Leichenmond - Dietmar Schenk - E-Book

Leichenmond E-Book

Dietmar Schenk

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Beschreibung

Dieser fesselnde Thriller entführt die Leser*innen in die vom Autor geschickt rekonstruierte Atmosphäre des mittelalterlichen Englands. Die historische Rekonstruktion der Realität der Inquisition ist mit einem Netz aus Aberglauben, Mythen und Legenden verwoben. Der Protagonist, ein Alchemist namens Malcolm, ist von der Wirkung des Vollmonds auf seine Triebe versklavt und wird zur Nekrophilie gezwungen. Auf seiner verzweifelten Suche nach einer Lösung für dieses Problem, bei der er von seinem treuen Diener und erfahrenen Kämpfer Binagh begleitet wird, verliebt er sich in die junge Lucy, auf der das Todesurteil der Inquisition lastet. Durch tausend Wechselfälle wird der Protagonist mit einer Welt voller Widersprüche und Vorurteile konfrontiert, einer Welt, in der die Macht der Liebe die einzige Hoffnung ist, an die er sich klammern kann. 

„Leichenmond“ ist für mich die wohl heftigste Liebesgeschichte auf dem Markt. Fantastisch, konkurrenzlos und in der Art noch nie dagewesen. Absolut empfehlenswert.
 
Dietmar Schenk wurde 1955 geboren und arbeitete als Ingenieur im Bereich Film- und Postproduction. Seine größten Verdienste auf diesem Gebiet liegen in der technischen Unterstützung der Olympischen Sommerspiele in Atlanta im Jahr 1996, sowie in der Begleitung der ersten Digitalisierung eines Kinofilms, Comedian Harmonists. Parallel dazu begann er 1989 seiner Leidenschaft für das Schreiben zu folgen, die zur Veröffentlichung von bisher 12 Büchern führte. Seine schriftstellerische Tätigkeit umfasst verschiedene Bereiche, darunter auch Schönliteratur, und das, obwohl er seinen größten literarischen Erfolg mit einem Sachbuch erzielte: Sein 1991 veröffentlichtes „Fröhliches Wörterbuch Kampfsport“ war mit elf Auflagen 15 Jahre lang auf dem Markt. Leichenmond, eine abenteuerliche Liebesgeschichte im Mittelalter angesiedelt, ist sein dritter Roman.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dietmar Schenk

 

 

 

Leichenmond

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2025 Europa Buch | Berlin

www.europabuch.com | [email protected]

 

 

 

Gedruckt für Italien von Rotomail Italia

Finito di stampare presso Rotomail Italia S.p.A. - Vignate (MI)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Leichenmond

 

 

 

 

 

 

 

 

Dieser Roman ist einem wundervollen Menschen gewidmet:

Christina Albrecht, meiner Partnerin, die es erduldete, dass ich ihr das Skript immer wieder vorlas und die mir wertvolle Hinweise gab, wo etwas verändert werden musste. Du bist großartig.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorwort von Stefan Jonas, Bavaria Filmstudios

 

Sexuelle Abartigkeit trifft auf religiösen Wahn, und das zu einer Zeit, als die Inquisition tobt. Keine guten Voraussetzungen für den an Nekrophilie leidenden Malcolm, die Frau seiner Träume für sich zu gewinnen. Als seine Angebetete hingerichtet wird, scheint das die Lösung zu sein, braucht er doch nur ihre Leiche, um glücklich zu werden. Aber da fängt der Horror erst richtig an...

 

Als ich das Manuskript las, war ich von der ersten Seite an fasziniert, obwohl es mich auch gründlich schauderte. Etwas Ähnliches habe ich nie zuvor gelesen. Immer wieder kam ich an einen Punkt, wo ich mich fragte: Wie soll denn das jetzt weitergehen? Was für eine geniale Konstruktion! Meines Erachtens hat der Roman das Potential für einen Kassenschlager im Kino.

 

Stefan Jonas, Regisseur für die Bavaria Filmstudios

Websites:

jonas-regie.de

309manukahonig.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

PROLOG

 

Malcolm stand im Schlafzimmer am Fenster und schaute Binagh zu, wie dieser im Hof sein Pferd sattelte. Er hatte seinen Gehilfen gebeten, in der Stadt Brot und Käse zu besorgen. Es war besser, ihn nicht im Haus zu haben bei dem, was er nun vorhatte. Sicher, er begleitete ihn bei viel abstrakteren Unternehmungen, ohne mit der Wimper zu zucken. Dafür bekam er auch reichlich Geld. Aber jetzt war es Malcolm wichtig, allein zu sein, nicht nur in seinem Schlafzimmer, sondern im ganzen Haus, ja, sogar auf seinem Anwesen. ‚Reite mal schön in die Stadt, und nimm dir viel Zeit‘, dachte er, als Binagh da draußen den Gurt festzurrte. ‚Diese Zeit brauche ich, um zu erledigen, was ich tun möchte. Wenn es gelingt, werde ich heute Abend ins Pub gehen, und wenn nicht – auf den Friedhof.‘

 

Nun ritt Binagh aus dem Hof heraus auf die staubige Straße und hieb dem Pferd die Hacken in die Seiten, worauf der Hengst sich ordentlich ins Zeug legte. „Nicht so schnell, du Narr“, murmelte Malcolm bissig. Gleichzeitig befiel ihn das ungute Gefühl, dass er vielleicht doch nicht so viel Zeit haben könnte, wie er hoffte, sodass er sich auf dem Absatz umdrehte und zur Vitrine an der dem Fenster gegenüberliegenden Wand eilte, die sein geräumiges Schlafzimmer zierte. Das dunkle, matt glänzende Möbel war ein teures Stück mit goldenen Verzierungen, die seinen wohlhabenden Status unterstrichen. Er öffnete die mittlere Tür und nahm eine Schatulle heraus, mit der er sich auf sein Himmelbett fallen ließ. In einer Seelenruhe, die seine Zeitknappheit verbarg, löste er den metallenen Verschluss und hob den Deckel an. In wohliger Vorfreude betrachtete er sich den Inhalt. Er drehte die Schatulle in alle Richtungen, schnupperte daran, lächelte kurz und stellte sie neben sich auf die Matratze. Er rutschte herum, nahm die Füße ins Bett, stützte sich damit auf der Matratze ab, hob das Gesäß in die Höhe und fingerte den Bund auf, der seine Hose hielt. Dann wurstelte er sie hastig runter. Sie gab sein erigiertes Glied frei. Wie wenn er seine Härte testen wollte, schnippte er mit dem Mittelfinger dagegen. Der leichte Schlag versetzte ihn in Verzücken. Er reckte sich nach der Schatulle, packte die darin liegende Hand am Daumen und holte sie heraus. Fachmännisch prüfte er das Körperteil, das er einer sinnlos betrunken in der Straße liegenden Hure vorletzte Nacht abgehackt hatte. Seinen medizinischen Kenntnissen entsprechend, hatte er ihren Unterarm abgebunden, damit die Frau nicht verblutete, und er hatte ihr ein in einem Beutel verpacktes Goldstück in das Kleid gestopft, um sein Gewissen zu erleichtern. Das Goldstück war so wertvoll, dass sie sich vielleicht ein paar Jahre lang nicht mehr prostituieren musste.

Die Hand war keineswegs steif, stellte Malcolm zufrieden fest. Die schlanken Finger ließen sich gut bewegen und um sein Glied biegen. Dann umfasste er sie mit seinen beiden Händen und begann zunächst langsam, dann immer wilder, auf und abzureiben.

 

Malcolm ergab sich in das Gefühl, das diese fremde Hand ihm zukommen ließ. Er schloss die Augen und rief Fantasien auf, die er schon seit Jahren abgespeichert hatte. Mitunter gelang es ihm für kurze Zeit, sein Glied in einer Vagina zu erwägen, aber dann spürte er wieder den krassen Unterschied dazu. Wenn Malcolm auf den Friedhof ging, dann hatte er meist eine Creme dabei, mit der er das Geschlecht der Leiche geschmeidig machte, bevor er eindrang. Wenn er sich dem Höhepunkt näherte, meinte er, sein Glied sei nur Energie, und kein Muskel. Er spürte dann nur noch die Lust und seine wilden Bewegungen, bis ihn der Orgasmus in Krämpfe legte. Langsam kam dann das Empfinden für sein Glied wieder zurück und die Besinnung dafür, was er gerade getan hatte. Nach der Ekstase folgte Gleichgültigkeit, manchmal auch Bedauern. Vielleicht würde es mit dieser toten Hand, die sich mit der seinen auf und ab bewegte, ähnlich sein, vielleicht auch nicht. Sein Glied blieb hart, der Spaß war mäßig, und es fehlte die Erfüllung, die er auf dem Friedhof genoss, selbst, wenn Gefahr im Anmarsch war. Trotzdem wollte er nicht unverrichteter Dinge sein Bett verlassen.

