Legenden der Bronzekriege Band I - Stephan Birkholz-Hölter - E-Book

Legenden der Bronzekriege Band I E-Book

Stephan Birkholz-Hölter

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Beschreibung

Der alte Herrscher der zwergischen Grafschaft Eszak liegt im Sterben und muss sich zwischen seinen zwei Söhnen Podos, dem spontaneren und autoritäreren, und Pravedan, dem zögerlicheren und ruhigeren, als Nachfolger entscheiden. Nachdem verschiedene Interessengruppen für den einen oder anderen geworben haben, entscheidet er sich und stirbt. Doch einige, die für den Neuen geworben haben, bereuen es bald. Die orkische Matriarchin Hatala, die sich wie eine Halbgöttin verehren lässt, trommelt fünf Orkhorden zu einem Bündnis zusammen und erklärt der zwergischen Grafschaft Vale den Krieg. Unter den Häuptlingen der Horden gibt es starke Rivalitäten, wobei sich immer deutlicher der Häuptling Ilgjarn durchsetzt, der dafür auch vor fast nichts zurückschreckt. Eszak wird durch ein Bündnis mit Vale in den Krieg hineingezogen und hat ihn nach einiger Zeit sogar alleine am Hals. Die Zwerge sind den Orks zwar an Technologie und Organisation überlegen, aber die Orks sind in Überzahl und greifen auch mitten im Winter an. Außerdem stellt Hatala ihnen später ein mächtiges magisches Artefakt zur Verfügung. In der Garde der Zwerge dienen auch menschliche Söldner. Ihr Anführer Bandolf versucht, seine Leute so gut es geht, heil durchzubringen. Aber dies gelingt ihm nicht, weil der neue Graf gerade die Menschen immer in die vorderste Reihe stellt, ebenso wie andere Personen, die er loswerden möchte. Das gilt auch für die Jargoisten, eine Gruppe unter den Zwergen, die der traditionellen poltheistischen Religion abgeschworen haben und nur noch den Gott Jargo anbeten. Alle anderen Zwerge sehen in diesem aber den Gott der Elfen, der mit ihnen nichts zu tun hat und nur die kulturelle Identität zerstört.

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Vorwort

Beim vorliegenden Roman handelt es sich um ein in Eigenregie veröffentlichtes Werk. Christliche Fantasy ist leider ein solches Nischen-Genre, dass es nicht einfach ist, einen Verlag zu finden. Um nicht zu viel Zeit mit der Suche nach einem solchen zu verlieren, habe ich daher irgendwann beschlossen, „Legenden der Bronzekriege“ im Selbstverlag bei BoD zu veröffentlichen.

Dadurch entfiel leider das professionelle Lektorat. Ich danke meiner Frau Anne und meiner Schwägerin Mareike für das Korrekturlesen, bitte aber um Verständnis, dass dadurch nicht jeder kleine Druckfehler vermieden werden konnte. Außerdem danke ich Mareike für die Anfertigung des Coverbildes.

Noch ein Hinweis an die Leser: Wenn ich selbst Romane mit komplexen Handlungen lese, in der Personen aus früheren Kapiteln irgendwann in anderen Zusammenhängen wieder auftauchen, passiert es mir immer wieder, dass ich Mühe habe, einzuordnen, wer sie sind und welche Rolle sie vorher schon gespielt hatten.

Für alle, denen es auch so geht, enthält dieses Buch daher im Anhang 2 ein Personen-Register. Dort sind alle im Buch vorkommenden Personen alphabetisch geordnet aufgeführt und mit einer kurzen Einordnung versehen.

Selbstverständlich sind alle Personen im Buch frei erfunden. Wer mein Buch „Dodans Reise“ gelesen hat, wird einige Nebenfiguren wiedererkennen. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind jedoch rein zufällig und unbeabsichtigt.

Eine gute Lektüre wünscht,

Stephan Birkholz-Hölter

(im März 2024)

Inhalt

Kapitel 1: Die Besucher

Kapitel 2: Hatalas Rat

Kapitel 3: Aufbruch von Buchental

Kapitel 4: Bradans Entscheidung

Kapitel 5: Der Zeltbauer

Kapitel 6: Willkommen in Povaren

Kapitel 7: Kriegsrat

Kapitel 8: Nuval

Kapitel 9: Eindringlinge

Kapitel 10: Die Schlacht auf dem Eis

Kapitel 11: Die Rekrutierung

Kapitel 12: Arnelas Runde

Kapitel 13: Tödliche Härte und andere Sichtweisen

Kapitel 14: Bandolfs Runde

Kapitel 15: Frühlingsanfang

Kapitel 16: Der Schädel der Angst

Kapitel 17: Der Kessel von Harzbergen

Kapitel 18: Die Rückkehr nach Povaren

Kapitel 19: Der Schmied, der es ausspricht

Kapitel 20: Die Wahl des Barons

Kapitel 21: Kundschafter und Marodeure

Kapitel 22: Malins Fall und Fehilds Durststrecke

Kapitel 23: Neue Bedingungen

Kapitel 24: Der Rinderhirte

Kapitel 25: Das Massaker unterm Regenbogen

Kapitel 26: Zwischen Hoffnung und Verzweiflung

Kapitel 27: Auf das Bündnis

Kapitel 28: Heimkehr mit Schrecken

Kapitel 29: Podos´ Plan

Kapitel 30: Empfang der Reiter

Kapitel 31: Sommerfest (Teil 1

)

Kapitel 32: Gerüchte und wozu sie gut sind

Kapitel 33: Sommerfest (Teil 2

)

Kapitel 34: Das Angebot des Fremden

Kapitel 35: Wahrheit, Logik und Moral

Kapitel 36: Podos´ neuer Plan

Kapitel 37: Tag der Entscheidung

Kapitel 38: Der Schwur

Kapitel 39: Strategische Bewegung und Freiheitskampf

Kapitel 40: Rautal

Kapitel 41: Fehilds Runde

Kapitel 42: Die vier Märsche

Kapitel 43: Die Schlacht ohne Sieger

Kapitel 44: Sturmangriff

Kapitel 45: Die Bilanz

Anhang 1: Landkarte von Munzanien

Anhang 2: Personenregister

Anhang 3: Über den Autor und Wega

Anhang 4: Ausblick auf Band II

Kapitel 1: Die Besucher

Seufzend fiel Bradan wieder in die Rückenlage, aus der er gerade vergeblich versucht hatte, sich aufzurichten. „So, es ist soweit,“ schnaufte er, „ich komme nicht mehr hoch.“ Calme wollte ihm zu Hilfe kommen, aber er winkte ab. „Es war seit Längerem zu erwarten, dass dieser Tag kommen würde,“ erklärte der uralte Zwerg, „und es ist auch völlig klar, was das bedeutet.“

Er war sich seines schon lange nicht mehr guten Gesundheitszustandes ebenso bewusst wie seine Frau, die sich nun auf einen Hocker neben ihn setzte. Beide hatten schneeweiße Haare und faltenreiche Gesichter. Bradan litt seit längerem an einem deutlichen Kräfteschwund, konnte nicht mehr alle seine Gelenke kontrollieren und war sehr kurzatmig geworden.

Auch Calme merkte ihre alten Knochen immer häufiger knacken. Aber dass ihr Mann noch deutlich vor ihr gehen würde, war nicht mehr zu übersehen. Und das zu akzeptieren, fiel ihr deutlich schwerer als ihm. Er wiederum wusste das, und versuchte daher, sie mit Andeutungen schrittweise darauf vorzubereiten.

„Es ist nett von dir, wie du mich auf deinen Fortgang vorbereitest,“ sagte Calme, „aber vergiss nicht all die anderen, die dir anvertraut sind.“ Er atmete tief ein, bevor er antwortete. „Nein, keine Sorge,“ sagte er dann, „ich werde alles und jeden vorbereiten. Nur ein oder zwei Fragen muss ich noch bedenken.“ Calme schloss die Augen und nickte. „Ich weiß welche,“ seufzte sie, „und ich weiß, wie schwer es dir fällt.“

Da hörten die beiden Schritte, die sich näherten. „Da kommt schon die erste davon“, sagte Bradan und lächelte verschmitzt. Und im nächsten Moment trat ein weiterer Zwerg in die Höhle. Er sah Bradan ähnlich, war aber deutlich jünger, und zwar, wie die beiden wussten, genau 200 Jahre alt. Er hatte ebenfalls einen sehr langen Bart mit dicken Locken, aber in dunkelbraun, und ebensolche, ziemlich lange Haare. Für einen Zwerg war er relativ groß.

„Komm, herein, mein Sohn,“ sagte Bradan. Calme stand auf und bot dem Ankömmling ihren Hocker an. „Mutter,“ sagte Pravedan und verneigte sich vor ihr, bevor er den Platz annahm und dann fragte: „Wie geht es dir, Vater?“ „Ich denke, ich habe noch genügend Zeit, alle meine Angelegenheiten zu regeln,“ erwiderte der.

