Leinwand ohne Gesicht - Doris Wiesenbach - E-Book

Leinwand ohne Gesicht E-Book

Doris Wiesenbach

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Beschreibung

"Wenn ich bis zum Monatsende nicht herausfinde, wer ich bin, wird er mich mitnehmen. Die junge Lea ist ein “Drinnenmensch”: Seit zwei Jahren lebt sie ohne Erinnerung in einer Privatklinik für Gedächtnislose in Berlin. Nur ihr treuer Begleiter, der Therapiefuchs Kalle, darf sie berühren. Als Lea jedoch einen neuen Patienten in der Klinik kennenlernt und ihr dieser ungewöhnlich nahekommt, verliert ihr Ehemann Golo die Geduld und drängt sie in ein Leben im “Draußen”. Doch erneut schlägt das Schicksal zu und konfrontiert Lea mit einer Leinwand, die Stück für Stück ein Bild enthüllt, das Lea zu zerreißen droht. “Was lauert da tief in mir, was ich nicht wissen will? Schützt die Amnesie mich vor meiner eigenen Schuld?”

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Zum Buch:

Wenn ich bis zum Mo­nats­en­de nicht her­aus­fin­de, wer ich bin, wird er mich mit­neh­men.

Die jun­ge Lea ist einDrin­nen­mensch:Seit zwei Jah­ren lebt sie oh­ne Er­in­ne­rung in ei­ner Pri­vat­kli­nik für Ge­dächt­nis­lo­se in Ber­lin. Nur ihr treu­er Be­glei­ter, der The­ra­pie­fuchs Kal­le, darf sie be­rüh­ren. Als Lea je­doch ei­nen neu­en Pa­ti­en­ten in der Kli­nik ken­nen­lernt und ihr die­ser un­ge­wöhn­lich na­he­kommt, ver­liert ihr Ehe­mann Go­lo die Ge­duld und drängt sie in ein Le­ben imDrau­ßen. Doch er­neut schlägt das Schick­sal zu und kon­fron­tiert Lea mit ei­ner Lein­wand, die Stück für Stück ein Bild ent­hüllt, das Lea zu zer­rei­ßen droht.

Zur Au­to­rin:

Do­ris Wie­sen­bach schreibt Ro­ma­ne, Kurz­ge­schich­ten und Ge­dich­te. Die ehe­ma­li­ge Chef­se­kre­tä­rin liebt skur­ri­le Ge­schich­ten, schrä­ge Cha­rak­tere und in­tel­li­gen­te Mor­de. Ih­re bei­den Kri­mi­nal­ro­ma­ne wur­den un­ter dem Pseud­onym Isa­bel­la Bach ver­öf­fent­licht.Gren­zen­los,ihr Er­zähl­band über deutsch-deut­sche Ge­schich­te, wird auch im schu­li­schen Kon­text ver­wen­det. Zu­dem ver­öf­fent­lich­te sie Kurz­ge­schich­ten in di­ver­sen Wett­be­werbs-An­tho­lo­gi­en. Sie ist Mit­glied im

Doris Wiesenbach

 

 

 

Leinwand ohne Gesicht

 

Im­pres­s­um Ver­öf­fent­licht im Kirsch­buch Ver­lag,ein Im­print der Qua­li­Fic­ti­on GmbHNeß 1, 20457 Ham­burgSep­tem­ber 2022Co­py­right © 2022by Qua­li­Fic­ti­on GmbH, Ham­burgUm­schlag­ge­stal­tung: Qua­li­Fic­ti­on GmbHSatz: Qua­li­Fic­ti­on GmbHISBN 9783948736231

 

Für Lie­se­lot­te in Lie­be
»Die Vergangenheit sagt uns, wer wir sind,ohne sie verlieren wir unsere Identität.«
Stephen Hawking

 

 

 

 

»Ich mag mein Grün«, sagt die Tanne.»Ich weiß«, sagt der Schnee.»Ich liebe Mäuse«, sagt der Fuchs,

F ür die Drau­ßen­menschen sind wir schrä­ge Vö­gel. Aber flie­gen kann in der Pri­vat­kli­nik für Ge­dächt­nis­lo­se nie­mand. Im Ge­gen­teil, wir Amne­si­e­pa­ti­en­ten su­chen nach der Re­a­li­tät, nach ei­nem Zip­fel Er­in­ne­rung, an den wir ein gan­zes Le­ben an­knüp­fen kön­nen.

An die­sem Nach­mit­tag hän­gen Wat­te­wol­ken­fet­zen am Him­mel. Finn sitzt in ei­nem Gar­ten­stuhl und lehnt sich zu mir her­über. »Was sind das für schwar­ze Lö­cher, die uns hier fest­hal­ten?« Sei­ne Stim­me ist lei­se, aber kräf­tig, er klingt ver­schwö­re­risch. »Ich fühl mich wie ein Knas­ti, der nicht weiß, was er ver­bro­chen hat.«

Zwei Teen­ager, An­ge­hö­ri­ge von Pa­ti­en­ten, beu­gen sich ne­ben­ein­an­der auf ei­ner Bank über ein Smart­pho­ne. Han­dys wol­len die The­ra­peu­ten in der Kli­nik nicht. Zu vie­le Rei­ze über­flu­ten un­se­re Sin­ne, mei­nen sie.

Ich ant­wor­te nicht. Ich sa­ge sel­ten et­was, und Finn er­war­tet kei­ne Ant­wort.

Ei­ne zwei­te Schicht dunk­ler Wol­ken legt sich über die Wat­te­fet­zen, Stun­den, be­vor der Hei­li­gen­see nor­ma­le­r­wei­se im Som­mer die Son­ne schluckt.

Die Teen­ager la­chen. Die ei­ne hat ei­ne zwei Cent gro­ße Nar­be auf der Stirn. Sie hebt zu­erst die Hand und sagt: »Gib mir fünf.« Das an­de­re Mäd­chen, das trotz der Wär­me ei­nen Pull­over trägt, schlägt ein. Ich er­he­be mich aus dem Lie­ge­stuhl.

»Was ist?« Finn steht eben­falls auf. »Hast du Angst vor Ge­wit­ter?«

Ich star­re ihn an.

