Legend Academy, Band 2: Mythenzorn - Nina MacKay - E-Book

Legend Academy, Band 2: Mythenzorn E-Book

Nina MacKay

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Beschreibung

Befreie die sagenumwobene Legend Academy von einem uralten Fluch und entdecke, welche Magie in dir steckt! Ein Fluch, der es auf Liebespaare abgesehen hat? Als neue Schülerin an der Legend Academy hätte Graylee nie damit gerechnet, dass ausgerechnet ihre eigenen Gefühle ihr gefährlich werden könnten. Schließlich wimmelt es an dem Internat nur so vor magischen Wesen mit unberechenbaren Kräften. Doch als immer mehr verliebte Mitschülerinnen spurlos verschwinden, muss Graylee sich fragen, ob ihre Gefühle für Hudson eine Zukunft haben – und wieso der Gestaltwandler Baker alles noch komplizierter macht. Magisch. Frech. Zum Verlieben. Band 2 des Fantasy-Zweiteilers von Nina MacKay

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Seitenzahl: 550

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2022 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2022 Ravensburger Verlag Copyright © 2022 by Nina MacKay Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover. Lektorat: Tamara Reisinger, www.tamara-reisinger.de Covergestaltung und Vorsatzkarte: Carolin Liepins, München Verwendetes Bildmaterial von © Julia Tochilina, © Yellow_stocking, © lizanice, © world illustrations, © faestock, © antart, © CastecoDesign, © Haqqani Labs und © PatternsBlooming, alle von Shutterstock Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg ISBN 978-3-473-51115-0ravensburger.com

Für Sandy und Regine McCoy – deren Nachnamen ich mir für Graylee ausborgen durfte! Und für alle Legend-Academy-Fans. Ich wünsche euch die legendärste Liebesgeschichte ever und mindestens einen sprechenden Kolibri zum nächsten Geburtstag!

Playlist

Das Besondere an dieser Playlist ist, dass man sie in Endlosschleife beim Lesen hören kann oder auch jeden Track einzeln zum jeweiligen Kapitel. Track 1 passt perfekt zur Stimmung von Kapitel 1 und so weiter. Gibt’s natürlich auch online. Auf meiner Instagram-Seite erfahrt ihr mehr. Viel Spaß damit!

1 Ben Hazlewood – Iris (Nina MacKays Lieblingssong ♥)

2 Loving Caliber – Faster Car (Peris Lieblingssong)

3 Nightbreakers – Attention (Jinx’ Lieblingssong)

4 Dermot Kennedy – Better Days

5 Painted West – Evergreen

6 Saint Phnx – Happy Place

7 Disco Fries, Jared Lee – Reckless (Floyds Lieblingssong)

8 Parachute – Waking Up

9 Matthew Grant – King For A Day

10 The Kid Laroi – Without You (Londons Lieblingssong)

11 Jesse Labelle, Alyssa Reid – Heartbreak Coverup

12 Parachute – Lonely With Me

13MKTO – Just Imagine It

14 Loving Caliber – Bedroom

15 We the Kings – Check Yes, Juliet

16 Landon Austin, Kaya May – Hide Away

17JADN – Little Love

18 Recent Rumors – You

19 James Arthur – Can I Be Him (Sinclairs Lieblingssong)

20 We Three – Hold Me, Baby

21 Voilà – Long Story Short (Lucindas Lieblingssong)

22 Sleepaway Camp – Hell For Myself

23 Ed Sheeran – Shivers

24 David Hodges – I Have Always Been In Love

25 Lewis Capaldi – Someone You Loved

26 Recent Rumors – Wherever You Are (Ceces Lieblingssong)

27 Recent Rumors – Young

28 Sam Tinnesz – Legends Are Made

29 SafetySuit – Perfect Color

30 Loving Caliber – You Are The Solution

31 Parachute – Without You

32 James Arthur – Falling Like The Stars

Kapitel 1

»Du irrst dich, Graylee. Du bist die Fälschung.« Mein Ebenbild zeigte vom Rand der Grube aus ihre gespenstisch weißen Zähne. »Du dürftest nicht existieren.«

Die Worte der anderen Graylee, meines Ebenbildes, hallten wie ein Echo in mir nach. Was … in aller Welt? Da oben saß eine Kopie von mir! Na toll.

Wie hatten die letzten Tage nur dermaßen außer Kontrolle geraten können? Gerade hatte ich mich damit anfreunden müssen, dass Mythennachfahren in unserer Welt existierten, dass ich sogar eine von ihnen war – auch wenn ich noch keine Ahnung hatte, von welchem Wesen ich abstammte –, dass ein Fluch an dieser Schule sein Unwesen trieb, der Liebespaare traf – weshalb Hudson und ich beschlossen hatten, auf Abstand zu gehen, und dass Schülerinnen verschwanden und verändert zurückkamen. Wie eine Art böser Zwilling. Und jetzt stellte sich heraus, dass das Mädchen, das ich vom See bis in die Kiesgrube verfolgt hatte, meine Doppelgängerin war, was hieß, dass mich dieser verdammte Fluch doch getroffen hatte. Dabei hatte ich gedacht, endlich eine Spur entdeckt zu haben, ein verdächtiges Mädchen, das möglicherweise etwas mit Trixies Versteinerung zu tun hatte. Ich hatte sie durch den Wald bis in die Kiesgrube verfolgt – und nun beugte sie sich über die Grube, in die ich gefallen war. Das war mein Gesicht, verflucht! Nein, diesen Abend hatte ich mir wirklich ganz und gar anders vorgestellt.

Schnaubend stützte ich mich mit dem Ellenbogen an der Grubenwand ab. Meine Knochen schmerzten immer noch vom Aufprall. »Du dürftest nicht existieren.« Was wollte sie mir damit sagen? Eine Welle Adrenalin spülte durch mich hindurch. Sie konnte damit nicht meinen, dass ich der falsche Zwilling war wie bei einer schrägen Version von Ein Zwilling kommt selten allein. Unmöglich. Nein, das musste ein Trick sein. Um mich zu verunsichern.

Ich hielt mir den schmerzenden Oberarm, während ich versuchte, alles zu verarbeiten und einen Ausweg zu finden. Wo steckte bloß Baker? War er ebenfalls in eine Grube gefallen? Und was war mit meinen Freunden? Gerade hatte Fake-Graylee Willow befohlen, Ornella abzufangen …

Ich biss mir auf die Unterlippe. »Wo ist Baker? Wenn ihr ihm oder Ornella etwas antut, werdet ihr das bereuen!« Mein Brustkorb hob und senkte sich hektisch bei dem Gedanken, was meine Freunde in dieser Sekunde durchmachten. Alles in mir drängte mich dazu, etwas zu unternehmen.

Fake-Graylee lachte. »Du glaubst, du bist in der Position, mir zu drohen?«

Erst jetzt fiel mir auf, dass sie ein weißes Poloshirt trug. Offensichtlich hatte sie auch mein Smartphone gestohlen, denn es konnte kein Zufall sein, dass um ihre Hand dieselbe goldene Handykette gewickelt war, wie ich eine besaß. Allerdings trug sie keine weiße Schleife um den Kragen so wie ich, wenn ich das in der Dunkelheit richtig erkannte. Die Täuschung war also nicht perfekt.

»Aber ich sag dir was«, fuhr meine Doppelgängerin fort, »wenn du mir jetzt dein weißes Band hochwirfst, lasse ich Baker am Leben. Na, wie klingt das?«

Mein Band? Zuerst war ich versucht, sofort Ja zu sagen. Immerhin hatte sie gerade zugegeben, dass sie Baker in ihrer Gewalt hatte. Und das hieß auch, dass er am Leben war. Erleichterung weitete meine Brust, die sich eben noch wie ein zu fest zusammengeschnürtes Paket angefühlt hatte. Gleichzeitig kam brennende Wut über mich. Sie hatte Baker! Doch auf einmal stutzte ich. Sie wollte mein Band. Das musste bedeuten, dass sie tatsächlich versuchte, eine perfekte Kopie von mir abzugeben, und bis auf das Band hatte sie alles zusammengeklaut. Wahrscheinlich war das Band nicht ganz so frei zugänglich, und sie konnte es niemand anderem stehlen, weil im Moment außer mir kein Schüler ein weißes trug. Ja, das musste es sein! Meine Kopie brauchte es, also war es mein einziges Druckmittel. Aber mit ihrer Drohung würde sie mich nicht kleinkriegen. Was glaubte sie, wer sie war, mir mit dem Leben meiner Freunde zu drohen?

Entschlossen sah ich zu ihr hoch. »Sag mir zuerst, wo Baker ist.«

Nach einem Schnauben warf die falsche Graylee einen Blick über die Schulter. Als ob sie Angst hätte, entdeckt zu werden. Interessant.

»Er ist am Leben«, sagte sie, nachdem sie sich wieder zu mir gedreht hatte. »Noch.«

So weit war ich auch schon gewesen. »Das heißt, du hast ihn wie mich in eine versteckte Grube geworfen«, sagte ich mehr zu mir selbst. Nach diesem Satz holte ich allerdings etwas zu tief Luft, denn meine Rippen protestierten. Vermutlich hatte ich sie mir beim Aufprall in der Grube geprellt. Angespannt bewegte ich den Kopf seitlich hin und her, bis es knackte. Immerhin kehrte das Gefühl langsam zurück in meinen rechten Arm, was hieß, dass er nicht gebrochen war.

