9,99 €
"Wenn ich bis zum Monatsende nicht herausfinde, wer ich bin, wird er mich mitnehmen. Die junge Lea ist ein “Drinnenmensch”: Seit zwei Jahren lebt sie ohne Erinnerung in einer Privatklinik für Gedächtnislose in Berlin. Nur ihr treuer Begleiter, der Therapiefuchs Kalle, darf sie berühren. Als Lea jedoch einen neuen Patienten in der Klinik kennenlernt und ihr dieser ungewöhnlich nahekommt, verliert ihr Ehemann Golo die Geduld und drängt sie in ein Leben im “Draußen”. Doch erneut schlägt das Schicksal zu und konfrontiert Lea mit einer Leinwand, die Stück für Stück ein Bild enthüllt, das Lea zu zerreißen droht. “Was lauert da tief in mir, was ich nicht wissen will? Schützt die Amnesie mich vor meiner eigenen Schuld?”
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Zum Buch:
Wenn ich bis zum Monatsende nicht herausfinde, wer ich bin, wird er mich mitnehmen.
Die junge Lea ist einDrinnenmensch:Seit zwei Jahren lebt sie ohne Erinnerung in einer Privatklinik für Gedächtnislose in Berlin. Nur ihr treuer Begleiter, der Therapiefuchs Kalle, darf sie berühren. Als Lea jedoch einen neuen Patienten in der Klinik kennenlernt und ihr dieser ungewöhnlich nahekommt, verliert ihr Ehemann Golo die Geduld und drängt sie in ein Leben imDraußen. Doch erneut schlägt das Schicksal zu und konfrontiert Lea mit einer Leinwand, die Stück für Stück ein Bild enthüllt, das Lea zu zerreißen droht.
Zur Autorin:
Doris Wiesenbach schreibt Romane, Kurzgeschichten und Gedichte. Die ehemalige Chefsekretärin liebt skurrile Geschichten, schräge Charaktere und intelligente Morde. Ihre beiden Kriminalromane wurden unter dem Pseudonym Isabella Bach veröffentlicht.Grenzenlos,ihr Erzählband über deutsch-deutsche Geschichte, wird auch im schulischen Kontext verwendet. Zudem veröffentlichte sie Kurzgeschichten in diversen Wettbewerbs-Anthologien. Sie ist Mitglied im
F ür die Draußenmenschen sind wir schräge Vögel. Aber fliegen kann in der Privatklinik für Gedächtnislose niemand. Im Gegenteil, wir Amnesiepatienten suchen nach der Realität, nach einem Zipfel Erinnerung, an den wir ein ganzes Leben anknüpfen können.
An diesem Nachmittag hängen Wattewolkenfetzen am Himmel. Finn sitzt in einem Gartenstuhl und lehnt sich zu mir herüber. »Was sind das für schwarze Löcher, die uns hier festhalten?« Seine Stimme ist leise, aber kräftig, er klingt verschwörerisch. »Ich fühl mich wie ein Knasti, der nicht weiß, was er verbrochen hat.«
Zwei Teenager, Angehörige von Patienten, beugen sich nebeneinander auf einer Bank über ein Smartphone. Handys wollen die Therapeuten in der Klinik nicht. Zu viele Reize überfluten unsere Sinne, meinen sie.
Ich antworte nicht. Ich sage selten etwas, und Finn erwartet keine Antwort.
Eine zweite Schicht dunkler Wolken legt sich über die Wattefetzen, Stunden, bevor der Heiligensee normalerweise im Sommer die Sonne schluckt.
Die Teenager lachen. Die eine hat eine zwei Cent große Narbe auf der Stirn. Sie hebt zuerst die Hand und sagt: »Gib mir fünf.« Das andere Mädchen, das trotz der Wärme einen Pullover trägt, schlägt ein. Ich erhebe mich aus dem Liegestuhl.
»Was ist?« Finn steht ebenfalls auf. »Hast du Angst vor Gewitter?«
Ich starre ihn an.
TEIL EINS
Wenn ich bis zum Monatsende nicht herausfinde,
Heute Morgen will sich zum ersten Mal seit meiner neuen Zeitrechnung ein Traum in mein Bewusstsein drängen. Ein gutes Zeichen. Träume bergen Erinnerungen. Alles, was ich vergessen wollte, schreit nach Hilfe. Ein Kopf, die Züge verschwommen, dann eine schiefe Nase. Das Gesicht will mich mitnehmen. Das Bild zerfasert, löst sich auf. Durch meinen Kopf geistern Schatten, die mir nicht verraten, wer ich bin. Über meinem Leben liegt ein undurchdringlicher Schleier.