„Ja, Vater, die solltest Du Dir auch nehmen,“ erklärte Pravedan, „ich bin nur gekommen, um nach Dir zu sehen, nicht um Dich zu etwas zu drängen.“ „Das weiß ich,“ antwortete sein Vater lächelnd, „Aber wo du schon einmal hier bist, können wir ja trotzdem darüber sprechen. Was würdest Du an meiner Stelle tun?“ „Wie meinst du das?“ fragte Pravedan, „Im Bezug auf was?“

„Nun,“ sagte Bradan, „Such dir ein Thema aus! Vale fragt nach einem militärischen Bündnis. Sollen wir darauf eingehen oder nicht? Was machen wir mit den Jargoisten? Wie würdest du unsere Interessen im Goskenland durchsetzen? Wie erhalten wir uns die Loyalität unserer Söldner? Und wie die der Barone? Wie bringen wir den Bergbau weiter voran? Wie siehst du unsere Beziehungen zu den kelgorischen und dalaranischen Händlern?“

„Wird das eine Prüfung,“ fragte Pravedan lächelnd. „Das sind alles Dinge, die ich entweder noch vor meinem Tod regeln muss,“ antwortete sein Vater, „oder von denen ich sicher sein muss, dass mein Nachfolger sie gut im Blick hat.“ „Ich werde sie im Blick haben,“ versicherte Pravedan, „und ich verspreche dir, dass ich nichts Unüberlegtes tun werde.“ „Das ist auch wahrlich meine geringste Sorge,“ sagte der Alte mit gläsernem Blick und dabei den Kopf wegdrehend.

„Du solltest vielleicht tatsächlich wenigstens eine der Fragen Deines Vaters beantworten,“ meinte Calme und setzte sich neben ihn auf einen neuen Hocker, den sie herbeigeholt hatte. Es waren aus einem Stamm geschnitzte Sitzmöbel, die auf zwei Seitenkanten standen, welche durch die Sitzfläche miteinander verbunden waren. Bradan lag auf einer Holzpritsche, die auf einem Felsvorsprung auflag, und hatte sich eine zusammengelegte Decke unter den Kopf geschoben.

„Es steht mir nicht zu, etwas von diesen Dingen zu entscheiden, so lange du noch unser Graf bist, Vater,“ begann Pravedan, „aber wenn ich dein Berater wäre …“ „Wenn du mein Nachfolger wärest, Pravedan,“ unterbrach ihn der amtierende Herrscher der Grafschaft, „stell dir vor, dass Du mein Nachfolger wärest! Was würdest du dann tun?“

„Nun ja,“ holte sein Sohn erneut aus, „zum Beispiel im Bezug auf den Bergbau denke ich, dass wir da sicher noch viel Geduld brauchen. Es muss sich ja erst zeigen, wie nützlich er wirklich ist. Sollte sich zeigen, dass er uns große Vorteile bringt, werden sich sicherlich auch genügend Zwerge finden, die in ihm arbeiten wollen. Aber wenn die Nachteile überwiegen, wird es sich als gut erweisen, wenn sich nicht zu viele von traditionelleren Tätigkeiten abgewandt haben.“

„Mhm, mhm,“ sagte Bradan und wandte sich seiner Frau zu, „ich glaube ja, dass der Bergbau große Zukunft hat. Aber vielleicht bin ich zu alt, um das einzuschätzen.“ „Du bist nicht zu alt, Vater,“ sagte Pravedan, „ich würde nur empfehlen, erstmal abzuwarten.“ „Warte nicht mit allem zu lange ab!“ bat Bradan seinen Sohn, „Sonst könntest Du irgendwann mal was Wichtiges verpassen.“ Pravedan nickte.

„Und jetzt solltet ihr beide nicht länger darauf warten, mal was zu trinken,“ sagte Calme, stand auf und holte etwas Apfelsaft mit einem Schuss Korn für jeden. Sie unterhielten sich noch eine Weile weiter, aber Pravedan ließ sich nur zu wenigen klaren Aussagen hinreißen, wie es seine Art war. Bradan wusste die dahinterstehende Überlegtheit durchaus zu schätzen, sagte es seinem Sohn aber nicht.

Nach einer Weile verabschiedete Pravedan sich wieder von seinen Eltern. Er ging den Gang entlang aus der Höhle hinaus, wobei er noch durch eine andere, sehr viel größere Höhle, hindurchmusste. Diese wurde als Empfangsraum des Grafen genutzt, sowie auch als Versammlungsort. Dort traf er den nächsten Besucher, der zu seinem Herrn wollte: Ravan, der Feldherr der gräflichen Garde.

„Ich habe es schon gehört,“ sagte dieser, während er sich in der üblichen Weise verneigte, „wie geht es eurem Vater?“ Pravedan erwiderte die Verneigung und antwortete: „Er kann schon nicht mehr aufstehen. Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen. Ich werde ihm den Heiler schicken.“ „Tut das,“ sagte Ravan, „ich werde derweil mit ihm reden.“ Und beide gingen weiter.

Drinnen angekommen, verneigte sich der Feldherr auch vor dem Grafen und seiner Frau, welche ihm sofort einen Platz anbot. Dankend nahm er an und setzte sich zu Bradan. „Mein Herr,“ sagte er, „ich weiß, wie schwierig es ist, sich mit dem Unausweichlichen zu befassen, …“ „Das weißt du nicht,“ unterbrach ihn der alte Graf, „denn wenn du es wüsstest, würdest du nicht um den heißen Brei herum reden, als wüsste ich nicht, wie es um mich steht. Ich war es, der das festgestellt hat und der weiß, was jetzt zu tun ist.“

Ravan war irritiert und zögerte, fortzufahren. Dann tat er es aber doch. „Dann wisst ihr, dass es Zeit wird, euren Nachfolger zu benennen,“ erklärte er, „Eszak könnte im Chaos versinken, wenn ihr es nicht rechtzeitig tut. Niemand außer euch hat das Recht dazu, aber mehrere werden versuchen, es an sich zu reißen, wenn ihr es nicht tut.“

„Und ich wette, du hast auch einen Rat für mich, wen ich ernennen soll?“ fragte Bradan und wusste die Antwort schon. „Nun,“ sagte Ravan zögerlich, „der, der mir gerade entgegen kam, erscheint vielen als nur bedingt geeignet.“ „Er ist mein ältester Sohn,“ sagte Bradan, „ich selbst bin Graf geworden, weil ich der älteste Sohn war, genau wie mein Vater vor mir.“ „Gewiss,“ sagte der Feldherr, der übrigens voll bewaffnet erschienen war und nur seinen Helm weggelassen hatte, „dennoch habt ihr noch einen anderen Sohn. Er verdient es, zumindest in Erwägung gezogen zu werden.“

„Es ist wegen Pravedans Zögerlichkeit, nicht wahr?“ fragte Bradan und erlaubte damit seinem Feldherren, halbwegs offen zu sprechen, worauf dieser offenbar gewartet hatte. „Jeder weiß, wie schwer sich Pravedan damit tut, Entscheidungen zu treffen,“ sagte er, „und er ist nicht besonders offen gegenüber Neuem.“ Bradan nickte. „Du hast Recht, Ravan. Jeder weiß das. Auch ich. Und ich werde es berücksichtigen.“

Ravan stand auf. „Ich bitte euch nur, euch bald zu entscheiden, mein Herr. Eszak ist eine große und stolze Grafschaft. Sie braucht klare Verhältnisse. Insbesondere wir, die Garde, brauchen klare Verhältnisse. Wir folgen dem rechtmäßigen Grafen. Aber wir müssen wissen, wer es ist.“ Bradan nickte. Doch in dem Moment bekam er einen Schwächeanfall und konnte nichts mehr sagen. So winkte er nur zum Abschied.

Doch Ravan war noch lange nicht der letzte Besucher an diesem Tag. Noch im Gang traf er auf Podos, den jüngeren Sohn von Bradan und Calme, für den er gerade Partei ergriffen hatte. Er verneigte sich und sagte „Gut, dass ihr kommt, es geht eurem Vater nicht gut.“ „Ich weiß,“ sagte Podos, „mein Bruder hat bereits den Heiler aufgesucht. Ich will solange bei ihm sein.“ „Er muss sich jetzt für einen von euch als Nachfolger entscheiden,“ sagte Ravan und legte Podos dabei die Hand auf die Schulter. „Das wird er,“ versicherte Podos, „macht euch darum keine Sorgen.“

Podos sah seinem älteren Bruder Pravedan sehr ähnlich. Auch er war relativ groß und hatte dick gelocktes Haar, das er, genau wie den Bart, sehr lang trug. Nur war bei ihm beides schwarz, nicht braun. Er trat in die Höhle seines Vaters, bei dem es weiß war, und grüßte ihn. Auch ihm bot seine Mutter sofort den Hocker neben der Pritsche an. Und wieder brachte sie etwas zu trinken für alle drei.

„Du bist sicher auch gekommen, um zu sehen, wie schlimm es schon ist,“ meinte Bradan. „Nein,“ sagte Podos ernst, „das weiß ich auch so. Aber ich wollte dir Gesellschaft leisten und außerdem dabei sein, wenn der Heiler kommt.“ „Mhm,“ sagte Bradan. Und dann schwiegen sie eine Weile. Er wollte sehen, ob und wie sein zweiter Sohn anfängt, mit ihm über dasselbe zu reden, wie alle heute.