Ich biss die Zähne zusammen und sah mich um. Verfluchter Minotaurenbann! Wenn der nicht gewesen wäre, wäre ich gar nicht erst in diese Grube gefallen. Er hatte sie vor meinen Augen versteckt. Ganz sicher. Nur welcher Minotaurus hatte ihn gewebt, wenn es tatsächlich ein Bann war?

Wieder starrte ich nach oben zu meiner Doppelgängerin. Sie sah wirklich exakt so aus wie ich. Echt unheimlich. Das würde mir niemand glauben.

»Das Band.« Fake-Graylee streckte eine Hand aus. Erst dachte ich, sie wollte mich auffordern, das Stoffband hochzuwerfen, was eher nicht von Erfolg gekrönt sein würde, so tief wie die Grube lag. Aber dann sah ich, wie sie die Aufhängung der Handykette an einem Ende löste und abwärts gleiten ließ, wobei sie sich nach vorn neigte. »Knote es hier dran.«

Ich dachte ja gar nicht daran. Während ich die goldene Kette betrachtete, formte sich ein Plan in meinem Kopf. »Zuerst will ich Baker sehen. Unverletzt.«

Sie starrte mich an.

»Baker!«, schrie ich in die Dunkelheit. »Wo bist du? Kann mich jemand hören?«

»Pff«, machte meine Doppelgängerin. »Der Bann um die Grube lässt keinen Laut weiter als ein paar Handbreit nach draußen dringen. Spar dir also den Atem.«

Das hatte ich mir bereits gedacht. Dennoch war es einen Versuch wert gewesen. Aber gut zu wissen, dass ich recht hatte und es tatsächlich ein Minotaurenbann war, der die Grube abschirmte. Jetzt musste ich nur herausfinden, welcher Minotaurus mit der Kopie da oben zusammenarbeitete. Oder war derjenige gar nicht mehr an der Schule und der Bann ein Uraltrelikt? Schließlich existierte der Fluch seit knapp zwanzig Jahren. Ja, so musste es sein.

Innerlich seufzte ich, legte dann den Kopf noch etwas weiter in den Nacken. »Was hast du vor? Sobald du das Band hast, meine ich?«

Meine Kopie stieß ein schnaubendes Lachen aus. »Warum sollte ich dir das erzählen? Und jetzt her mit dem Ding oder ich verwandle dich auf der Stelle. Dich und deine Freundin Ornella.«

Verwandeln? In was? In Stein? Ich stockte. Hieß das, Fake-Graylee hatte vorhin Trixie in Stein verwandelt? Aber wie? Dazu waren doch nur Gorgonen in der Lage. Mist! Wie funktionierte dieser verdammte Fluch? Danach zu fragen, wagte ich allerdings nicht, aus Angst, meine Kopie könnte genervt reagieren und Ornella wirklich versteinern. Ich musste einfach sicherstellen, dass Ornella nichts geschah. Und Baker auch nicht.

»In Ordnung.« Mit beiden Händen löste ich die Schleife um meinen Polokragen. Sie wollte also die perfekte Kopie von mir abgeben, inklusive weißer Schleife? Das konnte sie haben. Mit einem süßlichen Lächeln streckte ich eine Hand aus, tat so, als wollte ich das Band tatsächlich an die Handykette knoten.

Kurz änderte sich etwas in ihrem Blick, vielleicht ahnte sie es, doch eine Sekunde später zog ich schon mit aller Kraft an der Handykette.

»Was?«, keuchte Fake-Graylee, kippte nach vorn, ließ dann aber zu meinem Leidwesen die Kette los.

Verflucht! Hätte sie nicht einfach nach vorn kippen und zu mir in die Grube fallen können? Dann hätte sie den Bann lösen müssen, um hier rauszukommen. Immer vorausgesetzt, sie war dazu in der Lage. Auf jeden Fall hätte ich sie dadurch davon abgehalten, zu Baker zu gehen. Aber auch wenn mein Plan nicht aufgegangen war, so war ich jetzt immerhin wieder im Besitz meines Smartphones. Und ich schien Fake-Graylee überrascht zu haben, denn sie taumelte rückwärts, sodass ich sie für einen Moment aus den Augen verlor.

Während mein Ebenbild ein Schnauben ausstieß und kurz darauf wieder am Rand der Grube auftauchte, hörte ich es. Ein vertrautes Geräusch. Das Sirren eines Kolibris.

»Graylee. Dem Himmel sei Dank.«

Iceman! Schneller, als ich schauen konnte, umschwirrte der Kolibri den Kopf der falschen Graylee. O nein, er hielt sie für mich! Würde er mich überhaupt bemerken, solange der Bann aktiv war?

»Ice…« stieß ich hervor, als sein Blick meinen fand.

»Was?«, krächzte er, warf den blau-grünen Kopf herum und sah verwirrt zwischen der falschen Graylee und mir hin und her.

Meine Doppelgängerin nutzte den Augenblick der Verwirrung und schlug nach ihm. Iceman wich gerade noch rechtzeitig zur Seite aus, woraufhin ich ihn nicht mehr sehen konnte.

»Pass auf!«, japste ich. »Sie ist der Skinwalker. Die Kopie.« Gut, beides hatte Iceman sich sicher schon denken können. Im Gegensatz zu den Minuten zuvor raste mein Herz nun, als steuerte es auf einen Riesenknall zu. Wenn meine Doppelgängerin Iceman erschlug oder ihm sonst was antat …!

Zum Glück schaltete der Kolibri schnell. Als mein Ebenbild erneut ausholte, um nach ihm zu schlagen, wich er in meine Richtung aus. Allerdings reagierte Fake-Graylee mindestens genauso schnell. In einer fließenden Bewegung zog sie den Gürtel aus den Schlaufen ihrer Hose und schwang ihn wie eine Peitsche nach Iceman.

»Vorsicht!«, rief ich, doch Iceman hatte den Angriff schon durch ein geschicktes Flugmanöver abgewehrt und flatterte jetzt außerhalb der Gürtelreichweite über mir.

Moment, das war mein Gürtel, in den meine Mom mit silberner Farbe unseren Nachnamen eingraviert hatte! Ja, eindeutig. McCoy schimmerte im Mondlicht. Hatte Fake-Graylee etwa mein Schulpoloshirt und meine Accessoires gestohlen? Vermutlich. Sie musste in meinem Zimmer gewesen sein.

In meinen Ohren rauschte es. »Hast du Baker oder Ornella gesehen?«, rief ich zu Iceman hoch.

Wenn überhaupt möglich, flatterten Icemans Flügel auf einmal doppelt so heftig wie normal. Er betrachtete mich, als wäre ich eine Erscheinung aus einem Traum oder so, ein Geist vielleicht, ehe er den Kopf neigte, als würde er endlich verstehen. »Ja, Baker ist gerade aus einer Grube gekrochen und auf dem Weg zurück zur Schule. Er hat mir zugerufen, dass er Hilfe holt und ich mich um dich kümmern soll.«

»Was?« Mein Ebenbild zuckte, sprang zurück, sodass sich eine Handvoll Erde am Rande der Grube löste und nach unten rieselte.

Nur ich starrte Iceman fest an. Das ergab keinen Sinn. Baker hätte Iceman zum Hilfeholen geschickt und nicht andersherum. Ganz sicher hätte Baker versucht, mich hier rauszuziehen, während Iceman in voller Kolibri-Geschwindigkeit zur Schule geflitzt wäre.

Doch meine Doppelgängerin schien es zu schlucken. »Ihr bleibt beide hier, verstanden, Kolibri? Wenn ich zurückkomme und du bist fort, töte ich Graylee.«

Ich hob den Kopf. Sie war wirklich das komplette Gegenteil von mir. Aber würde sie diese Drohung ernsthaft in die Tat umsetzen?

Ohne eine Antwort von uns abzuwarten oder zu sehen, ob ihre Drohung Wirkung zeigte, stürzte sie in Richtung Schule davon. Sobald ihre Schritte verklungen waren, wandte ich mich Iceman zu. »Du hast gar nicht mit Baker gesprochen, stimmt’s?«

»Ähm, nun ja …«, sagte Iceman.

An meinem Hinterkopf kribbelte es. »Das war nur eine List von dir. Ein Bluff, hab ich recht?«

Iceman räusperte sich. »Exakt, und jetzt komm, wir müssen dich hier irgendwie rausholen. Keine Zeit zu verlieren.«

Es war also tatsächlich ganz, wie ich es erwartet hatte. »Hast du Baker überhaupt irgendwo in der Kiesgrube gesehen?« Blöderweise konnte ich nicht verhindern, dass meine Stimme bei diesen Worten zitterte.

»Äh, können wir dich zuerst hier rausschaffen? Ich muss wissen, dass du in Sicherheit bist. Dann reden wir. Also …«

Okay. Das hieß, entweder hatte er ihn nicht gesehen, oder Baker war etwas zugestoßen. Ich schluckte. Gut, dann eben zuerst nach oben kommen. Tatsächlich hatte er nicht ganz unrecht: Wenn ich entkommen wollte, dann jetzt. Ehe Fake-Graylee zurückkehrte. Aber wie wollte mich ein Kolibri hier rausholen?

In meinen Ohren rauschte es, während ich die Wände betrachtete, nach einem Vorsprung oder etwas suchte, an dem ich mich hochziehen konnte. Komischerweise schienen sie aus einem Kies-Lehm-Gemisch zu bestehen. In einer Kiesgrube … War das überhaupt möglich? Gut, es lag auch ein Minotaurenbann darüber, und ich hatte schon vor einiger Zeit aufgehört, mich über irgendetwas zu wundern, was hier passierte.