Die Bewegungen wurden schneller. Bilder von Gräbern tauchten auf, in denen es besonders schön gewesen war, und dann erwachte der Tag in seinem Kopf, da alles seinen Anfang genommen hatte. Jener, als der Medizinstudent Malcolm mit einer Leiche alleine im pathologischen Raum gewesen war und er sich an der Toten versuchte, weil es mit Lebenden nicht hinhauen wollte. 'Tote lachen dich nicht aus, wenn er nicht stehen will', dachte er. 'Sie sind so verständnisvoll, und das, was sie mir geben, ist tausendmal mehr als das, was ein lebender Körper zu bieten hat. Dazu gehören auch meine eigenen Hände.' Er rieb noch schneller, stemmte sich in das Gefühl hinein, ejakulieren zu wollen und – hörte Pferdehufe vor dem Haus. „Wo um alles in der Welt kommt dieser Kerl jetzt schon her“, fluchte Malcolm. Die Haustür wurde geöffnet, und schwere Schritte hallten durch den Flur. „Malcolm?“

„Verdammter Tölpel“, knirschte er. „Was ist?“, brachte er mühsam hervor. „Ich will jetzt nicht gestört werden.“ Er hatte große Mühe, sich zu kontrollieren und einigermaßen normal zu klingen.

„Ich habe kein Geld mitgenommen. Tut mir leid.“

Trotz dieser kurzen Unterhaltung hatte Malcolm nicht innegehalten. In seinem Unterleib braute sich ein kleines Feuerwerk zusammen. Keine Explosion, wie es ihn manchmal in den Gräbern erwischte, aber genug, um...

„Was jetzt?“, rief Binagh.

„Ich-ich-ich... AH!“, stöhnte Malcolm. Dann sank er erschöpft zusammen. Sein Ejakulat benetzte seinen Schambereich und fühlte sich klebrig und warm an, aber nichts war in Reichweite, mit dem er sich hätte reinigen können. So zog er widerwillig die Hose hoch, versteckte die Hand in der Schatulle und ging nach draußen. Wenigstens würde ihm heute Nacht der Friedhof erspart bleiben. Es war wieder einmal Vollmond, das Zeichen für die Leichenschändung. Heute Nacht würde es ihn nicht erreichen. Er hatte sich rechtzeitig abreagiert. Ein wenig erleichtert trat er in den Flur, um Binagh Geld zu geben.

 

I

 

Die Macht des Vollmonds auf Malcolm war gewaltig. Wenn er seine Bahn zog, dann hatte er ihn für drei Tage voll im Griff. Aber diesmal sollte es anders sein, denn Malcolm hatte sich am Vormittag bereits abreagiert. Nun aber war es Mitternacht. Vierzehn Stunden waren seither vergangen, zu viele, um ihn vom Friedhof fernzuhalten. Sein Herz pochte vor Aufregung, als er sich im hellen Mondlicht dieser frostigen Märznacht mit Binagh zusammen gebückt und hastig der Friedhofsmauer näherte. Noch zwei Schritte, noch einer...

DA! Stimmen auf der anderen Seite!

„Runter!“ Malcolm ließ sich vor die Friedhofsmauer fallen und riss seinen Begleiter gnadenlos mit sich. Dieser plumpste hart in das kniehohe Gras.

„He“, sagte Binagh erschrocken.

„Da sind Wächter“, flüsterte Malcolm. Kaum hörbar, fuhr er fort: „Wenn du nicht so viel gesoffen hättest, wären sie dir aufgefallen. Du solltest vorsichtiger sein. Ich bin nicht so leicht zu erkennen mit meinem schwarzen Umhang, aber dein violettes Wams leuchtet ja richtig bei diesem grellen Gestirn.“ Malcolm ging in die Hocke, drückte sich langsam hoch und gönnte sich einen vorsichtigen Blick über die Bruchsteinmauer, worauf er sich sofort wieder fallen ließ. „Verdammt, sie stehen da drüben unbeweglich herum. Warum machen die das?“ Als er keine Antwort erhielt, drehte er sich zu Binagh hin, nur um festzustellen, dass er eingenickt war. Er rollte sich auf den Rücken und verpasste ihm einen derben Tritt mit beiden Füßen. „Schnarch bloß nicht“, zischte er.

Binagh öffnete die Augen. „Ich bin nicht so besoffen, wie du meinst, Malcolm. Bedenke, dass du hierher wolltest, nicht ich.“

„Hast du an alles gedacht?“

„Spaten, Waffen, Wein, ja.“

„Den Wein hätte es nicht gebraucht. Du musst fit sein, wenn es hart auf hart kommt. Da sind Wächter, schon vergessen?“

Binagh, im Sitzen seitlich gegen die Friedhofsmauer gelehnt, kratzte lustlos am Moos herum, das sich auf Steinen und in Fugen zeigte. „Sie sind nur wegen dir hier, weil du die Gräber schändest“, murmelte er. „Und ich bin nur bei dir, weil du mich dafür bezahlst. Aber ohne Wein geht das nicht. Ich bin nicht du und habe eine Abscheu vor Toten, die ich nicht selbst ins Jenseits geschickt hab. Wenn es dir hier zu gefährlich wird, dann sollten wir wieder einmal für ein paar Monate den Friedhof wechseln.“

Malcolm wurde ruhiger. „Du hast recht“, pflichtete er ihm bei. „Tut mir leid. Dieses eine Grab noch hier in Southbarn, und dann verlegen wir unsere Aktivitäten wieder auf dörfliche Friedhöfe.“

„Deine Aktivitäten, Malcolm, nicht unsere.“

„Von mir aus: Meine.“

Binagh atmete hörbar aus. „Du meinst, dass es anderswo ungefährlich ist? Armer Narr. Wieso sind wir denn nun in der Stadt? Doch nur, weil sie auf den Dörfern anfingen aufzupassen. Außerdem ist der Weg dorthin weiter von zuhause weg, vielleicht jedes Mal ein Ritt von einer Stunde hin, und eine weitere zurück.“

„Southbarn ist nicht so weit weg von unserem Haus in Kings Cave, das ist richtig“, flüsterte Malcolm. „Aber vor allem gibt es hier mehr Auswahl. Auf den Dörfern wird nicht so viel gestorben – aber auch nicht so viel bewacht, da hast du recht.“

„Es wird vielleicht nicht mehr so viel bewacht, Malcolm. Das wird sich aber schnell ändern, sobald du dort wieder aktiv wirst, glaub mir.“

Malcolm lugte erneut über die Mauer und flüsterte: „Hast du denn eine bessere Idee?“

„Ja. Solange hier Wachen sind, sollten wir das Unternehmen abbrechen. Und morgen suchen wir uns ein Dorf.“

„Das geht nicht, Binagh.“ Malcolm blickte zum sternenklaren Himmel empor und deutete nach oben. „Schau doch, wie wunderbar voll und rot der Mond ist. Du weißt, dass ich dann immer raus muss. Ich kann nichts dagegen machen.“

Binaghs Blick folgte Malcolms Arm, der sich in die Luft streckte. Er sah zwar auch den vollen, hellen Mond, aber rot war er nicht. Allenfalls orange. „Ja, schön rot“, antwortete er dennoch. „So rot wie deine Haare. Aber wenn du…“

Malcolm fasste Binagh hart am Arm. „Pscht!“, machte er.

Stimmen und Schritte näherten sich der Stelle, an der sie kauerten und erstarben genau auf der anderen Seite der Mauer. Nur zwei Armlängen trennten sie jetzt noch von den Wachen. Binagh beugte sich ein wenig vor, griff vorsichtig über die Schulter und fingerte nach seinen selbstgebauten Waffen, die kreuzweise auf seinem Rücken in Lederscheiden auf ihren Einsatz warteten. Als Malcolm energisch den Kopf schüttelte, ließ er die Absicht wieder fallen.

Ein feines klapperndes Geräusch ließ sie beide nach oben blicken. Einer der Landsknechte hatte eine Nackengreifzange auf die Mauer gelegt. Deutlich sahen sie im hellen Mondlicht das halbrund zu einem offenen Kreis gebogene Metall auf einer Stange. Dieser federnde Bogen war im Innern mit Zacken versehen. Die Waffe gestattete es, Flüchtende von hinten am Hals zu packen und zu Boden zu reißen, nicht selten mit schweren Verletzungen. Malcolm, der mit dem Rücken an der Mauer lehnte und die Beine von sich streckte, tippte Binagh an, der genauso dasaß wie er. Die Mauer, rundum etwa zwei Mann hoch, war an dieser Stelle fast zur Hälfte abgetragen worden. Vielleicht hatte sich hier jemand Steine für eine Ausbesserung an seinem Haus besorgt. Was fürs Übersteigen günstig gewesen wäre, konnte ihnen nun zum Verhängnis werden, denn zumindest ihre Füße waren für die Landsknechte mit Sicherheit einsehbar. Malcolm legte den Zeigefinger auf die Lippen, deutete auf ihre beiden Beine und mit zwei Fingern auf ihre Augen, und dann mit dem Daumen nach oben.

Binagh nickte und wusste: Sie sollten die Beine zwar besser einziehen, aber schon die kleinste Bewegung konnte sie verraten.

