Leon und der Schatz der Ranen - Band 4 - Eva Maaser - E-Book

Leon und der Schatz der Ranen - Band 4 E-Book

Eva Maaser

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Beschreibung

„Damals war es das Beste für dich, glaub mir“, sagte Jaromir mit ungewöhnlich belegter Stimme. „Im Kloster warst du sicher aufgehoben. Bist es noch.“ Stralsund im Jahr 1334. Leon fischt einen Kasten aus dem Versteck. Sein Großvater, der alte Jaromir, nimmt ihn andächtig entgegen. Eine kleine Figur scheint darin zu sein, die golden schimmert. Etwas Wertvolles? Schon lange gibt es das Gerücht vom Gold der Ranen, jenes alten Volkes, das einst über die Insel Rügen herrschte und dessen Priester in der Festung Arkona einen gigantischen Schatz hüteten. Ist der alte Jaromir der Schlüssel zu diesem Geheimnis? Ein fesselnder Krimi, der das Mittelalter lebendig werden lässt. Jetzt als eBook: „Leon und der Schatz der Ranen“ von Eva Maaser. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

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Seitenzahl: 227

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Über dieses Buch:

Stralsund im Jahr 1334. Leon fischt einen Kasten aus dem Versteck. Sein Großvater, der alte Jaromir, nimmt ihn andächtig entgegen. Eine kleine Figur scheint darin zu sein, die golden schimmert. Etwas Wertvolles? Schon lange gibt es das Gerücht vom Gold der Ranen, jenes alten Volkes, das einst über die Insel Rügen herrschte und dessen Priester in der Festung Arkona einen gigantischen Schatz hüteten. Ist der alte Jaromir der Schlüssel zu diesem Geheimnis?

Eine packende Schatzsuche mit überraschender Wende.

Über die Autorin:

Eva Maaser, geboren 1948 in Reken (Westfalen), studierte Germanistik, Pädagogik, Theologie und Kunstgeschichte in Münster. Sie hat mehrere erfolgreiche Kinderbücher, historische Romane und Krimis veröffentlicht.

Ebenfalls bei jumpbooks erschienen Eva Maasers Kinderbücher:

Kim und die Seefahrt ins Ungewisse Kim und die Verschwörung am KönigshofKim und das Rätsel der fünften TulpeLeon und der falsche AbtLeon und die GeiselLeon und die Teufelsschmiede

***

eBook-Neuausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 2009 SchneiderBuch verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH, Gertrudenstraße 30–36, 50667 Köln

Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: akg-images/J.J. Fugger, Porträtbild: akg-images/J.C. Rößler

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-065-7

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Eva Maaser

Leon und der Schatz der Ranen

jumpbooks

1

Leon blieb an der Tür stehen und lauschte. Durch die angelehnten Klappläden der beiden Frontfenster drang gedämpfter Lärm. Jemand grölte drinnen und wurde durch eine barsche Stimme zum Schweigen gebracht. Beim Klang der Stimme schauderte Leon unwillkürlich. Wie er es hasste, herzukommen! Er zögerte, endlich die Tür zur Gaststube aufzustoßen und einzutreten. Stattdessen spähte er noch einmal umher.

Der Wind wirbelte Dreck die Gasse hinunter.

Die Häuser auf beiden Seiten standen mit ihren Vorderfronten nicht in einer geschlossenen Reihe, sondern hier und da taten sich Lücken und Nischen auf. Bildete es sich Leon ein, oder drückte sich da nicht eine Gestalt in so eine Lücke? Gerade hatte er gemeint, zwei Häuser weiter den Schatten eines kräftigen Mannes verschwinden zu sehen. Aber wer sollte sich hier herumtreiben und wie er zögern, die Kaschemme des alten Jaromir zu betreten?

Unwillig schüttelte Leon den Kopf. Je länger er hier draußen stand, desto mehr überkam ihn Verzagtheit. Schlechte Voraussetzung für das, was ihm drinnen bevorstand.

Mit einem tiefen Seufzer drückte er die Tür auf.

Als hätte er ihm aufgelauert, schlurfte der alte Jaromir sofort hinkend auf ihn zu: ein fetter alter Mann, das Gesicht teigig grau mit schlaffen Hängebacken und scharfen dunklen Augen, denen kaum etwas entging. Wie ein einziges Verhängnis streckte der Alte die Hand nach Leon aus, um ihn wie einen streunenden Köter im Nacken zu packen.