„Vater,“ begann er schließlich ganz direkt, „hast du dich schon entschieden, wen von uns du zu deinem Nachfolger machen willst? Die Leute erwarten, dass du dich jetzt entscheidest.“ „Die Leute,“ sagte Bradan, „so, so, die Leute. Dir selbst ist es natürlich weniger wichtig.“ „Ich denke, die Leute haben recht,“ sagte Podos, „und mit Recht erwarten sie, dass du dich entscheidest. Soll ich der Graf werden oder Pravedan?“

„Ihr werdet euch doch nicht darum streiten?“ fragte Calme ihren Sohn. „Nein Mutter, natürlich nicht. Wenn Pravedan Graf wird, werde ich ihn unterstützen,“ versicherte Podos, „schließlich braucht Eszak auch dann jemanden, der Entscheidungen treffen kann.“ Etwas verstohlen blickte er wieder zu seinem Vater. „Einfacher wäre das natürlich, wenn ich selbst Graf wäre. Und sicher wäre Pravedan dann mir ein guter Berater.“

„Dir ist also bewusst, dass er der Besonnenere von euch beiden ist?“ fragte Bradan. „Besonnen?“ fragte Podos zurück, „ja, das ist er wohl. Aber ob das zum Herrschen reicht? Was, wenn mal ein Unglück geschieht oder es Krieg gibt? Was, wenn die Gefangenen rebellieren oder ein Drache über uns herfällt? Dann müssen schnelle Entscheidungen getroffen werden.“

„Und was würdest du tun, wenn ein Drache über uns herfällt?“ fragte Bradan. „Ich würde sofort alle Frauen und Kinder in Sicherheit bringen und die Garde antreten lassen,“ antwortete sein Sohn ohne zu zögern. „Du weißt, dass die meisten unserer Waffen gegen die meisten Drachen nicht viel ausrichten können,“ gab der Alte zu bedenken. „Dann würde ich nur die besten Krieger mit den besten Waffen antreten lassen,“ antwortete Podos. „Gut,“ sagte Bradan, „und ich kann mir nicht vorstellen, dass Pravedan oder irgendjemand sonst, etwas anderes tun würde.“

Podos hielt nun das Beispiel für schlecht gewählt und versuchte im weiteren Gesprächsverlauf ein anderes zu finden, bei dem er zeigen konnte, warum er der bessere Graf wäre. Außerdem machte er deutlich, dass sein Bruder allem Neuen viel zu unaufgeschlossen gegenüberstünde. Er selbst, obwohl er auch schon 180 Jahre alt war, hatte z.B. noch angefangen, das Reiten zu lernen, das die Zwerge in diesem Teil der Welt sich erst vor wenigen Jahren von durchreisenden Elfen abgeguckt hatten. Pravedan hingegen war der Meinung, dass Reiten nichts für Zwerge sei.

Aber irgendwann wurden Vater und Sohn im Gespräch unterbrochen, als Neven den Raum betrat. Er war der Heiler, den Pravedan geschickt hatte. Er war etwa im gleichen Alter wie Bradans Söhne und behandelte die ganze Grafenfamilie schon seit geraumer Zeit immer wieder, wenn jemandem von ihnen etwas fehlte.

Genau wie allen Bewohnern des Zentrums von Povaren war ihm nicht neu, dass bei Bradan der Abschied aus dem Leben bevorstand, und er hatte darum gebeten, gerufen zu werden, wenn sich sein Zustand verschlechtert. Also betrachtete er seinen Patienten jetzt genau, fühlte dessen Puls und horchte mit dem Ohr auf der Brust die Atmung ab.

Dann sah er Calme lange ernst an. „Es ist soweit, nicht wahr?“ fragte diese. „Vielleicht noch ein paar Tage,“ erläuterte Neven, „vielleicht etwas mehr, vielleicht auch etwas weniger. Tun kann man da nichts mehr.“ Dann wandte er sich an Bradan selbst: „Habt ihr Schmerzen, mein Graf?“ Der schüttelte langsam den Kopf: „Nicht mehr als sonst.“ „Gut, wenn ihr Glück habt, bleibt das so.“

„Eszak wird einen großen Anführer verlieren,“ stellte Podos fest. „Oh ja,“ stimmte der Heiler zu und fragte dann gleich: „ist denn seine Nachfolge unter Euch geregelt?“ „Leider nein,“ kommentierte der Sohn des Sterbenden, „er hat sich noch nicht festgelegt.“ „Das solltet ihr jetzt umgehend tun,“ meinte Neven zu Bradan, „trotz guter Führung unter eurem Regiment, sind viele Fragen offen. Da brauchen wir weiterhin einen führungsstarken Anführer, wenn ihr nicht mehr da seid.“ Dabei blickte er zwischen Vater und Sohn hin und her.

„Wollt ihr mir auch einen Rat geben, wer das sein sollte?“ fragte Bradan. „Nein, mein Herr,“ sagte der Heiler, „meine Sorge gilt eurem Wohlergehen. Aber wenn ich gefragt werden würde, würde ich vorschlagen, denjenigen zu wählen, der mehr Führungsstärke besitzt. Ihm zu folgen wird den meisten Zwergen leichter fallen.“ Podos reckte sich bei diesen Worten Nevens.

„Ich werde darüber nachdenken,“ versprach Bradan, „aber wenn eure Sorge meinem Wohlergehen gilt, dann würde ich vorschlagen, dass ihr mich jetzt in Ruhe lasst. Und das gilt für alle hier.“ „Natürlich,“ sagte Neven und stand auf, um zu gehen. „Er braucht auch Ruhe,“ sagte er noch zu Calme, „bitte sorgt dafür!“ Sie nickte. Dann ging er und auch Podos verabschiedete sich.

Bradan schloss die Augen. Ein ganzer Vormittag mit Besuchen hatte ihn angestrengt. Er brauchte jetzt tatsächlich Ruhe. Und er bekam sie. Nach kurzer Zeit schlief er ein und seine Frau weckte ihn zum Essen nicht. Als er endlich wieder aufwachte, war es bereits Nachmittag und die nächsten Besucher näherten sich. Bradan hörte ihre Schritte auf dem Gang.

Dass es mehrere waren, ließ ihn schon vermuten, wer es ist. Und er behielt Recht: Pelzark, der Baron von Povaren, betrat die Höhle, in Begleitung seines Beraters und seines Sohnes. Povaren war die zentrale Baronie der Grafschaft Eszak, über die Bradan herrschte. Und die Barone waren die nächste Ebene von Anführern unter dem Grafen.

„Seid gegrüßt, mein Herr,“ sagte Pelzark und blieb dafür im Eingang stehen. „Mein Mann braucht Ruhe,“ sagte Calme. „Ich will nicht lange stören,“ entgegnete der Baron und trat trotzdem ein. Und tatsächlich: als Calme drei Hocker herbei holen wollte, winkten die beiden Begleiter Pelzarks ab. Sie wollten offenbar tatsächlich nicht lange bleiben. Er selbst trat langsam und würdevoll an das Lager des Grafen heran.

„Mein Graf, wir haben gehört, was los ist, und sind gekommen, um euch die Ehre zu erweisen,“ hob der Baron an, „ihr habt Eszak viele Jahre gut regiert. Möget ihr euren Frieden finden! Ihr habt ihn verdient.“ „Nur eines fehlt noch,“ ergänzte Pelzarks Sohn Mason, „wir bitten euch dringend, eure Nachfolge zu regeln. Das kann euch niemand abnehmen.“

„Und wenn wir eine Bitte äußern dürfte,“ reihte sich nun auch der Berater in die Rede ein, „wir haben nämlich gehört, dass viele euch überreden wollen, euren jüngeren Sohn Podos zum Nachfolger zu machen.“ „Das ist natürlich eure Entscheidung,“ fuhr Pelzark selbst wieder fort, „aber die anderen Barone und ich würden es begrüßen, wenn ihr bei dem Brauch bleibt, den euer Vater und euer Großvater vor euch pflegten, und euren ältesten Sohn Pravedan zu unserem neuen Grafen macht.“

„So so, um des Brauchs meiner Väter willen, also?“ fragte Bradan nach, der bisher nur zugehört hatte. „Ja,“ erklärte Pelzark, „es ist ja schließlich das Naheliegendste, dass der älteste Sohn den Posten des Vaters erbt. So würden es die meisten von uns tun. Und Pravedan ist gewiss kein schlechter Graf.“ „Manche sagen, er sei nicht so führungsstark,“ wandte Bradan ein. „Er kann sich der Unterstützung der Barone sicher sein,“ entgegnete Pelzark.

„Verstehe,“ seufzte Bradan und schwieg dann lange, bevor er, wie schon mehrfach in diesem Tag, antwortete: „Ich werde darüber nachdenken. Gibt es sonst noch etwas?“ „Nein, Herr,“ sagte Pelzark, „im Gegenteil: Lasst uns bitte wissen, wenn wir noch etwas für euch tun können. Ihr sollt wissen, wie dankbar wir euch für eure gute Regentschaft sind.“ „Verstehe,“ seufzte Bradan erneut und wandte dann den Blick ab.

„Alle anderen haben dir zu Podos als Nachfolger geraten,“ stellte Calme fest, nachdem die drei gegangen waren, „nur die Barone sind für Pravedan.“ „Sie sind es aus demselben Grund wie alle anderen,“ sagte Bradan, „sie halten Pravedan für führungsschwach. Sie denken, dass sie ihn leichter manipulieren oder unter seinem häufigen Zögern ihre eigene Macht erweitern können.“ Und der alte Graf schmollte eine Weile über diese Dreistigkeit von Pelzark, vor allem, weil der zu denken schien, dass Bradan ihn nicht durchschaute.

Doch dann kam endlich der einzige Besucher des Tages, den Bradan selbst bestellt hatte und den er wirklich sehen wollte, um etwas mit ihm zu besprechen. Er war allerdings so groß und kräftig, dass er sich kaum durch den Gang in die Höhle des Grafen zwängen konnte: Mindestens 2 Köpfe größer als Bradans groß gewachsene Söhne.

Der Grund dafür war, dass der braunhaarige Mann, der es letztlich doch schaffte, erhobenen Hauptes hereinzukommen, sich dann aber sofort tief vor dem Grafen verneigte, kein Zwerg war, sondern ein Mensch. Und selbst für einen Menschen war er nicht gerade klein. Gekleidet war er allerdings wie ein Zwerg: Er trug eine braune Hose aus Tierhaut und ein helles, ärmelloses, mit einer Gürtelkordel gebundenes Wams.