Die Landsknechte hatten offenbar noch nichts bemerkt. Sie machten Witze über Frauen und kicherten. Die Witze wurden derber, das Lachen lauter.

Binagh stieß leise auf und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Der Hauch seines Atems stieg als feines Wölkchen auf und über die Mauerkrone hinaus.

Malcolm verfolgte es mit Schrecken. Aber auch sein Atem war in der Kälte zu sehen. Er hielt die Luft an.

Das Lachen erstarb. Die Nackengreifzange verschwand von der Mauer.

Binagh griff hastig nach seinen Waffen, aber Malcolm schüttelte wieder den Kopf.

Ein genussvolles „Aaaah“, gefolgt von einem langen Rülpser, verkündete, dass sie nur etwas getrunken hatten. „Lass uns zum Tor gehen und schauen, ob alles in Ordnung ist“, sagte einer der Männer. Daraufhin entfernten sich die Schritte wieder.

„Das war knapp“, sagte Binagh.

„Wenn du kampffähig bist, dann ist das alles kein Problem“, antwortete Malcolm. „Niemand ist besser als du. Aber wenn du betrunken bist...“

Binagh sagte nichts. Er stand auf, kletterte langsam auf die Mauer und schaute in Richtung des eisernen Tors, das nachts verschlossen war. Die Landsknechte waren nicht mehr zu sehen. „Komm hoch“, flüsterte er Malcolm zu.

Nun erhob auch Malcolm sich und kletterte auf die Mauer. Gemeinsam sprangen sie auf den Friedhof.

„Vor zwei Tagen ist eine Frau beerdigt worden“, flüsterte Malcolm. „Los, suchen wir das Grab.“

Gebückt huschten sie zwischen den Grabsteinen hindurch. Ältere Gräber waren mit Gras bewachsen, und die Inschrift auf den verwitterten, schräg aus der Wiese ragenden Steinen war mitunter kaum noch lesbar. Nach einigem Suchen fand Malcolm aber ein frisch zugeworfenes Grab. Es hatte noch keinen Grabstein. Malcolm las die Inschrift auf einem Brett, das an einen Holzpfahl genagelt war:

„CATHRYN PENCANCE –

born July 04, AD 1542 –

died aged 58 – R.I.P. “

 

Er deutete auf das Grab. „Das nehmen wir.“

„Sie ist achtundfünfzig, 30 Jahre älter als du“, gab Binagh zu bedenken.

„Und sie ist tot. Also, was soll’s? Grabe!“ Er setzte sich auf den Boden und schaute zu, wie Binagh mürrisch den Spaten abschulterte und zu schaufeln begann. Graben – werfen – graben - werfen. Die Erde war frisch und locker und Gott sei Dank nicht gefroren. Für einen durchtrainierten Kerl wie ihn war es eine leichte Arbeit, sich zum Sargdeckel hinabzuarbeiten, Wein hin oder her. Das Loch war schon bald etwa drei Fuß tief. Binagh sprang hinein und wischte mit den Händen lose Erde zur Seite.

Schon stand Malcolm neben ihm. Er konnte es nicht erwarten.

Gemeinsam zerrten sie den Sarg aus der Grube und rissen ihn auf. Er gab eine blasse Frauenleiche frei, die mit auf dem Bauch gefalteten Händen in einer billigen, ungeschmückten Holzkiste lag. Sie war weder auf ein weißes Laken gebettet, noch ruhte ihr Kopf auf einem Kissen, und Blumen waren auch keine drin. Einzig und allein ihr weißes Totenhemd lockte ein wenig Ehrfurcht hervor.

Binagh fröstelte es bei diesem Anblick. Er drehte sich angewidert um und hielt sich die Nase zu. Er entfernte sich ein paar Schritte weit, setzte sich unter einen Baum, legte die Waffen vor sich ab und knöpfte sich seinen ledernen Weinschlauch vor. Dann drehte er sich so, dass er Malcolm nicht zuschauen musste und lehnte sich gegen den Stamm. Dennoch bekam er Malcolms Eifrigkeit lückenlos mit.

Der Meister riss der Leiche das weiße Totenhemd vom Leib. Mit grober Gewalt drückte er ihre starren Beine auseinander und knickte sie gewaltsam über den Sargrand. Es knackte und schmatzte.

Binagh hatte den Eindruck, dass ein Metzger Fleisch ausbeinte.

Malcolm schaute sich noch einmal um, bevor er zu Werke ging. Der Friedhof war für ihn nun in gespenstig-rotes Licht getaucht, der Mond war riesig groß und blutrot. Zufrieden, aber hastig, wurstelte er sich die Hose runter, stürzte sich auf die Nackte und lebte seinen Trieb aus. Er tat dies wild, ungestüm und stöhnte dabei vor Genuss.

Das blass-graue Gesicht der Toten war wie alles in mattes Rot getaucht und starr. Es bewegte sich im Rhythmus der wilden Stöße, die Malcolm ihr verpasste. Die eingefallenen Wangen wackelten ein wenig mit und verliehen ihr eine gewisse Lebendigkeit. Auch der Mund schien Anteil zu nehmen an dem, was gerade passierte. Im fahlen Licht, das der Mond durch das Geäst einer Eiche auf das Gesicht warf, entstand mit jedem Stoß für einen kurzen Moment ein dezentes Grinsen. Abgesehen vom Erscheinungsbild der Leiche würde ein jeder vermuten, dass da noch ein wenig Leben in diesem Körper war, bei dem die Verwesung bereits eingesetzt hatte.

Malcolms Stöhnen wurde lauter.

„Geht es nicht ein bisschen leiser?“, zischte Binagh angewidert. „Die Landsknechte interessieren dich wohl nicht?“

„Sie lässt sich gut bearbeiten“, keuchte Malcolm. „Hätte ich nicht gedacht.“

„Es kotzt mich an. Bei jedem verdammten Vollmond geht es auf die Friedhöfe. Ich mache das nur aus Dankbarkeit zu dir, ist dir das klar?“

Malcolm wurde immer wilder. „Mir egal, warum du es tust. Hauptsache, du tust es.“ Sein Stöhnen wurde noch lauter, gefolgt von einem Schrei.

 

II

 

Die beiden Landsknechte, Cosy und Zack, erreichten die andere Seite des Friedhofs, der viel Platz für die Opfer von Pest und Inquisition bot. Aus den Bäumen drangen Geräusche an ihr Ohr. Das Laub raschelte, und in fast regelmäßigen Abständen meldete sich ein Kauz oder Uhu. Gelegentlich huschte etwas über den lehmigen Boden, zu schnell in diesem Dunkel, als dass Cosy eine Chance hätte, es mit seiner Lanze zu erwischen. Er schaute hoch zum wuchtigen quadratischen Turm der an den Friedhof grenzenden Kirche. „Gerade mal Mitternacht vorbei“, sagte er. „Wird eine lange Nacht!“

Ein Schrei gellte durch die Dunkelheit.

Cosy horchte auf. „Hast du das auch gehört?“

Zack nickte. „Und ob. Kam wohl von da drüben. Los, sehen wir nach.“ Mit der Nackengreifzange voran, wollte er los preschen, aber Cosy hielt ihn zurück.

„Warte. Wir sollten uns lieber aufteilen.“

Wieder dieser Schrei, der aber diesmal wie abgewürgt klang.

Cosy wies Zack mit der Lanze den Weg. „Lauf du da herum und ich in die andere Richtung. Am Tor treffen wir uns. Wenn wir hier niemanden finden, müssen wir draußen nachschauen. Los, beeil dich.“

Sie liefen los.

 

III

 

Malcolm durchlebte den Orgasmus mit allen Facetten seiner Lust. Er schrie und stöhnte hemmungslos, sackte für einen Moment auf der Leiche zusammen, raffte sich aber sofort wieder auf und kletterte laut schnaufend aus dem Sarg.

Binagh sprang herbei. „Na endlich. Mann, das hat ja gedauert!“, meckerte er. „Los jetzt, mir ist kalt.“ Achtlos schoben sie das Behältnis mit der Toten ins Grab. Binagh klaubte schnell seine Sachen zusammen. Dann eilten sie zu der niedrigen Stelle der Friedhofsmauer, um sie zu übersteigen. Doch kaum waren sie oben, da packte Binagh Malcolm am Gewand und ließ sich mit ihm zusammen rückwärts wieder runter fallen. Hart landeten sie im Gras. Binaghs asiatische Kampfkunst hatte es ihm gestattet, seinen Aufprall abzufangen.