TEIL EINS

 

 

Wenn ich bis zum Mo­nats­en­de nicht her­aus­fin­de,

Heu­te Mor­gen will sich zum ers­ten Mal seit mei­ner neu­en Zeit­rech­nung ein Traum in mein Be­wusst­sein drän­gen. Ein gu­tes Zei­chen. Träu­me ber­gen Er­in­ne­run­gen. Al­les, was ich ver­ges­sen woll­te, schreit nach Hil­fe. Ein Kopf, die Zü­ge ver­schwom­men, dann ei­ne schie­fe Na­se. Das Ge­sicht will mich mit­neh­men. Das Bild zer­fa­sert, löst sich auf. Durch mei­nen Kopf geis­tern Schat­ten, die mir nicht ver­ra­ten, wer ich bin. Über mei­nem Le­ben liegt ein un­durch­dring­li­cher Schlei­er.

Wer will mich mit­neh­men?

Ich set­ze mich auf die Bett­kan­te und be­trach­te das Fo­to auf dem Nacht­tisch. Go­lo war neun­zehn, ich sieb­zehn. Wir kreu­zen un­se­re Bil­lard­queu­es und grin­sen. Drau­ßen­menschen wür­den sa­gen, wir se­hen glü­ck­lich (neun Buch­sta­ben) aus.

Drau­ßen ruft ei­ne Rohr­dom­mel. Der The­ra­pie­fuchs ne­ben mir steht auf, mit sei­nen lan­gen Bei­nen tritt er in ei­nen Son­nen­fleck auf dem Bal­kon und schüt­telt sein dich­tes Fell.

»Gu­ten Mor­gen, Kal­le.« Ich set­ze mich vor ihn auf die Ter­ra­kot­taf­lie­sen. Er gähnt und legt die Schnau­ze in mei­ne Hand. Das Hals­band aus brau­nem Le­der ver­schwin­det un­ter dem vom Tau feucht glän­zen­den Pelz. Der Blick aus sei­nen Bern­stein­au­gen ist klar. Ich kann in ih­nen nicht le­sen, ob er sich freut (fünf Buch­sta­ben), är­gert (sechs Buch­sta­ben) oder trau­rig (sie­ben Buch­sta­ben) ist. Viel­leicht ist er gleich­mü­tig (elf Buch­sta­ben). Kal­le ist schön mit sei­ner wei­ßen Brust und den spit­zen, gro­ßen Oh­ren. Er ist das ein­zi­ge We­sen, das mich be­rüh­ren darf. Da­bei kann ich, wenn ich ihn an­fas­se, sein Fell nicht von mei­ner Haut oder ei­nem Eis­block un­ter­schei­den. Er passt auf mich auf.

Men­schen kön­nen das Le­ben nicht nur mit dem Ver­stand er­fas­sen. Vie­le be­grei­fen oder ah­nen, was an­de­re den­ken, was sie ge­tan ha­ben oder tun wer­den. Auch Tie­re ha­ben ei­nen In­stinkt, sie han­deln nach ei­nem in­ne­ren Im­puls. Füch­se sind be­son­ders gut dar­in. Kal­le fühlt (fünf Buch­sta­ben) für mich. Wenn ich wüss­te, wie das geht, wä­re ich dank­bar (sie­ben Buch­sta­ben). Viel­leicht wür­de ich ihn lie­ben (sechs Buch­sta­ben). Das will ich ler­nen.

Ich schaue Kal­le ins Ge­sicht und lächle. Das Lä­cheln übe ich je­den Tag vor dem Spie­gel – die­ses Mund­win­kel-nach-oben-Zie­hen. Kal­le we­delt mit sei­ner bu­schi­gen Lun­te. Die wei­ße Blu­me tanzt hin und her. Er legt ei­ne Pran­ke auf mei­nen Ober­schen­kel, sei­ne Kral­len teil­wei­se ein­ge­zo­gen. Ich wi­sche ei­nen Tau­trop­fen von sei­ner Flan­ke und ste­he auf. Er gibt ei­nen keh­li­gen Laut von sich. Ne­ben­ein­an­der ge­hen wir in mein Zim­mer. Sei­ne gra­zi­len Be­we­gun­gen er­in­nern an ei­ne Kat­ze. Die Wän­de sind hell­blau. Wie je­den Mor­gen lau­sche ich. Da sind Schrit­te über mir, ne­ben­an plät­schert ei­ne Du­sche, ei­ne Toi­let­ten­spü­lung rauscht. Je­mand niest. Kal­le tr­abt vor mir über die Tür­schwel­le des klei­nen Ba­des und hopst auf das Side­board. Wir stre­cken bei­de dem Spie­gel die Zun­gen her­aus.

»Gu­ten Mor­gen, Lea Os­ter­beck«, sa­ge ich.

Kal­le sieht mir da­bei zu, wie ich mei­ne Haa­re zu ei­nem Kno­ten dre­he und die Zäh­ne put­ze.

Ich schie­be den Dusch­vor­hang zur Sei­te, stel­le das Was­ser an. Kal­le flitzt aus dem Bad. Die Gieß­kan­ne schep­pert, als er vom Bal­kon springt. Ich strei­fe den schwar­zen Ki­mo­no mit den pink­far­be­nen Or­chi­de­en – ein Ge­schenk von Go­lo zu mei­nem Ein­zug in die Kli­nik – ab und las­se ihn auf die Flie­sen fal­len, stei­ge in die Dusch­ka­bi­ne, wo­bei ich dar­auf ach­te, dass mein Kopf nicht un­ter Was­ser ge­rät. Ein­mal in der Wo­che hilft mir ei­ne Kran­ken­schwes­ter beim Haa­re­wa­schen. Der Tem­pe­ra­tur­reg­ler steht kon­stant auf Mit­te. Ich spü­re we­der Hit­ze noch Käl­te, auch nicht den Was­ser­strahl. Es ist nicht ge­sund, wenn die Haut krebs­rot wird beim Du­schen.