Desweiteren war er gut bewaffnet: Er trug einen Bronzedolch am Gürtel, sowie einen Speer in der einen und einen Kupferhelm in der anderen Hand. Durch sein ärmelloses Oberteil konnte man außerdem seine muskulösen Arme sehen und auch am Rest des Körpers auffallend kräftige Partien erahnen. Sein Gesicht unter dem braunen Haaransatz war das eines Ende Dreißigjährigen, was für Zwerge sehr jung wäre, aber für Menschen schon eine gewisse Lebenserfahrung bedeutete. Einen Bart hatte er nicht – das einzige, was Bradan an ihm störte.

„Bandolf,“ begrüßte er den Hauptmann der menschlichen Söldner in seiner Garde, „komm herein!“ „Ihr habt nach mir geschickt, mein Herr,“ sagte dieser, bevor er sich wieder aufrichtete. „Ja,“ sagte der Graf, „ich muss mit dir sprechen. Nimm Platz!“ Calme machte diesmal keine Anstalten, dem Gast einen Platz anzubieten. Es geziemte sich nicht bei anderen Spezies, fand sie. Aber Bandolf konnte sich ja auch selbst einen Hocker nehmen und tat es.

Allerdings wirkte Bandolf ansonsten sehr unsicher in seinem Verhalten. Er war noch nicht oft in dieser Höhle gewesen. Und nicht oft hatte der Graf persönlich nach ihm verlangt. Und noch nie hat er ihn so hilflos daliegend sehen. Das war ihm sichtlich unangenehm. „Du wirkst verunsichert, Bandolf,“ sagte Bradan und löste damit schon ein wenig die Anspannung seines Gastes, „ja, ich weiß, dass ihr alle mich bemitleidet. Aber das ist nicht nötig. Ich habe über zweihundertsiebzig Jahre gelebt. Da wird es auch mal Zeit, zu gehen.“

Bandolf senkte den Blick. „Ja, eine lange Zeit, nicht wahr?“ fragte Bradan, während Calme sich dazu durchrang, nun doch auch diesem Gast etwas zu trinken anzubieten. „So alt wird kein Mensch,“ gab Bandolf zu. „Richtig,“ sagte der alte Zwerg, „ihr seid eben eine kurzlebige Art.“ „Wir sind in manchen Dingen anders als ihr,“ sagte Bandolf, „aber in Vielem bewundern wir euch. Besonders von so weisen Regenten wie euch, mein Herr, können sowohl Zwerge als auch Menschen viel lernen.“

„Tja,“ seufzte Bradan, „aber damit ist es nun bald vorbei. Und ich werde einen Nachfolger ernennen müssen. Schon den ganzen Tag geben mir alle, die kommen, Ratschläge, wen ich wählen soll. Hast du vielleicht euch einen für mich?“ „Das steht mir wohl kaum zu,“ erklärte der Söldner. „Ha,“ meinte Bradan, „genau wie mein Sohn Pravedan. Der fing auch so an. Podos hingegen hatte keine Hemmungen, sich sofort selbst zu empfehlen.“

„Sicher habt ihr, mein Herr, den besten Blick dafür, welcher von beiden besser geeignet ist,“ meinte Bandolf, „aber deswegen habt ihr mich doch nicht rufen lassen, oder?“ „Nein,“ gab der Graf zu, „ich wollte dir von etwas berichten, was dich hoffentlich sehr freuen wird.“ Bandolfs Augen wurden groß.

„Seit vielen Generationen schon dienen uns Mensch wie du als Söldner und verstärken unsere Garde,“ begann Bradan, „ein unverzichtbarer Dienst für Eszak.“ „Eine Gegenleistung, die ihr verdient habt,“ antwortete Bandolf, „denn eure Krieger kommen uns immer wieder zu Hilfe, wenn Orks oder Goblins unsere Heimatländer überfallen.“ Bradan nickte. Genauso verhielt es sich.

„Jedoch gibt es einen Unterschied,“ meinte der Alte, „wenn einer unserer Krieger zwanzig oder dreißig Jahre im Goskenland lebt, um dort unsere menschlichen Verbündeten vor Orks und Goblins zu schützen, und dann zurückkehrt, hat er immer noch jede Menge Zeit, sich hier ein Leben und eine Familie aufzubauen. Verbringt hingegen ein Mensch dreißig Jahre bei uns, so lohnt es sich für ihn kaum noch, zurückzukehren. Es ist ein halbes Leben für euch.“

„Und in der Tat sind schon manche anschließend hiergeblieben, weil sie mit dem Goskenland nichts mehr verbindet,“ ergänzte Bandolf.

„Darum habe ich beschlossen, euch eine andere Möglichkeit zu bieten,“ hob der Graf nun feierlich an, „ich habe Boten ins Goskenland geschickt, mit dem Auftrag, Frauen von deiner Spezies hierher einzuladen, damit ihr hier Familien bilden könnt, wenn ihr wollt. Das soll mein Abschiedsgeschenk an dich und deine Männer sein.“

Bandolf wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Damit hätte er nie im Leben gerechnet. Er wäre auch selbst gar nicht auf die Idee gekommen, sich so etwas zu wünschen, geschweige denn, danach zu fragen. „Eure Güte und Weisheit ist noch größer als ich schon sagte,“ brachte er schließlich heraus und rutschte vom Stuhl herunter, um vor seinem Grafen niederzuknien. Der nickte freundlich und freute sich offenbar, dass sein Geschenk gut ankam.

„Es ist ein Experiment,“ sagte Bradan, „so etwas gab es noch nicht. Aber ich war der Meinung, dass es an der Zeit dafür war, und meine Berater stimmten mir letztlich zu. Ich möchte, dass du deine Leute darauf vorbereitest. Aber bedenke: Wir wissen nicht, wieviele Frauen kommen werden und ob für jeden die Passende dabei ist. Mach ihnen also keine falschen Hoffnungen! Ich möchte nur, dass sie Bescheid wissen, damit sie nicht überrumpelt sind, wenn es so weit ist.“

„Darf ich fragen, wann es soweit ist?“ fragte Bandolf. „Die Boten sind bereits vor einigen Wochen aufgebrochen,“ antwortete Bradan, „wie du weißt, ist es ein langer Weg. Und wir wissen nicht, wie lange sie brauchen, um einige Freiwillige zusammen zu suchen. Aber ich denke, dass sie noch vor dem Winter zurück sein müssten.“

„Wir Söldner schätzen uns überglücklich, einem so guten Herrscher zu dienen,“ erklärte Bandolf, „Gedient zu haben,“ korrigierte Bradan, „denn meine Zeit läuft ab. Darum bitte ich dich, dir auch noch eine Frage stellen zu dürfen.“ „Selbstverständlich, mein Herr,“ antwortete Bandolf. „Wenn es dir doch zustände, mir einen Rat bezüglich der Wahl meines Nachfolgers zu geben,“ fragte Bradan, „wen würdest du mir dann empfehlen?“

Bandolf wurde ernst. Die Frage war ihm unangenehm, denn er war wirklich der Meinung, dass ihm dazu keine Meinung zustand. Allerdings hatte er trotzdem eine. „Wenn ihr es wissen wollt: Podos,“ sagte er, „und so denken in der Garde die meisten, egal ob Mensch oder Zwerg. Er hat einfach mehr Führungsstärke und ist offener für ….“ Er stockte. „Für das, was neuerdings von den Elfen kommt,“ erriet Bradan. „Unter anderem,“ sagte Bandolf.

Bradan nickte. „Ich werde darüber nachdenken,“ sagte er wieder einmal und wandte dabei den Blick ab, „ich danke dir für deinen Besuch.“ Bandolf war unsicher, ob er das Richtige gesagt hatte, ließ sich das aber jetzt nicht mehr anmerken, sondern verneigte sich erneut, wünschte Bradan und Calme noch alles Gute und ging hinaus.

Kapitel 2: Hatalas Rat

Dull war auf dem Rückweg vom Rinderhüten. Sein Sohn hatte ihn gerade dabei abgelöst. Die Herde graste auf einer Wiese, die etwa eine Wegstunde vom Lager entfernt lag und würde dort noch ein Weilchen bleiben können, bevor sie abgegrast war und Dull die Tiere an einen neuen Weideplatz führen musste.

Es kam ihm immer noch merkwürdig vor, Haustiere zu halten. Dort, wo er aufgewachsen war, gab es so etwas nicht. Aber wenn ihre Herren es so wollten, würden er und die seinen es eben machen. Es würde wohl nichts bringen, darüber lange nachzudenken. Außerdem war Nachdenken ja auch anstrengend. Besser, man tat einfach, was die Herren wollten.

Dull trottete langsam in Richtung Lager. Normalerweise hätte er sich jetzt darauf gefreut, sich dort bei seiner Frau und seinen anderen Kindern niederlassen und erstmal was essen zu können. Aber heute würde das wohl nichts werden. Denn seine Herrin erwartete viel Besuch. Da würden alle Sklaven bereitstehen müssen, falls es was zu tun gibt.

Trotzdem freute sich Dull, als ihm seine jüngste Tochter kurz vor dem Lager entgegen gelaufen kam. Sie war 4 Jahre alt, befand sich also etwa in der Mitte der Kindheit und hatte noch die Milchzähne. Trotzdem war sie schon relativ behaart. Dull nahm sie auf die Arme und trug sie zum Lager zurück, was ihm keinerlei Mühe bereitete.

Wie alle ausgewachsenen Oger, war er weit über zwei Meter groß und dabei muskulös und fett zugleich, sowie am ganzen Körper stark behaart, wenn man auch noch nicht von einem Fell sprechen konnte. Er hatte spitze Ohren und aus den Mundwinkeln ragende Eckzähne. Ansonsten wirkte sein Gesicht menschenähnlich, aber deutlich weniger intelligent.