Anders erging es Malcolm. Er war mit dem Rücken aufgeschlagen und bekam für ein paar lange Momente kaum Luft. Er hustete. „Das war knapp“, krächzte er. „Ich dachte, die wären weg.“

 

IV

 

In einer dunklen, engen Straße, die zur Kirche hinführte und an deren anderem Ende in einem Pub die letzten Kerzen gelöscht wurden, lag ein dunkles Etwas sich heftig windend auf dem Boden. Um seinen Hals war ein Seil gewickelt, auf dessen einem Ende ein Fuß in einem Reitstiefel stand und an dessen anderem Ende kräftig gezogen wurde. Nicht kräftig genug, damit das Genick des Mannes brach, der das Seil umklammert hielt, nach Luft rang und hilflos mit den Beinen strampelte. Er starrte nach oben auf die Gestalt, die in schwarzer Lederkleidung und mit langen, blonden Haaren wie ein Racheengel über ihm stand und mit irrem Blick ihrerseits zu ihm herabschaute. Jetzt bückte sie sich ein wenig, fasste das Seil etwas weiter unten und reckte sich wieder kraftvoll in die Höhe. „Warum bist du auch so zäh, du verdammter rothaariger Teufel“, keuchte sie. Es war die Stimme eines jungen Mädchens. Ruckartig riss sie weiterhin am Seil. „Du könntest – schon lange – verreckt sein – du Bastard.“ Mit aller Kraft zerrte sie noch einmal daran, rief: „Los, stirb endlich“, und dann erlöste ein Knacken das Opfer von den Qualen. Mit gebrochenem Genick hauchte er sein Leben aus.

 

Schon tauchten Schritte auf, die durch die enge Gasse hallten und sich ihr schnell näherten. „Da!“

Das Mädchen drehte sich um und sah Zack und Cosy wie zwei tollwütige Trottel auf sie zueilen. Sie wollte flüchten, verhedderte sich am Seil und geriet ins Stolpern, rappelte sich wieder hoch und lief los. Das Stolpern hatte sie jedoch wertvolle Zeit gekostet. Zacks Nackengreifzange schoss vor, schloss sich um ihren Hals und riss sie zurück. Eiserne Stacheln bohrten sich in ihr Fleisch. Wie durch ein Wunder wurden keine Schlagadern verletzt.

Sie packte in Panik den Eisenring, wollte ihn auseinander biegen und sich daraus befreien, aber es gelang ihr nicht. Schon wurde sie zu Boden gerissen. Sie schrie schrill auf.

Cosy stellte sich auf ihren Unterarm und drückte ihr die Spitze seiner Lanze in den Rücken. „Haben wir dich, du Schlampe“, keuchte er, ein wenig außer Puste.

Zack verpasste ihr einen Tritt in die Seite, kniete sich neben sie und presste mit dem Knie ihren Kopf aufs Pflaster. Dann fingerte er ein Stück Seil hervor. Unsanft schlug er gegen Cosys Bein, der daraufhin vom Arm der Verhafteten stieg. Zack band ihr die Hände auf den Rücken, entfernte grob die Nackengreifzange von ihrem blutenden Hals, stand auf und riss das Mädchen an den Haaren hoch. Mit dem Kopf deutete er Cosy an, nach dem Opfer zu sehen.

Cosy gehorchte. Ohne Eile begab er sich zu dem rothaarigen Mann, der regungslos auf der Erde lag und pikste ihn mit seiner Lanze. Als er nicht reagierte, drehte er ihn mit dem Fuß auf den Rücken. Die Augen waren aus den Höhlen getreten, und die Zunge quoll aus dem Mund. „Exodus“, rief er Zack zu. Als wollte er sich noch einmal von der Richtigkeit seines Befunds überzeugen, trat er ihm gegen den Kopf, der seltsam lose seine Stellung wechselte.

Ein derber Stoß von Zack ließ das Mädchen gegen eine Hauswand klatschen. „Dann haben wir eine Mörderin gefasst, Donnerwetter. So jung, so schön, und schon so verdorben.“ Er schmierte ihr eine. „Drecksweib. Wie heißt du?“

Sie schüttelte sich und wand sich im Griff des Häschers. „Lass mich los“, schrie sie.

Wieder eine Ohrfeige. „Dein Name, los, wird’s bald?“

„Lucy“, keuchte das Mädchen. „Lucy Jenkins, im Auftrag des Herrn. Lasst mich frei, wenn euch euer Leben lieb ist.“

Zack lachte laut auf. Ein lückenhaftes Gebiss aus gelben Zähnen zeigte sich inmitten eines strubbeligen, ungepflegten Barts. „Lucy im Auftrag des Herrn.“ Seine schwielige, grobe Hand fand erneut den Weg in ihr Gesicht. „Welches Herrn, rede!“

Lucys Kopf flog zur Seite, ihre Haare bedeckten ihr Gesicht.

Irgendwo in der Straße wurde quietschend ein Fenster geöffnet, für neugierige Blicke, die an dem Spektakel teilhaben wollten.

„Aha, keine Antwort also.“ Zack bog Lucys Gesicht in Stellung, strich ihr fast zärtlich die Haare zurück und drückte seinen Mund auf den ihren. Sein übler, nach Alkohol und Gebratenem riechender Atem drang in ihre Lunge ein, und seine fleischige dunkelrote Zunge füllte ihren Mund.

Cosy schaute zu. „Und was machst du, wenn sie dir die Zunge abbeißt?“ Er lachte.

Zack ließ von Lucy ab, als habe ihn etwas gestochen und schaute Cosy entgeistert an. Seine Lippen bluteten, sein ganzes Kinn nässte sich rot ein. Er schaute an sich herab, sah die im Mondlicht glänzende Spur, die sich auf seinem Wams breitmachte und drückte sich die Hand auf die Wunde. „Verdammte Hure“, nuschelte er und verpasste ihr noch zwei, drei harte Ohrfeigen. Er fummelte nach einem Dolch und zog ihn heraus, doch bevor er Lucy abstechen konnte, hielt Cosy seinen Arm fest.

„Hör auf“, sagte er. „Überlass sie dem Gericht. Niederstechen ist zu gnädig für diese Schlampe.“

Zack nickte. „Los, in den Kerker mit dir“, murmelte er mit geschwollenen Lippen.

Cosy deutete auf den Toten. „Und was machen wir mit diesem Rothaarigen da?“

Zack winkte ab. „Lass ihn liegen. Da können sich morgen andere drum kümmern.“

Mit Schlägen und Tritten scheuchten sie Lucy vorwärts.

Während sie sie zum Turm trieben, verließ eine alte Frau die Kirche und schaute ihnen kichernd nach. Schnellen Schritts, eilte sie von dannen.

 

V

 

Malcolm und Binagh saßen außerhalb der Stadt an einen Baum gelehnt. Von den Feldern her zogen gespenstisch eiskalte Nebelschwaden auf.

Binagh nahm einen Schluck aus dem Weinschlauch und reichte ihn Malcolm.

Er nahm das Angebot dankbar an. Nach ein paar kräftigen Zügen verkorkte er den Schlauch wieder und gab ihn Binagh zurück. Beide schauten zum Mond hoch, der nun auch für Malcolm wieder normale Größe und Farbe hatte. Er hatte seinen Trieb abreagiert und war zur Normalität zurückgekehrt. In diesem Zustand hätte er fast schwören können, dass es das letzte Mal war, gleich einem Alkoholiker, der an einem verkaterten Morgen dem Suff entsagen möchte und sich dafür eine reale Chance einräumte. Dennoch kannte er sich gut genug, um zu wissen, dass er ohne tatkräftige Hilfe niemals seine Nekrophilie loswerden würde. Die Hilfe, das wusste er ebenfalls, konnte nur er selbst sich geben. Dafür war er Medikus, und zwar ein guter. Immerhin halfen seine Tropfen und Tinkturen vielen Menschen. Er wagte einen scheuen Blick zu Binagh hinüber. Was wohl in ihm vorging? Er war schweigsam und betrachtete nur den Mond, wie er still und leise seiner Bahn zog. Still und leise in dieser lauten Welt, von der außer dem Wind und einem Fuchs gerade nichts zu hören war. Nicht hier draußen im freien Feld. Kaum zu glauben, dass es diesen Lärm, an den er sich nun angesichts dieser Stille vage erinnerte, tatsächlich geben sollte. Diesen Lärm in der Stadt, der von eisenbeschlagenen Wagenrädern herrührte und von Marktschreiern und Gauklern. Vom Gebrüll der Gaffer, die einer Hinrichtung beiwohnten, wie auch von den Schreien der Opfer im Turm der Qualen und am Galgen. Selbst die Arbeit eines Schmieds am Amboss drang nun in sein Ohr und mutierte zum Klirren von Klingen auf dem Schlachtfeld, das wiederum von wildem Geläut zahlreicher Kirchenglocken abgelöst wurde. ‚Was ist los in meinem Kopf?‘, fragte er sich. ‚Ich sitze in der Stille, und es ist laut.‘ Eine Träne rollte die Wange hinab. ‚Ich bin geistig krank.‘ Um dem Lärm zu entkommen, sagte er: „Binagh?“

Als ob dieser nur darauf gewartet hätte, angesprochen zu werden, antwortete er: „Ja?“

„Schläfst du?“

„Warum sollte ich? Wir sind noch nicht zuhause.“

„War der Tag denn nicht anstrengend?“

Binagh schenkte seinem Weinschlauch einen Blick, atmete tief durch und antwortete: „Ich kann sicher gut schlafen heute Nacht.“