Wenn Leon etwas verabscheute, dann so angefasst zu werden. Mit einer knappen Drehung trat er zur Seite, wurde aber im nächsten Augenblick rüde am Arm gepackt.

»Du kommst spät. Wie immer!«, raunzte Jaromir. »Der feine Klosterpinkel hat es nicht nötig, der Aufforderung seines Großvaters Folge zu leisten, es sei denn, jemand zwingt ihn dazu. Ich hab Gernod schon vor vier Tagen gesagt, er soll dich herschicken. Warum kommst du jetzt erst?«

Jaromir stank. Er stank wie jemand, dem die Sachen am Leib vor Dreck verfaulten. Und der sich nie wusch. Widerlich. Aber es war nicht der Dreck, der Leon so abstieß. Würde Jaromir es nie lernen, ihn anders als grob zu behandeln? Nur in ganz seltenen Momenten ließ er in seinem Verhalten ihm gegenüber ein bisschen menschliche Wärme aufkommen, die er aber so rasch unterdrückte, als wäre sie ihm peinlich.

»Du hast nicht gesagt, dass es dir eilig ist«, antwortete Leon kühl.

»Werd nicht frech!« Die Hand hob sich von seinem Arm, Leon wich einer Bewegung aus, die sicher in einer schallenden Ohrfeige geendet hätte.

»Ich bin jetzt hier, aber wenn du mich nur anschnauzen und schlagen willst, geh ich sofort wieder.« Er war dreizehn, kein Kind mehr, das man herumschubsen konnte. Sehr wohl war ihm aber bewusst, dass es Jaromir mühelos gelang, selbst voll erwachsene Männer einzuschüchtern.

Der Alte zeigte sich wenig beeindruckt von Leons Entgegnung. Er packte ihn wieder am Arm und zerrte ihn, ohne innezuhalten, durch die Gaststube. »Wir reden gleich miteinander, du Früchtchen. In aller Ruhe.«

Jaromir bellte dem Knecht, der an den langen Tischen die Gäste bediente, ein paar Befehle zu und schob gleichzeitig Leon durch eine Tür ins Hinterzimmer. Die Decke wurde von schwarz gebeizten Balken unterteilt, und eine Wand bestand ganz aus Holz. Flüchtig dachte Leon an das, was sich dahinter verbarg: Ein Geheimausgang.

Das Zimmer war spärlich mit einem schweren quadratischen Eichentisch und zwei Armlehnstühlen möbliert. Leon ließ sich unaufgefordert in den einen sinken. Jaromir nahm gegenüber in dem anderen Platz und starrte seinen Enkel stumm und intensiv an, bis die Tür aufschwang und der Knecht mit einem beladenen Tablett hereintrat. Er brachte Humpen mit schäumendem Bier, einen Teller mit duftendem frischem Brot und aufgeschnittenem kaltem Braten herein. Leon langte sofort zu. Obwohl  er im Kloster zu Abend gegessen hatte, übermannte ihn beim Anblick der köstlichen Speisen sofort Verlangen. Und er wusste, dass Jaromir es gern sah, wenn er Appetit zeigte.

Mochte der Wirt ungepflegt sein und schlimmer stinken als eine Rotte von Schweinen, in seinem Gasthaus wurde man geradezu fürstlich bewirtet. Alles war von außergewöhnlicher Qualität. Kein Wunder also, dass seine Kneipe Abend für Abend rappelvoll war. Leon stutzte mit vollem Mund. Irgend etwas stimmte nicht. Er wollte gerade dem Gedanken nachgehen, als Jaromir die Hand auf die Tischplatte klatschte.

»Stopf dich nur voll«, grummelte er. »Hab ja immer gedacht, die füttern dich anständig im Kloster, aber ich hab mich wohl geirrt.«

»Freut mich«, nuschelte Leon mit vollem Mund, »dass du dir Sorgen um mein Wohlergehen machst. Hätte ich nie vermutet. Kam das ganz plötzlich?«

Ein Schatten trübte Jaromirs Blick, dann wurden seine Augen wieder klar und funkelnd. »Ja, mach dich nur lustig über deinen alten Großvater«, knurrte er.

»Ach, übrigens«, sagte Leon beiläufig und schluckte einen großen Brocken hinunter, »machst du heute auf Großvater? Ist das sicher?«

Vielleicht war er jetzt doch zu weit gegangen.