Wer will mich mitnehmen?
Ich setze mich auf die Bettkante und betrachte das Foto auf dem Nachttisch. Golo war neunzehn, ich siebzehn. Wir kreuzen unsere Billardqueues und grinsen. Draußenmenschen würden sagen, wir sehen glücklich (neun Buchstaben) aus.
Draußen ruft eine Rohrdommel. Der Therapiefuchs neben mir steht auf, mit seinen langen Beinen tritt er in einen Sonnenfleck auf dem Balkon und schüttelt sein dichtes Fell.
»Guten Morgen, Kalle.« Ich setze mich vor ihn auf die Terrakottafliesen. Er gähnt und legt die Schnauze in meine Hand. Das Halsband aus braunem Leder verschwindet unter dem vom Tau feucht glänzenden Pelz. Der Blick aus seinen Bernsteinaugen ist klar. Ich kann in ihnen nicht lesen, ob er sich freut (fünf Buchstaben), ärgert (sechs Buchstaben) oder traurig (sieben Buchstaben) ist. Vielleicht ist er gleichmütig (elf Buchstaben). Kalle ist schön mit seiner weißen Brust und den spitzen, großen Ohren. Er ist das einzige Wesen, das mich berühren darf. Dabei kann ich, wenn ich ihn anfasse, sein Fell nicht von meiner Haut oder einem Eisblock unterscheiden. Er passt auf mich auf.
Menschen können das Leben nicht nur mit dem Verstand erfassen. Viele begreifen oder ahnen, was andere denken, was sie getan haben oder tun werden. Auch Tiere haben einen Instinkt, sie handeln nach einem inneren Impuls. Füchse sind besonders gut darin. Kalle fühlt (fünf Buchstaben) für mich. Wenn ich wüsste, wie das geht, wäre ich dankbar (sieben Buchstaben). Vielleicht würde ich ihn lieben (sechs Buchstaben). Das will ich lernen.
Ich schaue Kalle ins Gesicht und lächle. Das Lächeln übe ich jeden Tag vor dem Spiegel – dieses Mundwinkel-nach-oben-Ziehen. Kalle wedelt mit seiner buschigen Lunte. Die weiße Blume tanzt hin und her. Er legt eine Pranke auf meinen Oberschenkel, seine Krallen teilweise eingezogen. Ich wische einen Tautropfen von seiner Flanke und stehe auf. Er gibt einen kehligen Laut von sich. Nebeneinander gehen wir in mein Zimmer. Seine grazilen Bewegungen erinnern an eine Katze. Die Wände sind hellblau. Wie jeden Morgen lausche ich. Da sind Schritte über mir, nebenan plätschert eine Dusche, eine Toilettenspülung rauscht. Jemand niest. Kalle trabt vor mir über die Türschwelle des kleinen Bades und hopst auf das Sideboard. Wir strecken beide dem Spiegel die Zungen heraus.
»Guten Morgen, Lea Osterbeck«, sage ich.
Kalle sieht mir dabei zu, wie ich meine Haare zu einem Knoten drehe und die Zähne putze.
Ich schiebe den Duschvorhang zur Seite, stelle das Wasser an. Kalle flitzt aus dem Bad. Die Gießkanne scheppert, als er vom Balkon springt. Ich streife den schwarzen Kimono mit den pinkfarbenen Orchideen – ein Geschenk von Golo zu meinem Einzug in die Klinik – ab und lasse ihn auf die Fliesen fallen, steige in die Duschkabine, wobei ich darauf achte, dass mein Kopf nicht unter Wasser gerät. Einmal in der Woche hilft mir eine Krankenschwester beim Haarewaschen. Der Temperaturregler steht konstant auf Mitte. Ich spüre weder Hitze noch Kälte, auch nicht den Wasserstrahl. Es ist nicht gesund, wenn die Haut krebsrot wird beim Duschen.
Ich steige aus der Kabine und schaue auf den Wecker. In der Klinik bestimmen die Mahlzeiten den Rhythmus des Tages. Frühstück acht Uhr, Mittag zwölf Uhr, Abendessen siebzehn Uhr dreißig. Die Fenster haben keine Gitter. Niemand hält mich fest. Ich kann gehen, wohin ich möchte. Aber warum sollte ich in der Draußenwelt herumspazieren? Das hier ist der einzige Ort auf der Welt, an dem ich sein will. Ich verlasse ihn nie. Heiligensee sagt mir so wenig wie das Land Timbuktu, von dem ich in einem Buch mit vielen Fotos gelesen habe. Für mich sind nur die Häuser, der Garten und der See Wirklichkeit. Der See hat einen Umfang von über drei Kilometern, an einigen Stellen ist er dreizehn Meter tief. Er ist sehr kalt. Ich darf nicht baden, weil ich unter Wasser die Orientierung verliere, und das kann tödlich sein.
