie1. Der Legastheniker und die Fremdsprachen2. Wie äußert sich eine Fremdsprachenlegasthenie?3. Legastheniebedingte Fehler am Beispiel der englischen Sprache12. Die Rechenschwäche (Dyskalkulie) Erscheinungsformen – Erklärungsversuch1. Ursachen der Rechenschwäche2. Beschreibung der Teilleistungsschwäche (Dyskalkulie) des Gehirns bei normaler Intelligenz3. Literatur13. Die wundersame Geschichte von W. oder Dieses Kind muss leben!Teil II: Praxis14. Wie erkläre ich dem Kind die Legasthenie?15. Wie wird Legasthenie festgestellt?1. Die Testung mit Angabe von einigen Testverfahren und Literatur2. An wen sich Eltern wenden können, wenn sie Rat brauchen3. Wie kann es nach der Testung weitergehen?4. Was hilft dem Legastheniker nach der Schule?16. Die Bewältigung des täglichen Lebens mit dem legasthenen Kind1. Sie und Ihr Kind müssen lernen, mit der Legasthenie zu leben!2. Wie kann das Selbstbewusstsein gestärkt werden?3. Wie erhalte ich meinem Kind die Freude an der Arbeit?4. Der Tagesablauf mit dem legasthenen Kind5. Die Ferien6. Was tun, wenn den Eltern etwas passiert?7. Der Legastheniker und seine Familie8. Mein Kind hat keine Freunde17. Gemeinsam sind wir stark!18. Ein Familiendrama: der Legastheniker flippt aus – die Mutter bekommt die Krise19. Wer kann dem Legastheniker helfen – Wer ist zuständig?1. Hilfe im schulischen Bereich2. Hilfe, Förderung und Therapie im außerschulischen Bereich3. Therapiekostenübernahme, auch für einen Klinikaufenthalt20. Wie erkennen Eltern, ob es sich um eine gute Therapie handelt?21. Wie können Eltern und Lehrer Kindern mit Wahrnehmungsstörungen helfen?1. Entspannungsübungen2. Lernspiele3. Psychomotorische Übungen4. Diverse weitere Hilfen im Rahmen der Psychomotorik5. Fein- und graphomotorische Übungen6. Taktile Übungen7. Lautgebärden8. Therapeutisches Reiten9. Hilfen für stark auditiv gestörte Kinder10. Weitere Therapieangebote, die sich zurzeit noch in der wissenschaftlichen Überprüfung befinden11. Psychomotorische Materialien12. Zum Schluss noch ein Bericht über Erfahrungen, die wissenschaftlich noch umstritten sind22. Förderung und Hilfen während des normalen Unterrichts1. Hinweise zur Hilfestellung2. Förderung während des Unterrichts3. Heidi Rupp: Erfahrungsbericht einer Lehrerin4. Dietrich Firnhaber: Offener Brief eines Legasthenikers an alle Pädagogen (1986)23. Über den Umgang mit Lehrern. Wie kann das Gespräch gelingen?24. Wenn Mütter helfen – oder: Eine heilige Kuh wird geschlachtet25. Hilfe! Hausaufgaben1. Welche Eltern können helfen?2. Was ist grundsätzlich bei allen Hausaufgaben zu beachten?3. Konkrete Hilfen für jedes Fach im Grundschulbereich4. Konkrete Hilfen für jedes Fach im Sekundarbereich5. Liste hilfreicher Bücher für die Hausaufgaben26. Hilfen für Fremdsprachenlegastheniker1. Allgemeine Hilfen2. Das Lernen von Vokabeln3. Grammatikübungen4. Zusammenstellung hilfreicher Grammatiken und Übungsmaterialien5. Neue Methoden6. Wie Legastheniker die unregelmäßigen Verben im Englischen besser lernen können7. Literatur und Lernhilfen27. Hilfen bei Rechenschwäche (Dyskalkulie)1. Allgemeine Hilfen (je nach Schweregrad mit oder ohne professionelle Hilfe)2. Einfache Hilfen, die Eltern bei den Hausaufgaben oder bei einem erweiterten Training geben können3. Arbeitsmittel und Hilfen für das Rechnen im Grundschulbereich4. Liste von hilfreichen Arbeitsmaterialien und Spielen, die Eltern leicht handhaben können28. Elterliche Hilfen für sprachentwicklungsgestörte oder sprachentwicklungsverzögerte KinderAllgemeine HilfenHinweise für besondere Probleme mit AdressenLiteratur für Eltern, Erzieher und Pädagogen29. Eltern helfen fördern1. Welche Vorbildung muss man haben?2. Welche Methode soll bevorzugt werden?3. Welche Anforderungen werden dabei an die Eltern gestellt?4. Was ist grundsätzlich bei der Förderung zu beachten?5. Welche Hilfen für welches Kind?6. Elternhilfe-Kurzprogramm für eilige Mütter und unwillige Kinder7. Tipps und Hilfen von erfahrenen Müttern und Therapeuten8. Tricks von Legasthenikern für Legastheniker9. Arbeitsmaterialien und Förderprogramme für Schule und Eltern10. Bewährte Verlage für die genannten Bücher, Arbeitsmaterialien und Spiele30. Welche Hilfen gibt es für den Legastheniker in der Ausbildung und im Beruf?NachtragWas aus Legasthenikern werden kann – oder: Wie ging es weiter mit W. und D.?Die unendliche Geschichte von D. und der Legasthenie

Mein besonderer Dank gilt

Frau Dr. Lisa Dummer-Smoch

und Frau Dr. Lotte Schenk-Danzinger (†)

für ihre fachliche und persönliche Unterstützung

und meinem Mann, der meine Arbeit

über all die Jahre mit viel Verständnis

und aktiver Hilfe unterstützt hat.

 

Meinen Söhnen gewidmet

Einführung Die Leiden des jungen D. oder: Ein Drama in unzähligen Akten mit unerwartet gutem Ausgang

(geschrieben 1983)

Das Foto vom September 1971 zeigt zwei fröhliche Jungen, die Schultüte im Arm. Der Klassenlehrer – das Pensionsalter bereits überschritten – versichert den Eltern, dass ihre Kinder in Kürze alle Straßenschilder lesen könnten. Zu Weihnachten könne man ihnen dann Bücher schenken. Er lehrt die alte Buchstabenmethode, Beginn mit Blockschrift.

Als die Klassenkameraden bereits Straßenschilder lesen, manche auch schon Zeitungsüberschriften, sitzt die Mutter der oben genannten Jungen auf dem Sofa, die Fibel auf dem Schoß. Rechts und links die Söhne, gar nicht mehr strahlend. Sie üben den Buchstaben »H«, aber sie lernen ihn nicht. Der Vorname ihrer Lieblingstante fängt mit H an. Die Mutter versucht es damit. Nichts geht. »Aber Mami, wir geben uns doch solche Mühe, wirklich!« Täglich dasselbe, täglich Verzweiflung. Oft genug endet der Leseversuch mit Tränen – nicht nur bei den Söhnen. Die Eltern sind ratlos. Für so unbegabt hatten sie die Kinder nicht gehalten.