Ich biss die Zähne zusammen und versuchte es an einer Minieinkerbung auf Höhe meines Kopfes, zog mich daran hoch, doch meine Füße fanden keinen Halt. Was zu erwarten gewesen war. Einen Moment später rutschte ich auch mit den Fingern ab, wobei ich mir einen Ringfingernagel einriss. Darum konnte ich mich allerdings jetzt nicht kümmern. Als Nächstes checkte ich mein Handy, das ich mir umgehängt hatte. Leider kein Empfang und fast kein Akku mehr.

Verflucht. Wir hatten praktisch keine Chance. Und wenn Iceman nun losflog, würde meine Doppelgängerin mich umbringen. Dass sie es bisher noch nicht getan hatte, war vermutlich nur aus dem Grund, dass es der Fluch so vorsah oder sie sich nicht die Hände schmutzig machen wollte, wenn sie auch einfacher an mein weißes Band kam.

»Iceman«, rief ich nach oben, »ich schaffe es hier nicht hoch. Sobald sie zurückkommt und dich gesehen hat, haust du in einem unbeobachteten Moment ab, okay? Sie wird sehen, dass du die Abmachung eingehalten hast. Dann bist du auf der sicheren Seite.« So konnte wenigstens er lebend entkommen – und musste nicht das Gefühl haben, schuld zu sein an dem, was danach passierte.

»Auf keinen Fall lasse ich dich zurück«, sagte Iceman und flatterte vor meinem Gesicht herum.

»Du musst. Ich komm hier ohne Hilfe nicht raus. Und vielleicht …«

»Graylee«, unterbrach Iceman mich, doch ich hörte gar nicht auf ihn.

»… vielleicht kann ich meine Doppelgängerin irgendwie hinhalten, bis du mit Hilfe aus der Schule zurückkommst.«

»Graylee! Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dich allein lasse. Das dauert alles viel zu lange, ich weiß einen schnelleren Weg …«

»Flieg zu Ornella oder Canyon, sie werden dir glauben.«

»Graylee! Jetzt hör mir doch mal zu! Und auf gar keinen Fall lasse ich dich zurück«, sagte Iceman ungeduldig.

Oh, in meinen Ohren hatte es so sehr gerauscht, dass ich Iceman kaum zugehört hatte. Ich hob den Kopf. »Okay. Liegt dort oben etwas Brauchbares? Irgendetwas?«

Iceman stöhnte, flatterte jedoch zum Rand der Grube. »Nein, nur der Gürtel«, sagte er, ehe er zu mir zurückgeflattert kam. »Aber immerhin ist keine dieser Kopien zu sehen.«

Kurz sah er mich an, direkt auf Augenhöhe, so fest, als wollte er mir per Gedankenkraft etwas mitteilen. »Hörst du mir jetzt bitte mal zu? Graylee …«, setzte er erneut an, und seine Stimme klang ein wenig zittrig, »ich wollte es dir schon länger sagen, aber jetzt bleibt keine Zeit, es dir schonend beizubringen. Bitte sei nicht sauer auf mich, in Ordnung?«

Sauer auf Iceman? Wieso sollte ich auf einen so knuffigen, liebenswerten Kolibri sauer sein? Ich dachte daran, wie oft ich ihm übers Gefieder gestreichelt hatte oder wie er mehrmals in meinem Bett neben mir eingeschlafen war. An mich gekuschelt. Wie ich ihn und Lucinda, beschwipst vom Zuckerwasser, auf mein Kopfkissen gebettet hatte. Was wir gemeinsam schon alles durchgestanden hatten … Er war zu einem richtig guten Freund geworden. Das musste er doch gemerkt haben. Warum druckste er dann jetzt so rum? Was wollte er mir sagen? Was immer es auch war, niemals würde ich sauer auf ihn sein können.

Iceman sah mich ein weiteres Mal flehend an, ehe er mit dem Nacken knackte, sein blau-grünes Köpfchen von links nach rechts drehte. Der Kolibri-Körper dehnte sich aus – und im nächsten Augenblick stand ein Junge vor mir. Ein menschlicher Junge.

Vor Schreck machte ich einen Schritt zurück, stieß mit beiden Handballen gegen die Wand. Kurz blitzte eine Vision auf, sobald ich einen Stein berührte. Doch dann … Ich fasste mir an den Hals. Da, wo gerade eben noch Iceman in der Luft geflattert war, stand nun tatsächlich ein Junge. Aber nicht nur irgendein Junge, sondern Baker. Und zwar vollkommen nackt.

Kapitel 2

Baker? Nein, unvorstellbar. Das musste ein Traum sein. Oder? Etwas riss in meinem Innersten und fuhr durch mich hindurch. Kalt wie eine Stahlklinge, die durch meine Organe schnitt, so fühlte es sich zumindest an.

Ich atmete scharf ein. Mehrere Puzzleteile fielen plötzlich an ihren Platz. Charlotte, ihre Anspielungen, die Tatsache, dass Iceman ständig fehlte, viel zu menschlich gestikulierte und wegen des Banns für Jungs erst nicht hatte in mein Zimmer kommen wollen. Und jetzt war mir auch klar, wieso. Ich hatte die ganze Zeit angenommen, Bakers Seelentier wäre ein Fisch, da ich ihn immer am Wasser getroffen hatte. Aber tatsächlich hatte ich ihn bisher nie als Tier gesehen. Und jetzt war es eindeutig: Baker war kein Fisch-Wandler.

Einen Moment lang schloss ich die Augen. Mein Brustkorb fühlte sich auf einmal wie Wackelpudding an. »Du bist ein Wendigo. Ein Kolibri-Wendigo. Warst es immer.« In mir schrie alles nach Verrat. Wie hatte er mir das antun können? Ich dachte, wir wären Freunde. Aber diese Freundschaft zwischen uns hatte praktisch nur von meiner Seite aus existiert. Iceman hatte aus ganz anderen Motiven meine Nähe gesucht. Und er hatte in meinem Bett geschlafen und mich in dem Glauben gelassen, dass er ein Kolibri war. Dabei war er ein Junge, verdammt!

Seine Schultern sackten nach unten, ehe er in Zeitlupe aufblickte. »Ich kann verstehen, wenn du jetzt enttäuscht bist.« Er hielt die Hände vor seine Körpermitte und kaute auf seiner Unterlippe herum. Sein Kiefer zitterte.

»Das ist es nicht.« Weil ich ihn nicht anstarren wollte, legte ich den Kopf in den Nacken. Zugegeben, das war nicht das erste Mal, dass ein nackter Baker vor mir stand, und immerhin war es recht dunkel in der Grube. »Ich wünschte bloß, du hättest mir genug vertraut, um es mir zu sagen.« Stattdessen hatte er mich ausspioniert. Mir seine Freundschaft nur vorgespielt. Denn wenn wir echte Freunde waren, wieso hatte er es mir nicht früher gesagt? Vorhin hatten wir an der Lagune geredet … lange. Und das nicht zum ersten Mal. Der Verrat schmerzte wie der Biss einer Schlange in meinem Nacken.

»Es tut mir leid«, sagte er leise. »Wäre es okay, wenn ich dir später alle Fragen beantworte?«

Seufzend schüttelte ich den Kopf, riss mich zusammen. Natürlich hatte er recht, das Wichtigste zuerst. Schließlich konnte Fake-Graylee jeden Moment zurückkehren. »Kannst du mir hochhelfen?« Mit einer Hand deutete ich nach oben, obwohl ich meine Hand viel lieber auf meinen Brustkorb legen wollte, um den Riss zusammenzuhalten, den Icemans Enthüllung gerade verursacht hatte. Die Klinge des Verrats, wie man so treffend sagte, steckte immer noch tief zwischen meinen Rippen.

»Natürlich. Aus diesem Grund habe ich mich verwandelt. Lass uns gehen.«

Nach einem Nicken drehte ich mich wieder zur Wand um, betrachtete das Hindernis, das zwischen mir und meiner Flucht stand. Baker machte eine Räuberleiter, und ich stieg auf seine Handflächen, wodurch ich es schaffte, bis zur Mitte der Wand hochzukommen und mich mit den Fingernägeln in das Lehm-Stein-Gemisch zu krallen. Dort, wo es den Anschein machte, als würde es nicht direkt nachgeben und mir entgegenrieseln. Der Verband an meiner Handfläche würde nachher zwar unweigerlich voller Dreck sein, aber das war mir im Moment egal. Die Wunde, die Vivienne mir bei der Zeremonie zugefügt hatte, war zum Glück nicht so tief, und ich würde sie nach diesem Ausflug auf jeden Fall gut reinigen, damit sie sich nicht entzündete.

Ich bohrte die Finger tiefer in die Wand, bis ich das Gefühl hatte, einen relativ festen Halt zu haben. Sobald meine Fingerkuppen auf den Untergrund trafen, huschten ein paar Visionsfetzen an mir vorbei. Entweder waren hier Mauerreste enthalten, oder etwas Schreckliches hatte sich mehr als nur einmal in der Grube abgespielt. Schreiende Mädchen, das Gefühl von Angst, Dunkelheit, weiße Federn, die zu Boden rieselten … Ich blinzelte die Bilder fort. Jetzt war keine Zeit dafür, alles in mir drängte danach, hier rauszukommen, um nach meinen Freunden zu sehen. Es musste einfach allen gut gehen. Es musste einfach!

Als Nächstes drückte Baker meine Beine höher, sodass ich mich auf seine Schultern stellen konnte.

Während er mich festhielt, streckte ich mich. »Nur noch ein kleines Stück«, sagte ich, ohne nach unten zu sehen. Den Blick musste ich mir auf jeden Fall verkneifen, denn der war sowieso nicht angemessen in unserer Situation. Definitiv nicht.