 

Ich stei­ge aus der Ka­bi­ne und schaue auf den We­cker. In der Kli­nik be­stim­men die Mahl­zei­ten den Rhyth­mus des Ta­ges. Früh­stück acht Uhr, Mit­tag zwölf Uhr, Abend­es­sen sieb­zehn Uhr drei­ßig. Die Fens­ter ha­ben kei­ne Git­ter. Nie­mand hält mich fest. Ich kann ge­hen, wo­hin ich möch­te. Aber war­um soll­te ich in der Drau­ßen­welt her­um­spa­zie­ren? Das hier ist der ein­zi­ge Ort auf der Welt, an dem ich sein will. Ich ver­las­se ihn nie. Hei­li­gen­see sagt mir so we­nig wie das Land Tim­buk­tu, von dem ich in ei­nem Buch mit vie­len Fo­tos ge­le­sen ha­be. Für mich sind nur die Häu­ser, der Gar­ten und der See Wirk­lich­keit. Der See hat ei­nen Um­fang von über drei Ki­lo­me­tern, an ei­ni­gen Stel­len ist er drei­zehn Me­ter tief. Er ist sehr kalt. Ich darf nicht ba­den, weil ich un­ter Was­ser die Ori­en­tie­rung ver­lie­re, und das kann töd­lich sein.

Der Rot­fuchs wit­tert die von Men­schen­duft ge­sät­tig­te Luft. Es zieht ihn auf die­ses Stück Er­de am Was­ser. In den Bau aus rie­si­gen Stei­nen. Den die Zwei­bei­ner Kli­nik nen­nen. Hin zu den Men­schen. Weg von sei­nem Re­vier un­ter den Bäu­men. Es ist Mor­gen auf dem Bal­kon vor dem Zim­mer der Frau mit den rau­en Hän­den. Lea. In der Stil­le läuft er zu ihr.

»Gu­ten Mor­gen, Kal­le«, sagt sie.

Das Wort rich­tet ihn auf. Ih­re Stim­me ist hart. Sei­ne Oh­ren wer­den warm, wenn sie spricht. Ihr Blick fängt ihn ein. Haa­re flie­ßen zu ihm. Sie ha­ben die Far­be sei­nes Pel­zes. Ih­re Hand liegt reg­los auf ihm. Kühl und trotz­dem pul­sie­rend. Er spürt ih­re Kraft. Selt­sam matt schlum­mert et­was in Lea, das nach drau­ßen leuch­ten könn­te. Lea, die Wöl­fin.

Men­schen brau­chen zum Über­le­ben ein künst­li­ches Fell. So­bald sie sich be­we­gen, ra­schelt es in sei­nen Oh­ren, als wür­de der Wind mit den Blät­tern ei­nes Bau­mes spie­len. Zwei­bei­ner rie­chen merk­wür­dig. Nach Blu­men und doch nicht nach Blu­men. Nach Obst. Manch­mal ver­go­ren. Nach Pflan­zen. Nach Sumpf, der in der Son­ne trock­net. Nach Blät­tern, die im Wald ver­we­sen.

Die Wöl­fin geht bar­fuß. Aus ihr strö­men sei­ne ers­ten Er­in­ne­run­gen. Ei­ne Duft­wol­ke aus Milch, Reis, Äp­feln und Zimt. Ih­re sü­ße Wol­ke ver­mischt sich mit sei­nem stren­gen Veil­chen­duft. Sein Ge­ruch kommt aus ei­nem win­zi­gen Loch un­ter sei­nem Schwanz. Sei­ne Oh­ren ste­hen auf­recht. Er dreht sie in un­ter­schied­li­che Rich­tun­gen. Fängt Men­schen­stim­men auf. Wit­tert die mod­ri­ge Feuch­te auf ih­rer Haut. Die frös­teln­de Angst.

Man­che Zwei­bei­ner in der Kli­nik sa­gen: »Kal­le ist ge­fähr­lich.« Und be­haup­ten, er stinkt.

Aber Finn, der Hun­de­trai­ner mit den Heu­haa­ren, sagt: »Tie­re sind die bes­se­ren Men­schen.« Kal­le läuft gern mit ihm und sei­nen Hun­den mit.

Frau Os­ter­beck, Sie sind jetzt zwei Jah­re bei uns.«

»Zwei Jah­re, ei­nen Mo­nat und sie­ben Ta­ge.«

Dr. Da­vid Kie­sel­stein nickt. Der Kli­nik­lei­ter sitzt mir ge­gen­über im Ses­sel. Er trägt Cord­ho­sen, kei­nen Arzt­kit­tel und ei­ne Bril­le mit blau­er Fas­sung. »Ist Ih­nen be­wusst, dass Sie in ei­ner Schein­welt le­ben?«

»Wie­so Schein­welt?«

»Die­se Fra­ge be­schreibt ex­akt Ihr Pro­blem: Die ge­stör­te Amyg­da­la in Ihrem Ge­hirn ist kein Grund, sich hier ein­zu­nis­ten. Sie sind aus Ihrem Le­ben ge­flüch­tet. Re­a­li­tät geht an­ders.«

Da­vid ist der ein­zi­ge Mensch, dem ich er­zählt ha­be, dass mein Kör­per ein Man­tel ist, den ich nicht spü­re. In mei­nem Kopf fahn­de ich den gan­zen Tag nach Er­in­ne­rungs­fet­zen. Der Man­del­kern in mei­nem Ge­hirn gibt kei­ne Emo­ti­o­nen preis, die ich an ein Er­leb­nis knüp­fen könn­te; auch er ist ver­hüllt. Von Da­vid ha­be ich ge­lernt, dass je­der Mensch sei­ne ei­ge­ne Wirk­lich­keit mit sich her­um­trägt. Ich tra­ge nur feuch­te Haa­re und ei­nen bun­ten afri­ka­ni­schen Kaftan.

Was willst du von mir?

»Ich woh­ne hier«, sa­ge ich.