Weihnachten gibt es nur bei ihnen keine Bücher, dafür bittet der Lehrer die Mutter nach den Ferien in die Schule. »Es ist doch wohl klar, dass Ihr Sohn in eine Sonderschule überwiesen werden muss.« Da ihr dies gar nicht klar ist, darf sie eine Schulstunde aus dem Hintergrund miterleben. Die Mutter wusste von Kreidestücken des Lehrers, die dem unaufmerksamen D. an den Kopf geflogen waren, wusste, dass er vor Schreck geweint hatte, wusste, dass dieser Pädagoge D.’s Heft der Klasse zeigte mit den Worten: »Seht mal her, wie D. das Wort ›Kamel‹ geschrieben hat!« Johlender Beifall war dem Lehrer sicher. Was sie an diesem Tag sieht, trifft sie wie ein Keulenschlag. Der sonst so redegewandte, lebhafte, fröhliche D. sitzt mit tief gesenktem Kopf, schaut die ganze Stunde kein einziges Mal umher, sagt nichts. Der ältere Sohn sitzt zwar aufmerksam da, sagt aber ebenfalls nichts.

Die Söhne werden dem Leiter der kinderpsychiatrischen Klinik in G. vorgestellt. Dort verfügte man schon damals über mehrjährige Erfahrung mit legasthenen Kindern. Diagnose beim älteren Jungen: gerade noch messbare Schwerstlegasthenie. Diagnose beim jüngeren (D.): nicht mehr messbare Schwerstlegasthenie! Da D.’s Lehrer weiterhin die Sonderschule bevorzugt, Antrag auf zeitweise Befreiung vom öffentlichen Schulbesuch. Die niedersächsischen Behörden erteilen die Erlaubnis. Noch vor Ende des 1. Schuljahres versucht eine angehende Sonderschulpädagogin, D. Lesen und Schreiben beizubringen. Die Mutter selber versucht es weiter mit dem ältesten Sohn W.

Beide Lehrenden besitzen keine Erfahrung auf dem Gebiet der Legasthenie, aber lesen fleißig Literatur darüber, verschaffen sich Material. Sie begehen sicher viele Fehler, aber es scheint, als ob D. kleinste Fortschritte macht. Ende des Jahres Umzug nach Hessen, stufenweise Wiedereinschulung ins 2. Schuljahr. Mühsam und schon fast erschöpft, versuchen Mutter und Sohn den geforderten Zielen nachzujagen – ohne sichtbaren Erfolg. Legasthenie-Unterricht privat bei einer Lehrerin, die ihm so viel Angst einjagt, dass D. am Abend vor dem Unterricht nicht einschlafen kann, am Morgen Bauchschmerzen hat.

 

Inzwischen Gründung des Bundesverbandes Legasthenie. Die Eltern sind unter den ersten Mitgliedern. Die Mutter erhält hilfreichen Rat, besucht alle Tagungen und später Kongresse, sucht Kontakt mit erfahrenen Legasthenie-Therapeuten, liest alles, was es über Legasthenie gibt, und entschließt sich schweren Herzens, D. vom 3. Schuljahr an selbst zu behandeln. Im Dorf, in dem die Familie lebt, findet sich keine andere Lehrkraft, weite Fahrten in die Stadt würden D. überfordern. D. kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht lesen, ganz zu schweigen vom Schreiben. Sein Klassenlehrer in der 3. und 4. Klasse ist überzeugt, dass die einzig mögliche Schulform für D. die Sonderschule sei. Legasthenie hält er für eine dumme Erfindung. Die mehrfach in der Universitätsklinik in G. angefertigten Intelligenztests, die D. immerhin eine recht hohe Intelligenz bescheinigen, erklärt er alle für einen Irrtum. Dieser Herr wirft mit dem Schlüsselbund. Die Schulleiterin erklärt täglich: »D. braucht nichts zu sagen, er weiß ja doch nichts«, seine Meldungen übersieht sie schlichtweg. Die Klasse findet bald heraus, dass es D. tief trifft, wenn man ihn »Professor der Doofheit« nennt oder »D., der Doofe« im Dorf hinter ihm hergrölt. Um nicht noch mehr Sympathie zu verlieren, wehrt sich D. nicht, wenn man ihm Schreibzeug und Schulfrühstück wegnimmt. »Es hat keinen Sinn, Mami, wenn ich mich wehre, wird alles nur noch schlimmer.« Wenn er mit Nachbarskindern spielen will, schicken die Eltern ihn fort mit der Bemerkung: »Du brauchst gar nicht erst zu kommen. Du bist ja dümmer als alle Kinder dieser Straße.«

D. versucht, sich die Liebe der Klassenkameraden zu erkaufen. Sein gesamtes Taschengeld setzt er in Eis und Süßigkeiten um für andere. Sie werfen ihm das Eis vor die Füße und johlen. Er beginnt, seine liebsten Spielsachen zu verschenken. Ehe die Mutter einschreiten muss, hat D. mit acht Jahren es selbst begriffen: Freunde kann man sich nicht kaufen. Dies war das erste Gespräch am Abend, eines von unzähligen, bis in die Nacht, die Mutter auf seinem Bettrand, der Sohn verzweifelt schluchzend in ihren Armen. »Warum? Was habe ich getan? Warum bin ich dümmer als die anderen? Was soll ich tun?«

Mitte des 4. Schuljahres kann D. mehrere Monate die Schule nicht besuchen, da Augenoperationen notwendig geworden sind. Der Plan der Eltern: Herausnahme aus der 4. Klasse, freiwillige Wiederholung, diese aber nicht am Ort, um ihn vor weiteren Diskriminierungen zu schützen, außerdem zunächst ein halbes Jahr zu Hause in Ruhe Legastheniebehandlung. Der Schulrat steht diesem Ansinnen fassungslos gegenüber, total überfordert. Der Oberschulrat im Regierungspräsidium wälzt Paragraphen. Für humane Entscheidungen ist er nicht zuständig, ablehnender Bescheid. Als er im Verlauf des Gespräches erfährt, dass die Eltern sogar den Plan haben, D. später auf ein Gymnasium zu schicken, schlägt er mit der Faust auf den Tisch und sagt: »Sie werden an mich und an diesen Tag noch denken: Dieses Kind gehört nicht in ein Gymnasium.« Nun, sie denken an ihn, noch oft, aber nicht so, wie er es sich gedacht hatte!

Der nächste Schritt: Vorsprache im Kultusministerium. Man ist sehr verständnisvoll, bemüht zu helfen, aber leider – der Behördenweg muss eingehalten werden. Die Gutachten der Universitätsklinik in G. können nicht anerkannt werden – sehr bedauerlich. Der Behördenweg ist möglich, aber fast ein Jahr könne es dauern, bis alles geregelt sei.

Ein Jahr so weitermachen, dann ist das Kind am Ende. Deprimiert fahren die Eltern heim.