Ich spürte, wie Baker seine Hände unter meine Fersen schob und mich kurz darauf mit einem Keuchen noch höher drückte. Zwar schaute ich nicht nach unten, aber ich war mir sicher, dass er mich auf nach oben ausgestreckten Armen hielt wie ein Cheerleader. Ich zog mich so gut es ging hoch, balancierte auf den Zehenspitzen auf Bakers Händen, während ich mit den Fingern nach Halt suchte.

Natürlich rutschte ich sofort wieder ab, versuchte es noch mal. Und noch mal. Unter meinen Fingernägeln brannte das Fleisch, bloß war aufgeben keine Alternative. Beim vierten Versuch verlor ich das Gleichgewicht. Baker, der meine Turnschuhe festhielt, geriet ebenfalls ins Wanken. Verfluchter Mist. Angestrengt versuchte ich, meinen Körperschwerpunkt nach vorn zu verlagern. Der Wand entgegen. Noch ein Stück … Weniger schwanken … Arme nach oben … Geschafft! Nachdem ich mich wieder halbwegs gefangen und mein Herzschlag sich beruhigt hatte, bohrte ich meine Fingernägel erneut in das Kies-Lehm-Gemisch.

Keuchend schwankte Baker weiter, alles wackelte.

»Du kannst es, Baker. Gleichgewicht!«, stieß ich stockend hervor.

Ein Ruck ging durch ihn hindurch, dann ließ das Gewackel unter mir nach. Endlich. Aber wie kamen wir jetzt hinauf? Auch wenn ich mich streckte, war der Rand der Grube einen Tick zu weit oben. Es gab eigentlich nur einen Ausweg, wahrscheinlich nur einen Versuch, bevor die Zeit ablief.

Ich schluckte. »Baker, du musst mich hochwerfen, das ist die einzige Chance!«

»Was?«

Ich schwieg, fixierte den Grubenrand. »Werfen. Mit Schwung.«

»Na gut«, sagte Baker. Beinahe so, als würde er dem nur unter größten Bedenken zustimmen. »Ich fange dich auf, falls du stürzt.«

»Okay.«

»Bereit? Auf drei.«

»Tu es einfach«, wies ich ihn an. »So wie es Cheerleader bei Partnerstunts tun. Oder Artisten im Zirkus.« Was immer Baker schon gesehen hatte als Wendigo.

»Eins, zwei, drei.« Bakers Muskeln spannten sich an, seine Hände gaben ein wenig nach, um Schwung zu holen, weswegen ich nach unten sackte, aber dann direkt wieder nach oben katapultiert wurde.

In diesem Augenblick spannte auch ich mich an, drückte den Rücken durch, streckte mich. Gleichzeitig visierte ich mein Ziel an, stellte mir vor, wie ich es schaffte, wie sich die Freiheit anfühlen würde und der Triumph darüber, entkommen zu sein. Der Schmerz in meiner Schulter, an meiner Seite und in meinen Handballen verblasste zu einem dumpfen Pochen. Und tatsächlich: Es gelang mir, Bakers Schwung zu nutzen und mich wie am Beckenrand eines Schwimmbads abzudrücken. Nicht, dass ich das jemals getan hätte, doch ich hatte diese Bewegung bei meinen ehemaligen Mitschülern gesehen. Seltsam beflügelt und voller Adrenalin schwang ich ein Bein über den Rand. Zwar rieselte Kies unter meiner Wade nach unten, aber ich rollte mich direkt weiter. Nur weg von der Grube.

Sobald ich in Sicherheit war, kehrte der Schmerz zurück. Mein Körper protestierte, vor allem meine Rippen, weswegen mir ein Keuchen entfuhr. Staub wirbelte um mich herum auf, was mich husten ließ. Meine Smartphonekette hatte sich so ungünstig verdreht, dass sie mich fast erwürgte. Mit zittrigen Fingern zog ich die Kettenglieder auseinander, wobei ich wegen der Dunkelheit und des Staubs kaum etwas sehen konnte.

»Baker?«, flüsterte ich. Sollte ich ihm raushelfen? Eine Sekunde später fiel mir ein, wie unsinnig dieser Gedanke war.

Tatsächlich sirrte in diesem Moment ein Kolibri auf mich zu, tauchte aus der Grube auf. Natürlich hatte er sich zurückverwandelt. Baker … Iceman …

Stirnrunzelnd und ächzend kam ich auf die Beine. Darüber konnte und wollte ich jetzt nicht nachdenken. Stattdessen sah ich mich um. Wie seltsam, ich konnte die Grube nun problemlos sehen. Vermutlich, weil ich hineingefallen war und wusste, dass sie da war. Das hatte den Bann für mich gebrochen.

»Los, weg hier, bevor die Kopien zurückkommen.« Ohne einen weiteren Blick zurück auf den Kolibri zu werfen, lief ich los. Leicht bergauf zu rennen, noch dazu auf Kies, stellte sich als nicht gerade einfach heraus. Vor allem da meine Rippen und meine Schulter pochten und es in meinen Ohren summte wie beim Schleudergang einer Waschmaschine. Doch ich kam voran, und nur das zählte.

Im Grunde überraschte ich mich selbst, als ich die Straße erreichte, ohne auf dem unebenen Boden auszurutschen.

Iceman, der bis hierhin geschwiegen hatte, flatterte dicht neben mir. »Pass auf«, bemerkte er. »Sie könnten im Wald auf dich lauern.«

Ich nickte. »Flieg du etwas höher, ja? Und wenn sie uns angreifen, holst du sofort Hilfe, einverstanden?«

Daraufhin hüstelte Iceman. »Ich werde dich sicher nicht allein lassen.«

»Sei bitte still. Sonst werden sie uns hören.« Das kam mir härter über die Lippen als beabsichtigt, und sofort tat es mir leid, was ich gesagt hatte. Irrte ich mich, oder war der Kolibri-Körper unter meinen Worten zusammengezuckt?

Schlechtes Gewissen überrollte mich, doch ich verdrängte es. Kälte schloss sich erneut um mein Herz wie ein eiserner Handschuh. Ich wollte und konnte jetzt nicht mit Baker reden. Vielleicht nie mehr. Ob er mir unsere Freundschaft wirklich nur vorgespielt hatte? Natürlich hatte er das. Sicher war sein Plan gewesen, die Neuankömmlinge auszuspionieren. Ja, das musste sein Auftrag gewesen sein, seit Baker die Vorhersage der Sterne gehört hatte. »EinNeuankömmling bringt Dunkelheit.«

Mit einem Mal erschien mir die Sache glasklar. Die Ältesten im Camp Superior hatten bestimmt beschlossen, die Neuankömmlinge im Auge zu behalten, und da sie zufällig einen Kolibri-Wandler unter sich hatten, war Baker an die Swanlake Academy geschickt worden. Wahrscheinlich zur Schlüpfzeit in die Seemitte, wo erwachsene Kolibris auf den Kronenfelsen zur Welt kamen. Dann hatte er nur noch so tun müssen, als wäre er auch ein Geschenk der Götter an die Legends. Wortwörtlich.

Eilig wischte ich den Gedanken fort, konzentrierte mich auf den Waldboden vor mir. Ich durfte hier nicht hinfallen und umknicken. Das Summen in meinen Ohren setzte wieder ein. Dios mío, durch einen düsteren Wald zu rennen, kurz vor Mitternacht, fühlte sich an, als würde man durch einen Alfred-Hitchcock-Film stolpern.

Konzentrier dich, Graylee. Ich durfte mich jetzt nicht ablenken lassen. Ich musste zu Ornella. Keine Ahnung, was Fake-Graylee und Fake-Willow mit ihr machten, wenn sie sie zuerst aufspürten. Allerdings war Ornella als Walküre nicht ganz hilflos, wenn es um Kampftechniken ging. Wahrscheinlich lautete der beste Plan also, so schnell wie möglich die Lehrer zu informieren, damit wir gemeinsam Ornella suchen konnten. Ich malte mir bereits aus, wie Mrs Krystler schauen würde, wenn ich ihr …

»Achtung, da!«, schrie Iceman.

Dummerweise starrte ich reflexartig zu ihm nach oben. Was ein Fehler war, denn im nächsten Augenblick sprang mich etwas an, warf mich um, sodass ich mit der rechten Schulter auf harten Wurzeln aufschlug. Blendend heller Schmerz durchzuckte mich, Tannennadeln bohrten sich in meine Wange und in meinen Handrücken, als ich mich abrollte. Meine Doppelgängerin hatte mich umgerannt. Angesprungen aus dem Hinterhalt. Wie ein Schattendämon.

Ich trat nach ihr, als sie sich ein zweites Mal auf mich stürzte, erwischte mein Ebenbild an der Hüfte, was sie von mir weg katapultierte. Hastig rappelte ich mich wieder auf. Genau wie sie. Nur dass meine Kopie wie ein Raubtier knurrte. Allerdings hatte sie sich in einem Strauch voller Kletten verfangen, was mir ein paar Sekunden verschaffte.

»Könntest du mich nächstes Mal früher warnen, Iceman?«, stieß ich keuchend hervor. »Hol Hilfe. Jetzt!«

Kurz meinte ich, ihn unschlüssig auf der Stelle flattern zu sehen, doch dann rauschte der Kolibri ab, mitten über die dunklen Baumwipfel hinweg in Richtung Schule. Gut.

Doch damit war ich allein mit der Monster-Graylee.