Dass er und Seinesgleichen an Intellekt den meisten anderen Spezies unterlegen waren, war ihm auch vollkommen klar. Deshalb waren sie ja Sklaven und hielten das auch für normal. Was ihm daran nur nicht gefiel war, dass man dadurch ständig Arbeit hatte. Das war anders, bevor er als sehr junger Mann versklavt wurde. Aber nun war es eben so und seine Kinder würden es nicht anders kennenlernen. Und dann war es vielleicht für sie auch nicht so schlimm, dachte Dull.

In dem Moment kam er um die Ecke des Dickichts, hinter dem das Lager lag. Einige seiner Artgenossen und Mitsklaven standen schon dort und er reihte sich ein, um zu beobachten, was sich abspielte. Seine Tochter setzte er dazu wieder ab und sie lief zu ihrer Mutter hinüber, die nun auch Dulls Ankunft bemerkte und ihm zuwinkte.

Vor der Höhle der Herrin hatten sich mehrere kleine Gruppen von Orks versammelt, deren Anführer einander anfunkelten und sich gegenseitig immer wieder anzischten. Obgleich es dieselbe Sprache war, die auch die Oger in diesem Teil der Welt sprachen, fiel es diesen manchmal noch schwer, herauszuhören, wann es sich um Worte und wann um reines Brüllen, Grunzen oder Fauchen handelte.

Orks sind mindestens drei Köpfe kleiner als Oger und auch deutlich schlanker gebaut, obgleich man sie bestimmt nicht als grazil bezeichnen kann. Sie ähneln aufrecht gehenden Wildschweinen mit dunklem Fell am ganzen Körper, sogar im Gesicht. Die herausragenden Eckzähne sind eine Gemeinsamkeit mit den Ogern, kommen unter Orks aber nur bei den Männern vor, was für andere Spezies die einfachste Möglichkeit ist, die Geschlechter zu unterscheiden.

Bei den hier Anwesenden konnte man allerdings davon ausgehen, dass sowieso alles Männer waren, denn es sollten laut Ankündigung Häuptlinge und ihre engsten Vertrauten sein. Deshalb waren sie auch alle im mittleren Alter. Denn wie Dull wusste, konnte niemand als Orkhäuptling alt werden. Spätestens wenn die Kräfte nachließen, wurde er von einem Jüngeren entmachtet. Auch wurden Orks nicht so alt wie Oger.

Oben, auf dem Felsvorsprung vor der Höhle, standen zwei orkische Männer und zwei Frauen und beobachteten die Gäste argwöhnisch. Wenn verschiedene Gruppen einander zu nahekamen, brüllten sie sie an und drohten, mit Zauberei dazwischen zu gehen. Dasselbe geschah, wenn sich welche zu weit entfernten oder den Zelten zu nahekamen.

Als ein einzelner Krieger versuchte, den Felsvorsprung hinaufzuklettern, blickte einer der oben Stehenden ihn an, streckte die Hand nur kurz in seine Richtung und ließ ihn für einen kurzen Augenblick erstarren, was dazu führte, dass er sich nicht mehr halten konnte und zu Boden fiel. Allerdings kümmerte sich dort niemand um ihn.

Die vier Orks auf dem Felsen gehörten zu den Herren, denen Dull und die anderen Oger hier als Sklaven dienten. Es waren die Schülerinnen und Schüler der Herrin, die von ihr alles über Zauberei und Religion lernten, und natürlich darüber, wie man Macht über die nichtmagiebegabten Artgenossen ausüben konnte.

Denn das war es, was die Herrin selbst tat. Sie war die Matriarchin dieses Gebietes und ließ sich von durchreisenden Nomadenhorden nicht nur Tribut in Form von Naturalien und diversen Utensilien zahlen, sondern auch wie eine Halbgöttin verehren. Ihr Name war Hatala.

Ein weiterer Schüler Hatalas trat nun zu den Vieren hinzu, hob ein Horn an den Mund und blies hinein, woraufhin es allmählich still wurde unter den Übrigen. Und als alle gebannt nach oben starrten, trat die Matriarchin selbst aus der Höhle: eine Frau mittleren Alters mit einer für ihre Spezies durchschnittlichen Größe und Statue. Wie alle Frauen hier, trug sie nur einen Lendenschurz und einen Brustschurz als Kleidung, dazu allerdings als Zeichen ihrer Würde eine Haltkette aus Knochen und Blüten, und ein Stirnband aus den Zähnen verschiedener Tiere.

Missmutig grummelnd senkten die Häuptlinge die Köpfe vor der Matriarchin. Die meisten ihrer Begleiter gingen sogar auf die Knie. Dasselbe taten auch die Oger, von denen auf der anderen Seite der ganzen Versammlung noch einmal etwa genauso viele standen, wie rund um Dull. Die Schülerinnen und Schüler Hatalas hingegen senkten ihre Häupter nur kurz in ihre Richtung und hoben dann wieder den Blick, um streng auf die Menge zu blicken.

„Die Matriarchin begrüßt ihre Gäste,“ verkündete dann derjenige, der zuvor den Zauber auf den Kletterer angewandt hatte, mit einer Stimmlage, die für andere Spezies nicht gerade höflich geklungen hätte. Es klang eher, als sollte er bedeuten: die Matriarchin duldet die Anwesenheit ihrer Gäste. Daraufhin erhoben auch die übrigen Anwesenden ihre Häupter wieder und blickten auf die Gastgeberin. Die blickte mit hoch erhobenem Blick über sie alle und grunzte dabei mürrisch vor sich hin.

„Es fehlt noch einer,“ stellte sie dann fest. Und ihre Stimme klang wie eine Mischung aus Erhabenheit und Wut, als würde sie zugleich keifen und diktieren. „Ich denke, der kommt gerade,“ sagte eine der Schülerinnen und deutete auf den Felsen, der dem Höhleneingang gegenüber lag und um den herum nun noch eine kleine Delegation Orks kam.

Ihr Häuptling war ein großer und sehr muskulöser Ork mit zornerfülltem Blick und einem Stab in der Hand, dessen Spitze von einem Totenkopf geziert wurde. Zu seinem Gefolge gehörten drei Krieger, die ebenfalls überdurchschnittlich groß waren, wenn auch immer noch viel kleiner als der kleinste erwachsene Oger hier.

Ungeduldig sah Hatala zu, wie der Neuankömmling sich gemächlichen Schrittes auf ihre Höhle zubewegte, während er selbst die anderen mit giftigen Blicken und fiesen Grunzlauten dazu brachte, ihm mehr oder weniger freiwillig einen Weg zu bahnen, damit er den mittleren Platz unter ihnen einnehmen konnte. Das taten sie zwar nicht ohne zurück zu fauchen und zu grunzen, aber sie taten es. Nur einer von ihnen streckte dem Neuen die Faust zum Gruß entgegen und er schlug mit seiner dagegen, woraufhin beide nickten.

Insgesamt standen nun fünf kleine Delegationen von Orks hier und warteten ungeduldig auf die Worte der Matriarchin. Diese gab ihren Schülern noch ein paar Anweisungen, die sonst keiner hören konnte. Dann wandte sie sich an die Versammlung:

„Zwerge,“ schnauzte sie los, „sind von jeher unsere Erzfeinde.“ Zustimmendes Gemurmel. „Sie nehmen uns unser Land und alles, was darin ist. Sie lästern unseren Glauben und unsere Traditionen. Sie halten sich für überlegen und zur Vorherrschaft berufen.“ „Wir sind zur Vorherrschaft berufen,“ rief einer hinein. „Halt die Schnauze!“ zischte Hatala ihn an. Die anderen grunzten leise.

„Unsere Vorfahren haben uns gelehrt, dass Angriff die beste Verteidigung ist,“ erklärte Hatala, „aber das haben wir offenbar zu oft vernachlässigt. Denn alles Land von hier bis zum Hochgebirge war einst nur von Orks besiedelt. Und was ist heute?“ „Die Zwerge sind bis auf wenige Wegstunden von hier vorgedrungen,“ antwortete einer. Hatala streckte die Hand nach ihm aus und er ging zu Boden. „Wenn ich dich frage, dann sage ich es dir,“ erklärte sie. Grummelnd verbeugte er sich, bevor er es wagte, sich wieder zu erheben.

„Das Orkische Hochland hat noch heute den Namen, der daher kommt, dass es rechtmäßig uns zusteht,“ fuhr die Matriarchin fort, „aber seit Generationen haben sich Zwerge darin angesiedelt. Sie gründen sogenannte Baronien und Grafschaften und behaupten dann, das Land gehöre ihnen. Ihr und eure Horden: Wenn ihr durch mein Land reist, zahlt ihr dafür Tribute, aber ihr dürft passieren. Manchmal schenke ich euch sogar einen meiner Sklaven dafür. Aber könnt ihr auch durch Zwergenland reisen?“

Diesmal wagte keiner, die Frage zu beantworten. „Ihr könnt es nicht,“ brüllte Hatala in plötzlich doppelter Lautstärke, „und stört euch das etwa nicht?“ Diesmal wartete sie lange ab. Und schließlich war es der Häutling, der als Letzter gekommen war, der ruhig und bestimmt antwortete: „Mich stört es gewaltig und ich würde lieber hundert meiner Sklaven als Tribut an euch zahlen, als mit Zwergen überhaupt reden zu müssen.“

Alle blickten auf ihn, auch Hatala. „Ilgjarn,“ sagte sie, „du bist zu spät gekommen.“ „Doch ich bin gekommen,“ antwortete er, „und ich höre zu. Sagt uns, was ihr vorhabt, Matriarchin!“ Er senkte das Haupt, wenn auch nur leicht. Sie blickte ihn noch eine ganze Weile streng an.