Der Rotfuchs wittert die von Menschenduft gesättigte Luft. Es zieht ihn auf dieses Stück Erde am Wasser. In den Bau aus riesigen Steinen. Den die Zweibeiner Klinik nennen. Hin zu den Menschen. Weg von seinem Revier unter den Bäumen. Es ist Morgen auf dem Balkon vor dem Zimmer der Frau mit den rauen Händen. Lea. In der Stille läuft er zu ihr.
»Guten Morgen, Kalle«, sagt sie.
Das Wort richtet ihn auf. Ihre Stimme ist hart. Seine Ohren werden warm, wenn sie spricht. Ihr Blick fängt ihn ein. Haare fließen zu ihm. Sie haben die Farbe seines Pelzes. Ihre Hand liegt reglos auf ihm. Kühl und trotzdem pulsierend. Er spürt ihre Kraft. Seltsam matt schlummert etwas in Lea, das nach draußen leuchten könnte. Lea, die Wölfin.
Menschen brauchen zum Überleben ein künstliches Fell. Sobald sie sich bewegen, raschelt es in seinen Ohren, als würde der Wind mit den Blättern eines Baumes spielen. Zweibeiner riechen merkwürdig. Nach Blumen und doch nicht nach Blumen. Nach Obst. Manchmal vergoren. Nach Pflanzen. Nach Sumpf, der in der Sonne trocknet. Nach Blättern, die im Wald verwesen.
Die Wölfin geht barfuß. Aus ihr strömen seine ersten Erinnerungen. Eine Duftwolke aus Milch, Reis, Äpfeln und Zimt. Ihre süße Wolke vermischt sich mit seinem strengen Veilchenduft. Sein Geruch kommt aus einem winzigen Loch unter seinem Schwanz. Seine Ohren stehen aufrecht. Er dreht sie in unterschiedliche Richtungen. Fängt Menschenstimmen auf. Wittert die modrige Feuchte auf ihrer Haut. Die fröstelnde Angst.
Manche Zweibeiner in der Klinik sagen: »Kalle ist gefährlich.« Und behaupten, er stinkt.
Aber Finn, der Hundetrainer mit den Heuhaaren, sagt: »Tiere sind die besseren Menschen.« Kalle läuft gern mit ihm und seinen Hunden mit.
Frau Osterbeck, Sie sind jetzt zwei Jahre bei uns.«
»Zwei Jahre, einen Monat und sieben Tage.«
Dr. David Kieselstein nickt. Der Klinikleiter sitzt mir gegenüber im Sessel. Er trägt Cordhosen, keinen Arztkittel und eine Brille mit blauer Fassung. »Ist Ihnen bewusst, dass Sie in einer Scheinwelt leben?«
»Wieso Scheinwelt?«
»Diese Frage beschreibt exakt Ihr Problem: Die gestörte Amygdala in Ihrem Gehirn ist kein Grund, sich hier einzunisten. Sie sind aus Ihrem Leben geflüchtet. Realität geht anders.«
David ist der einzige Mensch, dem ich erzählt habe, dass mein Körper ein Mantel ist, den ich nicht spüre. In meinem Kopf fahnde ich den ganzen Tag nach Erinnerungsfetzen. Der Mandelkern in meinem Gehirn gibt keine Emotionen preis, die ich an ein Erlebnis knüpfen könnte; auch er ist verhüllt. Von David habe ich gelernt, dass jeder Mensch seine eigene Wirklichkeit mit sich herumträgt. Ich trage nur feuchte Haare und einen bunten afrikanischen Kaftan.
Was willst du von mir?
»Ich wohne hier«, sage ich.