Er seufzt. »Frau Os­ter­beck, möch­ten Sie denn nicht wis­sen, wer Sie sind?«

Will ich. Auch wenn dann ver­mut­lich mein Ge­hirn ex­plo­diert von den Er­in­ne­run­gen und den Mil­li­ar­den Ge­dan­ken, die ich zwei­und­zwan­zig Jah­re lang ge­dacht ha­be. Ich klop­fe mit den Fin­ger­knö­cheln ge­gen mei­nen Kopf. »Da drin­nen hat je­mand das Licht aus­ge­schal­tet. Ich kom­me mir vor wie in ei­nem Film, aber das Dreh­buch ken­ne ich nicht. Die Re­geln der Drau­ßen­menschen sind kom­pli­ziert.«

»Fra­gen Sie. Re­geln sind er­lern­bar, so­gar Kon­flikt­be­wäl­ti­gung. Fra­gen Sie Ihren Mann nach ge­mein­sa­men Er­leb­nis­sen. Re­den Sie mit Ihren Mit­pa­ti­en­ten. Er­zäh­len Sie von sich und der Su­che nach Ih­rer Iden­ti­tät. Tei­len Sie Ih­re Er­fah­run­gen. Zei­gen Sie In­ter­es­se an den an­de­ren.«

Den Men­schen ge­he ich aus dem Weg. Wie könn­te ich de­ren Er­war­tun­gen er­fül­len? Ich ver­ste­he nicht ein­mal mei­nen Mann Go­lo. Bei sei­nen Be­su­chen tät­schelt er mei­ne Wan­ge, sagt ein ums an­de­re Mal »Du musst noch viel ler­nen« und dass er Ge­duld mit mir hat, weil er mich liebt (fünf Buch­sta­ben). »Ich tue al­les für dich, ge­be mein gan­zes Geld für dei­ne Hei­lung aus. Wenn du dich schon nicht an mich er­in­nerst, kannst du dir we­nigs­tens vor­stel­len, dass du dich neu in mich ver­liebst?«

Was ist das denn für ei­ne Fra­ge?

Zu Da­vid sa­ge ich: »Für mich sind das nur Wort­hül­sen.«

Er reibt ein Ohr­läpp­chen zwi­schen Dau­men und Zei­ge­fin­ger, rutscht an den Rand sei­nes Ses­sels und fi­xiert mich. »Wis­sen Sie, in Ihrem Kopf ver­ber­gen sich so vie­le Bil­der und Ge­räu­sche, so­gar Ge­rü­che. Wür­den Sie ger­ne mal Ach­ter­bahn fah­ren?«

»In ei­ner Höl­len­ma­schi­ne sit­zen, die in­ner­halb von 2,5 Se­kun­den auf hun­dert Stun­den­ki­lo­me­ter be­schleu­nigt und mei­nen Kör­per in den Sitz presst? Der TV-Mo­de­ra­tor hat ge­sagt, da schreit je­der. War­um soll­te ich schrei­en wol­len?«

»Ich re­de von Emp­fin­dun­gen. In­ten­si­ve Ge­füh­le er­le­ben äh­nelt der Fahrt in ei­ner Ach­ter­bahn. Wir ha­ben schon mehr­fach dar­über ge­spro­chen: Wenn Sie Emo­ti­o­nen von Fi­gu­ren aus Fil­men ko­pie­ren, ist das kei­ne Lö­sung, im Ge­gen­teil: Das ver­hin­dert den Weit­blick. Der Mensch ist nicht ste­reo­typ.«

Ja, ich weiß, zu viel Fern­se­hen macht doof. Aber was soll ich sonst hier tun, wenn ich wis­sen will, wie die Welt funk­ti­o­niert? In ge­wis­sem Sin­ne bin ich ja schon doof, schlim­mer kann es doch nicht mehr wer­den, oder? Nun, ich le­se viel. Men­schen mit re­tro­gra­der To­talamne­sie wer­den als Er­wach­se­ne ge­bo­ren. Au­ßer ih­nen ist das sonst nur Adam und Eva pas­siert, sagt die Bi­bel. Ich wür­de ger­ne ver­ste­hen, was Kind­heit und Ju­gend be­deu­ten.

In den meis­ten Fäl­len er­in­nern sich Ge­dächt­nis­lo­se nach ein paar Mo­na­ten; sie kön­nen sich und an­de­re wie­der spü­ren. Ich konn­te selbst nach ei­nem hal­b­en Jahr nicht ein­mal mit mei­nem Na­men et­was an­fan­gen. Da­vid gab mir drei Bü­cher. »Ih­nen sind Ge­füh­le zwar fremd, aber Sie ha­ben Ver­stand. Der Psy­cho­lo­gie­pro­fes­sor Paul Ek­man fand her­aus, dass al­le Men­schen – au­ßer Psy­cho­pa­then – non­ver­bal Emo­ti­o­nen auf die glei­che Wei­se aus­drü­cken: im Ge­sicht und mit dem Kör­per. Auch der ehe­ma­li­ge FBI-Agent Joe Na­var­ro hat die wort­lo­sen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­codes ent­sch­lüs­selt. Er er­klärt, wie wir uns ver­ra­ten. Wenn Sie die Emp­fin­dun­gen an­de­rer er­ken­nen, be­kom­men Sie viel­leicht Zu­gang zu Ihren ei­ge­nen und da­mit zu Ihren Er­in­ne­run­gen.«

Seit­dem übe ich je­den Tag. Ich le­se Men­schen, über­set­ze ih­re Mi­mik und Ges­tik in Wor­te, et­wa so, wie die Drau­ßen­menschen Vo­ka­beln in frem­de Spra­chen über­set­zen. Ich den­ke Ge­füh­le.

Bei Da­vid muss ich mich be­son­ders an­stren­gen. Meis­tens trägt er sei­ne Psy­cho­the­ra­peu­ten-Mas­ke. Jetzt zupft er schon wie­der an sei­nem Ohr. Ich ru­fe mir Paul und Joe ins Ge­dächt­nis und kom­me zu dem Schluss: Da­vid ist un­si­cher (acht Buch­sta­ben). War­um? Er ist doch hier der Chef. Kann er nicht sa­gen und tun, was er will?

Da­vid schiebt sich mit ei­nem Ruck zu­rück in den Ses­sel und schließt die Au­gen. Er legt sei­ne Bei­ne über­ein­an­der. Sein Fuß wippt erst leicht, dann stär­ker. Was jetzt kommt, wird mir nicht ge­fal­len.