Am nächsten Tag – ganz ohne Hoffnung – letzter Versuch zur Rettung von D. Anruf beim Schulrat des Nachbarkreises, in den D. jetzt eingeschult werden soll. Das Wunder geschieht: Eine unbürokratische, schnelle, menschliche Entscheidung wird getroffen. Der Schulrat, der Legasthenikerleid vom Nachhilfeunterricht, den seine Frau gibt, sehr genau kennt, erlaubt den halbjährigen Aufenthalt von D. zu Hause, einzige Bedingung: einmal wöchentlich Unterricht bei einem Deutschlehrer. Diesem Schulrat genügten die Gutachten aus G. Er glaubte ihnen, brauchte keinen Obergutachter. Auch die Einschulung danach im Nachbarkreis für die zweite Hälfte des vierten Schuljahres wurde von ihm geregelt. Dieser Schulrat bekommt jedes Jahr einen Anruf von der Mutter: Bericht über die weiteren Fortschritte von D., dem er in einer verzweiflungsvollen Phase seines Lebens entscheidend geholfen hat.

Das halbe Jahr zu Hause bezeichnet D. noch heute als die schönste Zeit seines Lebens. In Ruhe und nach festem Plan üben Mutter und Sohn Lesen und Schreiben, tun alles, was Legastheniker gern tun: Schreibmaschine schreiben, die Arbeit mit dem Kassettenrecorder, Spiele spielen und auch das, was sich die Mutter so ausdenkt an Übungen. Für jede Stunde, die sie ihm gibt, muss sie sich selbst eine Stunde vorbereiten. Sie ist ja keine Lehrerin, aber beiden – dem Sohn und der Mutter – macht das alles großen Spaß. Die vielen Hobbys, die er hat, darf er alle ausüben: Volkstanz mit angeschlossenem Entspannungstraining, Malen, Basteln, Modellieren bei einer großzügigen, jungen Kunstlehrerin, Jagdhorn blasen und Singen als einziges, umsorgtes Kind in einem kleinen Kirchenchor. Das Voltigieren gibt er bald wieder auf, denn da wird nur Leistungssport getrieben, nie ein Lob, immer nur Kritik, noch einmal, noch besser machen! Davon hatte er in der Schule genug, das wollte er nicht. Das halbe Jahr ist nicht nur für Gemüt und Seele D.’s ein voller Erfolg. Ein messbar traumhafter Erfolg zeigt sich auch im erneut durchgeführten Lese-Rechtschreibtest.

Wiedereinschulung im Nachbarort. Die ältere, mütterlichwarmherzige Lehrerin braucht keine Woche, um zu erkennen, dass bei D. keine angeborene Dummheit vorliegt. Sie setzt ihn zu den fünf Kindern (von 40!), die sie speziell fürs Gymnasium fördert! Eine Atempause für Mutter und Sohn, selbst im Rechnen gelingen gute Zensuren, obwohl D. auch eine sehr schwere Rechenschwäche hat.

Hinter den Eltern liegt inzwischen schon die Suche nach einem geeigneten Gymnasium für Legasthenie-Kinder. Die Gespräche mit den Direktoren der Oberschulen verlaufen alle gleich. »Rücksicht auf Legastheniker? Nein, tut mir Leid, ist völlig ausgeschlossen.« Nur eine einzige Direktorin hatte – noch bevor der nun geltende gute hessische LRS-Erlass herauskam – anders gedacht und gehandelt. Dort besuchte D.’s Bruder W. inzwischen die Schule, die Legasthenie war zwar gebessert, aber die Fremdsprache brachte ihm für einige Zeit einen Rückschritt.

Nun der Start mit D. Zunächst Glück auf der ganzen Linie. Endlich wird D.’s Verstand gefordert. Und denken kann er ja, dazu bedarf es keiner Buchstaben. Aber bald wittert die Klasse Unrecht – unterstützt von den Lehrern, die, mit Ausnahme der Deutschlehrerin, kein Verständnis für die Schwierigkeiten eines Legasthenikers aufbringen. Zwar zwingt der Erlass sie später, Fehler und Diktate nicht zu werten, aber man streicht trotzdem alles rot an, doppelt unterstrichen den Fehler, am Rand nochmals ein roter Strich, die 5 oder 6 zwar in Klammern, aber deutlich sichtbar unter der misslungenen Arbeit. Der Religionslehrer sieht nicht ein, warum D. nicht wenigstens »Zebaoth« richtig schreiben kann – das könne er wenigstens für eine Klassenarbeit verlangen! In Erdkunde bekommt er für die Führung des Heftes (obwohl von der Mutter alle Fehler verbessert worden sind) ein: »Katastrophal, völlig unleserliche Schrift – nicht zu benoten.« In anderen Fächern ist es ähnlich.

Regelrecht sadistisch gequält wird D. vom Mathematiklehrer. Von Rechenschwäche hat er natürlich noch nie etwas gehört, umso schneller und gründlicher findet er heraus, dass D. kein Selbstvertrauen besitzt, sich vor Angst immer schlimmer verrechnet. Die Szenen, D. an der Klassentafel, völlige Denkblockade wegen der von ihm erwarteten Leistung, bringen der Klasse den nötigen Spaß im Mathematikunterricht. Erneuter Beweis für Lehrer und Klasse: D. ist dumm. Noch heute überfällt D. bei Mathearbeiten die alte Angst, die sich dort in ihm festgesetzt hat.

 

Am schlechtesten geht es in Englisch. Mutter und Sohn quälen sich redlich jeden Tag. Für jede Klassenarbeit schuften sie, denn D. will dem Lehrer – zugleich sein Klassenlehrer – beweisen, dass er besser wird. Er wird es nur leider nicht, und der junge, sozial eingestellte Pädagoge stellt D. mit all seinen Bemühungen um eine gute Klassenarbeit auf dieselbe Stufe mit denen, die aus Faulheit eine »5« schreiben, und mit denen, die mangels genügender Intelligenz keine bessere Arbeit schreiben können. Eine Erkenntnis, die D.’s Arbeitseifer zwar nicht lähmt, denn er ist zum Glück als Kämpfer mit eisernem Willen geboren worden, er gibt nicht auf, aber sein Körper kann nicht mehr. Er bekommt eine schwere Kreislaufstörung, die lange Zeit eine ärztliche Behandlung notwendig macht.

 

Die Klasse ist irritiert. D. ist ihnen allen in manchen Fächern voraus. Religion, Sozialkunde, Biologie, Musik und Deutsch mündlich. Das spielt er aus. In anderen Fächern mit viel Schreibarbeit ist er bei den Schlechtesten. Das ärgert ihn. Die Klasse merkt’s. Sie haben wieder einen, den sie quälen können. D. wird zum Außenseiter. Morgens geht er mit gesenktem Kopf zur Schule, in den Pausen steht er allein; will er sich einer Gruppe anschließen, übersieht man ihn, mit gesenktem Kopf verlässt er wieder die Schule.