Er seufzt. »Frau Osterbeck, möchten Sie denn nicht wissen, wer Sie sind?«
Will ich. Auch wenn dann vermutlich mein Gehirn explodiert von den Erinnerungen und den Milliarden Gedanken, die ich zweiundzwanzig Jahre lang gedacht habe. Ich klopfe mit den Fingerknöcheln gegen meinen Kopf. »Da drinnen hat jemand das Licht ausgeschaltet. Ich komme mir vor wie in einem Film, aber das Drehbuch kenne ich nicht. Die Regeln der Draußenmenschen sind kompliziert.«
»Fragen Sie. Regeln sind erlernbar, sogar Konfliktbewältigung. Fragen Sie Ihren Mann nach gemeinsamen Erlebnissen. Reden Sie mit Ihren Mitpatienten. Erzählen Sie von sich und der Suche nach Ihrer Identität. Teilen Sie Ihre Erfahrungen. Zeigen Sie Interesse an den anderen.«
Den Menschen gehe ich aus dem Weg. Wie könnte ich deren Erwartungen erfüllen? Ich verstehe nicht einmal meinen Mann Golo. Bei seinen Besuchen tätschelt er meine Wange, sagt ein ums andere Mal »Du musst noch viel lernen« und dass er Geduld mit mir hat, weil er mich liebt (fünf Buchstaben). »Ich tue alles für dich, gebe mein ganzes Geld für deine Heilung aus. Wenn du dich schon nicht an mich erinnerst, kannst du dir wenigstens vorstellen, dass du dich neu in mich verliebst?«
Was ist das denn für eine Frage?
Zu David sage ich: »Für mich sind das nur Worthülsen.«
Er reibt ein Ohrläppchen zwischen Daumen und Zeigefinger, rutscht an den Rand seines Sessels und fixiert mich. »Wissen Sie, in Ihrem Kopf verbergen sich so viele Bilder und Geräusche, sogar Gerüche. Würden Sie gerne mal Achterbahn fahren?«
»In einer Höllenmaschine sitzen, die innerhalb von 2,5 Sekunden auf hundert Stundenkilometer beschleunigt und meinen Körper in den Sitz presst? Der TV-Moderator hat gesagt, da schreit jeder. Warum sollte ich schreien wollen?«
»Ich rede von Empfindungen. Intensive Gefühle erleben ähnelt der Fahrt in einer Achterbahn. Wir haben schon mehrfach darüber gesprochen: Wenn Sie Emotionen von Figuren aus Filmen kopieren, ist das keine Lösung, im Gegenteil: Das verhindert den Weitblick. Der Mensch ist nicht stereotyp.«
Ja, ich weiß, zu viel Fernsehen macht doof. Aber was soll ich sonst hier tun, wenn ich wissen will, wie die Welt funktioniert? In gewissem Sinne bin ich ja schon doof, schlimmer kann es doch nicht mehr werden, oder? Nun, ich lese viel. Menschen mit retrograder Totalamnesie werden als Erwachsene geboren. Außer ihnen ist das sonst nur Adam und Eva passiert, sagt die Bibel. Ich würde gerne verstehen, was Kindheit und Jugend bedeuten.
In den meisten Fällen erinnern sich Gedächtnislose nach ein paar Monaten; sie können sich und andere wieder spüren. Ich konnte selbst nach einem halben Jahr nicht einmal mit meinem Namen etwas anfangen. David gab mir drei Bücher. »Ihnen sind Gefühle zwar fremd, aber Sie haben Verstand. Der Psychologieprofessor Paul Ekman fand heraus, dass alle Menschen – außer Psychopathen – nonverbal Emotionen auf die gleiche Weise ausdrücken: im Gesicht und mit dem Körper. Auch der ehemalige FBI-Agent Joe Navarro hat die wortlosen Kommunikationscodes entschlüsselt. Er erklärt, wie wir uns verraten. Wenn Sie die Empfindungen anderer erkennen, bekommen Sie vielleicht Zugang zu Ihren eigenen und damit zu Ihren Erinnerungen.«
Seitdem übe ich jeden Tag. Ich lese Menschen, übersetze ihre Mimik und Gestik in Worte, etwa so, wie die Draußenmenschen Vokabeln in fremde Sprachen übersetzen. Ich denke Gefühle.
Bei David muss ich mich besonders anstrengen. Meistens trägt er seine Psychotherapeuten-Maske. Jetzt zupft er schon wieder an seinem Ohr. Ich rufe mir Paul und Joe ins Gedächtnis und komme zu dem Schluss: David ist unsicher (acht Buchstaben). Warum? Er ist doch hier der Chef. Kann er nicht sagen und tun, was er will?
David schiebt sich mit einem Ruck zurück in den Sessel und schließt die Augen. Er legt seine Beine übereinander. Sein Fuß wippt erst leicht, dann stärker. Was jetzt kommt, wird mir nicht gefallen.
»Ich fürchte, Sie brauchen ein Wunder«, sagt er leise. »Ihr Mann …«
Golo. Ich verstehe nicht, wie mich jemand kennen kann und ich ihn nicht. Das hat keinen Sinn. Er verkauft in seinem eigenen Laden Dinge wie Badewannen, Waschbecken und Toilettenschüsseln. Er ist zu allen freundlich (zehn Buchstaben). Er hat sich mir am Anfang meiner neuen Zeitrechnung als Ehemann vorgestellt. Er besucht mich jeden Tag und hofft.