Jaromirs Blick wurde steinhart, seine ganze Miene verfinsterte sich derart, dass es Leon kalt überlief.

»Nur weiter so, Junge. Vielleicht erwürge ich dich noch, das erspart sicher vielen eine Menge Ärger. Und glaub nicht, dass mich allzu viele Hemmungen plagen.« Es klang nicht wie eine leere Drohung, das war das Erstaunliche.

Leon schob den Teller von sich, ihm war der Appetit vergangen. Er nahm noch einen Schluck aus dem Humpen und stellte dann auch ihn beiseite. Auf einmal schmeckte das Bier seltsam schal. Die Hände auf der Tischplatte gefaltet, sagte er so ruhig und nüchtern, wie er konnte: »Also was ist? Warum sollte ich herkommen?«

Jaromirs Blick wandte sich von ihm ab. Eine ungemütliche Pause entstand und gerade, als Leon das Schweigen nicht länger hätte aushalten können, sprach der Alte endlich.

»Es geht um deine Zukunft.«

Leon war baff. »Meine ... Zukunft?«, stotterte er unbehaglich. »Was hast du damit zu tun?« Plötzlich überkam ihn grenzenlose Furcht. Brauchte ihn der Alte etwa für seine Kneipe? Als Schankknecht? Die Aussicht verschlug ihm geradezu den Atem. Unter der Fuchtel des schmierigen Jaromir würde er es nicht einmal einen Tag lang aushalten.

»Was ich damit zu tun habe? Ich bin dein Großvater«, blaffte der Alte.

Leon ballte die Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß hervortraten. Mühsam beherrschte er seine Stimme. »Das hatten wir bereits. Immer, wenn es dir in den Kram passt, erinnerst du dich daran, dass ich dein Enkel bin. Aber als vor vier Jahren mein Vater starb, hast du keinen Finger für mich gerührt. Du hast mich dem Katharinenkloster und den Mönchen überlassen und warst wahrscheinlich heilfroh, keinen Pfennig für mich rausrücken zu müssen. Du hast sogar ausdrücklich erklärt, dass du weder mit mir verwandt noch für mich verantwortlich bist.«

Leon war der Sohn von Swinefoot, dem ehemaligen Schweinehirten des Klosters, und Jaromirs Tochter Elena. Nie hatte er es seiner Tochter verziehen, dass sie mit Swinefoot, einem stadtbekannten Säufer, durchgebrannt war, um sich heimlich trauen zu lassen. Jaromir hatte die Rechtmäßigkeit der Heirat erfolgreich angefochten. Daher war Leon von unehelicher, das hieß unehrlicher Geburt: Offiziell war er nicht mit seinem Großvater verwandt und hatte in seiner Heimatstadt Stralsund keinerlei bürgerliche Rechte.

Weder nach dem Tod seiner Tochter, noch nach dem Tod von Swinefoot hatte sich Jaromir um seinen einzigen Enkel gekümmert. Es war diese absolute, jahrelange Nichtbeachtung, ja Verleugnung, die Leon so schmerzte und verbitterte. Dieser Großvater war ein Rabenaas.

»Damals war es das Beste für dich, glaub mir«, sagte Jaromir mit ungewöhnlich belegter Stimme. »Im Kloster warst du sicher aufgehoben. Bist es noch.« Plötzlich wurde er ungehalten. »Und was heißt, ich hätte keinen Pfennig für dich ausgegeben? Wer, glaubst du, hat all die Jahre für deinen Unterricht bezahlt? Und alles andere?« Jaromirs Blick, der sich wieder auf seinen Enkel richtete, wurde stechend. »Denkst du etwa, die Mönche haben sich aus reiner Barmherzigkeit deiner angenommen? Dann bist du ein größerer Esel und Träumer, als ich dachte.«

»Du lügst«, entgegnete Leon hasserfüllt und wusste im selben Augenblick, dass er unrecht hatte.

»Ach ja? Frag Gernod, ich hab das Geld ihm gegeben, er hat’s gern genommen.« Ein lauernder Ausdruck trat in Jaromirs Augen und verschwand sofort wieder. »Gut angelegtes Geld«, fuhr er rasch fort, als wäre er sich gerade eines Fehlers bewusst geworden. »Gegen die Erziehung, die dir Bruder Gernod und Bruder Willibrod haben angedeihen lassen, ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Du weißt, ich schätze die beiden. Sie hätten nicht mehr für dich tun können ...« Der Alte begann zu schwafeln, und einen Augenblick hörte ihm Leon nicht mehr zu.