Das Ironische an der Sache war, dass mich mein Leben die ganze Zeit über auf eine Situation wie diese vorbereitet hatte. Nur ich, ein Monster und Dunkelheit. Immerhin war die Kopie nicht unter meinem Bett hervorgekrochen.

Ich straffte die Schultern. »Du wirst mich nicht brechen.«

Das schien meine Doppelgängerin lustig zu finden. Ihre Zähne blitzten unnatürlich weiß auf. Inzwischen hatte sie sich von den Kletten und Ästen befreit. »Noch nicht. Aber spätestens, wenn unsere gemeinsame Zeit abgelaufen ist. Du hättest nie existieren sollen, aber diesen Fehler korrigiere ich gern.« Wie ein Raubtier schob sie sich seitwärts an mir vorbei, als wollte sie mich umkreisen.

»Also wirst du mich umbringen?«

»Nein, das erledigt der Fluch schon von selbst. Du bist bloß im Weg.«

Konnte ich nur zurückgeben. Aber das hieß, sie wollte mich zurück in die Grube werfen. Ich biss die Zähne zusammen. Sollte sie wieder angreifen, würde ich mich auf jeden Fall wehren. »Tja, schade nur, dass du mein weißes Band nicht bekommen wirst.«

Ihr Blick huschte zu meinem Hals. »Wo ist es?«

Ich schenkte ihr ein Raubtierlächeln, mehr nicht. Niemals würde ich ihr sagen, dass es sich in meiner Hosentasche befand, und ich würde auch keine Hand hineinschieben, um zu überprüfen, ob es noch da war oder ob ich es auf dem Weg hierher verloren hatte.

»Wo?«, hakte sie nach, dieses Mal lauter und irgendwie schriller. Aus ihrem Dutt löste sich vor meinen Augen eine Strähne. Die Stricknadel darin wirkte ebenfalls, als würde sie jeden Moment zu Boden gleiten. Stricknadel!

Rasch zog ich meine aus meinem eigenen Pferdeschwanz und richtete sie auf meine Doppelgängerin.

Zweige raschelten, was mir einen Schauer über den Rücken jagte. Was für Monster lauerten noch in diesem Wald? Ich kniff die Augen zusammen.

Kurz darauf schob sich hinter meiner Kopie London durch das Unterholz auf uns zu. Ihre Mandelaugen waren auf mich gerichtet. Na super. Zwei Doppelgängerinnen oder was immer sie waren. Die Wendigos bezeichneten diese Kopien als Skinwalker, mit dem feinen Unterschied, dass Skinwalker ihr Original angeblich sofort töteten. Bloß waren diese beiden Mädchen vor mir definitiv Produkte des Gorgonenfluchs und ich noch am Leben.

Ein bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus, als ich daran dachte, dass mir weder Mrs Zilba noch Mrs Krystler geglaubt hatten. Dabei hätten sie es als Vertrauenslehrerin und Rektorin, die auch noch den Minotaurenbann gelegt hatte, um den Fluch wegzusperren, besser wissen müssen. Würden sie mir jetzt endlich glauben? Nachdem Trixie zu Stein erstarrt war? Und ich angegriffen wurde? Oder würden sie es trotz allem weiterhin leugnen, dass ihr ach so toller Bann den Fluch nicht davon abgehalten hatte, ein weiteres Mal über die Schule hereinzubrechen?

Vor meinen Augen blitzten die Ereignisse der letzten Tage auf. Wie mir niemand außer meinen neuen Freunden geglaubt hatte, dass London, Trixie und zuletzt auch Willow nicht mehr sie selbst waren. Mein Blick glitt zurück zu meinem Ebenbild. Und ich. Der Verbotene-Liebe-Fluch hatte auch bei mir zugeschlagen. Nur wie hatte ich ihn überhaupt ausgelöst? War meine Nähe zu Hudson schuld daran, dass nun auch meine Kopie, eine böse Kopie von mir, aufgetaucht war? Oder lag es an meinem Treffen vorhin mit Baker? Hitze schoss mir in den Nacken, als ich daran zurückdachte. Und an Bakers Verrat.

Aber hier und jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, denn London hatte uns inzwischen erreicht. Ich wog meine Möglichkeiten ab: weglaufen und von hinten angegriffen werden, Zeit schinden und auf Verstärkung hoffen oder kämpfen? Zwei gegen einen. Hatte ich schon mal fairer gesehen. Auf jeden Fall sollte ich versuchen, Zeit zu gewinnen, bis Iceman Hilfe geholt hatte.

»Wo ist Ornella? Wenn ihr ihr ein Haar gekrümmt habt, werde ich eure falschen Hintern bis zum Mond treten, nur damit ihr es wisst.« Zugegeben, meine Stimme hörte sich nicht ganz so selbstbewusst an, wie ich es geplant hatte. »Und wenn ihr meiner Willow etwas getan habt, werdet ihr euch noch wünschen, selbst in dieser Grube zu sitzen. Im Gegensatz zu dem, was ich mit euch anstellen werde.«

»Alles klar, Mondgesicht«, sagte meine Kopie.

Ich stieß ein amüsiertes Schnauben aus. »Beleidigungen, die mein Äußeres betreffen, hören sich aus deinem Mund nicht sehr überzeugend an.«

Fake-Graylee antwortete nicht, nickte nur mit dem Kinn zu London und danach zu mir. Also schickte sie sie vor?

»Was soll das?«, fragte ich, sobald London einen Schritt auf mich zugemacht hatte. Ich musste noch mehr Zeit schinden, also konfrontierte ich sie einfach mit meinen Vermutungen. »Was habt ihr vor? Wollt ihr mich genauso wie die anderen echten Schülerinnen, die sich verliebt haben, in der Kiesgrube verscharren, um unsere Plätze einnehmen zu können? Ist die echte Trixie euch entwischt? Oder warum sitzt sie versteinert am See?«

Meine Doppelgängerin lächelte auf ihre grausame Art. »Sobald du selbst als Steinstatue endest, musst du dich nicht mehr mit diesen Problemen auseinandersetzen, keine Sorge. Überhaupt nicht mehr. Nie wieder …«

»Ist das so?« Ich hob eine Augenbraue. »Aber wie funktioniert dieser Fluch genau? Es ist ein Romeo-und-Julia-Fluch, nicht wahr? Die Liebe des Paars wird getestet. Und der Fluch trifft immer das Mädchen. Aber was ist, wenn es sich um ein gleichgeschlechtliches Paar handelt oder um nonbinäre …?«

Londons Kopie verdrehte die Augen und machte einen weiteren Schritt in meine Richtung. »In dem Fall entscheidet das Schicksal. Wie eigentlich immer.«

»Aber was ist es, was ihr wollt? Das verstehe ich noch nicht ganz.« Meine Stimme schwankte, während ich London nicht aus den Augen ließ. »Der Fluch hat euch erschaffen. Aber was wollt ihr?«

Als würde das auf der Hand liegen, starrten mich beide ausdruckslos an. »Die Ungerechtigkeit der Welt aufzeigen, ist doch klar«, sagte Londons Kopie. »Solange es verbotene Liebe gibt, werden wir das anprangern. Liebe muss frei verfügbar sein und für alle gleich.« Ihre Augenlider zuckten, ehe sie fortfuhr. »Wer den Test der wahren Liebe nicht besteht, wird für immer getrennt. Durch Stein. Es wird erst enden, wenn es keinen Unterschied mehr macht, wen wir lieben. Wenn es keine verbotene Liebe mehr gibt.«

Und der Fluch und der Test sollten dabei helfen? Wie bei allen Nornen sollten wir diese festgefahrenen Ansichten von verbotener Liebe so schnell ändern? Es hatte sich ja die letzten zwanzig Jahre schon kaum etwas getan in der Hinsicht. Aber wir mussten jetzt, und so schnell wie möglich, etwas unternehmen, damit die Kopien endlich Ruhe gaben. Am liebsten hätte ich laut aufgestöhnt. Ich war ganz dafür, dass man lieben durfte, wen man wollte. Doch wie sollte ich die anderen davon überzeugen? Bei Gorgonen ging es schließlich zusätzlich um die Sicherheit ihrer Partner … Was hatte sich der Fluchweber nur gedacht?

Meine Kopie lächelte wieder auf überhebliche Art und Weise, wie ich es niemals tat. Die Doppelgänger waren also tatsächlich keine Klone der Originale, sondern hatten eine eigene Persönlichkeit, eigene Ticks, und sie mussten sich erst dem Original anpassen, vielleicht auch erst von ihm lernen? Ließen sie die Originale deshalb am Leben? Um die Plätze ihrer Originale so gut wie möglich einzunehmen, die Täuschung zu perfektionieren und so deren Partner hinters Licht zu führen …?

Eine Bewegung in meinem Augenwinkel brachte mich kurz aus dem Konzept. War da gerade dieser gruselige Mann mit der Narbe hinter einem Baumstamm abgetaucht? Nein. Vermutlich spielten mir meine Sinne bloß einen Streich. Nichts weiter. Ich musste mich auf das Wesentliche konzentrieren. Jetzt!

»Also ist das Ganze, der Fluch, ihr Doppelgänger, eine Art Protest?«, hakte ich nach, wandte mich wieder London zu. »Protestiert ihr, indem ihr Leute umbringt, die diesen Liebestest nicht bestehen? Das könnt ihr doch nicht …!«

Ehe ich den Satz beendet hatte, sprang meine Doppelgängerin nach vorn. Einfach so, ohne jegliche Vorwarnung. London war also als Ablenkung gedacht gewesen. Hastig wich ich aus, machte einen Satz zur Seite, doch mein Ebenbild erwischte mich am Bein, was mich schon wieder zu Boden stürzen ließ. Aus dem Nichts war auch London über mir, setzte sich auf meinen Rücken, und bevor ich reagieren konnte, drückte sich etwas Hartes in meinen Nacken, wahrscheinlich ihr Unterarm.