„Ich weiß, dass die Arbeit nicht einfach ist für dich“, sagte Malcolm. „Umso mehr bewundere ich, wie gut du sie erfüllst. Das rechne ich dir hoch an, mein Freund. Ich glaube, du warst heute ein wenig ungehalten und kann das verstehen, glaub mir.“

„Tut mir leid, wenn du es bemerkt hast.“

„Wie gesagt: Ich kann es verstehen, Binagh, und deshalb bekommst du in Zukunft mehr Geld. Eine würdige Bezahlung für eine tadellose Arbeit. Würde dich das milde stimmen?“

„Mil-der, nicht mil-de!“

„Gut, dann erzähle ich dir was, das dich mil-de stimmt. Du wirst es nicht mehr so lange machen müssen.“

Binagh horchte auf. Was hatte Malcolm vor? Ja, klar, es forderte ihn mächtig heraus, bei jedem Vollmond und bei jedem Wetter mit ihm auf die Friedhöfe zu ziehen, Gräber für ihn auszuheben, Wache zu halten, ihn gegen Angreifer zu schützen und dabei sein Leben aufs Spiel zu setzen, während sein Meister sich an Leichen verging. Aber was hatte er im Gegenzug Malcolm nicht alles zu verdanken? Was für ein erbärmliches Leben hatte er doch weit über dreißig Jahre lang führen müssen, bis Malcolm ihn da herausgeholt hatte? ‚Vollmond ist nur einmal im Monat,' schoss es ihm durch den Kopf. '‚Eigentlich geht es mir bei ihm doch ganz gut.'‘ Ein wenig erschrocken fragte er: „Hast du jemand anderen dafür?“

Malcolms Antwort beruhigte ihn wieder. „Wo denkst du hin? Nein! Aber so, wie ich bin, bin ich kein gutes Vorbild und kann anderen Menschen nicht so gut helfen. Deshalb arbeite ich an einer Medizin, die mir den Trieb nehmen soll.“

Binagh versuchte, seine freudige Überraschung mit Gleichgültigkeit zu überspielen und sagte nur: „Ein Traum!“ Von Herzen freuen wollte er sich erst, wenn er Resultate sah.

Malcolm seufzte leise. „Ja, aber noch ist es nicht soweit.“

„Medizin, gut. Besser wäre aber eine richtige Frau“, gab Binagh zu bedenken.

„Vergiss es“, antwortete Malcolm. „Ich habe einmal versagt, und das war der Horror. Ich fühle nicht, dass es beim nächsten Mal anders wäre. Nie wieder will ich das erleben und werde mir diese Blöße bestimmt nicht noch einmal geben.“

„Es war nur so eine Idee“, sagte Binagh.

„Aber keine gute.“

Sie schwiegen. Jeder für sich, und doch gemeinsam, schauten sie sich weiterhin den Mond an, bis Binagh das Schweigen erneut brach. „Wie soll die Medizin denn funktionieren?“

Malcolm freute sich, dass Binagh ihn das fragte und antwortete bereitwillig: „Ich experimentiere an einem Pulver, das ich mir verabreichen kann. Es soll mein Leiden vernichten. Ich habe viel Größeres vor und kann es mir auf Dauer nicht leisten, auf einem Friedhof erwischt zu werden. Dieses verdammte Leiden behindert mich beträchtlich, verstehst du?“

„Natürlich“, sagte Binagh. „Und was ist das Große, das du vorhast?“

„Es ist noch zu früh, dich in dieses Geheimnis einzuweihen“, sagte Malcolm und sprang auf. „Du erfährst es zu gegebener Zeit. Aber sag mir noch eins: Hast du was gegen meine roten Haare?“ Fast ehrfurchtsvoll strich er mit gespreizten Fingern durch diese gepflegte Pracht, die ihm bis zwischen die Schulterblätter reichte.

Binagh schüttelte den Kopf. „Sie stehen dir gut. Warum?“

„Ich hielt es für Ironie, als du sie auf dem Friedhof mit dem roten Mond verglichen hast“, erklärte er. „Dann ist ja alles gut. Komm, lass uns zurück nach Kings Cave reiten. Die Pferde werden bestimmt schon ungeduldig sein.“

Nun erhob auch Binagh sich. Schweigsam machten sie sich auf zu der Stelle vor der Stadt, wo ihre Pferde warteten.

 

VI

Jeder in Southbarn kannte das kleine gemütliche Cottage mit dem stark bemoosten Reet-Dach, das sich etwa zehn Gehminuten von Friedhof, Kirche und dem Turm der Qualen entfernt ein wenig einsam am Stadtrand von Southbarn befand. Anders, als die eng aneinander liegenden Häuser am Marktplatz, konnte es einen Garten vorweisen, in dem Obstbäume und Gemüse wuchsen, und wo in einem Stall und auf der Wiese allerlei Kleingetier sich seines Daseins erfreute. Das Haus hatte ein Erdgeschoss, eine weitere Etage darüber, sowie einen geräumigen Dachboden. Das Reet-Dach war seitlich so weit heruntergezogen, dass ein ausgewachsener Mensch es mit seinen Händen erreichen konnte. Jeder in der Stadt kannte auch die beiden seltsamen Frauen, die hier wohnten, auch, wenn sie sich nur selten zeigten und den Kontakt zu anderen Menschen zu scheuen schienen.

 

Im ersten Stock des Cottages saß Ann Jenkins in ihrer kleinen Stube. Trotz der späten Stunde - es war bereits weit nach Mitternacht – hockte sie inmitten eines Meers aus Kerzen nackt vor einem großen Spiegel und bürstete sich ihre langen, strohblonden Haare. Nicht, dass sie sich selbst als schön wahrgenommen hätte, oder gar eitel gewesen wäre. Weit gefehlt! Sie vermutete allenfalls, dass sie attraktiv war, weil sie immer wieder die Blicke der Männer auf sich zog. Das war ihr zwar unangenehm, aber so hässlich konnte sie sich gar nicht zurechtmachen, dass ihr niemand nachgeschaut hätte, wenn sie zum Markt oder in die Kirche ging. Dabei hatte sie selbst gar kein Interesse am anderen Geschlecht. ‚Männer kannste vergessen, bis auf Gott und den Pfarrer.‘ Das war ihre Überzeugung, und danach lebte sie konsequent. Sie mochte einfach nur ein Leben zur Freude Gottes führen, in Ehrfurcht und Religiosität. Obwohl, von einem Mann in den Arm genommen zu werden, das hatte schon was…

 

Vor Anns geistigem Auge verwandelte sich ihr Spiegelbild in das der Zehnjährigen, die sie vor 30 Jahren gewesen war. Langsam, fast genussvoll, bürstete sie sich die Haare weiter und dachte dabei an die Hand ihres Vaters, die ihr über den Kopf fuhr und dessen Schoß sie nun unter dem Gesäß spürte. Sie lächelte. „Dad!“ Er war ein Holzfäller gewesen, dessen für ein junges Mädchen fast unermessliche Kraft sie unendlich genoss, wenn er sie hochhob, auf den Schoß setzte, sie an sich drückte… Dann hatte sie sich immer behütet und beschützt gefühlt, und keine Macht der Welt hätte ihr etwas anhaben können. Diese Kraft und diese Wärme, die von Dad ausgingen – einfach unbeschreiblich. Wie sehr sie ihn doch vermisste. Zweiundzwanzig Jahre waren es nun, die er sein Leben nicht mehr mit ihr teilte, genau wie Mama auch. Kurz nachdem sie mit 18 Jahren zu einer bürgerlichen Familie geschickt worden war, um dort die Hauswirtschaft zu erlernen, starben beide an einer rätselhaften Krankheit und ließen sie einsam und allein zurück. „Dad“, flüsterte sie noch einmal.

 

Ann legte die Bürste weg und begann, ihre Oberschenkel zu streicheln. Sanft fuhr sie sich mit den Fingerkuppen über die Haut. Dabei bewegte sie sich auf dem niedrigen Hocker leicht vor und zurück. Ihre Gedanken verließen die Erinnerungen an die Wärme des Vaters.

 

Stattdessen tauchte Geoffreys Bild auf, ein Sohn der Familie, bei der sie damals gewohnt hatte und der ihr schöne Worte ins Ohr zu flüstern pflegte, wenn gerade niemand in der Nähe war. Nach dem Tod der Eltern war seine Fürsorge Balsam für Anns einsame Seele gewesen. Geoffrey hatte so leuchtendrote Haare, wie Ann sie bis dahin noch nie gesehen und die sie sofort in ihren Bann gezogen hatten. Sie rieb die Oberschenkel fester, wurde sich aber auch gleich bewusst, dass sie im Begriff war, eine Sünde zu begehen. Sich den Gelüsten hinzugeben, strafte Gott unbarmherzig und hart. Das hatte sie mit Geoffrey erlebt, als er ihr Hoffnung auf eine Heirat machte und sie damit ins Bett lockte. Seine Familie war gut situiert, und die elternlose Ann hätte mit der Heirat für immer ausgesorgt gehabt, aber als sie schwanger wurde, leugnete dieser rothaarige Teufel, mit ihr jemals in Berührung gekommen zu sein und bezichtigte sie der Lüge.