Jaromir war dabei, seine Welt zu zerstören und in den Dreck zu treten. Gernod und Willibrod hatten demnach nicht mehr getan als das, wofür man sie bezahlt hatte. Und er hatte die beiden Mönche für seine Freunde und Beschützer gehalten, selbstlos, bescheiden, immer aufrichtig und nicht an weltlichen Gütern interessiert.

»... und deshalb ist es an der Zeit, dass du dich für das Kloster entscheidest. Für immer. Hörst du mir überhaupt zu?«, brauste Jaromir auf.

»Was?« Leon schrak zusammen.

»Ich habe gesagt«, zischte Jaromir aufgebracht, »dass es Zeit für dich ist, ins Kloster einzutreten. Als Novize. Du bist dreizehn, fast vierzehn und hast genug Latein gelernt. Es wird Zeit, eine Entscheidung fürs Leben zu treffen.«

»Anscheinend ist die Entscheidung ja schon gefallen.« Leon wollte aufstehen, ihn schwindelte auf einmal.

Jaromir langte über den Tisch und hielt ihn fest. »Glaub ja nicht, dass du hier den Aufsässigen spielen kannst. Du weißt genau, wie geringe Chancen du in dieser Stadt auf einen anständigen Beruf hast. Oder willst du zu mir in die Kneipe?«

Leon hatte das Gefühl, einen Tritt in den Magen zu bekommen.

Jaromir lachte scheppernd. Der Abscheu, der Leon deutlich ins Gesicht geschrieben stand, amüsierte ihn. »Nein, das willst du nicht. Hab ich mir gedacht. Also, an Martini wirst du ins Noviziat aufgenommen. Und glaub mir, das ist kein schlechtes Leben. Ich wünschte mir, ich hätte Chancen wie du gehabt. Aber mir sind all diese Wege versperrt geblieben.«

»Wieso?«, fragte Leon automatisch, ohne es wirklich wissen zu wollen. Er hatte sich noch nie Gedanken über die Vergangenheit seines Großvaters gemacht. Er wusste nicht einmal, woher genau er stammte. Irgendwo aus dem Osten. Leon war noch sehr klein gewesen, als seine Mutter starb, und so hatte er sie nie nach diesen Dingen fragen können, und seinen Vater hatten sie nicht interessiert.

Eine bleierne Müdigkeit hatte ihn ergriffen, er stand nun doch auf. »Dann ist ja alles klar so weit«, murmelte er schwerfällig. »Ich nehme an, Gernod wird sich freuen.«

Jaromir kam auf die Füße, watschelte um den Tisch herum und legte Leon seine breite, fleischige Hand gewichtig in den Nacken. Willenlos ließ er es geschehen. »Er wird entzückt sein. Und dir wird es gut gehen. Glaub mir, Leon, ein sicherer Platz im Leben ist mehr wert als alles Gold der Welt.«

»Ich hab gedacht, ich hätte noch Zeit mit der Entscheidung. Warum jetzt so eilig?« Leon hörte sich mit matter Stimme fragen, innerlich weit weg, als ginge es nicht um seine eigene Zukunft.

»Weil«, Jaromirs Stimme wurde leiser, »weil ich vielleicht bald nicht mehr hier bin und ich diese Sache mit dir geregelt haben will.«

Leon wandte sich um, sodass er seinem Großvaters von unten ins Gesicht spähen konnte. Eine verschlossene Miene, die, wenn überhaupt etwas, dann einen Schimmer von Furcht ausdrückte. Nur war Furcht eine Regung, die Leon nie bei seinem Großvater erwartet hätte. Allenfalls flößte dieser anderen Angst ein, und das gründlich.

2

Der übliche Lärm in der Gaststube drang nur gedämpft an Leons Ohren, als er an den langen Tischen vorbei zur Tür ging. Draußen empfingen ihn kühle Luft und die hereingebrochene Dunkelheit. Die Gasse lag verlassen da – oder doch nicht? Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Bewegung, gab aber nichts darauf. Anscheinend lungerte da immer noch jemand um das Gasthaus herum und konnte sich nicht aufraffen, einzutreten.