»Ich fürch­te, Sie brau­chen ein Wun­der«, sagt er lei­se. »Ihr Mann …«

Go­lo. Ich ver­ste­he nicht, wie mich je­mand ken­nen kann und ich ihn nicht. Das hat kei­nen Sinn. Er ver­kauft in sei­nem ei­ge­nen La­den Din­ge wie Ba­de­wan­nen, Wasch­be­cken und Toi­let­ten­schüs­seln. Er ist zu al­len freund­lich (zehn Buch­sta­ben). Er hat sich mir am An­fang mei­ner neu­en Zeit­rech­nung als Ehe­mann vor­ge­stellt. Er be­sucht mich je­den Tag und hofft.

»Go­lo möch­te mit Ih­nen le­ben«, sagt Da­vid.

Ich gäh­ne. Ger­ne wür­de ich mehr schla­fen, aber Da­vid gibt mir kei­ne Ta­blet­ten – auch kei­ne Psy­cho­pil­len. Ich darf nicht da­hin­däm­mern. Drei mei­ner fünf Sin­ne sind ja schon be­täubt.

»Kom­men wir noch ein­mal zu­rück zu Ihrem Be­ruf. Mit die­sem The­ra­pie­an­satz hat­ten wir lei­der bis da­to kei­nen Er­folg. Fällt Ih­nen im­mer noch nichts ein zu Ih­rer Zeit als Kin­der­gärt­ne­rin?«

Wie ich be­nutzt er den alt­mo­di­schen Aus­druck Kin­der­gärt­ne­rin statt Er­zie­he­rin. Die Vor­stel­lung, dass die Gro­ßen an den Klei­nen zie­hen, passt uns bei­den nicht. Da fehlt die Wür­de. Kin­der sind kein Spa­lier­obst.

Ich hal­te die Luft an.

»Das hat­ten wir schon, Frau Os­ter­beck. At­men Sie!«

Ich sto­ße ei­nen Schwall Luft aus. »Da ist nur ei­ne schwar­ze Wand und da­hin­ter nichts. Ich könn­te eben­so gut Mee­res­bio­lo­gin ge­we­sen sein.«

Er lä­chelt. »Na, dann grei­fen wir doch Ih­re Idee auf. Neh­men wir an, die­se Kli­nik hier ist Ih­re Tau­cher­glo­cke, und Sie at­men seit zwei Jah­ren künst­li­chen Sau­er­stoff, oh­ne dar­über nach­zu­den­ken, dass der ir­gend­wann knapp wird, wenn Sie nicht wie­der zu­rück an die Ober­flä­che des Oze­ans schwim­men. Und ich ver­si­che­re Ih­nen: Er wird knapp. Jetzt! Denn Ihr Mann möch­te Sie so schnell wie mög­lich wie­der in sei­nem ech­ten Le­ben ha­ben, wenn Sie in den nächs­ten Wo­chen kei­ne Fort­schrit­te ma­chen. Al­so: Klet­tern Sie aus Ih­rer Glo­cke. Ich weiß, dass es Ih­nen schwer­fällt, aber ar­bei­ten Sie an Ih­rer Kom­mu­ni­ka­ti­on. Ge­hen Sie auf Ih­re Mit­pa­ti­en­ten zu. Un­ter­hal­ten Sie sich im Spei­se­saal. Re­den Sie mit Kurt Kut­te Fried­rich, mit Ma­rie Ma­tu­schek. Vor al­lem Finn Schna­bel steht Ih­nen doch auf ei­ne be­son­de­re Wei­se na­he. Auch die Kan­ti­nen­che­fin freut sich über ein paar net­te Wor­te. Das ist Ih­re Haus­auf­ga­be bis zur nächs­ten Stun­de.«

Mit Haus­auf­ga­be und Schu­le schwingt in mir kei­ne Er­in­ne­rung. Auch da streikt mein Man­del­kern. Der an­ti­ke We­cker tickt so laut, als wür­de Da­vid auf den Tisch klop­fen.

Schwei­gen, die­se Schleim­spur, brei­tet sich zwi­schen uns aus. Wo­zu über Er­in­ne­run­gen re­den, die nicht exis­tie­ren? Go­lo gibt sich sehr viel Mü­he. Vor ein paar Wo­chen hat er auf dem Kli­ni­kra­sen Aus­tern in ei­nem ge­eis­ten Sekt­kü­bel ar­ran­giert. Ich ha­be ihn ge­fragt, ob wir jetzt En­ten füt­tern ge­hen. Er hat ge­seufzt. »Das ist ein ro­man­ti­sches Pick­nick.« Ver­mut­lich hät­te sich ei­ne Drau­ßen­frau über die­se Ges­te ge­freut (sie­ben Buch­sta­ben). Seit dem Un­fall ha­be ich je­doch nicht nur mein Ge­dächt­nis ver­lo­ren. Selbst Go­lo ver­gisst manch­mal, dass ich nicht rie­chen, schme­cken und füh­len kann. Ich se­he und hö­re, das ist al­les. Und für mich ist Ro­man­tik nur ein Wort mit acht Buch­sta­ben.

Da­vid sagt: »Au­ßer­dem er­war­ten wir mor­gen ei­nen wei­te­ren Pa­ti­en­ten. Das Frem­de wird Ih­nen gut­tun. Es rüt­telt auf, in­spi­riert. Al­so: Raus aus der Tau­cher­glo­cke. Hei­ßen Sie Ihren Mit­pa­ti­en­ten will­kom­men. Tun Sie Din­ge, die Sie noch nie ge­tan ha­ben. Und bit­te ge­ben Sie die Hoff­nung nicht auf! Die Stif­tung wird auch wei­ter­hin für Sie da sein und die Kos­ten über­neh­men.«

»Wel­che Stif­tung?«

»Die Gre­ta-Kie­sel­stein-Stif­tung. Er­in­nern Sie sich nicht? Ich ha­be Ih­nen drei Mo­na­te nach Ih­rer Auf­nah­me bei uns davon er­zählt.«

»Tut mir leid. Da ha­be ich nicht zu­ge­hört. Oder es ver­ges­sen.«

Da­vid schaut auf die Uhr. Er kann die Zei­ger se­hen. Ich nicht. Er legt die Hän­de auf sei­ne Ober­schen­kel. »Al­so gut. Nächs­tes Mal in­for­mie­re ich Sie. Ver­spro­chen.«

Da­vid steht auf, das Zei­chen, dass die Stun­de be­en­det ist. »Frau Os­ter­beck, ei­ne Fra­ge ha­be ich noch: Ver­mis­sen Sie et­was? Ein Buch? Bar­geld? Schmuck?«

»Ich ha­be kei­nen Schmuck.«

»Und sonst?«

»Al­les da.«

»Gut. Bit­te pas­sen Sie auf Ih­re Sa­chen auf. Es gibt An­lass zur Be­sorg­nis. Bis in drei Ta­gen!«

Ich tre­te auf den Gang.