D. bekommt im 2. Schuljahr auf diesem Gymnasium eine so genannte reaktive Depression, eine Reaktion auf die übergroßen, nicht mehr zu bewältigenden Schulprobleme. Seine Leistungen sinken rapide, nicht zuletzt deshalb, weil er seine sonst so gute mündliche Mitarbeit aufgibt. Trotz ärztlicher Mitteilung, dass D. als krank anzusehen sei, keine Reaktion bei den Lehrern. Zwar helfen Medikamente ihm schnell aus dem größten Tief heraus, aber die Leistungen bessern sich vorläufig nicht, die Versetzung ist gefährdet. Die Angst der Mutter, D.’s Verzweiflung könnte übermächtig werden, wächst. Der Kinderpsychiater beruhigt, Gefahr bestehe bei diesem Kind nicht. Vieles spricht dafür, aber wenn D. sagt: »Mami, jetzt muss ich mal lange allein spazieren gehen«, dann steht die Mutter die ganze Zeit am Fenster, unfähig, etwas zu tun, wartet, dass er zurückkommt. Die Abende am Bett des Sohnes werden häufiger, länger, verzweifelter, mutloser. Um an ihrer Angst und Sorge nicht zu ersticken, um die Kinder nicht zu bedrücken, fängt die Mutter an, in der Öffentlichkeit für die Legastheniker zu arbeiten, richtet Förderkurse ein, hält Elternseminare, Vorträge, rät und hilft anderen verzweifelten Eltern. Das hilft auch ihr. Sie sieht überall das gleiche Schicksal: ratlose Väter, weinende Mütter, Kinder am Ende ihrer Kräfte.

Inzwischen besucht D.’s älterer Bruder W. seit der 7. Klasse ein Aufbau-Gymnasium hier am Ort, geleitet von christlich orientierten Lehrern. W. blüht auf, verbessert sich laufend in Leistung und Legasthenie. An dieser Schule wird aus der Legasthenie kein Problem gemacht. Man nimmt die notwendige Rücksicht, beurteilt und sieht auch die übrigen Fähigkeiten eines Kindes, macht ihm Mut. Diese Schule soll auch D. besuchen. Da er schließlich doch versetzt wird, kommt es auch dazu.

Zwar schüttelt der Direktor dieser Schule angesichts von D.’s Schicksal bedenklich den Kopf, aber nach drei Wochen können die Tabletten in den Mülleimer. Sie werden nie wieder gebraucht. D. ist gesund! Nach einem Jahr auf dieser Schule sagt D.: »Das war mein erstes schönes Schuljahr«, und der Direktor dieser Schule ruft die Eltern an. Er hat D. mehrfach im Unterricht beobachten können. Sein Pädagogenherz, so sagt er ihnen, freue sich, wenn er dieses Kind beobachten könne. Das freut auch die Eltern. D., nun fünf Jahre auf dieser Schule, gehört inzwischen – wie auch sein älterer Bruder – zu den Besten seiner Klasse, in einigen Fächern ist er sogar der Beste. In Deutsch eine Eins, obwohl er durchaus nicht fehlerfrei schreiben kann. Aber er kann ja alles lesen, was ihm unter die Augen kommt, er kann denken, lernen und behalten. Aller Einsatz, alle Kämpfe haben einen Sinn bekommen. D. hat Freunde, wird anerkannt, keiner schließt ihn aus.

Morgens, wenn er geweckt wird, strahlt er die Mutter an. Wie viele lange, lange Jahre tat er das nicht? Sie zählt lieber nicht nach, das bringt nichts. Pfeifend verlässt er morgens das Haus. Mittags läutet die Haustürglocke Sturm. Beide Brüder (der Große inzwischen Klassensprecher) stürmen herein, pfeffern die Schultaschen in den Flur, sprudeln über von dem, was sie erlebten, fröhliche, aufregende, unerhörte, tolle Dinge. Sie sind Kinder, in deren Leben die Schule einen normalen Platz gefunden hat. Der gute hessische Erlass und diese menschliche Schule schützen sie, geben ihnen Selbstvertrauen und die Möglichkeit, eine Schulbildung zu bekommen, die ihrer Begabung angemessen ist.

D. weiß, was er kann und was er noch nicht kann, nämlich ganz fehlerfrei schreiben, aber es bedrückt ihn nicht mehr, es behindert ihn nicht mehr. Er kann sich entwickeln, als wenn er keine Legasthenie hätte. D.’s Leben ist glücklich geworden.

Leider ist das eine Ausnahme bei einer so schweren Legasthenie, wie D. sie hat. Aber gäbe es mehr Schulbeamte, Politiker und Lehrer, die humaner denken und handeln, die die Würde und das Wohl eines Kindes so hoch achteten wie die ihrer eigenen Person, gäbe es keine unglücklichen Legastheniker mehr, hätte es die Leiden des jungen D., meines Sohnes, nicht zu geben brauchen. (Wie es mit D. weitergegangen ist, erfahren Sie aus dem »Nachtrag« dieses Buches.)

Statt eines Vorwortes: Eine Bestandsaufnahme im Jahre 2005

Vor über 20 Jahren schrieb ich die erste Auflage dieses Buches, als unser Wissen über Legasthenie noch sehr gering war. Vor über 30 Jahren wurden meine beiden Söhne eingeschult, und nun sind schon vier meiner Enkel zur Schule gekommen, diese Kinder, die das familiäre Erbe in sich tragen. Wie wird ihr Schulschicksal sein? Hat sich in 20 oder 30 Jahren überhaupt etwas geändert? Kann sich das Drama von D. wiederholen? Haben Legastheniker es heute leichter als damals? Ich fürchte: Nein!

Sicher ist manches erreicht worden: Wir haben Erlasse, die in einigen wenigen Bundesländern sogar fast ideal sind – nur: Es kennt sie kaum ein Lehrer. Wir haben einen Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie und überall Landes- und Ortsverbände und viele Elternselbsthilfegruppen. Wir veranstalten regelmäßig Bundes- und Landeskongresse, Lehrerfortbildungsveranstaltungen, halten Vorträge (ehrenamtlich, versteht sich!) und führen ungezählte Einzelberatungsgespräche, sowohl mit Eltern wie mit Lehrern. Wir haben die Kontakte zu den Wissenschaftlern in aller Welt geknüpft, die moderne Hirnforschung hat viel Licht in das Dunkel Legasthenie gebracht. Wir haben gute Therapeuten und sehr viel bessere Förderprogramme als vor 20 oder 30 Jahren, wir haben das Jugendhilfegesetz für die finanziellen Probleme, und als Silberstreif am Horizont gibt es auch das ein oder andere Kultusministerium, das uns zur Lehrerfortbildung einlädt. Die Aufbauarbeit ist also geleistet – nur – es reicht offensichtlich noch immer nicht aus! Noch immer gelten Legastheniker als dumm oder faul und die Mütter als überehrgeizig, überängstlich oder noch schlimmer: sie sind berufstätig, also auf jeden Fall schuld am Problem des Kindes! Es gibt unendlich viele bemühte, interessierte Pädagogen, aber solange die grundlegende Information über Legasthenie nicht in die Lehrerausbildung übernommen wird, kann sich an den Schulen nichts wirklich verändern.