In sich versunken und noch völlig im Bann des Gesprächs mit seinem Großvater, stolperte Leon unsicher weiter. Wohin jetzt?

Nach Hause? Das Kloster war nicht mehr sein Zuhause, das spürte er. Aber bald würde es auf ewig sein Gefängnis sein, mahnte eine Stimme in seinem Kopf. Ganz ohne bewusste Entscheidung lenkte er seine Schritte zum Neuen Markt, einem großen, rechteckigen Platz, den einige prächtige Häuser säumten. Eines der größten Anwesen war das des Vogts Witzlaf. Seine Tochter Anna war Leons Freundin. Beim Gedanken an Anna fühlte er sich einen winzigen Augenblick besser, versank aber gleich darauf in noch tiefere Trübsal. Es war schon einige Wochen her, dass er Anna gesehen und mit ihr gesprochen hatte.

Unschlüssig musterte er das geschlossene Tor in der Mauer, die das Anwesen umgab. Kein wirkliches Hindernis. Wenn er gewollte hätte, hätte er sich Zutritt verschaffen können. Aber es würde auch diesmal keinen Sinn haben, in den Garten einzudringen, zur Rückseite des Wohnhauses zu schleichen und einen Eulenruf auszustoßen, das Signal, das Anna verriet, wer draußen auf sie wartete. Es war, als ob Anna verschwunden wäre, aus der Stadt und – ein eiskalter Schreck durchfuhr Leon – aus seinem Leben.

Hinter ihm wurden Stimmen laut. Langsam wandte er sich um. Zwei junge Männer torkelten untergehakt über den Platz.

»Pack, sag ich, die ganze Stadt ist voller Pack, wir sollten endlich aufräumen!«, schrie der Größere der beiden. Sie kamen näher. Stocksteif blieb Leon stehen.

»Na, gehörst du auch zum Wendenpack?«, fragte der eine und legte mit herausfordernder Geste die Hand an das Messer in seinem Gürtel.

»Ach, lass ihn in Ruhe, das ist nur ein Junge, und überhaupt«, sagte der andere ärgerlich. Anscheinend ging ihm das Geschrei seines Kumpans gegen den Strich.

»Was heißt hier nur ein Junge?«, empörte sich der erste wieder. »Schau ihn dir an. Er hat schmutziges Blut in den Adern, das sehe ich von hier aus. So beduselt kann ich gar nicht sein, um das nicht zu sehen.«

Verächtlich musterte Leon die beiden. Reiche Bürgersöhne, die sich Abend für Abend betranken und dann Händel auf der Straße suchten. Der eine wenigstens, der andere wirkte nur ein wenig angeheitert. Wenn es hier Pack gibt, dachte Leon, dann gehören die beiden dazu.

Ein Karren rumpelte auf den Platz.

»Urgh!« Der eine Mann machte eine Geste, als ob er sich gleich übergeben würde, der andere zog ihn hastig mit sich fort.

Leon starrte den Karren an und die drei Leute, die ihn begleiteten. Es waren Racker. Schon der durchdringende Gestank verriet, was sich in den Bottichen auf dem Karren befand. Sicher waren sie jetzt bis zum Rand voll, nachdem die Racker die Kübel in den öffentlichen Toiletten geleert hatten. Das geschah jede Nacht im Schutz der Dunkelheit, wenn sich kaum noch jemand auf der Straße aufhielt und sich von dem schmutzigen Gewerbe angewidert fühlen konnte. Die Rackerei, wo der Unrat abgeladen wurde, befand sich einige Gassen entfernt an der Stadtmauer, in einem der Armenviertel. Dort störte sich niemand am Gestank, der aus den Gruben aufstieg. Hier wurden nicht nur Exkremente gesammelt, sondern auch Tierkadaver und aller Abfall, der sonst die Stadt verpestet hätte.

Racker oder Abdecker, dachte Leon, das wäre doch noch was für mich. Vielleicht nehmen sie mich auch ohne Bürgerrechte, denn irgendjemand muss die Scheiße wegräumen. Warum nicht ich? Henker kann ich nicht werden, nicht mal Henkersknecht, so einen wie mich nehmen auch die nicht.

Mit jeder weiteren Überlegung krampfte sich sein Inneres mehr zusammen. Sein ganzer Körper wurde steif und schmerzte. So war das also, wenn man nirgendwo hingehörte. Wenn man so gänzlich überflüssig war.

