Tatort: Deutschland - Drei Krimis in einem E-Book - Eva Maaser - E-Book
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Tatort: Deutschland - Drei Krimis in einem E-Book E-Book

Eva Maaser

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Beschreibung

Nervenkitzel hat viele Seiten – dieses Buch zeigt sie alle: Der fesselnde Krimi-Sammelband „Tatort: Deutschland“ jetzt als eBook bei dotbooks. Ein grauenhafter Fund erschreckt eine Kleinstadt in Westfalen – und das ist erst der Auftakt zu einem mörderischen Wettlauf gegen die Zeit … In Neustadt an der Weinstraße freut sich ein Kommissar auf entspannten Dienst und schöne Feierabende – wird aber mit Verbrechen konfrontiert, die er nie für möglich gehalten hätte … Und im idyllischen Neuburg an der Donau findet man die Leiche einer jungen Frau – die Spur, der ein neugieriger Journalist bald folgt, führt weit in die deutsche Vergangenheit zurück und zu einem Geheimnis, das niemals gelüftet werden sollte … Drei Städte, drei Ermittler, drei spannungsgeladene Krimis, die zeigen: Die Deutschen sind nicht nur das Volk der Dichter und Denker, sondern auch der eiskalten Morde und menschlichen Abgründe! Jetzt als eBook kaufen und genießen – die Spannungs-Anthologie „Tatort: Deutschland“ mit den Kriminalromanen „Das Puppenkind“ von Eva Maaser, „Der Tote aus der Metzgergasse“ von Günter Werner und „Das Neuburg-Rätsel“ von Roman Breindl. Wer liest, hat mehr vom Leben! dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 1031

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Über dieses Buch:

Ein grauenhafter Fund erschreckt eine Kleinstadt in Westfalen – und das ist erst der Auftakt zu einem mörderischen Wettlauf gegen die Zeit … In Neustadt an der Weinstraße freut sich ein Kommissar auf entspannten Dienst und schöne Feierabende – wird aber mit Verbrechen konfrontiert, die er nie für möglich gehalten hätte … Und im idyllischen Neuburg an der Donau findet man die Leiche einer jungen Frau – die Spur, der ein neugieriger Journalist bald folgt, führt weit in die deutsche Vergangenheit zurück und zu einem Geheimnis, das niemals gelüftet werden sollte …

Über die Autoren

Eva Maaser, geboren 1948 in Reken (Westfalen), studierte Germanistik, Pädagogik, Theologie und Kunstgeschichte in Münster. Sie hat mehrere erfolgreiche Krimis, historische Romane und Kinderbücher veröffentlicht.

Günter Werner, Autor und freier Journalist, begann seine Karriere beim »Pfälzer Tagesblatt«, bevor er 32 Jahre als Redakteur in Neustadt und Landau bei der bekannten Tageszeitung »Rheinpfalz« tätig war. In seine Pfalz-Krimis rund um Kommissar König fließen sowohl seine journalistischen Erfahrungen als auch seine Liebe zur pfälzischen Heimat ein.

Roman Breindl, geboren 1967 in Pinneberg bei Hamburg, wuchs in einem verschlafenen Münchner Vorort auf. Mit 15 lernte er die Lebenselixiere Billard, Bier und Johnny Cash kennen. Dann war er zwei Jahre lang Hauptgefreiter in der damals größten deutschen Männer-WG. Später verkündete Breindl in einer oberbayerischen Kleinstadt in der dortigen Tageszeitung den Bürgern die Wahrheit über Umgehungsstraßen und Tennisvereinsheime. Als nur noch Platz für einen von beiden in der Stadt war – Breindl oder Wahrheit – zog er nach München, wo er heute noch lebt.

***

Originalausgabe März 2018

Copyright © der Anthologie-Originalausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Eva Maaser, DAS PUPPENKIND: Copyright © der Originalausgabe 2000 by Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin; Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Günter Werner, DIE TOTE AUS DER METZGERGASSE: Copyright © der Originalausgabe 2016 Verlag Markus Knecht, Landau; Copyright © der eBook-Lizenzausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Roman Breindl, DAS NEUBURG-RÄTSEL: Copyright © 2012 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Hilden Design, München (www.hildendesign.de) unter Verwendung eines Bildmotivs von Shutterstock.