„Er hat Recht,“ fuhr sie dann fort, „es ist unerträglich für Orks, wenn Zwerge etwas besitzen, was uns gehört. Sie sagen, sie seien von den Göttern erwählt, diese Welt besser zu machen und ihr immer mehr Fortschritt zu bringen. Aber die Götter selbst sagen was anderes. Sie sind auf unserer Seite. Und wisst ihr warum? Weil wir stärker sind, und mutiger, und furchtloser. Und ich, die ich mit den Göttern auf das Engste verbunden bin, sage euch: Die Zeit ist reif, dass wir uns zurückholen, was uns gehört.“

Die Häuptlinge und ihre Begleiter stimmten durch „Ho“- und „Jo“-Rufe zu. Einige klopften mit ihren Stäben oder anderen Waffen auf den Boden. „Gebt uns eure Befehle, Matriarchin,“ rief einer, „Wir sind bereit zum Krieg.“ Nur Ilgjarn blieb relativ ruhig. Er signalisierte seine Zustimmung einfach durch Nicken.

Hatala strecke die Hand aus, um für Ruhe zu sorgen, was auch gelang. „Ich wusste, dass ihr zum Krieg bereit seid,“ erklärte sie dann, „Orks sind immer zum Krieg bereit. Denn wir haben einen Gott, der den Krieg liebt.“ Sie wurde langsam lauter und die positive Anspannung unter ihren Hörern stieg. „Wie heißt der Gott, der unser aller Vorbild ist, der größte Krieger aller Zeiten, der uns auch diesmal führen wird?“ fragte sie nun fast schreiend. Und alle antworteten im Chor: „Roron, Roron, Roron.“

„Wen sollen wir angreifen?“ fragte einer der Häuptlinge, als wieder Ruhe eingekehrt war. „Und wann und wo?“ fragte der daneben, woraufhin sich die beiden erstmal giftig anblickten. „Seht ihr den Fluss da drüben?“ fragte Hatala und deutete in Richtung Südwesten. Dort floss die Olpe, die man von ihrer Höhle aus gut sehen konnte. Von den unten vor dem Fels Stehenden konnten sie nur die wenigsten erkennen, aber niemand gab das zu.

„Dieser Fluss entspringt dort, wo zur Zeit unserer Ahnen noch die Grenze zwischen dem Land der Zwerge und unserem verlief. All das Gebiet werden wir uns zurückholen und meinem Matriarchat einverleiben,“ erklärte Hatala.

„Es gehört heute zwei verschiedenen zwergischen Grafen,“ warf einer ein, woraufhin Hatala ihn wieder mit ihrem Zauber zu Boden warf. „Falsch,“ erklärte sie, „es wird von zwei Grafschaften beansprucht. Gehören tut es mir. Und wir beginnen mit der Grafschaft westlich des Flusses, die sich Vale nennt.“

„Wir kennen die Krieger von Vale,“ bemerkte Ilgjarn mit hasserfüllter Stimme, „sie sind uns erst kürzlich in den Rücken gefallen, als wir im Goskenland auf Menschenjagd waren. Wir werden mit Freuden gegen sie in den Krieg ziehen.“ „Gut,“ sagte Hatala, „sie kommen euch in die Quere, wo ihr jagen wolltet? Dann kommt ihnen auch in die Quere, wo sie sich niedergelassen haben!“ Ilgjarn nickte.

„Wenn wir aber das Land von ihnen befreit haben und es eurem Matriarchat eingliedern, große Hatala,“ wandte nun der Häuptling ein, der neben Ilgjarn stand, „Was werden wir davon haben?“ Ilgjarn nahm seinen Stab, schlug den anderen damit zu Boden und antwortete: „Rache! Das haben wir davon.“ Die Begleiter beider Häuptlinge gingen sofort dazwischen und bauten sich voreinander auf.

„Du hast davon Rache,“ sagte der zu Boden Gestoßene, während er sich wieder aufrichtete, „ich hatte mit Vale bisher nichts zu tun.“ „Willst du etwa kneifen?“ fragte Hatala in scharfem Ton. Finster blickte er zu ihr hinauf. „Selbstverständlich nicht, große Matriarchin,“ antwortete er, „ich will nur wissen, was ich davon habe, wenn ich für euch in den Krieg ziehe.“

„Keiner von euch soll einen Schaden dadurch haben,“ erklärte Hatala, nun wieder an alle gewandt, „ihr werdet in diesem Krieg Beute machen, die ihr behalten dürft. Und schon heute bekommt jeder, der mitmacht, ein Geschenk von mir, als Zeichen meiner Gunst: einen fertig abgerichteten Oger als persönlichen Sklaven.“

Dull seufzte, als er das hörte. Es bedeutete, dass er eines seiner größeren Kinder würde weggeben müssen. Irgendeiner dieser Häuptlinge würde es als Sklaven mitnehmen. Das war nicht unüblich.

Er selbst war noch in Halbfreiheit geboren und hätte keinem Ork gedient, der nicht zaubern konnte. Dafür war Arbeit einfach zu anstrengend. Nur die Zauberei der Matriarchin hatte ihn letztlich doch gefügig gemacht. Seine Kinder aber waren bereits als Sklaven geboren und kannten nichts anderes als, auf die Befehle von Orks zu hören. Sie würden auch Häuptlingen oder ihren Unteranführern dienen, wenn Hatala es anordnete. Und die Häuptlinge freuten sich über solche Geschenke.

Sie diskutierten dann noch eine Weile weiter über Einzelfragen des bevorstehenden Krieges, aber am Ende waren sie alle dabei. Fünf Horden würden gemeinsam in den Krieg gegen die zwergische Grafschaft Vale ziehen, die ein Stück südwestlich von Hatalas Höhle, auf der anderen Seite des Flusses, bei den ersten Ausläufern des Gebirges begann.

Kapitel 3: Aufbruch von Buchental

Von einem nahegelegenen Hügel aus hatte sich Kaute die Siedlung angesehen, der er sich nun näherte. Sie war relativ groß und hatte die Form eines Sechsecks. In der Mitte befand sich ein Versammlungsplatz und drumherum vier Reihen von unterschiedlichen Hütten. Die meisten waren relativ klein und standen so weit auseinander, dass dazwischen noch genügend Platz war, um etwas anzubauen oder Haustiere zu halten.

Die Bauweise der Menschen im Goskenland war Kaute bereits vertraut. Er hatte solche und ähnliche Siedlungen in unterschiedlichen Größen bereits mehrfach gesehen und besucht. Die Eingeborenen bauten die Gesamtanlage meist ziemlich symmetrisch, aber die einzelnen Gebäude dann doch sehr individuell. Und ohne System verteilt lagen irgendwo zwischen den Wohnhütten die Nutzgebäude.

Da Kaute in Begleitung einer nicht ganz kleinen Reisegruppe war, war sein Kommen früh bemerkt worden. Und so kamen ihm am Dorfeingang nicht nur ein einzelner Wächter, sondern auch gleich der Häuptling, zwei Älteste und der hiesige munzanische Händler entgegen. Gerade Letzteres freute den Kriegsmeister sehr, denn sein Artgenosse würde sicher für ihn übersetzen können.

Der Zwerg gab allen, die hinter ihm gingen ein Zeichen, anzuhalten. Das waren neben seiner eigenen Truppe von acht Gardisten auch zehn Menschen, davon neun Frauen. Außerdem hatten sie einige Esel als Lasttiere bei sich.

„Ich bin Rasimir, Sohn des Gom, Händler aus Vale und gerne hier in Buchental zu Diensten“ stellte sich der Händler vor und verneigte sich auf munzanische Art. Kaute bemerkte sofort, wie der Mann ihm helfen wollte, denn die größte Schwierigkeit bei jeder Begegnung in diesem Land war es, die Gepflogenheiten der Gastgeber einzuhalten. Machte man dabei alles richtig, waren sie immer kooperativ, aber wenn nicht, gab es oft Probleme.

„Ich bin Kaute, Sohn des Torre, Kriegsmeister der Garde von Eszak,“ erwiderte er und verbeugte sich auf gleiche Art. Dann trat Rasimir neben ihn und damit den menschlichen Gastgebern gegenüber, hob die offene rechte Hand auf Kopfhöhe und sagte etwas in einer Sprache, die Kaute nicht verstand, wobei aber sein Name darin vorkam. Es konnte nichts anderes als der hier übliche Gruß sein, weshalb er zumindest die Geste imitierte, woraufhin auch die Menschen dies taten.

Derjenige, der an der etwas besseren (eindeutig von Zwergen hergestellten) Kleidung als Häuptling zu erkennen war, sprach nun seinerseits eine Begrüßung, und Rasimir übersetzte: „Das ist Alboin, der Häuptling von Buchental. Er heißt euch hier willkommen. Er möchte wissen, wer eure Begleiter sind und was ihr hier wollt.“ Kaute nickte.

„Die Zwerge sind jene Krieger, die mir unterstellt sind,“ erklärte er, „wir sind unterwegs im Auftrag unseres Grafen Bradan von Eszak. Wie bei euch in Vale, dienen auch bei uns menschliche Söldner in der Garde. Einige von ihnen bleiben ihr ganzes Leben lang bei uns. Damit sie die Möglichkeit haben, sich Frauen ihrer Art zu nehmen und Familien zu gründen, hat unser Graf in seiner Weisheit beschlossen, neben neuen Kriegern auch weibliche Menschen aus diesem Land anzuwerben. Und das hier sind die, die sich uns bereits angeschlossen haben.“

Rasimir übersetzte dies dem Häuptling und seinen Begleitern. „Und nun wollt ihr auch hier nach Frauen suchen, die euch in euer Land begleiten?“ fragte plötzlich der einzige Bewaffnete unter den Menschen, der offenbar diesen Eingang bewachte. Kaute war aber nur bedingt überrascht, dass dieser Munzanisch sprach, denn das konnten einige Menschen hier, insbesondere die Krieger, wenn sie schonmal mit zwergischen Verbündeten gemeinsam gegen Orks oder Goblins gekämpft haben. Allerdings kam das in diesem Teil des Landes deutlich seltener vor als in denen, die Kaute auf dieser Reise zuvor schon durchquert hatte.