Die Racker zogen mit ihrem Karren an ihm vorbei und warfen ihm gleichmütige Blicke zu. Er riss sich zusammen und bot ihnen eine gute Nacht.

Erstaunt grinste einer der drei und stieß seinen Nebenmann an. »Hast du das gehört? Hast du das wirklich mitgekriegt? Ein Bürger dieser Stadt nimmt höflich Notiz von uns. Vonuns! Das ist ja wie ein Geschenk zu Weihnachten. Diese Nacht muss ich mir merken.«

Leon wartete, bis die drei samt Karren verschwunden waren, und trollte sich dann in Richtung Kloster. Er konnte ja nirgendwo anders hin.

3

Die Klosterpforte war bereits geschlossen, und Leon musste den Pförtner rufen, der ihn mit einer grämlichen Rüge über sein spätes Auftauchen einließ. Einer der älteren Brüder versah gerade den Dienst, einer, der gern bei jeder Gelegenheit ermahnte. Normalerweise hätte Leon die Rüge ungerührt über sich ergehen lassen, aber diesmal verstärkte sie die furchtbare Laune, in der er sich ohnehin schon befand. Und als wäre das noch nicht genug, erspähte er im ersten Klosterhof, den er rasch durchqueren wollte, Cellerar Arnulf – den eifersüchtig über alle Schätze und Vorräte wachenden Klosterverwalter, der von Anfang an eine besondere Abneigung gegen Leon gefasst hatte. Arnulf stand gut sichtbar mitten im Hof, ins Gespräch mit dem Novizenmeister vertieft, Bruder Remigius, genannt die Keule. Alle Novizen fürchteten sich vor dem Mann, der nicht zögerte, die angehenden Klosterbrüder wegen der geringsten Vergehen grün und blau zu schlagen. Obwohl er bisher nichts mit ihm zu tun gehabt hatte, flößte der hünenhafte Kerl Leon jedes Mal, sobald er ihn sah, ein mächtiges Unbehagen ein. Und diesem Remigius würde er unterstellt sein, sobald er ins Noviziat eintrat.

Da standen die beiden, die sein zukünftiges Schicksal bestimmen würden, er hätte es nicht besser treffen können. Oder nicht schlechter. Ein ganz und gar unerwünschtes Schwächegefühl überkam ihn. Leon schüttelte sich und schlich durch den Kreuzgang, der sich um den Hof herumzog, darauf bedacht, bloß nicht bemerkt zu werden.

»Wer ist da?«, bellte Remigius.

Sie hatten ihn gesehen! Niemand außer den Mönchen selbst hatte um diese Stunde noch etwas im ersten Hof, dem Klausurhof, oder dem umlaufenden Kreuzgang zu schaffen. Und die gewöhnlichen Mönche schliefen sicher längst eine Treppe höher im Dormitorium. Leon erstarrte. Wie dumm, dass er nicht einen anderen Weg gewählt hatte. Remigius stemmte die mächtigen Pranken in die Hüften, beugte sich vor und spähte zu ihm herüber. Der Mond schien hell in den Hof, aber der größte Teil des Kreuzgangs, vor allem dort, wo Leon wie angewurzelt stehen geblieben war, lag im Dunkeln.

»Tritt vor! Wird’s bald! Ich kenne dich, du missratener Sohn einer allzu weichen Mutter und eines Vaters, der es an Zucht hat fehlen lassen.«

Sohn einer allzu weichen Mutter? Woher sollte Remigius ... Leons Gedanken überschlugen sich. Hatte ihn Remigius wirklich erkannt?

»Ich werde dich lehren, dich über die Regeln hinwegzusetzen!«

Remigius hatte ihn nicht erkannt, er hielt ihn für einen Novizen, der sich unerlaubt hier herumtrieb, und freute sich offenbar bereits auf die schlagkräftige Ermahnung. Leon tappte behutsam an der Wand entlang auf das Ende des Gangs zu, den Blick unverwandt in den Hof gerichtet. Der Novizenmeister war nicht älter als Mitte dreißig, groß, kräftig und ausgesprochen sportlich. Im Klosterhof befanden sich die Gräber der verstorbenen Mönche, ihre schlichten, niedrigen Grabsteine standen um ein Holzkreuz in der Mitte, nur schmale, winklige Pfade führten durch die Reihen. Remigius raffte seine Kutte und sprang über den ersten Stein hinweg. Leon gab das Versteckspiel auf und rannte los, auf die Deckung vertrauend, die ihm die Schattenzonen im Gang gewährten.