»Golo möchte mit Ihnen leben«, sagt David.
Ich gähne. Gerne würde ich mehr schlafen, aber David gibt mir keine Tabletten – auch keine Psychopillen. Ich darf nicht dahindämmern. Drei meiner fünf Sinne sind ja schon betäubt.
»Kommen wir noch einmal zurück zu Ihrem Beruf. Mit diesem Therapieansatz hatten wir leider bis dato keinen Erfolg. Fällt Ihnen immer noch nichts ein zu Ihrer Zeit als Kindergärtnerin?«
Wie ich benutzt er den altmodischen Ausdruck Kindergärtnerin statt Erzieherin. Die Vorstellung, dass die Großen an den Kleinen ziehen, passt uns beiden nicht. Da fehlt die Würde. Kinder sind kein Spalierobst.
Ich halte die Luft an.
»Das hatten wir schon, Frau Osterbeck. Atmen Sie!«
Ich stoße einen Schwall Luft aus. »Da ist nur eine schwarze Wand und dahinter nichts. Ich könnte ebenso gut Meeresbiologin gewesen sein.«
Er lächelt. »Na, dann greifen wir doch Ihre Idee auf. Nehmen wir an, diese Klinik hier ist Ihre Taucherglocke, und Sie atmen seit zwei Jahren künstlichen Sauerstoff, ohne darüber nachzudenken, dass der irgendwann knapp wird, wenn Sie nicht wieder zurück an die Oberfläche des Ozeans schwimmen. Und ich versichere Ihnen: Er wird knapp. Jetzt! Denn Ihr Mann möchte Sie so schnell wie möglich wieder in seinem echten Leben haben, wenn Sie in den nächsten Wochen keine Fortschritte machen. Also: Klettern Sie aus Ihrer Glocke. Ich weiß, dass es Ihnen schwerfällt, aber arbeiten Sie an Ihrer Kommunikation. Gehen Sie auf Ihre Mitpatienten zu. Unterhalten Sie sich im Speisesaal. Reden Sie mit Kurt Kutte Friedrich, mit Marie Matuschek. Vor allem Finn Schnabel steht Ihnen doch auf eine besondere Weise nahe. Auch die Kantinenchefin freut sich über ein paar nette Worte. Das ist Ihre Hausaufgabe bis zur nächsten Stunde.«
Mit Hausaufgabe und Schule schwingt in mir keine Erinnerung. Auch da streikt mein Mandelkern. Der antike Wecker tickt so laut, als würde David auf den Tisch klopfen.
Schweigen, diese Schleimspur, breitet sich zwischen uns aus. Wozu über Erinnerungen reden, die nicht existieren? Golo gibt sich sehr viel Mühe. Vor ein paar Wochen hat er auf dem Klinikrasen Austern in einem geeisten Sektkübel arrangiert. Ich habe ihn gefragt, ob wir jetzt Enten füttern gehen. Er hat geseufzt. »Das ist ein romantisches Picknick.« Vermutlich hätte sich eine Draußenfrau über diese Geste gefreut (sieben Buchstaben). Seit dem Unfall habe ich jedoch nicht nur mein Gedächtnis verloren. Selbst Golo vergisst manchmal, dass ich nicht riechen, schmecken und fühlen kann. Ich sehe und höre, das ist alles. Und für mich ist Romantik nur ein Wort mit acht Buchstaben.
David sagt: »Außerdem erwarten wir morgen einen weiteren Patienten. Das Fremde wird Ihnen guttun. Es rüttelt auf, inspiriert. Also: Raus aus der Taucherglocke. Heißen Sie Ihren Mitpatienten willkommen. Tun Sie Dinge, die Sie noch nie getan haben. Und bitte geben Sie die Hoffnung nicht auf! Die Stiftung wird auch weiterhin für Sie da sein und die Kosten übernehmen.«
»Welche Stiftung?«
»Die Greta-Kieselstein-Stiftung. Erinnern Sie sich nicht? Ich habe Ihnen drei Monate nach Ihrer Aufnahme bei uns davon erzählt.«
»Tut mir leid. Da habe ich nicht zugehört. Oder es vergessen.«
David schaut auf die Uhr. Er kann die Zeiger sehen. Ich nicht. Er legt die Hände auf seine Oberschenkel. »Also gut. Nächstes Mal informiere ich Sie. Versprochen.«
David steht auf, das Zeichen, dass die Stunde beendet ist. »Frau Osterbeck, eine Frage habe ich noch: Vermissen Sie etwas? Ein Buch? Bargeld? Schmuck?«
»Ich habe keinen Schmuck.«
»Und sonst?«
»Alles da.«
»Gut. Bitte passen Sie auf Ihre Sachen auf. Es gibt Anlass zur Besorgnis. Bis in drei Tagen!«
Ich trete auf den Gang.