 

Aber Sie von »unten«, von der Basis, Sie haben die persönlichen Erfahrungen, Sie wissen es besser als alle da »oben« in den Behörden, nur Sie können glaubhaft das Leid Ihrer Kinder darstellen. Daher sind Sie, die Eltern der nächsten Generation, aufgefordert, unsere Aufbauarbeit fortzusetzen und die Änderung in der Lehrerausbildung herbeizuführen. Warten Sie deshalb nicht, bis etwas von »oben« geschieht, handeln Sie, übernehmen Sie Verantwortung für Ihr Kind und für andere, die dies nicht so können! Sie wissen sicher, dass in den nordischen Ländern, wo sich in den Königshäusern die Legasthenie stark vererbt hat, ganz anders und offen mit diesem Problem umgegangen wird. Auch in den USA und in England wird wesentlich mehr Rücksicht genommen. Warum nur können wir das nicht?????

 

Bitte denken Sie darüber nach: Es geht um die Zukunft Ihrer Kinder! Fragen Sie nicht, ob Sie das können – Handeln Sie, und Sie werden es können!

Teil I: Theorie

I. Unsere Kinder sind Legastheniker!

Als wir 1971 erfuhren, dass unsere beiden Söhne eine Legasthenie haben, waren wir zunächst erleichtert. Sie werden dieses Gefühl kennen: Man atmet auf, dass die Ursache der vermeintlichen Dummheit gefunden ist und Zurückstufungen im Klassen- und Schulsystem – bis hin zur Sonderschule – vermieden werden können. Aber es wird Ihnen ähnlich gehen wie mir damals. Der Schock ist groß! Man fragt sich verzweifelt und ratlos, wie kann es weitergehen, was können wir tun, wie kann unserem Kind geholfen werden?

So fühlte auch ich mich mit diesen für mich neuen Problemen sehr allein gelassen. Zunächst war ich auch vollkommen hilflos, denn Förderkurse, ausgebildete Legasthenie-Therapeuten oder den Bundesverband Legasthenie gab es damals noch nicht. Da ich das Leid meiner verzweifelten Söhne aber auch nicht länger tatenlos ertragen konnte, entschloss ich mich, alles zu versuchen, um ihnen zu helfen. Ich war nicht berufstätig und hatte deshalb Zeit, die Legasthenie-Behandlung selbst zu übernehmen. Von meiner Berufsausbildung her war ich auf diese Aufgabe keineswegs vorbereitet, aber es blieb mir letztlich gar nichts anderes übrig, wenn ich verhindern wollte, dass meine Kinder an den Problemen der Legasthenie scheiterten.

Der Gedanke allerdings, dass meine Bemühungen, unseren Kindern zu helfen, misslingen könnten, kostete viele schlaflose Nächte. Die Verantwortung, die ich mit dieser Aufgabe übernommen hatte, erschien mir zeitweilig kaum tragbar, wenn ich an die Schwere dieser Legasthenien und die geringe Chance einer Besserung dachte. Nirgendwo hatte ich bisher gehört oder gelesen, dass solche Kinder einen ihrer Begabung angemessenen schulischen Weg gehen könnten.

So ist dieses Buch die Summe meiner guten und schlechten Erfahrungen, die Summe der schweren und auch der schönen Erlebnisse, es ist der Bericht über viele Jahre an der Seite meiner legasthenen Kinder, über die Jahre, die unser Familienleben nachhaltig beeinflusst haben. Es waren schwere, leidvolle Jahre, die wir alle gewiss nicht noch einmal erleben möchten. Wir haben aber dabei erfahren, dass wir als Familie in der Lage waren, die Probleme zu bewältigen.

Immer wieder wird mir gesagt, es sei wohl nur in den seltensten Fällen möglich, dass eine Mutter sich so viele Jahre hindurch nur auf ihre Kinder konzentrieren könne. Ich glaube, alle Mütter von in irgendeiner Weise schwer behinderten Kindern werden mir zustimmen, wenn ich sage, dass ich darüber überhaupt nicht nachgedacht habe, denn für mich gab es keine Alternative. Meine Kinder standen noch am Anfang ihres Lebens, aber ihre Zukunft war stark gefährdet. Ich war überzeugt, dass niemand meine Kinder besser kannte als ich, dass niemand sich so einsetzen würde für sie, wie es mir möglich war.

Nun, nach so vielen Jahren, weiß ich, dass keine Arbeit, keine Aufgabe sinnvoller und wichtiger hätte sein können als diese: meinen Kindern zu helfen, auch mit ihrer Legasthenie glückliche Menschen zu werden.

So kummervoll und bedrückend diese Jahre auch oft gewesen sind, so erlebe ich doch jetzt umso intensiver und dankbarer, dass die Söhne ihren Weg nun auch ohne mich und meine Hilfe gehen können, denn sie haben gelernt, mit ihrer Behinderung zu leben.

2. Legasthenie – was ist das?

Ein wichtiges Kapitel, das jeder lesen sollte

1. Unterscheidungsmerkmale der verschiedenen Lese-Rechtschreib-Schwächen

Für die Lese- und Rechtschreib-Schwächen im schulischen Alltag gibt es die unterschiedlichsten Ursachen. In ihren Auswirkungen sind sie sich alle aber sehr ähnlich: Das Kind lernt nicht oder nur sehr schwer Lesen und Schreiben.

Um nun die jeweils richtige Therapie einzuleiten, muss man sich zunächst ein genaues Bild über die Ursachen verschaffen, denn es gibt viele Möglichkeiten, beim Lesen und Schreiben zu versagen. Ich will Ihnen die Unterscheidungsmerkmale der verschiedenen Lese-Rechtschreib-Schwächen einmal aufzeichnen (siehe auch L. Dummer).

Ursachen:

a) methodisch bedingte

b) durch äußere Bedingungen erworbene Lern- und Leistungsdefizite

c) Minderbegabung (allgemeine Lernbehinderung)

d) primäre Verhaltensstörungen, die zum allgemeinen Lern- und Leistungsversagen führen

e) angeborene oder durch Geburtsschäden erworbene Lese-Rechtschreib-Schwäche, die als Legasthenie oder Dyslexia (= internationaler Fachausdruck) bezeichnet wird bei normaler bis überdurchschnittlich hoher Intelligenz. Man spricht auch von einer spezifischen oder umschriebenen Entwicklungsstörung.

 

Zu a): Oftmals ist die Methode, mit der dem Kind Lesen und Schreiben beigebracht wird, gerade für diesen Schüler nicht geeignet. Manchmal werden aber auch Fehler im Erstleseunterricht gemacht durch ungeeignete Fibeln, unerfahrene Lehrer oder auch zu große Klassen. Es ist zu wenig Zeit, um die Grundlagen der Rechtschreibkenntnisse gründlich einzuüben: das Hören von An- und Endlauten, die Zuordnung des gehörten Lautes zum Buchstaben und die Verbindung von Buchstaben zu Silben. So kann es dann geschehen, dass diejenigen, die langsamer lernen, nicht mitkommen. Es entstehen schnell Lücken. Jeder weiterführende Unterricht baut auf »Löchern im Fundament« auf. Irgendwann bricht dann diese instabile Basis zusammen – das Kind versagt. Bei diesen Schülern hilft ein Lese-Rechtschreibtraining, das gezielt die entstandenen Lücken aufarbeitet.