»Hey!« Weiter kam ich nicht, da mein Kopf in den Dreck gedrückt wurde. Hustend wand ich mich, erreichte aber nicht viel. London war zu schwer, um sie einfach von mir runterzuwerfen. Aufgeben war aber auch keine Option. Mit dem Ellenbogen schlug ich nach London, die mich dafür an den Haaren zog.

Jemand brüllte, Dreck wirbelte auf, sodass ich erneut husten musste, dann war das Gewicht von meinem Rücken verschwunden. Ich hob den Kopf, rieb mir die Augen und sprang gleichzeitig auf, um nicht mehr in dieser verletzlichen Position am Boden zu verharren.

Als ich wieder klar sehen konnte, stand ein nackter Baker vor mir und schirmte mich vor London und der falschen Graylee ab. Schnell richtete ich den Blick von seiner Kehrseite zurück zu Fake-Graylee.

»Die anderen Wendigos sind auf dem Weg hierher«, sagte er, »also wenn ihr nicht von einer Schlange, einem Skorpion und einem Bären gebissen werden wollt, solltet ihr euch echt verziehen.«

Die falsche Graylee schob sich die Haare aus der Stirn. »Du bluffst nur.«

»Wenn du meinst.« Baker legte den Kopf schief.

Gut, dass es so dunkel war und man deswegen nicht unbedingt einen genaueren Blick auf seinen Körper werfen konnte. Dennoch erwischte ich London dabei, wie sie schamlos an Baker hinabstarrte. Was ihn jedoch nicht zu stören schien. Allerdings hatten Wendigos allgemein weniger Probleme mit dem Nacktsein, wie mir wieder einfiel.

Im selben Moment raschelte etwas, dann glitt eine Schlange aus dem Laub. Eine braun-grüne, recht muskulöse Schlange. Jedenfalls war sie alles andere als ein schlaffer Gartenschlauch. Eine Sekunde später stand ein nackter Jinx neben Baker. Dunkelblonde Surferfrisur, breite Schultern und ein ziemlich schmales Becken.

Super, konnte ich irgendwohin noch gefahrlos schauen?

Fauchend richtete meine Doppelgängerin ihre Stricknadel auf ihn. »Mischt euch nicht ein, Wandler-Pack.« Ohne Vorwarnung griff sie an, als hätte sie keine Angst vor zwei muskulösen Jungs und dazu eine ganze Armee hinter sich. Zugegeben, da draußen war irgendwo Fake-Willow, und Fake-Graylee war außerdem im Besitz von Stricknadeln. Die sie auch einsetzte.

Mit erhobener Stricknadel stach sie auf Baker ein, der nach links auswich, dann einen Unterarm anhob, um sie abzublocken. In der Zwischenzeit hatte sich Jinx vor Fake-London geschoben, um sie davon abzuhalten, meiner Doppelgängerin zu Hilfe zu eilen. Während er London in Schach hielt, tänzelte Baker weiter um mein Ebenbild herum, das wieder und wieder angriff. Es war klar, dass Baker sie nicht verletzen wollte. Nicht ein Mädchen und schon gar keins mit meinem Gesicht.

Mist, so würde das nicht gut ausgehen.

»Das hört jetzt sofort auf!« Ich drängte mich zwischen die Kämpfenden und zog Baker und Jinx an den Ellenbogen ein Stück weg von den Kopien. Etwas brannte in mir, ließ mir das Blut zu Kopf steigen. »Stopp!« Voller Wut deutete ich auf die andere Graylee, die … tatsächlich innehielt. Und zwar so urplötzlich, als wäre sie zu Stein erstarrt. Um mich herum vibrierte die Luft. Konnte das …? Auf einmal fühlte sich meine Kehle kribbelig an. Nein, oder?

»Ich glaube, du benutzt Sirenenklang«, wisperte mir Baker zu.

Genau mein Gedanke.

Jinx’ markantes Kinn zitterte. »Was bei allen Geistern ist das? Hexerei?«

Doch ich hörte ihm kaum zu. Sirenenklang, ich? Vor Schreck schlug ich mir die Hand vor den Mund. Ausgerechnet diese Fähigkeit? Nein, das konnte unmöglich sein. Ich war keine …

Meine Doppelgängerin verzog die Lippen zu einem Lächeln, in dem Grausamkeit brannte. »O doch. Du bist genau das Monster, vor dem du immer Angst hattest. Du … Wir sind Sirenen. Sirenen mit einem dunklen Erbe.«

»Halt den Mund!«, fuhr ich mein Ebenbild an, woraufhin sich ihre Lippen sofort wieder schlossen. Sirenenklang funktionierte auch bei Sirenen. Nur nicht so stark. Wenn meine Kopie diese Fähigkeit bisher nicht benutzt hatte … Hieß das, dass sie Sirenenklang nicht beherrschte oder nicht darauf zugreifen konnte? Meine Gedanken überschlugen sich. Ich musste handeln, jetzt! Ehe sie lernte, Sirenenklang gegen mich einzusetzen, und mir alles befehlen konnte.

Blöderweise hallte ihr letzter Satz immer noch in mir nach. Und daher wanderten meine Gedanken direkt zu den unzähligen Stunden in Schwimmbädern, als ich Angst vor Wesen im Wasser gehabt hatte, die nach meinen Beinen schnappten. So eins, genau so eins war ich? Das musste ein Missverständnis sein.

Ich räusperte mich. »Wie auch immer. Ihr haut jetzt ab, oder ich bringe euch mit Sirenenklang dazu, eure eigenen Finger zu essen, verstanden?«

»Grausamkeit liegt Sirenen ebenfalls im Blut«, sagte London, wobei sie mir ein süffisantes Grinsen schenkte.

Fake-Graylee verdrehte lediglich die Augen.

Meine Schultern zitterten. »Noch ein Wort …!« Mit der Stricknadel deutete ich auf sie. Wie in aller Welt wurden wir diese Kopien los? Ihnen wie in der Theorie der Skinwalker auf den Kopf zuzusagen, dass ich sie durchschaut hatte, hatte nicht funktioniert. Oder …? Ich warf Baker einen Blick zu. Oder musste es jemand anderes tun? Der Partner, den der Liebesfluch ebenfalls getroffen hatte? Also in meinem Fall Hudson oder Baker. Hudson war nicht hier, aber …

»Baker.« Ich versuchte, meine Stimme zu senken. »Sag es ihr auf den Kopf zu. Das, was wir besprochen haben.«

Baker blinzelte, zögerte dann jedoch keine Sekunde. »Du bist der Skinwalker, die schlechte Kopie, aber du wirst mich nie reinlegen. Du bist nicht die echte Graylee. Sie würde ich überall erkennen. Unter Tausenden falschen Graylees. Meine Treue gilt ausschließlich ihr.«

Ich hatte das Gefühl, er wollte noch mehr sagen, doch Baker brach ab, fixierte meine Doppelgängerin. Genau wie ich. Hatte es funktioniert? Seine Hand verflocht sich mit meiner, und ich ließ es zu. Selbstverständlich nur, um meine Kopie loszuwerden.

Und tatsächlich: Mein Ebenbild erstarrte, verlor sämtliche Farbe. Wortwörtlich. Eine Sekunde später stand eine graue Graylee vor uns. Partikel um Partikel löste sich von ihr wie Staubkörner, die in der leichten Brise davonwehten.

»Du weißt, was du zu tun hast«, raunte sie London zu. Dann löste sie sich ganz auf, wie verblassender Nebel.

Oh my Gatos! Es. Hatte. Funktioniert. Nur langsam begriff ich, dass ich damit die einzige Graylee im Wald war. Aber das hieß zudem, dass Baker wirklich etwas für mich empfand. Dass wir vorhin den Fluch ausgelöst hatten. Und offenbar reichte auch unerwiderte Liebe. Oder war es die zufällige Berührung unserer Hände, die in mir einen Funken entfacht hatte? Man sagte doch, bei Teenagern konnte man alles auf die Hormone schieben. War es so? Wirklich gern hätte ich mir an die Stirn gefasst, unterließ diese alberne Geste jedoch. Ich mochte schließlich Hudson und nicht Baker.

Mein Herz raste, setzte einen Takt aus und überschlug sich dann wieder. Am liebsten hätte ich Baker angesehen oder Zeit gehabt, in Ruhe darüber nachzudenken und diese Entwicklung in irgendeiner Art zu verarbeiten. Stattdessen verspürte ich erneut ein brennendes Ziehen im Magen und starrte krampfhaft nach vorn. Baker war Iceman und hatte mich hintergangen. Der Verrat saß immer noch zu tief.

Ein Fauchen riss mich aus meinen Gedanken. London. Doch anstatt anzugreifen, machte sie auf dem Absatz kehrt und raste davon.

»Jinx«, sagte Baker, und sofort nahm sein Kumpel wieder seine Schlangengestalt an. Zischelnd jagte er London hinterher.

Das hier war definitiv gruseliger als ein Monster unter dem Bett.

Kapitel 3

Meine Doppelgängerin hatte sich aufgelöst. Weil Baker sie durchschaut und ihr ins Gesicht gesagt hatte, dass sie die Kopie war. Weil er zu mir hielt. Weil ich ihm etwas bedeutete. Die Szene spulte sich noch einmal in meinem Kopf ab. Baker … Er war … Und er hielt meine Hand.