 

Ann ergriff die Bürste und widmete sich wieder ihren Haaren. Mit einem Blick, der sowohl Traurigkeit als auch Lust ausdrückte, betrachtete sie sich im Spiegel. „Hätte ich damals bloß auf euch gehört, Dad“, flüsterte sie, „dann wäre mir so viel erspart geblieben. Ihr hattet Recht: Sex darf nur sein, wenn man ein Kind zeugen will und eine Ehe im Sinne der Kirche führt. Alles andere ist Sünde.“

Ann ließ die Bürste sinken und atmete tief durch. „Aber schön war es trotzdem gewesen. Sehr schön. Auch, wenn sie mich aus dem Haus jagten, als ich schwanger war. Flittchen und Lügnerin hatten sie mich geheißen, diese feinen, hochnäsigen Schnösel. Sie wollten keine verdorbene und verlogene Schlampe in ihrer Mitte haben.“ Sie feuerte die Bürste in die Ecke. „Dabei ist es euer missratener Sohn, dem die Schelte gebührt. Es heißt nicht umsonst, dass Rothaarige Volksgenossen des Teufels sind. Oh, ich Närrin, wie konnte ich nur so dumm sein!“

 

Sie streckte sich wieder nach der Bürste, widmete sich einmal mehr den Haaren und machte Geoffrey massive Vorwürfe. Als ob er leibhaftig im Zimmer wäre, schimpfte sie: „Was ich alles zu erdulden hatte wegen dir. Weißt du, wie das ist, Mutter ohne Ehemann zu sein? Weißt du das, ja? Du kannst nicht das Haus verlassen, ohne verachtet, verhöhnt und bespuckt zu werden, weil jeder sich dazu berufen fühlt, über dich zu urteilen.“ Die Bürste verhedderte sich in einem Haarknoten. Ann riss und zerrte, und als die Bürste wieder draußen war, sah sie das Malheur: Ein ausgerissenes Büschel Haare. „Oh, Mist“, schimpfte sie. Nun hatte sie die Nase endgültig voll und feuerte die Bürste aufs Bett. Sie warf sich daneben und begann, an sich herum zu spielen. „Das kann nun keine Sünde sein, Herr“, flüsterte sie. „Ich treibe es ja nicht mit einem Mann, oder gar mit dem Teufel…“

 

Ihr Schlafzimmer stand im flackernden Licht zahlreicher Kerzen, die die mit Lehm verputzten Wände leicht erhellten. Es war irgendwie wie damals, als sie als Schwangere Zuflucht in einem Nonnenkloster fand. Die Nonnen hatten Verständnis für ihre Lage gezeigt. Sie gaben ihr ein Zimmer und freie Kost. Dafür half Ann mit ihren Fertigkeiten aus und besuchte regelmäßig die Messe in der Kapelle des Klosters. Und immer wieder, täglich, stündlich, wurde sie von den Bräuten Jesu darauf hingewiesen, ab sofort den Kontakt zu den Männern zu meiden und ein gottesfürchtiges Leben zu führen. Ann hatte es versprochen, dem Herrn zu gefallen, allein schon für die Gnade, die diese Frauen ihr angedeihen ließen. Und als ob der Herr sie für ihren Wandel belohnte, gebar sie ein Mädchen mit blonden Haaren. „Oh Gott, ich danke dir, dass es kein rothaariger Junge ist“, hatte sie unter Tränen hervorgebracht. Das Mädchen war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Ann ließ das Kind bei den Nonnen taufen und gab ihm den Namen Lucy. Dieser Name sollte sie zum einen daran erinnern, dass sie sich niemals mehr auf einen Rothaarigen, einen Lucifer – ja, nicht einmal mehr auf irgendeinen Mann – einlassen würde, und er sollte bezeugen, dass das Kind aus dem Licht stammte, und nicht vom Teufel und aus der Hölle.

 

Ann, allein mit sich und der Fertigkeit ihrer Finger, geriet immer mehr in Wallung. „Ich bin eine fleißige Kirchgängerin“, stöhnte sie. „Du wirst mir verzeihen, Herr, was ich gerade tue. Schau her, das ist kein Sex, ja?“

 

Als sie sich dem Höhepunkt näherte, klopfte es energisch an der Haustür.

Ann hält inne und lauschte, keuchend vor Erregung.

Es klopfte wieder, diesmal noch lauter.

Sie rappelte sich hoch. „Verflucht seist du da unten an der Tür“, zischte sie, „wer immer du bist. Verfluchte Störung, verfluchte. Mitten in der Nacht.“ Sie zog sich ihr Kleid über und eilte schimpfend die Treppe runter, lief durch den Flur an der Küche vorbei zur Haustür und riss sie auf. Sie blickte geradewegs in das grinsende Gesicht ihrer Nachbarin Mary Boldwin, die 50 Yards weiter die Straße hinauf wohnte. Ihren Falten und Haaren nach zu urteilen, musste sie über Achtzig sein. Dabei war sie noch so flink wie eine 50-jährige. Die krächzende, an einen Raben erinnernde Stimme passte wiederum zu einer Betagten, während ihre Sensationslust und Gehässigkeit zeitlos waren.

„Ich hoffe, ich habe dich geweckt“, knarrte sie.

Anns Faust mochte das freche Grinsen beenden. Stattdessen sagte sie so gefasst wie möglich: „Hast du nicht, Mary. Auch wenn es dich noch so freuen würde. Was ist passiert, das nicht bis morgen warten kann?“

„Gute Neuigkeiten. Deine missratene Lucy ist gerade verhaftet worden.“

„Du gehässiges altes Weib, verschone mich mit deinem Geschwätz.“

„Und wenn ich es gesehen habe?“

„Wo willst du es denn gesehen haben?“, äffte Ann.

Mary verschränkte siegessicher die Arme vor der Brust und schob die Unterlippe vor. „Vielleicht war ich gerade in der Kirche zum Beten und hab mitgekriegt, wie man sie in den Turm schleppte?“

Ann wurde langsam unsicher. „Zu dieser späten Stunde warst du in der Kirche? Hör doch auf.“

Mary spuckte aus. „Du glaubst mir nicht? Wart’s ab. Ist das Miststück denn zuhause?“

Ann stieg die Zornesröte ins Gesicht. Sie knallte die Tür zu, rannte „Lucy“ rufend die Treppe hinauf in den ersten Stock, öffnete die Tür zu dem Zimmer ihrer Tochter, das sich neben dem ihren befand – und fand es leer vor.

Von unten herauf schallte dumpf Marys fieses Lachen. „Sie soll jemanden getötet haben, dieses Luder.“

„Verschwinde, du Hexe“, schrie Ann und lauschte nach Antwort, aber es kamen keine weiteren Gehässigkeiten von der Nachbarin. Ann tastete die Matratze ab. Sie war kalt, und das bleiverglaste Fenster stand einen Spalt weit offen. Sie drückte es ganz auf und schaute nach draußen auf ein kleines, vom Mondlicht erhelltes Vordach, das den darunter befindlichen Erker abdeckte. Das Vordach war nah genug unter dem Fenster, dass Lucy hinausgestiegen und drauf gesprungen sein konnte. Über das am Erker befindliche Rosenspalier musste sie den Garten erreicht haben. „Lucy“, murmelte Ann mit bebenden Lippen, bevor sie den Namen laut in die Nacht hinausschrie. Aber so sehr sie auch lauschte, es kam keine Antwort. Sie suchte ihr Zimmer auf, ließ sich aufs Bett fallen und schluchzte haltlos ins Kissen hinein, stand aber kurz darauf wieder auf und fiel auf die Knie. Reumütig faltete sie die Hände, presste sie zu einer steinharten Kugel zusammen und schaute zur Decke hoch. „Gütiger Gott, du strafst mich für meine Gelüste mit dem Kerker für Lucy? Ist meine Sünde so groß? Ich habe nichts Böses getan, lieber Gott. Was ist schon dabei, wenn ich mich berühre?“ Sie lauschte in die Stille. Nach einer Weile schaute sie schuldbewusst zu Boden und sagte: „Bitte, lass sie frei. Lucy kann doch nichts dafür, wenn ich sündige. Ich werde meiner Verfehlung entsprechend große Buße tun. Bitte, lieber Gott, lass Lucy frei.“ Sie blies das Meer von Kerzen aus und legte sich wieder aufs Bett. Sie begann zu frösteln und deckte sich fest zu. ‚Das Zimmer nebenan fühlt sich genauso leer an, wie es ist‘, dachte sie bibbernd. ‚Seltsam, wie penetrant diese Leere ist, jetzt, wo ich es weiß. Warum habe ich es nicht schon gespürt, als ich es noch nicht wusste?‘

 

Nach einem Moment der Leere in Anns Kopf, kamen neue Gedanken auf. Die Verachtung durch die Mitmenschen für ihre ehelose Schwangerschaft hatte sie damals als Gottes Strafe für ihre Fleischeslust gesehen und dafür, dass sie sich mit dem rothaarigen Teufelsgenossen eingelassen hatte. Ja, so war es gewesen, und sie hatte sehr darunter gelitten. Es hatte sie aber auch stark gemacht, nicht zuletzt, weil sie sich noch mehr der Kirche zugewandt hatte, als sie es ohnehin schon tat. Obwohl sie gesündigt hatte, hatte die Kirche ihr geholfen. Sie hatte gebeichtet, bereut und Buße getan, und sie war aus eigener Kraft wieder auf die Beine gekommen. Irgendwo hatte der Aufenthalt in Geoffreys Familie doch was Gutes gehabt. Mit den handwerklichen Fähigkeiten, die sie dort erlernt hatte, konnte sie schnell Geld verdienen. Nicht viel, aber doch mehr als genug für sie und Lucy.