Zu b): Zu den »äußeren Bedingungen« zähle ich u.a. Schul- bzw. Lehrerwechsel während des Leselernprozesses, schwere Erkrankungen in den ersten beiden Schuljahren und auch gravierende familiäre Ereignisse, die Lerndefizite verursachen können und Lese-Rechtschreibprobleme zur Folge haben. Auch hier hilft ein normales Lese-Rechtschreibtraining, das die Defizite behebt. Deshalb bezeichnet man diese Probleme auch als vorübergehende Lese- und Rechtschreibschwächen.

Zu c): Das allgemein lernbehinderte Kind kann Lesen und Schreiben nur mühsam erlernen und wird in einer Lernbehindertenschule am besten gefördert werden können, denn dort wird der Leselernprozess bis zum Ende der 4. Klasse gedehnt.

Zu d): Wenn primär verhaltensgestörte Kinder nicht lesen und schreiben lernen, hilft ihnen ein Lese-Rechtschreibtraining überhaupt nichts. Man muss die Ursache ihres Versagens finden und psychiatrisch-psychologisch behandeln.

Zu e): Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Wissenschaftliche Beirat des Bundesverbandes Legasthenie definieren den Begriff Legasthenie – Dyslexia folgendermaßen:

»Legasthenie ist die Bezeichnung für Schwächen beim Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechtschreiben, die weder auf eine allgemeine Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung noch auf unzulänglichen Unterricht zurückgeführt werden können.« (Entsprechend ist Legasthenie / Dyslexia oder auch umschriebene Lese-Rechtschreib-Schwäche unter Ziffer 315.0 in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten von 1979 – ICD10 – und im Diagnostic und Statistical Manual of Mental Disorders von 1980 – DSM III – definiert.)

Als Ursache für die Legasthenie können wir primäre (erbliche) und sekundäre (z.B. durch geburtsbedingten Sauerstoffmangel) als neurobiologische Schädigung unterscheiden. Seit der deutsche Schularzt Oswald Berkhan die Legasthenie 1885 »entdeckte«, arbeiten Wissenschaftler weltweit an der Aufklärung dieser Phänomene.

Beide, sowohl die erbliche als auch die durch eine Hirnschädigung erworbene Lese-Rechtschreib-Schwäche, können natürlich zusammentreffen, und meist lässt sich dann nur schwer eine genaue Aussage über die eigentliche Ursache treffen. Wir wissen aber, dass Kinder, die eindeutig durch eine minimale Hirnschädigung Lese-Rechtschreibprobleme bekamen, eine gute Chance haben, sich von der Pubertät an mit zunehmender Hirnreifung laufend und nachhaltig zu verbessern, vorausgesetzt, dass sie in einem harmonischen Umkreis aufwachsen, gezielte Hilfen erhalten und die Hirnschädigung nicht zu schwer wiegend war.

Noch ein Wort zu den erblich bedingten Legasthenien. Durch Familienforschungen in England, USA und in Deutschland (auch meine mütterliche Familie ist daran beteiligt) wissen wir inzwischen, dass 40 bis 60 Prozent der Legasthenien auf einem erblichen Faktor beruhen, also genetisch bedingt sind. Die für die Legasthenie verantwortlichen Gene vermutet man auf verschiedenen Chromosomen, die aber nicht alle gleichermaßen betroffen sein müssen. Vermutlich haben wir deshalb ein so unterschiedliches Erscheinungsbild bei den Betroffenen. Daran wird augenblicklich intensiv geforscht. Einige der beteiligten Chromosomen hat man auch schon gefunden, es sind die Chromosomen 1, 2, 3, 6, 15 und 18. Damit verbindet man die Erwartung, dass durch molekularbiologische Untersuchungen (auf dem Chromosom 6 befand sich ein spezifisches Legasthenie-Gen!) in Zukunft schon früh potenzielle Legastheniker entdeckt und vielleicht manches auch schon behandelt werden kann, bevor das betroffene Kind in die Schule kommt. Dies ist eine große Hoffnung, die wir haben, aber ich fürchte, dass wir noch eine Weile darauf warten müssen.

Häufigkeit und Definition:

An einer schweren Legasthenie leiden ungefähr 3 bis 4 Prozent. Sie werden ihr Leben lang eine gewisse Rechtschreibunsicherheit behalten, obwohl sie kraft ihrer Begabung hohe berufliche Positionen erreichen können. Insgesamt schätzt man, dass es zwischen 6 bis 8 Prozent Legastheniker gibt. Diese Zahl umfasst aber auch die leichteren Fälle, die bei rechtzeitigem Training ganz verschwinden können.

Häufig werden Sie auch hören, dass man Legasthenie als Teilleistungsschwäche des Gehirns bezeichnet, denn es sind in der Tat nur einige Teilfunktionen (Wahrnehmung, Sprache, Motorik) bei normal erhaltener Intelligenz betroffen.

Vielleicht werden Sie auch hören, dass man Legasthenie als Wahrnehmungs- oder Integrationsstörung bezeichnet, denn je nach Schweregrad sind u.U. zudem noch weitere Wahrnehmungsbereiche des Kindes mehr oder weniger gestört. Das führt dazu, dass das Gehirn die einzelnen Funktionen nicht integrieren kann, das Gehirn ist also in einigen Teilbereichen seiner Tätigkeit »behindert«.

Nach Dummer gehören alle Kinder, ob sie die Legasthenie nun ererbt oder bei der Geburt erworben haben, zunächst nicht zu den Behinderten, aber sie sind von Behinderungen bedroht. Sicher gibt es auch Kinder, die ganz schlicht nur Spätentwickler sind, aus welchem Grunde auch immer. Auch hier gilt es, das Kind rechtzeitig mit den richtigen Hilfen zu fördern, damit keine Defizite entstehen. Man sollte also nicht abwarten, bis es sich »auswächst!«

Wichtig: Noch ein Wort an die Eltern, denen vielfach gesagt wird, sie seien schuld am Entstehen der Legasthenie ihres Kindes. Wenn Sie den vorhergehenden Text gründlich gelesen haben, werden Sie wissen, dass dies nicht stimmen kann! Die Legasthenie Ihres Kindes hat organische bzw. man nennt sie auch neurobiologische Ursachen, die Sie nicht beeinflussen können. Lassen Sie sich deshalb von solchen Aussagen nicht irritieren, denn von Schuldgefühlen geplagte Eltern sind nicht sonderlich hilfreich für ihre Kinder!