Go­lo, war­um willst du mich aus der Kli­nik ho­len?

 

Ich spa­zie­re in Haus Eins

Eine The­ra­pie­stun­de im ge­schlos­se­nen Raum raubt Finn Schna­bel mehr Ener­gie als ein gan­zer Tag mit sei­nen quir­li­gen Hun­den auf dem Übungs­platz. Am See strei­fen Wind und Was­ser un­ge­hin­dert über sei­ne Haut. Er zieht al­le Klei­der vom Kör­per, krault hin­aus, legt sich auf den Rü­cken, schließt die Au­gen und lässt sich trei­ben. Er ge­nießt die Wär­me auf sei­nem Ge­sicht, die Schwe­re­lo­sig­keit und die aus dem Frei­bad her­über­schal­len­den Ru­fe der Kin­der, bis er trotz der Mit­tags­hit­ze in der Strö­mung frös­telt. Er dreht un­ter Was­ser ei­ne Rol­le vor­wärts, schwimmt im Schmet­ter­lings­stil zu­rück an den Strand, hält in­ne und wirft ei­nen lan­gen Blick auf die wohl­tu­en­de Wei­te des Was­sers. Dann trock­net er sich ab und schlüpft in sei­ne kur­ze Jeans. Er mag es, wie der wei­che Stoff über den Kni­en aus­ge­franst ist. Er winkt sei­nem Freund, dem Doc, durch die Schei­be des Be­hand­lungs­zim­mers zu, dank­bar, dass er nur noch in am­bu­lan­ter Be­hand­lung in der Kli­nik ist.

Vor drei Jah­ren war Finn ver­lo­ren im Nir­gend­wo. Er kennt das be­klem­men­de Ge­fühl, nicht zu wis­sen, wie er heißt. Al­les war neu. Frem­de Men­schen er­zähl­ten ihm, dass er kei­ne Ba­na­nen moch­te, dass er Tie­re lieb­te. Ei­ne Frau, an­geb­lich sei­ne Mut­ter, mein­te, er sei ver­hei­ra­tet, aber sei­ne Ehe­frau be­such­te ihn nie. Eben­so gut hät­te je­mand ihm er­zäh­len kön­nen, er züch­te auf dem Mond Rat­ten. Ein Teil sei­nes Ge­hirns war aus­ge­knockt. Dann: Ein paar Mo­na­te Hyp­no­se und – zack! Die Er­in­ne­run­gen flos­sen zu­rück in sei­nen Kopf.

Jetzt kehrt er dem Kli­nik­ge­län­de den Rü­cken, über­quert pfei­fend die Stra­ße, tritt durch das Tor auf den Bür­ger­steig und lacht, als die Hus­ky-Da­me, die Schä­fer­hun­de und die Gol­den Re­trie­ver hin­ter sei­ner zum Haus um­ge­bau­ten Re­mi­se auf ihn zu­stür­men.

 

Am frü­hen Abend fährt er in die In­nen­stadt und setzt sich in ei­nem Ca­fé un­ter ei­nen Son­nen­schirm. Es dau­ert kei­ne zehn Mi­nu­ten, bis ei­ne jun­ge Frau mit Som­mer­spros­sen den Kopf sei­ner Hus­ky­da­me tät­schelt. »Die­se Au­gen. Ist das ein Schö­ner. Wie heißt er?«

»Sie heißt Ja­ckie. Willst du was trin­ken?«

Bar­be­su­che sind nur halb so ef­fek­tiv, und Frau­en sind bei Ta­ges­licht le­ben­di­ger. Sie sich schön trin­ken, lehnt Finn au­ßer­dem ab. Ja­ckie he­chelt freund­lich. Die Frau mit den Som­mer­spros­sen hat ein Wan­gen­grüb­chen und er­zählt von ih­rer Kind­heit auf ei­nem Bau­ern­hof. Sein In­ter­es­se ist nicht ge­spielt. Un­per­sön­li­cher Sex lang­weilt ihn.

»Jetzt bin ich Zahn­arzt­hel­fe­rin, und mei­ne Che­fin hat ei­nen Chi­hua­hua. Aber das ist ja kein Hund.«

»Eher ei­ne Klo­bürs­te.«

Sie prus­tet los, und er sagt: »Mei­ne drei Schä­fer­hun­de, die bei­den Gol­den Re­trie­ver und der Fuchs sind ech­te Ker­le.«

»Wow, wo trai­nierst du sie?«

 

Finn ist mein Kon­trast­pro­gramm. Er könn­te je­den Ben-Be­cker-Ähn­lich­keits­wett­be­werb ge­win­nen – mit dem Schau­spie­ler in sei­nen jun­gen Jah­ren. Al­les ist groß an ihm. Blond und ver­we­gen gibt er als Feu­er­wehr­mann den Neu­zeit­hel­den. Manch­mal be­lau­sche ich zu­sam­men mit Kal­le sei­ne Ge­sprä­che mit Da­vid. Un­ser Kli­nik­lei­ter sagt, Finn ver­steckt sein In­ne­res hin­ter Tap­fer­keit (zehn Buch­sta­ben). Er flucht in ei­ner tie­fen, gut­mü­ti­gen Stimm­la­ge. Wäh­rend ihn die Leu­te ir­ri­tiert mus­tern, schaut er mit der Ge­las­sen­heit ei­nes Bern­har­di­ners in die Welt und zwin­kert mir zu. Wenn er da ist, brau­che ich kei­nen Fern­se­her, kein Ra­dio, kei­ne Zei­tung.