Als Ann den Namen ihrer Tochter dachte, überfiel sie ein Weinkrampf. „Lucy, lass mich nicht allein“, heulte sie, „nicht auch du noch. Du bist doch alles, was ich habe. Ich werde Buße tun und dich aus dem Kerker befreien, das verspreche ich.“ Die Tränen der Verzweiflung flossen lange, bis Ann ruhiger wurde, ruhiger, und ihr Weinen sich zu einem sanften Schluchzen erleichterte. „Lucy wird zu mir zurückkommen“, dachte sie. Bald darauf schlief sie ein.

 

VII

Der Turm der Qualen, wie er in Southbarn genannt wurde, war aus grauem Bruchstein gebaut. Er maß drei Stockwerke in die Höhe und zwei in die Tiefe. Das ausladende Kellergewölbe hatte Verliese für 20 Verhaftete, auch wenn oft genug mehr Unglückliche hier eingesperrt waren und in ihren eigenen Exkrementen und denen der Mitinsassen dahinvegetierten. Wer nicht ins obere Kellergeschoss gesperrt wurde, das ein wenig über den Erdboden hinausragte und mit vergitterten Fenstern ausgestattet war, bekam mitunter sehr lange kein Tageslicht zu sehen und keine frische Luft zum Atmen, sodass er dem bestialischen Gestank aus Kot, Urin und getrocknetem Blut ausgesetzt war. Wollte man es Glück nennen, dass Lucys Zelle ein Fenster hatte? Auf sie wartete nun ein Prozess. Dazu standen zwei Stockwerke über dem Verlies der Gerichtssaal und die Folterkammer bereit. Das erste Stockwerk beherbergte das Munitionsdepot.

 

Manche nannten den Namen des Turms mit Abscheu, andere mit Ehrfurcht, wieder andere gar mit Schadenfreude.

 

Der Turm der Qualen hatte etwas Ehrfürchtiges für jene, die zumindest vor seiner wuchtigen physikalischen Präsenz den Hut zogen, auch, wenn seine Ausmaße dem Glockenturm der Kirche nicht das Wasser reichen konnten. Doch anstatt wie dieser nur als Eingang zur Kirche zu dienen und die Gläubigen mit Geläut zur Messe zu rufen, strahlte der Turm der Qualen unerbittliche Autorität und sogar einen gewissen Ruhm aus, den jene ihm verliehen, die von ihren schrecklichen Erlebnissen im Innern zu berichten imstande waren.

 

Als Objekt der Schadenfreude diente er jenen, die ungeliebte Zeitgenossen darin verschwinden sahen, geschah denen doch endlich einmal das, was ihnen zustand. Die Schadenfreude vergrößerte sich, wenn furchtbare Schreie daraus sich über die Stadt ergossen, und sie legte noch einmal zu, wenn das gequälte Opfer zum Richtplatz geführt wurde, sofern es die Folter überlebt hatte. Nun wurde den Schadenfreudigen Gelegenheit gegeben, ihre Lust noch einmal zu steigern, konnten sie doch das Opfer mit Hohn und Spott übergießen und beschimpfen. Zu jenen Menschen gehörte Mary Boldwin, die Nachbarin von Ann und Lucy Jenkins.

 

Mit Abscheu sahen ihn jene, die das Treiben sowohl der Weltlichen als auch der Geistlichkeit weder begreifen konnten, noch einsehen mochten. Jene, die Verwandte und Freunde darin verschwinden sahen und ihnen nur noch als Krüppel, oder auch gar nicht mehr begegneten. Jene, die ihn selbst erlebt hatten, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein und denen das Schicksal beschieden war, ihn wieder zu verlassen. Nicht, um weiter wie bisher zu leben, sondern um unter Schmerzen, Gebrechen und Deformierungen von Rumpf und Gliedmaßen zu leiden, bis der Tod sie später einmal erlöste.

 

Lucy Jenkins hatte sich bisher noch zu keiner der drei Kategorien gezählt. Als Cosy und Zack aus einem großen Bund einen Schlüssel ausgesucht und eine knarrende, mit Eisen beschlagene Holztür geöffnet hatten, da war sie sich nicht im Klaren gewesen, was sie erwartete. Bis sie die steile Treppe hinab in das feuchte, dunkle Loch gestoßen wurde, konnte sie es allenfalls erahnen. Lucy war zunächst gestolpert und erst in der Mitte der Treppe zu Fall gekommen, um die restlichen sieben Stufen nach unten zu poltern und auf dem lehmigen Boden liegen zu bleiben. Das flackernde Licht, das von den Fackeln der beiden Landsknechte herrührte, war mit dem Knarzen der sich schließenden Tür erloschen. Zurückgeblieben war das schwache Strahlen des Vollmonds auf dem Boden, das sich sogar ein wenig in Lucys Lederkleidung gespiegelt hatte. Mit grotesk verdrehten Beinen war sie mit blauen Flecken und Hautabschürfungen auf dem harten Lehm angekommen. Ihre blonden Haare hatten sich in einer Pfütze verteilt, wo immer diese auch hergekommen sein mochte. Eine ganze Weile hatte sie wie tot gewirkt, bis sich ihre Arme und Beine zuckend zu bewegen begannen und Lucy sich auf den Rücken drehen konnte. Jetzt kam sie langsam wieder zu Bewusstsein. Mit schmutzigen Händen fuhr sie sich durchs Gesicht und hinterließ entsprechende Spuren darin, die, sobald der Lehm getrocknet war, zu jucken begannen.

 

Lucy stemmte sich vom Boden auf und setzte sich an die Wand. Mit reibenden Fäusten ermäßigte sie das Jucken. Sie blickte zu einem kleinen Fenster hinauf, das für sie zu hoch war, um hinausschauen zu können. Es fehlte eine Armlänge. Die Ecken des vergitterten Lochs waren voll dichter Netze von Röhrenspinnen, die im Mondlicht silbern schimmerten. Doch als ob der Erdtrabant Lucys Elend nicht ertragen könne, wanderte er langsam weiter. Sein schwaches Licht verschob sich in eine Ecke der Zelle, wo zwei Ratten eifrig damit beschäftigt waren, Essensreste zu suchen und zu verzehren. Lucys Augen blieben die Nager verborgen, und selbst, als sie sich quiekend um ein paar Krümel balgten, bekam sie es nicht mit. Sie war einsam und allein. In ihrer Vorstellung war es unmöglich, dass es hier unten noch andere Lebewesen gab. Nicht in diesem Dreckloch.

 

Wie war sie nur hierhergekommen? Was war passiert, dass sie sich nun in dieser dunklen Feuchte wiederfand? Sie hatte doch nur zu Gottes Wohlgefallen gehandelt, hatte einen Genossen des Teufels erdrosselt und sich an seinem Leiden ergötzt, hatte voller Genugtuung Gottes Kraft in ihren Händen gespürt, die, über ein Seil weitergegeben, das Genick des Rothaarigen brachen, bevor plötzlich diese beiden Kerle mit stapfenden Schritten aus dem Dunkel aufgetaucht waren und sie fliehen musste. Als ob der Teufel diesmal Rache führen wollte, hatte sie sich im Seil verheddert, auf dessen Ende sie gestanden hatte und war gestolpert. Wertvolle Zeit hatte sie dadurch verloren, Zeit, die ihren Häschern zugutegekommen war und die sie nun das Leben kosten konnte. Das war noch nie passiert. Bisher hatte es immer reibungslos funktioniert, wenn sie einen Rothaarigen der Verdammnis zuführte. Es waren derer bereits vier gewesen. Der Kerl heute Nacht war der Fünfte. Dafür saß sie nun in diesem erbärmlichen Kerker, ihre feine Lederkleidung, mit denen sie die Rothaarigen aus den Pubs zu locken und zu betören pflegte, war verschmutzt, in den Haaren pappte getrockneter Schlamm, und im Mund schwelte noch immer der eklige Geschmack einer klebrigen, von zähem Speichel bedeckten klobigen Zunge. Zudem schmerzten einige blutverkrustete kleine Wunden am Hals, die die Nackengreifzange verursacht hatte.

Die Tür wurde klappernd und quietschend geöffnet, der flackernde Schein von Fackeln erhellte notdürftig die Zelle. Zwei Männer stiegen die Treppe hinab. Mit ihnen kam auch das Licht näher.