2. Mögliche Folgen einer Legasthenie

Weil die Vorgänge im Gehirn beim Lernen und besonders beim Lesenlernen sehr kompliziert sind, können schon geringfügige Störungen schwer wiegende Folgen haben. Diese Probleme müssen nicht unbedingt eintreten. Wie gut und wie schnell sich das Gehirn von seiner Beeinträchtigung erholen kann, hängt von dem Grad der Schädigung ab und auch von den Bedingungen, unter denen ein solches Kind aufwächst. Wenn die Legasthenie rechtzeitig erkannt wird, wenn Schule und Elternhaus dem betroffenen Kind verständnisvoll begegnen und ihm helfen, dann kann der Legastheniker seine Lese-Rechtschreib-Schwäche weitgehend überwinden, und Verhaltensstörungen als Folge des andauernden Versagens können vermieden werden.

Je später die Legasthenie entdeckt wird, je verständnisloser die Umwelt auf das vermeintliche »Versagen« des Kindes reagiert, umso schwerer wird man den Teufelskreis der Legasthenie durchbrechen können. Die ständigen Misserfolge entmutigen den Legastheniker schließlich so weit, dass seine Leistungen in allen Fächern betroffen werden. Auf sämtlichen Gebieten braucht er gute Lesefähigkeiten, die er aber nicht hat. Bei einer Klassenarbeit in Erdkunde, Biologie, Physik z.B. kann er schon die Arbeitsanweisung evtl. nur ungenau lesen und schon deshalb möglicherweise eine falsche Antwort geben, oder er kann die richtige Lösung nicht schnell genug notieren, weil er nicht weiß, wie man dieses oder jenes Wort richtig schreibt. So gerät er immer mehr ins Hintertreffen und gibt schließlich entmutigt den aussichtslosen Kampf auf.

Der Diplom-Psychologe Volker Ebel drückt das so aus: »Schließlich wird auch jeder einsehen, dass dauernde Misserfolgserlebnisse, denen man sich nicht entziehen kann, der Persönlichkeitsentwicklung bei Kindern und Jugendlichen schwer schaden können.«

Und Professor Othmar Kowarik schreibt: »Nicht selten sind die Folgen stärker als die Ursachen.«

Merke

Ein in seinen Funktionen nur leicht gestörtes Gehirn hat genügend Möglichkeiten, sich von diesen Beeinträchtigungen zu erholen. Es muss nur rechtzeitig mit dem Training begonnen werden. In Teil II lesen Sie mehr darüber.

Leichte und rechtzeitig behandelte Legasthenien können folgenlos verschwinden. Alle schweren Formen der Legasthenie werden lebenslang zu gewissen Schwierigkeiten führen. Bei Ermüdung und unter Zeitnot werden sich immer wieder Rechtschreibfehler einstellen. Die meisten erwachsenen Legastheniker lesen nicht gerne, weil sie damit immer noch ihre Schwierigkeiten haben. Besonders Fachbücher, bei denen es auf genaues Lesen ankommt, bereiten ihnen Probleme. In der Berufsausbildung oder beim Studium macht ihnen zusätzlich das Mitschreiben von Vorträgen, Vorlesungen etc. Schwierigkeiten. Es geht nicht schnell genug, denn unbewusst müssen sie immer noch überlegen, in welcher Reihenfolge man die Buchstaben schreibt. Der vielen Fehler wegen wissen sie oft nicht mehr, was das Geschriebene bedeutet.

Für viele wird auch ein späteres Studium oder die Berufsausbildung allein schon dadurch erschwert, weil das Nachschlagen und Lesen in den Bibliotheken ein Problem bleibt. Das liegt zum einen daran, dass das Abc (die seriale Leistung) auch später noch nicht beherrscht wird, zum anderen, dass es schon sehr still in den Räumen sein muss, damit ein Legastheniker die nötige Ruhe zum Lesen findet.

Außerdem schreiben Legastheniker in Klausuren oft Sätze nicht zu Ende, schaffen es nie in der vorgegebenen Zeit, übersehen wichtige Passagen oder Wörter, müssen schwierige Texte mehrfach lesen, nicht nur, um den Sinn zu erfassen, sondern auch, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht verlesen haben, kurzum – sie brauchen viel mehr Zeit als andere. Das bringt in der Tat so manchen Legastheniker zur Verzweiflung. Und häufig sind viele schon dermaßen frustriert, dass sie später jeder Leistungsanforderung aus dem Weg gehen – eine gefährliche Entwicklung! Werden die entmutigten Kinder aber rechtzeitig und angemessen aufgefangen, dann entwickeln gerade diese Menschen erstaunliche Fähigkeiten, um ihre Schwierigkeiten auszugleichen. Zum Werdegang von Legasthenikern liegen inzwischen wissenschaftliche Untersuchungen vor. So weiß man, dass mehrere positive Faktoren zusammenkommen müssen, damit Legastheniker mit ihren Problemen leben können, wie u.a. eine einigermaßen gute Intelligenz, Eltern und Schulen, die Verständnis haben, und eine den jeweiligen Problemen angepasste außerschulische Förderung.

Aus meinen eigenen Erfahrungen möchte ich hinzufügen, dass man nicht nur eine verständnisvolle Schule braucht, sondern in Lehre oder Studium auch gute helfende Freunde und ganz wichtig, viel wichtiger als der akademische oder soziale Status der Eltern, das ist:

Ein harmonisches Elternhaus.

Und es bleibt Ihnen nicht erspart: Eltern und Kind müssen zum Kämpfer werden, dann gelingt es auch Müttern mit Sonderschulabschluss (wegen eigener Legasthenie) ihre Kinder mit Erfolg durch die Schule zu »schleusen«. Ich kenne solche Fälle und weiß deshalb, dass dies möglich ist. Oft fehlt nur das nötige Vertrauen zu den eigenen Fähigkeiten. Lassen Sie sich beraten und helfen, dann schaffen auch Sie das!

Literatur

Die entsprechenden Bücher, die Ihnen noch weiterhelfen können, finden Sie am Ende des nächsten Kapitels.

3. Legasthenie und die Ergebnisse der modernen Hirnforschung

mit Literaturangaben

Als ich 1983 die erste Ausgabe dieses Buches schrieb, waren die Ursachen noch weitgehend unbekannt. Inzwischen hat die Hirnforschung gewaltige Fortschritte gemacht und viel Licht in die Entstehungsgeschichte der erblich bedingten Legasthenie gebracht. Noch wissen wir längst nicht alles, aber es fügt sich ein Puzzlesteinchen zum anderen, und es ist ungeheuer spannend, wie viel sich jetzt schon erklären lässt.

Bahnbrechend waren vor einigen Jahren die Erkenntnisse von Prof. Albert Galaburda aus den USA. Seine neuropathologischen Untersuchungen wurden von vielen Forschern der unterschiedlichsten Fachrichtungen wie Neurologen, Neurophysiologen, Kinder- und Jugendpsychiatern, Pädaudiologen, Phoniatern, Neurolinguisten und Augenärzten inzwischen bestätigt.

Galaburda untersuchte Gehirne verstorbener Legastheniker, unter denen auch ein junger Deutscher war, und entdeckte einige minimale Veränderungen (u.a.Fehlbildungen). Da man heute sehr genau über die zeitliche Hirnreifung eines Embryos Bescheid weiß, konnte er feststellen, dass im 4. Schwangerschaftsmonat Zellen u.a. nicht weitergereift bzw. nicht zu ihrem vorgesehenen Ort in die Hirnrinde weitergewandert waren.