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-262-7

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TATORT: DEUTSCHLAND

Drei Krimis in einem eBook:   DAS PUPPENKIND von Eva Maaser DIE TOTE IN DER METZERGASSE von Günter Werner DAS NEUBURG-RÄTSEL von Roman Breindl

Inhalt

Eva Maaser DAS PUPPENKIND

Günter Werner DIE TOTE AUS DER METZGERGASSE

Roman Breindl DAS NEUBURG-RÄTSEL

Lesetipps

Eva Maaser DAS PUPPENKIND

Kriminalroman

Ein grauenhafter Fund schockiert die kleine Stadt in Westfalen: Vor einem Kaufhaus wird in einem Kinderwagen die Leiche eines Säuglings entdeckt – zurechtgemacht wie eine Puppe. Wer ist zu einem solchen Verbrechen fähig? Kommissar Rohleff beginnt zu ermitteln: Woher kommt das tote Baby, wer sind die Eltern? Hinweise lassen vermuten, dass es sich bei dem Täter um eine Frau handelt. Doch bevor Rohleff mehr herausfinden kann, wird ein sechs Monate alter Junge entführt – das nächste Opfer der Puppenmacherin? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

13. November

Tiefhängende Wolken, konturenlos ineinandergeschoben, ließen an keiner Stelle eine Lücke im Einheitsgrau, an die sich eine Hoffnung auf Wetterbesserung hätte klammern können. Kalte Luft, fast frostig. Wo der Nieselregen ein ungeschütztes Gesicht traf, ließ er die Haut wie glasiert aufglänzen.

Eine stämmige ältere Frau radelte die Kirchstraße an der Friedhofsmauer entlang auf die Innenstadt zu. Gegen das die Herbstmelancholie fördernde Wetter trat sie kräftig in die Pedale, eine Plastikhaube, tief in die Stirn gezogen, erschwerte die Sicht nach vorn. Die Radlerin verlangsamte einen Moment ihre Fahrt, als sie an einer Ampel nach rechts in den verkehrsberuhigten Bereich einbog, und nahm nach der Kurve wieder Tempo auf. Das Fahrrad schepperte auf der Kopfsteinpflasterung, das Vorderrad schlingerte auf den tückisch nassen Steinen, die Frau fuhr unbeirrt weiter, auch wenn der Lenker seitlich ausschlug. Kurz vor dem einstöckigen Kaufhaus an der Ecke stieg sie in die Rücktrittsbremse und sprang vom Rad. Vielleicht lag es an den Witterungsverhältnissen, jedenfalls sollte sie das später bei verschiedenen Gelegenheiten behaupten, das Fahrrad rutschte vorwärts, riß sie zwei Schritte mit und rammte seitlich einen Kinderwagen, der unter dem Dach vor dem Eingang abgestellt war. Das Hindernis hatte die Frau, auch das sagte sie später aus, wegen der Plastikhaube nicht bemerkt.

Der Stoß hatte den Kinderwagen zwei bis drei Handbreit weiter geschoben, aber er war nicht umgefallen. Die Hände noch am Lenker, hielt die Fahrerin die Luft an und lauschte. Es blieb still. Hastig stellte sie das Rad auf den Ständer, hob ihre große Einkaufstasche vom Gepäckträger und trat an den Kinderwagen heran, offenkundig besorgt um das Kind, das keinen Mucks von sich gegeben hatte.

Wegen des hochgebauschten Bettchens und eines am Wagenrand festgeknöpften mehr oder weniger transparenten Regenschutzes war das Kind im Wagen von außen nicht zu sehen. Wohl deshalb nahm die Frau die Plastikplane vom Verdeck, drückte das Bett flach und beugte sich tief über die Öffnung. Einen Augenblick später griff sie sogar mit einer Hand hinein und fuhr zurück. Gleich darauf tastete sie noch einmal nach dem Kind, als könnte sie das Ergebnis des ersten Nachschauens nicht glauben. Sie blickte hilfesuchend die Straße entlang, nur wenige Passanten waren in der Mittagszeit unterwegs, niemand befand sich in ihrer Nähe. Irgendwo klappte eine Autotür. Bei dem Geräusch zuckte die Frau zusammen, klemmte ihre Tasche unter einen Arm und stürzte ins Kaufhaus, auf den Kassentresen in der Nähe des Eingangs zu.

Ein paar Frauen standen an der Kasse. Zwei unterhielten sich mit gedämpften Stimmen, die die träge Langeweile, die über allem lag, nicht störten. Im Hintergrund wurden quietschend Bügel an einem Kleiderständer bewegt. Die Frau drängte sich bis zum Tresen vor.