Golo, warum willst du mich aus der Klinik holen?
Ich spaziere in Haus Eins
Eine Therapiestunde im geschlossenen Raum raubt Finn Schnabel mehr Energie als ein ganzer Tag mit seinen quirligen Hunden auf dem Übungsplatz. Am See streifen Wind und Wasser ungehindert über seine Haut. Er zieht alle Kleider vom Körper, krault hinaus, legt sich auf den Rücken, schließt die Augen und lässt sich treiben. Er genießt die Wärme auf seinem Gesicht, die Schwerelosigkeit und die aus dem Freibad herüberschallenden Rufe der Kinder, bis er trotz der Mittagshitze in der Strömung fröstelt. Er dreht unter Wasser eine Rolle vorwärts, schwimmt im Schmetterlingsstil zurück an den Strand, hält inne und wirft einen langen Blick auf die wohltuende Weite des Wassers. Dann trocknet er sich ab und schlüpft in seine kurze Jeans. Er mag es, wie der weiche Stoff über den Knien ausgefranst ist. Er winkt seinem Freund, dem Doc, durch die Scheibe des Behandlungszimmers zu, dankbar, dass er nur noch in ambulanter Behandlung in der Klinik ist.
Vor drei Jahren war Finn verloren im Nirgendwo. Er kennt das beklemmende Gefühl, nicht zu wissen, wie er heißt. Alles war neu. Fremde Menschen erzählten ihm, dass er keine Bananen mochte, dass er Tiere liebte. Eine Frau, angeblich seine Mutter, meinte, er sei verheiratet, aber seine Ehefrau besuchte ihn nie. Ebenso gut hätte jemand ihm erzählen können, er züchte auf dem Mond Ratten. Ein Teil seines Gehirns war ausgeknockt. Dann: Ein paar Monate Hypnose und – zack! Die Erinnerungen flossen zurück in seinen Kopf.
Jetzt kehrt er dem Klinikgelände den Rücken, überquert pfeifend die Straße, tritt durch das Tor auf den Bürgersteig und lacht, als die Husky-Dame, die Schäferhunde und die Golden Retriever hinter seiner zum Haus umgebauten Remise auf ihn zustürmen.
Am frühen Abend fährt er in die Innenstadt und setzt sich in einem Café unter einen Sonnenschirm. Es dauert keine zehn Minuten, bis eine junge Frau mit Sommersprossen den Kopf seiner Huskydame tätschelt. »Diese Augen. Ist das ein Schöner. Wie heißt er?«
»Sie heißt Jackie. Willst du was trinken?«
Barbesuche sind nur halb so effektiv, und Frauen sind bei Tageslicht lebendiger. Sie sich schön trinken, lehnt Finn außerdem ab. Jackie hechelt freundlich. Die Frau mit den Sommersprossen hat ein Wangengrübchen und erzählt von ihrer Kindheit auf einem Bauernhof. Sein Interesse ist nicht gespielt. Unpersönlicher Sex langweilt ihn.
»Jetzt bin ich Zahnarzthelferin, und meine Chefin hat einen Chihuahua. Aber das ist ja kein Hund.«
»Eher eine Klobürste.«
Sie prustet los, und er sagt: »Meine drei Schäferhunde, die beiden Golden Retriever und der Fuchs sind echte Kerle.«
»Wow, wo trainierst du sie?«
Finn ist mein Kontrastprogramm. Er könnte jeden Ben-Becker-Ähnlichkeitswettbewerb gewinnen – mit dem Schauspieler in seinen jungen Jahren. Alles ist groß an ihm. Blond und verwegen gibt er als Feuerwehrmann den Neuzeithelden. Manchmal belausche ich zusammen mit Kalle seine Gespräche mit David. Unser Klinikleiter sagt, Finn versteckt sein Inneres hinter Tapferkeit (zehn Buchstaben). Er flucht in einer tiefen, gutmütigen Stimmlage. Während ihn die Leute irritiert mustern, schaut er mit der Gelassenheit eines Bernhardiners in die Welt und zwinkert mir zu. Wenn er da ist, brauche ich keinen Fernseher, kein Radio, keine Zeitung.