Ich konnte nicht sagen, ob es die Anspannung war oder etwas anderes, jedenfalls spürte ich heiße Tränen in mir aufsteigen, und ich konnte es nicht verhindern.

Die Dunkelheit zog sich mehr und mehr zu – oder kam es mir nur so vor? Ich biss mir auf die Unterlippe, während die Gedanken in meinem Kopf Achterbahn fuhren. Ob meine Doppelgängerin wirklich für immer fort war? Oder würde sie zurückkehren? Der Fluch an sich war definitiv nicht gebrochen, denn Fake-London hatte sich nicht mitaufgelöst.

Baker drehte den Kopf zu mir, warf mir einen Blick zu, wie ich aus dem Augenwinkel mitbekam. Dann, nur einen Atemzug später, war seine Hand aus meiner verschwunden. Statt eines nackten Jungen schwirrte ein blau-grüner Kolibri, der ziemlich betrübt aussah, vor mir. »Es tut mir leid, wie alles gekommen ist. Wir reden später, okay? Du solltest zu Mrs Krystler rennen, jetzt! Ich begleite dich.«

»Nein, ich suche Ornella.« Im Prinzip hatte ich nicht weiter darüber nachgedacht. Der Satz war mir einfach so über die Lippen gekommen. Aber es stimmte. Zwar war mein Plan vorhin noch gewesen, Hilfe zu holen, aber wenn Fake-London und die falsche Willow in genau diesem Moment zu zweit Ornella angriffen, und zwar hier im Wald, nur weil Ornella mich suchte … Das würde ich mir nie verzeihen können. »Flieg du vor zur Schule.«

Baker zuckte zusammen. »Du willst nicht mit mir unterwegs sein, schon verstanden, aber du kannst nicht ernsthaft, nach allem was passiert ist, nachts durch den Wald rennen. Allein.« Baker beziehungsweise Iceman schüttelte sich.

Warum war mir das nicht früher aufgefallen? Die viel zu menschlichen Gesten hatte ich schon oft an ihm bemerkt, bloß hatte ich nicht zwei und zwei zusammengezählt. Wie hatte ich das nicht sehen können? Etwas Kaltes rann meinen Nacken hinab wie die Berührung eines Geistes.

Ich schluckte hart. »Ich habe keine Zeit, jetzt mit dir darüber zu diskutieren. Geh mir aus dem Weg oder hilf mir.«

Iceman wich zurück, als hätte ich ihn geschlagen.

Ehe ich noch etwas hinzufügen konnte, brüllte hinter mir ein Tier. Als mein Hirn endlich begriff, dass es der Ruf eines aufgebrachten Bären war, wirbelte ich herum – und tatsächlich galoppierte einer auf mich zu. Ein Bär!

»Nein!« Iceman flog vor mich, verwandelte sich erneut ohne Vorwarnung in einen nackten Baker. »Sie ist die Echte!«

Offensichtlich konnte der Bär-Wendigo nicht mehr bremsen, denn er warf uns beide um. Sowohl Baker als auch mich.

Wieder einmal landete ich im Dreck, kullerte den sanften Abhang hinunter, der zur Schule führte. Dem Bären und Baker erging es ähnlich. Bis mich jemand am Bein packte und festhielt.

»Scheiße, Baker, warum sagst du denn nichts?«, fauchte ein Mädchen. »Jinx, Epcot und ich drehen jeden Zweig nach dem Skinwalker um.«

»Jinx war schon hier.« Bakers Stimme klang gepresst.

Fingernägel gruben sich in den Waldboden, ehe eine Faustvoll Erde ganz in der Nähe von mir gegen einen Baumstamm geschleudert wurde. »Dieser geschuppte Mistkerl! Jedes Mal hängt er mich ab.«

Ich stöhnte. Wollte ich mich umdrehen und ein nacktes Wendigo-Mädchen sehen oder nicht? Aber damit war klar, dass Epcot der Skorpion sein musste, von dem Baker gesprochen hatte. Und offenbar nannten die Wendigos die Kopien weiterhin Skinwalker.

Das Mädchen atmete tief ein. »Du bist so ein Trottel, seit du sie getroffen hast.«

Ich vollführte einen halben Sit-up am Berg (zu mehr reichte es nicht) und sah gerade noch, wie sie nach Baker trat. Der hatte sich halb aufgerichtet – zum Glück mit dem Rücken zu mir, sonst hätte ich unfreiwillig ziemlich viel gesehen –, doch durch den Tritt kam er ins Stolpern, rutschte weg und verlor das Gleichgewicht.

Schnell kniff ich die Augen zusammen, als Baker auch schon aufprallte … Direkt … auf … mir. Ich spürte seinen Atem an meinem Ohr. Nein, bitte nicht …

»Schon besser.« Das Bärenmädchen stieß ein glockenhelles Lachen aus.

»Peri, du bist so kindisch …«, knurrte Baker, bewegte sich allerdings nicht von mir runter. Er räusperte sich. »Alles okay? Sorry.«

Oh, das ging dann wohl an mich. Immer noch vermied ich es, die Augen zu öffnen. Den beiden mochte Nacktheit nichts ausmachen … mir irgendwie schon. Und nach dem, was vorhin auf dem Weg zum Parkplatz geschehen war, konnten wir uns absolut keinen weiteren intimen Moment leisten. Denn vermutlich hatten wir durch die Nähe und die Berührungen dort den Fluch überhaupt erst ausgelöst. Oder schon vorher? Dabei hatte ich doch beschlossen, dass Baker und ich nur Freunde waren. Sofort meldete sich eine leise Stimme in meinem Kopf, die mir einen Vortrag darüber hielt, dass man so viel beschließen konnte, wie man wollte, wenn das Herz etwas anderes sagte als die Vernunft. Oder es waren einfach unsere Hormone … Jedenfalls war es umso wichtiger, dass ich die Augen geschlossen hielt, um das aufziehende Drama eventuell abwenden zu können.

Irgendwer rief meinen Namen. Hudson! Erst mit Verzögerung begriff ich, dass er ganz in der Nähe sein musste.

Hudson! Mein Kopf fuhr herum. Genau wie Bakers. Die Augen zu verschließen, war damit nicht länger eine Option …

»Graylee?« Hudson kam auf uns zugejoggt, sicher vom Lärm angelockt, den wir verursacht hatten, als wir den Abhang hinuntergeschrammt waren.

Blöderweise hatte sich Baker immer noch nicht gerührt, weswegen Hudson uns wie in einer schlechten Komödie aufeinander liegend am Boden auffand. Mich unter einem nackten Baker. Einem vollkommen nackten Baker, um genau zu sein.

Abrupt kam er vor uns zum Stehen. Langsam sah ich von seinen Fußspitzen bis hoch in sein Gesicht. Seine Augen waren aufgerissen, ungefähr so wie bei mir vorhin, als ich Icemans Geheimnis erfahren hatte.

Ich räusperte mich, wünschte, ich könnte auf der Stelle im Erdboden versinken. Erstklassig. Und warum fielen mir auf einmal keine Wörter mehr ein?

»Ähm, ja, entschuldige.« Eilig sprang Baker auf, hielt mir eine Hand hin.

Selbstverständlich rappelte ich mich ohne seine Hilfe äußerst umständlich auf.

Hudson sagte nichts, starrte uns einfach nur an. Irgendwie mehr wie eine leere Hülle als wie ein Mensch. Wieder dachte ich an unseren Deal. Dass wir erst den Fluch bekämpfen und es danach miteinander versuchen würden. Vermutlich schloss dieser Deal nicht ein, dass er es einfach so hinnahm, mich mit einem anderen Jungen zu sehen. Einem nackten Jungen, wohlgemerkt.

Ein Flackern trat in Hudsons Augen. Eifersucht, es war ganz klar dieses lodernde Gefühl. Wahrscheinlich erwartete er eine Erklärung.

Ich räusperte mich erneut und klopfte mir die Tannennadeln vom Shirt. »Baker, Peri. War schön, euch zu treffen.« Mist, was redete ich denn da?

Peri knackte mit den Fingerknöcheln, als hätte sie vor, Hudson zu vermöbeln. Tatsächlich verfügte sie über beeindruckend ausgeprägte Armmuskeln. Doch zum Glück hielt sie sich zurück. »Baker. Wir sollten das Mythenpack allein lassen.« Nach einem Zähneblecken verwandelte sie sich zurück in ihre Bärengestalt. Mit einem Brüllen, das eindeutig nur für mich bestimmt war, galoppierte sie auf allen vier Tatzen davon. In Richtung des Wendigo-Camps.

Baker schaute ihr nicht hinterher, beobachtete stattdessen mich, als sollte ich eine Entscheidung für ihn treffen.

Was für eine Telenovela lief hier bitte? Irgendwie hatte ich keine Worte mehr. Nicht für Peri, die wie Charlotte offensichtlich nichts auf Legends wie Hudson und mich gab und sich aus dem Staub gemacht hatte. Nicht für Baker, der mich belogen hatte, und genauso wenig für Hudson, der endlich auch mal aufgetaucht war und jetzt dreinschaute, als hätte ich ihm ein Messer in den Rücken gestoßen.

Blöderweise nagte das schlechte Gewissen an mir. Aber Hudson und ich hatten eine Abmachung. Wenn ich jetzt anfing, mit ihm zu reden, würden meine aufgewühlten Gefühle völlig verrücktspielen. Noch dazu war Baker nicht meine erste Wahl als Zeuge für ein Streitgespräch zwischen Hudson und mir. Vor allem, da dieses Streitgespräch durchaus eskalieren konnte. Vermutlich würde es darin enden, dass ich Hudson anbrüllte oder ansprang. Beides keine Szenarien, die ich mir aktuell leisten konnte. Aber vielleicht ein kurzes Wort der Entschuldigung?