„Ja,“ antwortete er dem Krieger, „und es freut mich, dass ihr meine Sprache sprecht. Gibt es noch mehr Menschen an diesem Ort, die das können?“ „Wenige,“ erwiderte der Krieger. Er war mit einem Speer bewaffnet und trug einen offenbar nach zwergischer Art geschmiedeten Kupferhelm. Ansonsten allerdings war er typisch menschlich gekleidet. „Wir sprechen normaler Weise unsere eigene Sprache und haben wenig Gelegenheit, Munzanisch zu üben,“ erklärte er. Und Rasimir nickte, um das zu bestätigen.

Dann hob Alboin, der Häuptling, wieder an. Er hatte sich kurz mit den Ältesten besprochen. Und Rasimir übersetzte ihn wieder: „Er sagt, er wird euer Anliegen mit dem Rat des Ortes besprechen. Ihr seid solange seine Gäste und dürft eintreten.“ „Wir danken ihm,“ antwortete Kaute und gab seinem Gefolge ein Zeichen, sich wieder in Bewegung zu setzen.

Auf dem Weg nach drinnen unterhielt er sich noch etwas mir Rasimir. Dieser war schon seit elf Jahren in Buchental und sprach die hiesige Sprache fließend. Rasimir war auch schon öfter in diesem Land gewesen, hatte sich aber eine andere menschliche Sprache angeeignet. Die Menschen im Goskenland waren noch kein geeintes Volk, was unter anderem an den verschiedenen Sprachen lag.

Auch die Kultur unterschied sich noch ein wenig von Siedlung zu Siedlung, wobei es außer Siedlern auch noch Nomaden gab. So war es nicht ganz einfach für die Munzaner, sich überall neu auf die Menschen einzustellen. Und doch fanden sie fast überall willige Verbündete, sowohl in wirtschaftlicher wie auch in militärischer Hinsicht. Die Zusammenarbeit hielt nun schon seit etlichen Generationen; mal besser, mal schlechter, aber sie hielt. Und das fanden Rasimir und Kaute beide prima.

Kaute begleitete Rasimir zu dessen Hütte, wo er den überörtlichen Handel organisierte. Er zeigte ihm sein Lager mit Waren aller Art, die er hier bei den Menschen eingetauscht hatte. Überwiegend landwirtschaftliche Produkte, die es im Gebirge nicht gab. Immer, wenn er eine Wagenladung voll hatte, brachte er sie darum in seine munzanische Heimat und tauschte sie dort gegen handwerkliche Waren von zwergischer Qualität ein, die er wiederum hier gut loswerden konnte, wie er berichtete.

So oder ähnlich lebten viele munzanische Händler in dieser Zeit, wie Kaute wusste. Aber noch sehr viel stärker hatten sich zwei andere zwergische Völker darauf spezialisiert: Kelgorier und Dalaran. Sie hatten richtige Handelskolonien in ihren menschlichen Nachbarländern errichtet und ebenso in Munz. Sie breiteten sich vor allem durch den Handel weit über ihr Heimatland hinaus aus.

Die Partnerschaft zwischen den Munzanern und den Menschen des Mittelllandes hingegen war in erster Linie militärisch geprägt. Die Zwerge unterstützten die Menschen mit ihren überlegenen Waffentechnologien und Strategien gegen Orks, Goblins und Drachen. Und die Menschen machten mit, indem sie sich mit ihren Kriegern anschlossen. Auf diese Weise kamen auch vor Generationen die ersten Söldner aus dieser Gegend in die Garden der Grafen.

Während die beiden Zwerge sich über diese Dinge austauschten, verteilten sich Kautes Begleiter im Ort und sahen sich um oder suchten sich Plätze zum Ausruhen. Einige der Frauen sprachen die Sprache dieser Siedlung und fanden schnell Anschluss. Die anderen blieben zusammen und hielten sich auf dem Dorfplatz auf, an dem auch Rasimirs Hütte lag.

Die Hütten bestanden überwiegend aus Holz oder Lehm und hatten nur einen Raum. Aber es gab auch steinerne Gebäude. Andererseits gab es auch solche, die eigentlich noch Zelte waren, nur fester verankert und mit Holzstämmen gestützt. Einige hatten einen eigenen Ofen, aber meistens standen die Kamine zwischen den Häusern und wurden gemeinsam genutzt. Auch offene Lagerfeuerstellen gab es noch.

Die Menschen trugen geschnittene und genähte Umhänge, Wämser oder Togen aus Tierfällen und Tierhäuten, sowie ebenso gearbeitete Schuhe. Die etwas besser Gestellten erkannte man daran, dass ihre Kleidung bemalt oder bestickt war. Und bei einigen war auch an der Qualität erkennbar, dass der Schneider ein Zwerg gewesen sein musste.

Außer Menschen liefen überall im Ort auch Hühner herum und Kaute fragte sich, wie die Menschen auseinander halten konnten, welche davon wem von ihnen gehörten. Außerdem sah er Kaninchen als Haustiere. Von größeren Tieren wie Ziegen oder Schweinen wusste er, dass sie außerhalb der Siedlung gehalten wurden. Auch bauten die Menschen innerhalb wie außerhalb einige Pflanzen an und es war überdeutlich, dass die allermeisten von ihnen, von der Landwirtschaft lebten, noch mehr als daheim im Tausendgebirge.

Kautes Reisegruppe übernachtete in Buchental. Und am nächsten Morgen nach dem Frühstück kam eine Frau auf den Kriegsmeister zu, die ungefähr zwei Köpfe größer war als er. Das war für einen weiblichen Menschen nicht gerade klein, wie er wusste. Er schätzte sie auf Mitte oder Ende 20 und damit genau in der Altersgruppe, die er suchte. Ein Zwerg wäre da noch minderjährig, aber Menschen wurden schneller erwachsen.

Die Frau hatte mittellange, glatte, dunkelblonde Haare und trug einen langen, braunen Umhang mit Bestickung, der vorne offen war, so dass man Lenden- und Brustschurz darunter ebenso sehen konnte wie das Messer an dem Gürtel, der den Lendenschurz hielt. Beim Gehen ragten immer wieder kurz ihre nackten Beine aus dem Umhang hervor, bis sie vor Kaute zum Stehen kam, der sich daraufhin erhob.

Beide begrüßten einander auf die hier übliche Art mit der erhobenen, offenen Hand. „Ihr suchen nach Frauen für Söldner in euer Land?“ fragte die Frau in gebrochenem Munzanisch. „Das ist richtig,“ sagte Kaute, „hast du mit den anderen Frauen gesprochen?“ „Ja,“ antwortete die Frau, „und ihr habt mit mein Vater gesprochen.“ Kaute blickte sie fragend an. „Der Wächter am Eingang gestern,“ erklärte sie. Er nickte.

„Ich kommen mit euch,“ meinte die Frau, „ich will sehen euer Land und eure Söldner.“ „Tatsächlich?“ fragte Kaute mit ungespielter Überraschung, „Hat denn euer Häuptling schon darüber entschieden?“ „Ist meine Entscheidung,“ sagte sie, „meine Familie einverstanden.“ „So,“ sagte er, „du möchtest es also von dir aus. Das kommt selten vor.“ „Wieso?“ fragte sie. „Nun, die meisten, die sich uns bisher angeschlossen haben, wurden von ihren Mitmenschen dazu überredet. Ich glaube, eine war sogar eigentlich bis zum Schluss dagegen.“

Die Frau sah sich um zum Dorfplatz, wo einige der anderen Frauen standen, die schon zu Kautes Gruppe gehörten. „Ja, haben mir einige erzählt,“ sagte sie dann und wandte sich wieder ihm zu, „aber ich wollen gerne. Bitte mich mitnehmen!“

„Weißt du überhaupt, worum es geht?“ fragte der Kriegsmeister. „Viele Männer aus mein Land sind Söldner in dein Land,“ antwortete sie, „aber nur Männer dort. Ihr suchen Frauen jetzt.“ „Und du möchtest die Frau eines Söldners in meiner Heimat werden?“ Sie nickte. „Was weißt du über unser Land?“ wollte er weiter wissen. „Hohe Berge, viele Zwerge, Leben in Höhlen, ab und zu Krieg gegen Orks,“ referierte sie. Kaute nickte.

„Ich freue mich, dass du dich freiwillig meldest,“ sagte er dann nach kurzem Nachdenken, „aber wir müssen abwarten was euer Häuptling und die Ältesten sagen. Wir nehmen Frauen nur mit deren Einverständnis mit. Und wenn sie etwas dafür verlangen, müssen wir abwägen, ob es ein guter Tausch ist.“ „Frauen keine Tauschware,“ sagte die junge Frau empört, „meine Entscheidung, ob mitkommen oder nicht.“

Kaute zog die Augenbrauen hoch. Sie schien wirklich sicher zu sein. Soviel Eigenmächtigkeit kannte er von zwergischen Frauen nicht und erlebte es auch unter Menschen sonst zumindest nicht so deutlich. Aber auch er wollte sie gerne mitnehmen. Besser als dass eine unbedingt wollte, konnte es ja nicht kommen.