Finn, mein Fens­ter zu den Drau­ßen­menschen, sitzt mit Kal­le im Gar­ten vor dem Ha­sel­nuss­baum. Ich schlen­de­re von der Kan­ti­nen­ter­ras­se über den Ra­sen zu ihm. »Hi«, sa­ge ich, beu­ge mich zu ihm her­un­ter und scan­ne sein Ge­sicht. »Grüß dich, dei­ne Au­gen sind so klein. Hast du zu viel fern­ge­se­hen?«

Finns Ge­sicht wirkt an­ge­strengt, als bräuch­te er Kraft für das Lä­cheln, das er mir schenkt. »Ach Lea, das Le­ben ist ein paar Za­cken schär­fer als je­des Pro­gramm, das dir der Doof­guck vor­gau­kelt.«

»Da­vid meint, ich soll mit dir re­den, weil du mir auf ei­ne be­son­de­re Wei­se na­he­stehst.«

Er blin­zelt. »Oha!«

Ich set­ze mich zu ihm ins Gras.

»Was weißt du über die Gre­ta-Kie­sel­stein-Stif­tung?«

Auf sei­ner Stirn ent­ste­hen zwei Fal­ten. »Re­det Go­lo nicht mit dir?«

»Das hat mich Da­vid auch ge­fragt.«

»Na gut, dann fan­ge ich wohl am bes­ten von vor­ne an: Vor elf Jah­ren hat Frau Gre­ta als stink­nor­ma­le Bi­blio­the­ka­rin ge­ar­bei­tet. Da­vid steck­te in ei­ner tie­fen Sinn­kri­se. Er woll­te in ei­nem Kran­ken­haus al­ter­na­ti­ve Heil­me­tho­den ein­füh­ren und stieß bei den Schul­me­di­zi­nern auf mas­si­ven Wi­der­stand. Als es ihm be­son­ders dre­ckig ging, ver­erb­te ei­ne Ärz­tin der Na­tur­heil­kun­de den Kie­sel­steins ei­ne wert­vol­le Bü­cher­samm­lung und ein paar sehr teu­re Ge­mäl­de. Frau Gre­ta je­doch ver­kauf­te das Zeug und spe­ku­lier­te mit der Hälf­te des Schot­ters zwei Jah­re lang an der Bör­se. Kei­ne Ah­nung, um wel­che Art Ak­ti­en es sich da ge­nau han­del­te. Ich ken­ne mich in die­ser Fi­nanz­bla­se nicht aus, aber eins weiß ich: Das Ver­lust­ri­si­ko lag in ei­nem Be­reich, in den sich kein Mensch hin­ein­wagt, der ein Fit­zel­chen Hirn in der Bir­ne hat. Je­den­falls: Nach dem Ver­kauf der Pa­pie­re ha­ben sie die­se Pri­vat­kli­nik er­öff­net und die Stif­tung ge­grün­det.« Er lacht und schüt­telt sich, als woll­te er et­was los­wer­den. Je­des Mal, wenn er ei­nes die­ser Geld­wor­te aus­s­pricht, schwin­gen sei­ne bei­den Ar­me gleich­zei­tig auf und ab, als wür­de er sei­ne Re­de oh­ne Takt­stock di­ri­gie­ren. Am En­de klatscht er sich auf die Ober­schen­kel und schnaubt wie ein ara­bi­scher Voll­blu­thengst, der in ei­ner en­gen Kop­pel das Gat­ter ein­ge­tre­ten hat.

»Ver­stehst du?«

Ich schütt­le den Kopf.

Finn legt ei­nen Arm um mei­ne Schul­tern. »Will­kom­men im Club der Ah­nungs­lo­sen.«

Ich rü­cke von ihm ab, und er zieht sei­nen Arm weg. »Ent­schul­di­gung.«

»Mhm«, sa­ge ich. Ob­wohl Finn un­ge­fähr so oft sei­ne Freun­din­nen wech­selt, wie er sei­nen Jeep Che­ro­kee in die Waschan­la­ge fährt, ist er kein Grab­scher. Er fasst Men­schen, die ihm et­was be­deu­ten, ger­ne an, und au­ßer mir mag das hier je­der. Die an­de­ren Drin­nen­men­schen ver­mis­sen Kör­per­kon­takt.

»Tja, wie auch im­mer: We­der Da­vid noch ich kön­nen es bis heu­te fas­sen, dass sei­ne Frau ge­sagt hat: ›Ich ha­be ge­träumt, was ich tun soll.‹ Und jetzt sorgt die Gre­ta-Kie­sel­stein-Stif­tung da­für, dass du nicht mit dei­nem heiß ge­lieb­ten Ehe­mann zu­sam­men­woh­nen musst und ich The­ra­pi­en ge­nie­ßen darf, die an­sons­ten für mich un­be­zahl­bar wä­ren.«

»Wie­so soll­te die Stif­tung da­für sor­gen, dass ich hier sein kann?«

Er zieht ei­ne Au­gen­braue nach oben. »Das Pro­gramm für Lang­zeit-Ge­dächt­nis­lo­se? Du weißt nichts davon?«

»Nein.«

»Merk­wür­dig. Ich ha­be zu­fäl­lig auf dem Flur mit­be­kom­men, wie Da­vid dei­nen Mann ge­be­ten hat, es dir zu sa­gen. Ist ewig her. Nach den ers­ten drei Mo­na­ten hat die Stif­tung al­le Kos­ten für dich über­nom­men. Das hät­test du wis­sen müs­sen.«

Als Finn zum ers­ten Mal Lea be­geg­ne­te, war Kal­le noch nicht ge­bo­ren. Sie wa­ren bei­de Ver­wirr­te, ge­flüch­tet in die­se Kli­nik, im Drau­ßen gab es kei­nen Platz mehr für sie. Lea Os­ter­beck war die kras­ses­te Her­aus­for­de­rung, seit der Doc die Pri­vat­kli­nik für Amne­si­e­kran­ke lei­te­te. Selbst Mo­na­te nach ihrem Un­fall re­de­te sie nicht, ihr Ge­sicht blieb starr, die Schul­tern hoch­ge­zo­gen, der Kopf ge­senkt. Ei­ne Papp­ka­me­ra­din, die mit Finn die Mahl­zei­ten teil­te, mit der er in den Grup­pen­the­ra­pi­en saß, mit der er raus­ging und die Mü­cken am See zähl­te. Mann, Mann, Mann, wie oft hat­te er nach ihrem Puls am Hand­ge­lenk oder am Hals ge­tas­tet, nur um zu che­cken, ob sie noch leb­te. Je­der Ge­dächt­nis­lo­se er­in­nert sich ir­gend­wann. Aber sie wirk­te wie ein Neu­ge­bo­re­nes, das je­mand in der Wüs­te aus­ge­setzt hat­te.