»Das Kind in dem Kinderwagen vor der Tür, es rührt sich nicht«, sie holte tief Luft, »ich glaube, es ist tot.«

Das kleine Kaufhaus, ein gutgehender Familienbetrieb, mit Kleinzeug wie Heftklammern, Kugelschreibern, Feuerzeugen, aber auch Damenwäsche und Oberbekleidung im Parterre und Badeanzügen, Spielzeug, Babyartikeln und Hüten im ersten Stock, war seit noch nicht allzu langer Zeit durchgehend bis 20 Uhr abends geöffnet. Allerdings hatte der ausgreifende Service Personalengpässe mit sich gebracht. Die Angestellte, die allein die Kasse bediente, starrte der Frau ins Gesicht, ohne sich zu rühren.

»Das Kind«, flehte diese.

»Aber ich kann hier nicht weg.« Die Kassiererin versuchte, über die Frauen, die näher herangerückt waren, hinwegzusehen, und schrie ins unbestimmte: »Frau Schulze!«

Sie wiederholte den Ruf, ihre Stimme überschlug sich diesmal, als wäre ihr die Bedeutung dessen, was die Frau gesagt hatte, erst jetzt aufgegangen, und weil sie das einsetzende Stimmengewirr übertönen mußte, ein anschwellendes Summen, das sich anhörte, als wäre in ein Wespennest gestochen worden. Aus einem Nebenraum hinter der Kasse tauchte der Geschäftsführer auf, ein Mann um die Sechzig, dessen Haar sich auf dem Schädel bereits ziemlich gelichtet hatte, die restlichen Strähnen strich er sich mit einer abwehrenden Geste glatt, es wäre vorteilhafter für sein Erscheinungsbild gewesen, wenn er sich die Brotkrümel aus den Mundwinkeln gewischt hätte.

»Was schreien Sie denn so?« herrschte er, Krümel versprühend, die Kassiererin an.

Die Kassiererin gab keine Antwort, statt ihrer sprach die Frau, die mit der Nachricht hereingestürzt war. Ihre Finger klammerten sich an den Tresen, sie bog den Oberkörper weit über die von Gürtelschnallen, Aktenordnerkanten und anderen harten Gegenständen abgewetzte Holzplatte.

»Das Kind draußen im Kinderwagen, ich glaube, es ist tot, ich habe es mit dem Fahrrad angestoßen, aus Versehen. Ja, hilft denn hier keiner, wir brauchen schnell einen Arzt.«

Den letzten Satz schrie sie verzweifelt heraus, drehte sich um, und alle folgten ihr nach draußen, auch der Geschäftsführer, die Kassiererin und, aus den Kleiderständern ganz hinten auftauchend, eine weitere Verkäuferin, die von der Kollegin verlangte Frau Schulze, wie die Polizei später ermitteln sollte.

Sie starrten in den Kinderwagen. Das Kind schaute ohne Wimpernschlag aus gläsern wirkenden blauen Augen unbestimmt auf die, die sich über das Bettchen beugten, dieses halb herauszogen und niederdrückten, um mehr sehen zu können. Der Säugling war mit einem Strampelanzug und einer gestrickten Mütze aus weicher, flauschiger rosa Wolle bekleidet. Ein Widerschein dieses Wollrosas färbte die runden Wangen des Babys, die im Novemberlicht eigenartig perlmutthaft, fast phosphoreszierend schimmerten. Die leicht geöffneten Lippen formten einen blütengleichen kleinen Kreis mit zwei aufwärtsgebogenen grübchenhaften Winkeln, es lächelte vage. Ein paar silbrig helle Löckchen rahmten die Stirn. Ein schönes Kind.

»Das ist kein Kind, das ist eine Puppe«, äußerte der Geschäftsführer, der sich wieder aufgerichtet hatte, er strich mit einem Anflug von Nervosität seine Haare erneut zurecht.

»Wie können Sie so etwas sagen«, fuhr ihn die Kassiererin an, »kein Mensch fährt eine Puppe in einem richtigen Kinderwagen spazieren, sehen Sie doch.« Sie berührte zaghaft die Babywange und schrie auf. »Es ist kalt, es ist richtig kalt. Wer ruft denn jetzt endlich einen Arzt?«

Frau Schulze, die für das Erdgeschoß zuständig war, hatte über die Schulter einer vor ihr stehenden Frau zu ihrer Kollegin gesehen und hastete, ohne lange zu überlegen, zwei Häuser weiter zur Apotheke.

»Es ist wirklich tot, sind Sie sicher?« fragte der Apotheker und sortierte ruhig weiter Medikamente in die Fächer einer Einbauwand mit deckenhohen Auszügen, die sich nahezu geräuschlos wie durch Zauber bewegten.

»Haben Sie schon einmal so ein Kind gesehen? Die Augen weit auf und rührt sich nicht? Meine Kollegin sagt, es fühlt sich kalt an.«

»Wir haben November.«

»Aber es sieht auch irgendwie – wächsern aus. Ich kann es nicht richtig beschreiben.«

Der Apotheker gab dem Auszug einen Stoß, so daß dieser beschleunigt zurück in die Wand schnurrte, und wies seine Helferin an, den Notarzt zu alarmieren, bevor er mit Frau Schulze die Apotheke verließ.