Trotzdem musste er ihr antworten: „Wir warten ab, was deine Obrigkeit dazu sagt. Du kannst dich ja inzwischen schon mal mit den Anderen vertraut machen.“ „Danke,“ sagte sie freundlich und wandte sich ab. „Wie ist dein Name?“ rief Kaute ihr noch hinterher. Sie bleib noch einmal stehen und drehte sich um. „Ich bin Fehild.“ Dann ging sie zu einigen der anderen Frauen, die sich auf dem Versammlungsplatz versammelt hatten.

Weitere Freiwillige meldeten sich an diesem Tag nicht. Aber am Nachmittag kam der Häuptling mit dem Krieger, den Kaute nun als Fehilds Vater kannte, zu ihm und ließ diesen auf Munzanisch erklären: „Meine Tochter hat sich entschieden, sich euch anzuschließen. Der Rat ist damit einverstanden. Unserer Familie wird sie fehlen, aber wenn es ihr Wunsch ist, werden wir sie mitgehen lassen.“

Kaute nickte. „Und was verlangt ihr dafür?“ fragte er. Die beiden sahen sich an. „Nichts,“ antwortete der Krieger verwundert, „höchstens, dass ihr gut auf sie achtgebt. Wir hoffen, dass sie bei euch einen Mann findet und glücklich wird.“ „Ihr habt hier zu wenig Männer,“ mutmaßte Kaute, „kann das sein?“ „Wo ist das nicht so?“ fragte der Mensch zurück, „einige fallen im Kampf gegen Orks, andere gehen mit euch ins Tausendgebirge. Es bleiben immer ein paar Frauen ohne Mann.“

„Ja,“ sagte der Zwerg, „so ist es wohl seit Langem. Unser Graf hofft, durch diese Maßnahme auch dazu einen Beitrag zu leisten, dass sich das wieder etwas ausgleicht. Aber es ist nicht einfach, Freiwillige zu finden, die mit uns kommen. Wir suchen jetzt schon eine ganze Weile.“ „Dann nehmt Fehild mit!“ bat der Mann, „Wir wünschen ihr alles Gute bei euch, auch wenn es schwerfällt, sie gehen zu lassen.“

Kaute vermutete, dass es an der eigenen Biographie dieses Mannes lag, dass er seine Tochter einfach so gehen ließ. Er war selbst Krieger und vielleicht auch schon als Söldner in einer munzanischen Grafschaft gewesen. Wenn ja, konnte er sich darauf verlassen, dass sie dort einen Mann finden würde. Und das schien ihm das Wichtigste zu sein.

Der Häuptling erklärte dann noch, dass es am Abend ein kleines Abschiedsfest für Fehild geben würde, zu dem auch die Gäste eingeladen sind, und ließ es den Krieger übersetzen. Der Zwerg versprach, zu kommen.

Einige Menschen hatten Trommeln, Flöten, irgendwelche Knochengebimmel und Ratschen, und machten darauf, so gut sie konnten, langsame aber fröhliche Musik. Andere, unter ihnen Fehild, tanzten dazu. Wieder andere bewirteten die Übrigen, einschließlich der Gäste.

Das war das Abschiedsfest am Abend. Es wurde gebratener Fisch gereicht, dazu Brot, und anschließend einige Früchte, von denen man den Gästen sagte, Fehild hätte die meisten davon gesammelt. Sie war nämlich Sammlerin und gehörte zu denen, die das Dorf mit wildem Obst und Gemüse versorgten.

Sie unterhielt sich immer wieder mit den Frauen aus den anderen Siedlungen, die sich schon vor ihr der Gruppe angeschlossen hatten, und ließ sich von deren Beweggründen berichten.

Die meisten hofften, wie sie, einen Mann unter den Söldnern zu finden. Natürlich wäre es ihnen lieber gewesen, ihn bereits hier kennenzulernen und dann mit ihm gemeinsam dorthin zu gehen, aber darauf konnten sie ja nicht warten. Und hier hatten sie bisher keinen oder nicht den Richtigen gefunden.

Irgendwann kamen andere junge Frauen aus dem Dorf und brachten Fehild einen Blumenkranz als Abschiedsgeschenk, den sie ihr im Rahmen eines offenbar traditionellen Tanzes umlegten. Noch später brachten die Ältesten ein Schaf als Opfer für ihre Göttin Drava dar und baten sie, die Sammlerin zu beschützen, wenn sie am nächsten Tag das Dorf verlässt. Dann klang das Fest aus.

Am nächsten Vormittag ließ Kaute seine Krieger die Gruppe zusammenstellen, die Esel beladen und alles für den Aufbruch vorbereiten. Alboin und einige weitere Personen waren zum Abschied an den Dorfausgang gekommen. Auch Fehilds Eltern und Geschwister waren da. Und schließlich kam sie selbst. Wie Kaute es ihr erlaubt hatte, hatte sie genau einen Sack mit Gepäck bei sich.

Den Sack gab sie einem der Krieger, welcher ihn auf einem Esel verstaute. Währenddessen verabschiedete sie sich von ihrer Familie, wobei ihr nun doch die Tränen kamen, genau wie den anderen. Auch wenn sie sich auf das Abenteuer freute, wusste sie ja nicht, ob sie wirklich ihr Glück finden und ob sie jemals zurückkommen würde.

Aber der Wunsch, mitzugehen, war einfach zu groß. Sie hatte auch einen Grund dafür, aber den konnte sie jetzt noch niemandem verraten. Nur ihr Vater ahnte ihn. Und das wusste sie. Aber auch ihm musste sie jetzt „Lebe wohl“ sagen. Und schließlich setzte sich der Tross in Bewegung. Sie winkte noch einmal allen zu und schloss sich dann an.

Kapitel 4: Bradans Entscheidung

Podos und Pravedan standen direkt vor der Pritsche, auf der ihr Vater lag. Man hatte ihn in die große Halle verlegt, wo sonst Versammlungen abgehalten oder bei schlechtem Wetter auch Feste gefeiert wurden. Denn das Sterben eines amtierenden Grafen war eine öffentliche Sache, bei der viele dabei sein wollten, sollten oder zumindest hätten sein können.

Bei den Söhnen standen ihre Mutter Calme und ihre Schwester Arnela. Sie war das mittlere Kind des sterbenden Grafen, jünger als Pravedan, aber älter als Podos. Wobei alle drei natürlich längst keine Kinder mehr waren. Sie waren verheiratet und hatten selbst Kinder, Enkel und Urenkel, Arnela sogar Ur-Urenkel. Das fünf bis sechs Generationen einer Familie gleichzeitig leben, ist bei Zwergen der Normalfall.

Nun allerdings sollte sich die älteste Generation verabschieden. Das war allen bewusst. Deshalb waren sie hier: Die Kinder und Enkel, deren Partner, die wichtigsten Berater Bradans, die höchsten Würdenträger der Grafschaft, soweit sie in der Nähe wohnten, darunter auch fünf der sieben Barone mit ihrem Gefolge, und weitere Interessierte aus dem Zentrum von Povaren, der Baronie in der Mitte Eszaks, wo traditionell der Graf residierte.

Kurzum: Es war voll in der großen Halle, einer Höhle mit zwei Ausgängen zum großen Platz in der Mitte des Zentrums, sowie drei Gängen, die in andere Höhlen führten. In einer davon wohnten Bradan und Calme, in einer weiteren der Feldherr Ravan mit seiner Frau, und in der dritten wurden bei Bedarf Gäste des Grafen beherbergt.

Bradan selbst konnte sich so gut wie nicht mehr bewegen. Seine Muskeln und Gelenke gehorchten ihm nicht mehr. Ab und zu ging ein Zucken durch seinen Leib. Die Hand seiner Frau konnte er noch halten und tat es, aber er spürte, dass ihm für alles andere die Kraft ausging. Sehr Herz schlug nur noch schwach und langsam. Schon das Atmen fiel ihm schwer, das Sprechen erst recht.

Aber sein Kopf war noch klar. Und das war gut so, denn er hatte noch eine letzte Aufgabe zu erledigen. Eigentlich sogar mehr als nur eine, aber für mehr hatte er weder Kraft noch Zeit. Das spürte er. Also würde das derjenige übernehmen müssen, den er mit seiner letzten Amtshandlung nun zu seinem Nachfolger ernannte. Und genau darauf warteten hier auch alle gespannt.

„Pravedan und Podos,“ sagte Bradan mit schwacher Stimme. Aber nicht nur die beiden, sondern auch etliche weitere, die genau zuhören wollten, rückten nun näher zu ihm und wurden ganz still. „Ihr seid mir gute Söhne gewesen und wäret beide gute Nachfolger,“ erklärte der sterbende Graf, „jeder unter gewissen Umständen, denn jeder hat unterschiedliche Stärken. Unter den jetzigen Umständen …“ Er musste Pause machen.

„Mein Herr, ihr braucht Ruhe, sagte Neven, der Heiler, der hinter Bradan stand. „Nein,“ sagte einer der Barone, „er muss jetzt seinen Nachfolger ernennen.“ Der Heiler wollte etwas entgegnen, aber Bradan hob mit letzter Kraft die Hand, um wieder selbst zu Wort zu kommen. „Er hat Recht,“ sagte er, „denn sonst versinkt Eszak im Chaos. Aber wir brauchen Einigkeit. Und darum bestimme ich, dass Podos mein Nachfolger wird. Er hat die nötige Entschlossenheit dafür.“

Ein Raunen ging durch die Menge und alle starrten auf die beiden Brüder. Viele stimmten der Entscheidung zu. Andere wirkten sehr irritiert. Podos war das Jüngste der drei Kinder Bradans, wenn auch mit hundertachtzig Jahren ohne Zweifel lebenserfahren genug für dieses Amt. Aber es war zumindest nicht üblich, den ältesten Sohn zu übergehen. Zumal der Graf diesem auch nichts anderes zu vermachen hatte. Aber es war seine Entscheidung.