Finn, mein Fenster zu den Draußenmenschen, sitzt mit Kalle im Garten vor dem Haselnussbaum. Ich schlendere von der Kantinenterrasse über den Rasen zu ihm. »Hi«, sage ich, beuge mich zu ihm herunter und scanne sein Gesicht. »Grüß dich, deine Augen sind so klein. Hast du zu viel ferngesehen?«
Finns Gesicht wirkt angestrengt, als bräuchte er Kraft für das Lächeln, das er mir schenkt. »Ach Lea, das Leben ist ein paar Zacken schärfer als jedes Programm, das dir der Doofguck vorgaukelt.«
»David meint, ich soll mit dir reden, weil du mir auf eine besondere Weise nahestehst.«
Er blinzelt. »Oha!«
Ich setze mich zu ihm ins Gras.
»Was weißt du über die Greta-Kieselstein-Stiftung?«
Auf seiner Stirn entstehen zwei Falten. »Redet Golo nicht mit dir?«
»Das hat mich David auch gefragt.«
»Na gut, dann fange ich wohl am besten von vorne an: Vor elf Jahren hat Frau Greta als stinknormale Bibliothekarin gearbeitet. David steckte in einer tiefen Sinnkrise. Er wollte in einem Krankenhaus alternative Heilmethoden einführen und stieß bei den Schulmedizinern auf massiven Widerstand. Als es ihm besonders dreckig ging, vererbte eine Ärztin der Naturheilkunde den Kieselsteins eine wertvolle Büchersammlung und ein paar sehr teure Gemälde. Frau Greta jedoch verkaufte das Zeug und spekulierte mit der Hälfte des Schotters zwei Jahre lang an der Börse. Keine Ahnung, um welche Art Aktien es sich da genau handelte. Ich kenne mich in dieser Finanzblase nicht aus, aber eins weiß ich: Das Verlustrisiko lag in einem Bereich, in den sich kein Mensch hineinwagt, der ein Fitzelchen Hirn in der Birne hat. Jedenfalls: Nach dem Verkauf der Papiere haben sie diese Privatklinik eröffnet und die Stiftung gegründet.« Er lacht und schüttelt sich, als wollte er etwas loswerden. Jedes Mal, wenn er eines dieser Geldworte ausspricht, schwingen seine beiden Arme gleichzeitig auf und ab, als würde er seine Rede ohne Taktstock dirigieren. Am Ende klatscht er sich auf die Oberschenkel und schnaubt wie ein arabischer Vollbluthengst, der in einer engen Koppel das Gatter eingetreten hat.
»Verstehst du?«
Ich schüttle den Kopf.
Finn legt einen Arm um meine Schultern. »Willkommen im Club der Ahnungslosen.«
Ich rücke von ihm ab, und er zieht seinen Arm weg. »Entschuldigung.«
»Mhm«, sage ich. Obwohl Finn ungefähr so oft seine Freundinnen wechselt, wie er seinen Jeep Cherokee in die Waschanlage fährt, ist er kein Grabscher. Er fasst Menschen, die ihm etwas bedeuten, gerne an, und außer mir mag das hier jeder. Die anderen Drinnenmenschen vermissen Körperkontakt.
»Tja, wie auch immer: Weder David noch ich können es bis heute fassen, dass seine Frau gesagt hat: ›Ich habe geträumt, was ich tun soll.‹ Und jetzt sorgt die Greta-Kieselstein-Stiftung dafür, dass du nicht mit deinem heiß geliebten Ehemann zusammenwohnen musst und ich Therapien genießen darf, die ansonsten für mich unbezahlbar wären.«
»Wieso sollte die Stiftung dafür sorgen, dass ich hier sein kann?«
Er zieht eine Augenbraue nach oben. »Das Programm für Langzeit-Gedächtnislose? Du weißt nichts davon?«
»Nein.«
»Merkwürdig. Ich habe zufällig auf dem Flur mitbekommen, wie David deinen Mann gebeten hat, es dir zu sagen. Ist ewig her. Nach den ersten drei Monaten hat die Stiftung alle Kosten für dich übernommen. Das hättest du wissen müssen.«
Als Finn zum ersten Mal Lea begegnete, war Kalle noch nicht geboren. Sie waren beide Verwirrte, geflüchtet in diese Klinik, im Draußen gab es keinen Platz mehr für sie. Lea Osterbeck war die krasseste Herausforderung, seit der Doc die Privatklinik für Amnesiekranke leitete. Selbst Monate nach ihrem Unfall redete sie nicht, ihr Gesicht blieb starr, die Schultern hochgezogen, der Kopf gesenkt. Eine Pappkameradin, die mit Finn die Mahlzeiten teilte, mit der er in den Gruppentherapien saß, mit der er rausging und die Mücken am See zählte. Mann, Mann, Mann, wie oft hatte er nach ihrem Puls am Handgelenk oder am Hals getastet, nur um zu checken, ob sie noch lebte. Jeder Gedächtnislose erinnert sich irgendwann. Aber sie wirkte wie ein Neugeborenes, das jemand in der Wüste ausgesetzt hatte.