Nach vier ge­mein­sa­men Mo­na­ten wur­de Finn aus der Kli­nik ent­las­sen. Seit­dem ist er in am­bu­lan­ter The­ra­pie.

Ein paar Wo­chen spä­ter wur­de er als Feu­er­wehr­mann zu ei­nem un­ge­wöhn­li­chen Ein­satz ge­be­ten. Seit fünf Ta­gen hat­te es ge­reg­net. Der Hei­li­gen­see trat übers Ufer, über­schwemm­te Strand und Ra­sen. Ter­ras­se und Kel­ler blie­ben tro­cken, die Kli­nik­ge­bäu­de ste­hen auf ei­ner An­hö­he. Vor dem Tor glaub­ten er und sein Kol­le­ge noch, es sei ei­ne Ba­ga­tel­le. Al­ler­dings muss­ten sie dann nicht Hun­de aus ei­nem Bau ret­ten, son­dern ei­ne Fuchs­fa­mi­lie. Hun­de hät­ten sie durch ih­re Art­ge­nos­sen auf­stö­bern las­sen kön­nen, aber Füch­se?

Oh­ne Gruß trat Lea da­mals hin­ter der Kas­ta­nie her­vor. Blät­ter quietsch­ten un­ter ihren Gum­mi­stie­feln. Finn nick­te ihr zu. Sie re­agier­te nicht. Kein Blick. Kei­ne Ges­te. Als hät­te sie nicht Mo­na­te mit ihm in die­ser Mei­sen­burg ver­bracht. Der Ost­frie­sen­nerz und der bun­te Stoff ihres Kaft­ans stan­den im Kon­trast zu ihrem Ge­sicht, in dem sich kein Mus­kel be­weg­te. Ei­ne gut ge­schmink­te To­te hät­te le­ben­di­ger aus­ge­se­hen. Die Feu­er­wehr­män­ner leg­ten di­cke Schläu­che in die Er­de, pump­ten das Was­ser aus dem weit­läu­fi­gen Gang­sys­tem. Zum En­de hin blie­ben nur noch Rinn­sa­le, die in den Hei­li­gen­see flos­sen. Finn und der Kol­le­ge steck­ten ih­re Köp­fe in die Lö­cher und horch­ten auf ke­ckern­de Lau­te, auf Quie­ken.

Nichts.

Ne­ben dem al­ten Holz­sta­pel an der Gren­ze zum FKK-Ge­län­de ris­sen sie Brom­beer­sträu­cher aus dem Bo­den und fan­den dar­un­ter ei­ne Drai­na­ge­schicht aus Sand. In der lo­cke­ren Er­de konn­ten sie un­mög­lich Bag­ger ein­set­zen. Der un­ter­ir­di­sche Fuchs­bau wä­re in sich zu­sam­men­ge­fal­len. Sie grif­fen zu Schip­pe und Spa­ten.

Frau Gre­ta ver­sorg­te sie mit hei­ßem Ing­wer­tee.

Lea über­wach­te je­den Hand­griff der Ber­gungs­ar­bei­ten. Nach ei­ner Stun­de bau­ten die Feu­er­wehr­män­ner Schein­wer­fer auf, gru­ben in zwei Me­tern Tie­fe mit ar­chäo­lo­gi­scher Vor­sicht wei­ter und ho­ben Gän­ge aus.

Finn horch­te auf. »Da win­selt ei­ner!«

Sie bud­del­ten und tas­te­ten die Er­de mit blo­ßen Hän­den ab. Nach ei­ner wei­te­ren Stun­de zo­gen sie ei­ne Fuchs­fä­he und fünf Jun­ge her­aus und leg­ten sie aufs Gras. Kei­nes der Tie­re be­weg­te sich.

Finn schluck­te. »Das war’s. Mehr kön­nen wir nicht tun.«

Der Doc un­ter­such­te die trie­fen­den Fell­kör­per, schüt­tel­te fünf Mal den Kopf. Beim sechs­ten – ei­nem klei­nen, rost­far­be­nen Bün­del – stock­ten sei­ne Hän­de. Er wisch­te Blut aus dem Wel­pen­ge­sicht und leg­te das lin­ke Ohr frei. Win­zi­ge Vier-Kral­len-Pfo­ten zuck­ten in der Luft. »Nur ein Riss im Ohr. Das be­kom­men wir hin.«

Finn drück­te zwei Fin­ger auf die wei­ße Brust des Winz­lings. Der Wel­pe spuck­te Was­ser und öff­ne­te die noch blau­en Au­gen. Das Köpf­chen sank kraft­los zur Sei­te. Un­ter sei­ner Hand spür­te Finn mehr ein Zit­tern als ein At­men. Trotz­dem leg­te er Lea den Wel­pen auf die Hän­de. In die­sem Au­gen­blick hät­te er ei­ne Men­ge für ein Zu­cken in ihrem Ge­sicht ge­ge­ben, für ir­gend­ein Zei­chen, das auf ei­ne Ge­fühls­re­gung schlie­ßen ließ. Nach ei­ner Ewig­keit senk­te sie die Na­se in das schmut­zig grau­brau­ne Bün­del. Er grins­te. »Okay, Lea, jetzt päpp­le du den Klei­nen auf, und ich schwö­re dir: Den Wild­fang bil­de ich als dei­nen ganz per­sön­li­chen The­ra­pie­be­glei­ter aus.«

Der Doc lä­chel­te. »Dan­ke, mein Freund.«

»Im­mer wie­der gern.«

Frau Gre­ta fass­te Lea an der Schul­ter. »Kom­men Sie, Lie­bes. Wir brau­chen De­cken, Milch, Ka­mil­len­tee und ei­ne Sprit­ze.«