Das Ende des Ganges kam immer näher, aber die Geräusche aus dem Hof verrieten, dass sein Verfolger dabei war, ihm quer über die Gräber den Weg abzuschneiden. Leon war es, als würde er um sein Leben rennen. Er würde es nicht schaffen, er würde der Keule in die Hände fallen als Vorgeschmack auf sein künftiges ...

»Remigius!«, rief Arnulf scharf. »Was, in Gottes heiligem Namen, fällt dir ein? Du entehrst die Toten!«

Abrupt stockten die Schritte und Sprünge im Hof. Die kurze Pause genügte Leon, um am Ende des Ganges durch die Tür in den Empfangssaal zu stürzen. Als er den Saal verließ und in den zweiten Hof hastete, wusste er, dass Remigius ihm nicht mehr nachkam, der Cellerar hatte ihn wirksam gestoppt. Zum ersten Mal war er dem sauertöpfischen Arnulf richtig dankbar.

Eigentlich hatte er sich direkt in seine Unterkunft am Wirtschaftshof flüchten wollen, in die Kammer, die er sich mit drei Knechten teilte. Aber nun war er so außer sich, dass ihm die Vorstellung, noch irgendjemandem zu begegnen – und sei es nur einem schläfrigen Knecht –, zutiefst zuwider war. Niemand sollte bemerken, wie furchtbar er sich fühlte. Verraten und verkauft. Er musste allein sein, sich in Gedanken sammeln, seine Ängste in den Griff bekommen, die ihn sonst auffressen würden.

Er schlüpfte durch eine kleine Pforte in den Klostergarten. Die Beete quollen über vor letzten Blumen und Samen tragenden Stauden und Büschen. Erntezeit. Die schönste Zeit im Garten, wie Bruder Willibrod, der Gärtner, nie müde wurde, festzustellen. Willibrod und Gernod, der Apotheker und Arzt des Klosters, waren die Herren des Gartens, dies hier war ihr Reich. Und bislang war es auch Leons gewesen. Hier hatte er von Willibrod das Ziehen und Pflegen der Pflanzen gelernt und von Gernod die Verwendung als Heilmittel. Hier hatte er mit den beiden Mönchen eine verschworene Gemeinschaft gebildet.

Er hätte nicht herkommen sollen.

Sein Elend wuchs hier ins Riesenhafte, es war nicht mehr auszuhalten.

Aus einem der Fenster der Apotheke fiel Licht. Also war Gernod noch auf. Wahrscheinlich kochte er einen Absud oder sortierte getrocknete Kräuter oder notierte sich eins seiner Rezepte für die geradezu Wunder wirkenden Heilmittel. Vom Früh- bis zum Spätherbst reichte die Zeit fast nie für all die Aufgaben, die sich aus der Kräuterernte ergaben.

Bisher hatte Leon die Möglichkeit, für immer ins Kloster einzutreten und vielleicht einmal Gernods Nachfolger zu werden, für durchaus nicht unerfreulich gehalten. Er liebte die Gartenarbeit und die Arbeit in der Apotheke. Aber bisher war es nur eine Möglichkeit. Ein Gedanke, mit dem er spielen konnte. Und bislang hatte er nicht über die unangenehmen Seiten nachgedacht. Über Remigius zum Beispiel. Und da gab es noch ein paar andere, schwerwiegendere.

Leon war immer näher an den kleinen Steinbau herangerückt, der die Apotheke beherbergte. Jetzt hatte er eins der Fenster erreicht, dessen Laden nur nachlässig angelehnt war.

Gernod war nicht allein, er sprach mit jemandem.

» ... und diesmal ist es wirklich der Richtige?«, fragte Gernod.

Ein tiefer Seufzer war als Antwort zu hören.

»Das klingt, als wärst du dir doch nicht ganz sicher.«

»Es war nur die Erleichterung, die mich so seufzen ließ. Als Vater leidet man halt, wenn das Kind leidet. Oh ja, gegen Thorstad von Poseritz ist nichts einzuwenden, beim besten Willen nicht. Er ist von untadeliger Herkunft, vermögend, zwanzig Jahre alt, kräftig, klug, ehrenwert bis in die Fingerspitzen, und er liebt Anna jetzt schon.«

Leons Herzschlag setzte aus und mit einem schneidenden Schmerz wieder ein. Beide Hände auf die Brust gepresst, krümmte er sich. Die Stimme, die er da gerade hörte, war die von Vogt Witzlaf, und es gab keinen Zweifel, worüber er sprach. Er hatte den passenden Ehemann für Anna gefunden.