Diese Störungen liegen überwiegend in den Sprachzentren der linken Hirnhälfte, und offensichtlich ergibt sich daraus, dass die führende Rolle der linken Hemisphäre in einigen Bereichen abgeschwächt oder gar nicht vorhanden ist. Diesen Befund haben andere Wissenschaftler mit besonderen Methoden (kernspintomographischen und speziellen EEG-Ableitungen) an »lebenden« Gehirnen ebenfalls nachweisen können. Allerdings gibt es inzwischen auch Forschungen, die vermuten, dass die rechte Hirnhälfte versucht hat, die Defizite der linken auszugleichen, und deshalb gleich stark wurde. Wie auch immer die Ursachensuche weitergehen wird, interessant ist doch, was 1991 Galaburda durch weitere Forschungen herausgefunden hat.

Er untersuchte an den Gehirnen verstorbener Legastheniker und an lebenden Versuchspersonen (Legastheniker und Nichtlegastheniker) die Sehwege, also die visuellen Verarbeitungskanäle im Gehirn. Auch diese Untersuchungen wurden inzwischen mit Hilfe des EEGs und der bildhaften Darstellung der Gehirntätigkeit (brain mapping) bestätigt.

Man fand, dass einer dieser Verarbeitungskanäle in der »Schaltzentrale« im Gehirn einen Mangel an bestimmten großen Zellen aufwies. Diese großen Zellen sind zuständig für die Verarbeitung rasch aufeinander folgender Seheindrücke und auch für solche, die nicht besonders kontrastreich sind. Dies alles könnte u.a. auch auf Buchstaben zutreffen. Sie folgen schnell hintereinander und unterscheiden sich kaum voneinander. Deshalb kann der Legastheniker nicht mehr ordnungsgemäß einen Buchstaben nach dem anderen aufnehmen bzw. unterscheiden. Vielmehr fließen sie ineinander über, denn die notwendige Entschlüsselung und Verarbeitung geht wegen der fehlenden Zellen nicht schnell genug. Es ist eben gerade jenes System gestört, das für sich bewegende Reize (also Lesen) zuständig ist. Neuere Untersuchungen ergaben auch, dass schon die Speicherung von Lauten und Buchstaben verändert ist. Dies fand sich allerdings nur bei schriftsprachlichem Material. Bei graphischen Mustern zeigte es sich nicht.

Auch die Blickbewegungen der Augen sind ganz offensichtlich nicht angepasst. Sie werden im Gehirn nicht »gebremst«, wie das normalerweise sein müsste. Deswegen erfolgen sie ziemlich ungeordnet. Und dazu kommt noch, dass die Verweildauer der Blickbewegungen, die man braucht, um ein Wort zu entschlüsseln, bei Legasthenikern nicht »vorschriftsmäßig« ist: Sie passt sich nicht der Wortlänge oder dem Schwierigkeitsgrad des Wortes an. Das Problem mit den Blickbewegungen wird übrigens noch sehr kontrovers diskutiert. Sicher weiß man aber, dass die Lesezeit bei Legasthenikern deutlich verlangsamt ist. Neuere augenärztliche Untersuchungen per Video zur Lesegeschwindigkeit und -genauigkeit von Prof. Susanne Trauzettel-Klosinski haben eindrucksvoll und zugleich bedrückend belegt, mit welchem enormen Zeitaufwand und welcher Mühe ein Legastheniker kämpfen muss, um einen Text zu erlesen. Ein normal lesendes Kind schafft mit nur wenigen Blicksprüngen in ca. 2 Sekunden eine ganze Zeile. Ein legasthenes Kind dagegen benötigt etwa 5-mal so lange und macht zahlreiche Blicksprünge vor und zurück. Die Lesegeschwindigkeit mit Texten betrug bei Kontrollkindern 146 Wörter pro Minute; Legastheniker dagegen schaffen nur 47 Wörter in derselben Zeit. Als ich dieses Video mit den verzweifelten Leseversuchen der Legastheniker sah, liefen bei mir die Tränen. Man kann eben die Erinnerung an die leidvolle Zeit nicht vergessen, auch wenn sie schon lange zurückliegt.

Die im Video gezeigten Probleme versteht man gut, wenn man weiß, dass die Buchstaben nicht schnell genug erkannt werden können, dass sie in ihrer Reihenfolge vertauscht werden und dass sogar ganze Wort- und Satzteile »verschwinden«. Und dies wiederum betrifft meist die Vor- oder Endsilben eines Wortes und auch die Mitte. Der Neurolinguist Prof. Walter Huber nennt diese Unordnung beim Sehen »Blickbewegungsdschungel«. An der unruhigen Pupille dieser Kinder während des Lesens können Sie dies ganz gut erkennen. Ein lustiges Beispiel aber für dieses ungenaue Lesen hat unser Sohn D. noch als Erwachsener geliefert: Er fährt mit dem Auto nach Frankfurt, will zum Hauptbahnhof und wundert sich, dass die Verkehrsschilder ihn permanent in eine Richtung lenken, in der seiner Meinung nach der Hauptbahnhof nicht sein kann. Als braver Bürger aber folgt er den Hinweisen, hat an der 4. Ampel endlich einmal Rot und so auch Zeit genug, um in Ruhe die Schilder zu studieren. Und was liest er da? Wohin fährt er? Nicht zum »Hauptbahnhof«, nein, zum »Hauptfriedhof«! Ganz klare Sache: Hier hat D. die beim schnellen Hinschauen ausgefallene Wortmitte kurzerhand mit dem Wort ersetzt, das er brauchte.

Solch wundersamen Wortverwandlungen wird man bei Legasthenikern, besonders in den ersten Schuljahren, sehr häufig begegnen. Sie erkennen das Wort nicht genau, aber mit Hilfe ihrer Phantasie und Begabung setzen sie das ein, was ihrer Meinung nach dahin passt.

Zum Problem des Lesenlernens bei Legasthenikern hatte man übrigens vor Jahren schon mit ganz unterschiedlichen Untersuchungsmethoden (bildgebenden Verfahren und EEG) festgestellt, dass einige Legastheniker es nicht schaffen, beim Lesen ihre linke Hirnhälfte »dazuzuschalten«, wie es zum flüssigen Lesen notwendig ist.

Es gibt also mannigfaltige und lang andauernde Hemmnisse beim Lesenlernen, aber natürlich ist – wie stets bei der Legasthenie – die Schwierigkeit, Buchstaben und Wörter zu entschlüsseln, nicht bei allen legasthenen Kindern gleich stark ausgeprägt. Es gibt auch Kinder, die diese Leseerschwernisse nicht oder nicht so ausgeprägt haben.

Tipp

Warnen möchte ich Sie vor dem Problem, dass manche Optiker und auch Augenärzte mit einer bestimmten Messmethode eine Winkelfehlsichtigkeit oder ein verborgenes Außenschielen