Nach vier gemeinsamen Monaten wurde Finn aus der Klinik entlassen. Seitdem ist er in ambulanter Therapie.
Ein paar Wochen später wurde er als Feuerwehrmann zu einem ungewöhnlichen Einsatz gebeten. Seit fünf Tagen hatte es geregnet. Der Heiligensee trat übers Ufer, überschwemmte Strand und Rasen. Terrasse und Keller blieben trocken, die Klinikgebäude stehen auf einer Anhöhe. Vor dem Tor glaubten er und sein Kollege noch, es sei eine Bagatelle. Allerdings mussten sie dann nicht Hunde aus einem Bau retten, sondern eine Fuchsfamilie. Hunde hätten sie durch ihre Artgenossen aufstöbern lassen können, aber Füchse?
Ohne Gruß trat Lea damals hinter der Kastanie hervor. Blätter quietschten unter ihren Gummistiefeln. Finn nickte ihr zu. Sie reagierte nicht. Kein Blick. Keine Geste. Als hätte sie nicht Monate mit ihm in dieser Meisenburg verbracht. Der Ostfriesennerz und der bunte Stoff ihres Kaftans standen im Kontrast zu ihrem Gesicht, in dem sich kein Muskel bewegte. Eine gut geschminkte Tote hätte lebendiger ausgesehen. Die Feuerwehrmänner legten dicke Schläuche in die Erde, pumpten das Wasser aus dem weitläufigen Gangsystem. Zum Ende hin blieben nur noch Rinnsale, die in den Heiligensee flossen. Finn und der Kollege steckten ihre Köpfe in die Löcher und horchten auf keckernde Laute, auf Quieken.
Nichts.
Neben dem alten Holzstapel an der Grenze zum FKK-Gelände rissen sie Brombeersträucher aus dem Boden und fanden darunter eine Drainageschicht aus Sand. In der lockeren Erde konnten sie unmöglich Bagger einsetzen. Der unterirdische Fuchsbau wäre in sich zusammengefallen. Sie griffen zu Schippe und Spaten.
Frau Greta versorgte sie mit heißem Ingwertee.
Lea überwachte jeden Handgriff der Bergungsarbeiten. Nach einer Stunde bauten die Feuerwehrmänner Scheinwerfer auf, gruben in zwei Metern Tiefe mit archäologischer Vorsicht weiter und hoben Gänge aus.
Finn horchte auf. »Da winselt einer!«
Sie buddelten und tasteten die Erde mit bloßen Händen ab. Nach einer weiteren Stunde zogen sie eine Fuchsfähe und fünf Junge heraus und legten sie aufs Gras. Keines der Tiere bewegte sich.
Finn schluckte. »Das war’s. Mehr können wir nicht tun.«
Der Doc untersuchte die triefenden Fellkörper, schüttelte fünf Mal den Kopf. Beim sechsten – einem kleinen, rostfarbenen Bündel – stockten seine Hände. Er wischte Blut aus dem Welpengesicht und legte das linke Ohr frei. Winzige Vier-Krallen-Pfoten zuckten in der Luft. »Nur ein Riss im Ohr. Das bekommen wir hin.«
Finn drückte zwei Finger auf die weiße Brust des Winzlings. Der Welpe spuckte Wasser und öffnete die noch blauen Augen. Das Köpfchen sank kraftlos zur Seite. Unter seiner Hand spürte Finn mehr ein Zittern als ein Atmen. Trotzdem legte er Lea den Welpen auf die Hände. In diesem Augenblick hätte er eine Menge für ein Zucken in ihrem Gesicht gegeben, für irgendein Zeichen, das auf eine Gefühlsregung schließen ließ. Nach einer Ewigkeit senkte sie die Nase in das schmutzig graubraune Bündel. Er grinste. »Okay, Lea, jetzt päpple du den Kleinen auf, und ich schwöre dir: Den Wildfang bilde ich als deinen ganz persönlichen Therapiebegleiter aus.«
Der Doc lächelte. »Danke, mein Freund.«
»Immer wieder gern.«
Frau Greta fasste Lea an der Schulter. »Kommen Sie, Liebes. Wir brauchen Decken, Milch, Kamillentee und eine Spritze.«