Leon mochte es nicht glauben, er konnte es nicht glauben. Niemand konnte Anna so lieben wie er, und sie erwiderte diese Liebe, dessen war er sich absolut sicher. Er und sie gehörten zusammen. Anna würde zu diesem Thorstad nie ja sagen.

Eine kleine Pause im Gespräch entstand.

»Und Anna?«, fragte Gernod dann behutsam nach. »Was sagt deine Anna dazu?«

Anna hatte Goldhaare, sie war das schönste Mädchen, das Leon kannte, ohne weiteres konnte er sich ihr liebliches Gesicht ins Gedächtnis rufen, jeden Zug darin, ihr schmelzendes Lächeln, den Blick aus ihren blauen Augen, er meinte ihren weichen, nachgiebigen Körper zu spüren, so wie vor einigen Monaten, als er sie hier im Garten in den Armen gehalten hatte. Seine Anna, nicht Witzlafs. Wie konnte Witzlaf über seine Anna verfügen? Sie waren gleich alt, er und Anna, am selben Tag geboren, und sie hatten das immer als Fingerzeig Gottes für ihre Verbundenheit gesehen.

Niemand, nicht einmal Gott selbst, konnte das Band zwischen ihm und ihr zerschneiden.

»Anna ist einverstanden«, sagte Witzlaf nach einem winzigen Zögern. »Oh ja, sie ist einverstanden«, wiederholte er lebhafter, »sie mag Thorstad, sie hat es mir selbst gesagt, ohne jeden Zwang.«

»Wie schön«, murmelte Gernod mit verhaltener Freude, »das haben wir gewollt, nicht wahr?«

Wieder schwiegen die beiden einen Moment. Die Redepausen begannen gewaltig an Leons Nerven zu zerren. Jede Faser seines Körpers war von einer beißenden Unruhe erfüllt, während er das Gefühl hatte, dass sich ein riesiger Mühlstein auf sein Herz legte, sodass es immer schwerer schlug.

»Es war eine Kinderfreundschaft, nichts weiter«, begann Witzlaf unbehaglich. »Das wissen wir doch. Verzicht gehört zum Erwachsenwerden dazu, das wird er noch einsehen, auch wenn es jetzt schwer ist.«

Dem Klang nach bewegte sich Witzlaf auf die Tür zu, anscheinend war er im Begriff, zu gehen.

Sie sprachen von ihm, erkannte Leon blitzartig. Und was kam nun? Brachten sie bei ihm auch alles so hübsch auf die Reihe wie bei Anna?

»Den Kummer hätte ich ihm gern erspart, glaub mir. Aber sein Weg ist nun mal ein anderer«, fuhr der Vogt mit dem gleichen Unbehagen fort. Es klang, als wollte er bei Gernod um Verständnis für eine unvermeidliche Unannehmlichkeit bitten.

»Sorg dich nicht um ihn, das ist unsere Aufgabe«, entgegnete Gernod ernst.

Oh ja, eine gut bezahlte, dachte Leon verbittert. Es wurde Zeit, dass er in Deckung ging. Um alles in der Welt wollte er sich nicht beim Lauschen erwischen lassen, nicht bei diesem entsetzlichen Gespräch.

Es war beinahe schon zu spät. Die Tür schwang knarrend auf. Mit einem verzweifelten Satz hechtete Leon hinter einen Salbeibusch und drückte sich flach auf die Erde. Wenn doch bloß der Mond nicht so hell schiene!

»Wirst du mit Leon reden?«, fragte Witzlaf besorgt.

»Ja, sicherlich. Und ich werde für Anna beten.«

»Und über euer Vorhaben reden wir noch, über die Einzelheiten. Hat ja noch ein, zwei Tage Zeit. Ich geb dir Bescheid. Es trifft sich wirklich gut, dass ihr es gerade jetzt wahr machen wollt.«

Welches Vorhaben? Ging es um sein – Leons – Noviziat? Bis Martini waren es aber mehr als ein, zwei Tage. Wie niederträchtig, so über seinen Kopf hinweg zu entscheiden. Alle waren sich anscheinend einig.