Lucy schaute nicht hin. Stattdessen vergrub sie ihr Gesicht ängstlich in den Händen. Wer sollte da schon anderer kommen als diese beiden widerlichen Landsknechte.

Und ja, sie waren es. Sie stellten sich neben Lucy auf, einer links, einer rechts, und Zack verpasste ihr einen derben Tritt, der Lucy zur Seite warf. Grob drückten sie sie nieder, zogen ihr die Stiefel aus und warfen sie achtlos in eine Ecke. Dann packten sie sie an den Armen und rissen sie in die Höhe. Zack verpasste ihr wieder eine Ohrfeige. „Die ist fürs Beißen, du Schlampe“, geiferte er. Dann grapschte er nach ihrem Kleid und zog es ihr über den Kopf. Gleich darauf landete es bei den Stiefeln.

Lucy stand nun nackt und frierend vor zwei lüsternen Augenpaaren. Grobe Hände betasteten ihr Gesicht, fuhren ihr über die Lippen, spielten mit ihren Brustwarzen. Klatschend traf eine Hand ihren nackten Po, während eine andere ihr zwischen die Beine fuhr.

Lucy schrie auf und presste sich die Hände fester aufs Gesicht. Ein deftiger Stoß warf sie zu Boden. Ihr Geist flüchtete in weite Ferne. Sie bekam kaum noch mit, wie ihre Beine brutal auseinandergedrückt wurden und etwas wild und rücksichtslos in ihr Geschlecht eindrang.

 

Nach einer endlos scheinenden Weile kehrte das Bewusstsein zu ihr zurück, und sie fühlte ein aus groben, rauen Leinen gewebtes weites Hemd am Körper, das ihr bis auf die Knöchel reichte. Cosy packte gerade Lucys Sachen in einen Beutel. Lachend verschwanden die Landsknechte die Treppe hinauf und verriegelten die Tür.

Jetzt erst wurde Lucy so richtig bewusst, in welcher Lage sie sich befand. Sie begann zu wimmern, zu jammern, zu heulen und zu kreischen, bis sie, einer geistigen Umnachtung gleich, nach der Seite kippte und zurück ins Traumland flüchtete.

 

Lucy wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als es ihr an der Nase kitzelte. Es war weder angenehm noch unangenehm. Es kitzelte einfach. Das Kitzeln erstreckte sich auf ihre Lippen, und dann berührten zwei winzige Händchen ihre Wangen. Als sie die Augen öffnete, erkannte sie eine Ratte, die sie eingehend untersuchte. Lucy lächelte, setzte sich auf und nahm das Tier auf den Schoß.

Die Ratte ließ es sich gefallen.

Lucy nahm sie mit beiden Händen hoch und schaute ihr ins Gesicht. Sie erfreute sich daran, nicht alleine hier zu sein und etwas Lebendiges bei sich zu haben. Die flinke Nase des Nagers reckte sich Lucys Gesicht entgegen und schnupperte fleißig. Diese drückte die Ratte an sich und streichelte sie. Sie richtete die Augen nach oben. „Gott, unser Herr, warum hast du zugelassen, dass sie mich einsperren?“, fragte sie. „Ich folge doch deinem Wunsch. Die Rothaarigen sind Teufel. Das hat Mama mir gesagt. Ich töte sie nur, um dir und Mama zu gefallen.“ Sie hielt sich die Ratte an die Wange und genoss die Wärme des kleinen Körpers.

„Werde ich jetzt sterben?“, fragte sie. „Oder werde ich in diesem Verlies bleiben müssen? Für immer?“

Sie horchte in die Stille, bekam aber keine Antwort.

„Sag mir, ob ich wieder nach Hause darf“, bat sie nun. „Wenn sie mich einsperren oder töten, dann ist Mama alleine. Das wird sie todtraurig und sehr krank machen.“

Wieder lauschte Lucy, bis sie enttäuscht fortfuhr, weil Gott schwieg. „Es ist so vieles, das ich nicht verstehe, lieber Gott. Warum verbietest du, einen Mann zu haben und reich zu sein? Warum verbietest du gutes Essen? Manche dürfen, andere nicht. Das ist ungerecht, und du musst es mir erklären, wenn ich vor dir stehe.“

 

Lucy schwieg. Nach kurzer Zeit begann sie zu weinen. „Warum sagst du nichts? Bin ich es nicht wert, dass du mir antwortest?“ Sie weinte heftiger. „Lass mich nicht allein, lieber Gott, und lass Mama nicht allein. Bitte, lass uns wieder zusammen sein.“

 

„Lieber Gott, antworte!“

 

„Jesus, sag was!“

 

„Maria, Mutter Gottes, bitte für mich!“

 

Aber die geistige Welt rührte sich nicht, und Lucy blieb allein in der Dunkelheit zurück. So sehr sie sich auch umschaute, sie fand die Ratte nicht mehr. Nur fette schwarze Röhrenspinnen vor den Gitterstäben leisteten ihr noch Gesellschaft.

 

VIII

Noch war da nichts als Leere. Es war, als gäbe es keine Existenz. Nur Dunkel, das keine Wahrnehmungen auf sich lenkte. In diesem Dunkel stieg eine winzige Blase auf und machte sich auf den Weg nach oben. Dort war es hell, heller zumindest als in der tiefen Finsternis, aus der sie kam. Auf ihrem Weg nach oben streifte die Blase empfindliche Sensoren, stieß diesen, dann jenen Gedanken an, dann noch einen und noch einen. Ein Sumpf aus wirren Informationen entstand, füllte sich zuerst mit Bildern, dann mit Empfindungen und dann mit Stimmen. All das formte sich zu einem Traum, dessen einziger realer Inhalt Malcolm war. Er streckte gerade seine Fühler nach dem Morgen aus, aber noch wollte ihn sein Unterbewusstes nicht hergeben. Dazu war es viel zu sehr mit den nächtlichen Ereignissen in Southbarn verbunden. Mit dem Kick, auf einem bewachten Friedhof eine Leiche auszugraben, mit der Ekstase, mit ihr seinen Trieb abzureagieren, mit dem Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens, das Binagh ihm dabei verlieh und mit dem Thrill, den Häschern gerade noch so entkommen zu sein. Sein Innerstes reagierte darauf, als sei das alles in dieser Minute handfeste Realität. Es schüttete Adrenalin aus und trieb seinen Puls in die Höhe. Er wollte es noch einmal haben, drängte den sich sträubenden Binagh auf den Friedhof zurück, ließ ihn einen Sarg ausbuddeln, öffnete ihn und – fand sich selbst darin liegen.

 

Malcolm fuhr aus den Federn hoch, schweißgebadet und kreidebleich. Er krallte sich die Zudecke und riss sie sich vors Gesicht. Dann ließ er sich wieder zurück auf die Matratze fallen. Sein Blick wanderte im Zimmer umher und blieb an einem mannshohen Gemälde haften. Es war eine Kopie von Leonardo da Vincis Mann im Kreis, die Malcolm während seines Studiums der Medizin selbst angefertigt hatte. Später hatte er dem Mann seinen Penis wegretuschiert und ihn dafür mit Brüsten ausgestattet. Seiner Kunstfertigkeit war es auch gelungen, dem Gesicht weibliche Züge zu verleihen, ohne, dass das Bild nun unter den Veränderungen leiden würde. Malcolm seufzte.

 

Sein Blick wanderte weiter zum Fenster, das von roten Vorhängen umrahmt einen Blick auf den sonnigen Morgen gewährte. Irgendwie passte das Rot zu dem vergilbt wirkenden Gemälde, auf das zu späterer Tageszeit die Sonne fallen würde. Auch ohne, dass Malcolm sich dazu aufsetzen musste, konnte er die Bäume vor seinem Haus erkennen, Zeugen einer Idylle am Dorfrand, selbst, wenn ihn hier nichts vor den Gefahren schützen konnte, die gelegentlich durchs Land zogen. ‚Aber ist man überhaupt vor irgendetwas sicher in dieser Welt?‘, fragte er sich. Seiner Überzeugung nach gab es keine absolute Sicherheit, nur eine größtmögliche, und in der wähnte er sich mit Binagh an seiner Seite. Ob er wohl schon wach war? Sein Zimmer befand sich nebenan.

 

Malcolms Blick fiel auf eine massive Truhe unter dem Fenster, die mit einem raffinierten Schloss gesichert war. Darin befanden sich Teile seines Reichtums, der aus Geld, Gold und Schmuck bestand, sowie aus Perlen, Vasen und Karaffen fremder Kulturen. Für ihn war es ein angenehmeres Gefühl, die wertvollen Gegenstände gesichert in der Truhe zu wissen, als sie auf einem Regal oder einer Vitrine seinem Auge zu präsentieren. Die Truhe mit dem Schloss machte sie irgendwie noch wertvoller. Was hatte er davon, wenn er die teuren Stücke hin und wieder sah? Allein das Wissen, sie zu besitzen, machte ihn wohlhabend.