Nachdem ich meinen Stolz halbwegs hinuntergeschluckt hatte, machte ich einen Schritt auf Hudson zu. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Unerwarteterweise ruckte sein Kopf hoch, während er einen kleinen Ausfallschritt zurück machte. Sein Blick traf meinen. Sollte das ein Bleib weg von mir ausdrücken?

Die Erkenntnis darüber ließ Eiskristalle über mein Herz rieseln, so fühlte es sich zumindest an. Ich presste die Lippen aufeinander. Okay, dann eben nicht. Am besten machte ich es auf die gute altmodische Art und Weise: nur ich. Allein.

»Ich muss Ornella finden«, sagte ich daher anstelle eines Abschiedsgrußes, wandte mich um und rannte. In die Richtung, in die Fake-London abgezischt war. Es war in etwa die Route, die zum Falkengehege führte. Was, wenn die falsche London sich tatsächlich Fake-Willow anschloss und sie Ornella etwas antaten …? Das musste ich unbedingt verhindern. Willow sollte Ornella eigentlich nur einfangen, zumindest hatte ihr das meine Doppelgängerin befohlen. Weil sie auf dem Weg in die Kiesgrube war und ebenfalls über den Fluch und die Kopien Bescheid wusste; Ornella, Hudson und ich waren den Doppelgängern deshalb ganz offensichtlich ein Dorn im Auge. Aber gerade eben, bevor sie sich aufgelöst hatte, hatte Fake-Graylee der falschen London einen neuen Auftrag geben. »Duweißt,wasduzutunhast«, hatte mein Ebenbild gesagt. Das konnte nur bedeuten, dass Fake-London sich Willow anschließen sollte. Oder war sie doch zu einem anderen Job unterwegs? Aber zu welchem?

Ich warf einen Blick zurück. Niemand folgte mir, wofür ich dankbar war. Im Laufen rann etwas Heißes über meine Wange. Erst viel später begriff ich, dass es Tränen waren.

Als ich mich dem Falkengehege näherte, krümmte sich dort etwas wie ein Riese, ein Berg, nein, ein Monster. Ich kniff die Augen zusammen. Da, kurz bevor der Wald endete, kniete jemand auf dem Boden.

Mit klopfendem Herzen lief ich schneller, fiel hin, rollte mich auf die Knie, fasste mit dem Verband, der inzwischen vor Dreck an der Unterseite braun verfärbt war, in Dornen, befreite mich daraus und rannte weiter. Schmerz pochte an mir wie in diesen Werbekampagnen, bei denen orangene Schmerzpunkte überall am Körper aufleuchteten. Bei mir leuchteten mindestens doppelt so viele.

Wahrscheinlich hatte ich mir bei dem Fall in die Grube den Kopf zu hart angeschlagen, denn das, was ich da am Ende des Walds sah, konnte nicht Wirklichkeit sein. Aber nun, da ich näher herankam, erkannte ich, was ich bis eben noch für ein Monster gehalten hatte: Willow kniete am Boden, komplett von einer Schlange eingewickelt, die sie sogar knebelte. Ornella hatte sich nicht weit entfernt von den beiden aufgebaut, zielte mit Pfeil und Bogen auf Willows Kopf. Ein entschlossener Ausdruck umspielte ihre Mundwinkel. Nur London konnte ich nirgends entdecken, was mir irgendwie verdächtig vorkam. Immerhin war sie in diese Richtung gelaufen.

»Da ist sie ja!«, bemerkte Jinx in einem Tonfall, der genauso gut auf eine Theaterbühne gepasst hätte.

»Seh ich«, presste Ornella hervor. »Die Schlange sagt, sie kennt dich?«

Ich räusperte mich, betrachtete die falsche Willow, die vollkommen ruhig vor mir kniete und ins Leere schaute. »Das ist Jinx«, sagte ich. »Du hast neulich in deiner Morningshow über ihn gesprochen.« Wenn ich mich recht erinnerte, hatte sie Jinx als den Herzensbrecher unter den Wendigos oder etwas in der Art bezeichnet.

Ornella blinzelte nicht, verzog keine Miene und senkte die Pfeilspitze keinen Fingerbreit. »Sehe ich so aus, als ob ich mich zu den Wendigos schleiche und wüsste, wer zu welcher Kreatur wird?«

Auch wieder wahr. Sie hatte Tristan.

»Ihr habt also über mich geredet!« Jinx’ Stimme schwoll an. Okay, entweder befand ich mich in einer Art Comedyfolge – also einer überzeichneten Cartoonwelt von meiner eigenen Wirklichkeit –, oder es drehten einfach alle durch. Es war ja schon schräg genug, dass überhaupt eine Schlange mit mir redete. Aber der Junge, Herzensbrecher seiner Art, freute sich offenbar auch noch diebisch, dass er Thema bei den Mädchen der Swanlake Academy war, weshalb er ähnlich überdreht wie der Joker schwatzte. Wenn als Nächstes die Musical-Folge zu meinem Leben kam, würde ich steppend davonlaufen.

»Hat sie irgendwas versucht?« Ich deutete mit dem Kinn auf die falsche Willow.

»Mich angegriffen«, knurrte Ornella. »Aber Walküren legt man nicht so einfach aufs Kreuz.«

Hatte ich auch nicht erwartet.

»Kommt schon«, sagte Jinx, wobei man ihn mit einem quengeligen Kleinkind hätte verwechseln können. »Was habt ihr über mich gesagt?«

Statt zu antworten, stieß Ornella ein Grunzen aus.

»Dass du als Mensch nicht halb so attraktiv bist wie als Schlange«, log ich. Allerdings nicht besonders überzeugend.

»Was?«, japste Jinx.

Okay, offensichtlich doch überzeugend genug für Jinx …

»Hat er wohl nicht erwartet«, sagte Ornella.

Ich ließ den Blick über Fake-Willow schweifen. »Was machen wir jetzt mit ihr? Mit Willows Kopie? Ich habe übrigens Neuigkeiten zum Fluch. Erzähle ich dir nachher.« Dass er mich getroffen hatte und dass die echte Willow mit ziemlicher Sicherheit in einer versteckten Grube steckte, würde ich Ornella und den anderen in Ruhe beibringen.

Geräusche nicht weit entfernt ließen mich aufhorchen. War irgendwer auf dem Weg hierher? Ich strengte mich an, lauschte. Ganz in der Nähe meinte ich, Rufe von Erwachsenen zu hören. Wahrscheinlich hatten sie sich um die versteinerte Trixie am Steg versammelt. Damit waren sie nicht unbedingt nah, aber einen lauten Schrei würden sie vermutlich mitbekommen. Vor allem, wenn ein Gorgone mit dem für seine Mythenart besonders scharfen Gehör unter ihnen war. Sollten wir auf uns aufmerksam machen?

»Tristan holt bereits Verstärkung.« Offensichtlich hatte Ornella meine Gedanken erraten.

Ich nickte nur. »Okay.«

»Hallo?«, sagte Jinx. »Ihr habt meine Frage immer noch nicht beantwortet.«

Die geknebelte Willow grummelte.

»Jinx, wenn du dich weiter so aufspielst, lasse ich mir die Ohren versteinern«, sagte ich nach ein paar Sekunden, in denen sich meine Atmung beruhigt hatte.

Während Jinx kicherte, schüttelte Ornella lediglich in Zeitlupe den Kopf.

Doch ich ignorierte die beiden. Ich war gerade einfach nur froh, dass sich mein Ebenbild aufgelöst hatte, es Ornella gut ging und wir die falsche Willow geschnappt hatten. Jetzt konnten wir den Lehrern endlich beweisen, dass der Fluch wieder aktiv war. Unwillkürlich wanderten meine Gedanken zurück zu Hudson. Mir war bewusst, dass wir uns nach dem heutigen Abend und vor allem nach der Sache mit Baker dringend aussprechen mussten. Allerdings war das aktuell mein kleinstes Problem. Würde dieser Fluch mich ein weiteres Mal treffen, wenn ich Hudson oder Baker zu nahe kam? Ich rieb mir über die juckenden Schläfen. Ziemlich wahrscheinlich. Meine Kopie hatte sich dieses Mal aufgelöst, aber beim nächsten Verstoß gegen die Regeln des Romeo-und-Julia-Fluchs würde sie vermutlich zurückkehren. Oder?

Moment, müssten dann nicht schon mehr Doppelgänger rumlaufen? London, Willow und Trixie waren schließlich sicher nicht die Einzigen, die etwas mit einem Mitschüler oder einer Mitschülerin am Laufen hatten. Hudson und ich waren uns auch mehrmals nahe gekommen, da war allerdings nichts geschehen. Konnte es sein, dass es einen willkürlich traf wie bei einem Glücksspiel? Und manchmal kam man ungeschoren davon? Die Erkenntnis hämmerte so heftig gegen meine Hirnwindungen wie ein Presslufthammer. Ja, so musste es sein. Also sollten wir uns weiterhin um das Wichtigste zuerst kümmern. Abstand zu den Jungs war am sichersten. Am besten für alle.

Im Laufschritt näherten sich uns vom Parkplatz her zwei Personen.

»Da drüben.« Tristans aufgelöster Tonfall ließ mich erahnen, was für eine Angst er um Ornellas Leben hatte.