Rigoros drängte er sich durch die Menschenansammlung um den Kinderwagen, zog das Bett ganz heraus und starrte hinein. Im Aufrichten ließ er seinen Blick bereits über die Menge schweifen, die trotz der mittäglichen Ruhepause und des Wetters stetig anwuchs, ein alltägliches Mirakel bei allen kleinen und großen Katastrophen.

»Wo ist die Mutter?« fragte er laut.

Damit kam Bewegung in die Leute. Die meisten der Umstehenden traten zurück und drehten sich suchend um. Diesen Moment nutzte der Apotheker, um den Lenker des Wagens zu ergreifen und das Gefährt rasch ins Kaufhaus zu schieben, hinter den Tresen und in das Büro des Geschäftsführers, der ihm gefolgt war und die Tür schloß, während der Apotheker bereits mit einer flüchtigen Untersuchung beschäftigt war.

Über die unzweifelhafte Tatsache des Todes hinaus stimmte etwas ganz und gar nicht mit diesem Kind.

Unterdessen wurden die Rufe vor und im Kaufhaus fortgesetzt, die zwei Verkäuferinnen rannten ins Obergeschoß, um ihre Kolleginnen zu informieren und die Etage nach der Mutter zu durchsuchen. Der Aufruhr unten hatte noch nicht das obere Stockwerk erreicht, in dem sich nur wenige Kunden befanden, kaum ein halbes Dutzend; wie sich schnell herausstellen sollte, war die Mutter nicht darunter. Auf die dringenden Fragen der Verkäuferinnen reagierten die Kunden mit Gegenfragen, in denen bereits Aufregung durchklang. Die obere Etage leerte sich rasch, unten wartete eine Traube von Menschen auf Nachrichten aus dem Hinterzimmer.

Der Arzt, der wenige Minuten später eintraf, benötigte nur einen Augenblick, um den Tod des Kindes zu bestätigen – es war wirklich ein Kind und keine Puppe. Eine Feststellung, die doch Zweifel ließ. Über dem Wagen tauschte der Arzt mit dem Apotheker einen Blick.

Auf Geheiß des Arztes telefonierte der Geschäftsführer widerwillig mit der Polizei.

Die Mutter war immer noch nicht gefunden worden. Mittlerweile diskutierten Schaulustige vor dem Kaufhaus und ganz Beharrliche vor dem Tresen die ihnen bekannten Vorfälle des »plötzlichen Kindestods«. Irgend jemand hatte die Formulierung fallenlassen.

»Aber es lag nicht auf dem Bauch, ich habe gehört, daß die Bauchlage für Säuglinge besonders gefährlich ist«, erklärte eine Frau laut, als sich die Bürotür öffnete. Der Geschäftsführer und der Apotheker traten heraus.

»Hat jemand eine Frau beobachtet, die den Kinderwagen vor der Tür abgestellt hat? Wir bitten diejenigen, die etwas gesehen haben, für eine Aussage hierzubleiben. Wer noch Waren zu bezahlen hat, kann das jetzt erledigen.« Der Geschäftsführer winkte der Kassiererin, die zögernd ihren Posten hinter der Kasse wieder einnahm.

Auf dem Tresen lag ein dunkelblauer Pullover. Die Kassiererin sah sich nach der Kundin um, die den Pullover zum Bezahlen und Verpacken abgegeben hatte. Die meisten Leute strebten jetzt dem Ausgang zu, weil sie verstanden hatten, daß mit dem Auftauchen der Polizei zu rechnen war, und sie sich diese Sensation nicht entgehen lassen wollten. Nur zwei Frauen blieben, denen sich nach kurzem Zögern eine dritte beigesellte. Die Kassiererin lupfte den blauen Ärmel.

»Wem gehört der?« fragte sie.

Karl Rohleff, Kriminalhauptkommissar und Leiter der Abteilung, kämpfte in seinem Büro mit der Mittagsmüdigkeit. Seit ihm das mittägliche Absacken der Konzentration größeren Ärger verschaffte, begnügte er sich mit Yoghurt und Äpfeln, um nicht mit einer reichlicheren Mahlzeit, wie er sie noch vor ein paar Monaten gewöhnt war, der Müdigkeit Vorschub zu leisten.

Die Tür zu seinem Dienstzimmer stand halb offen, etwas lockte ihn, aufzustehen, die Tür zu schließen und den Kopf auf seinen Schreibtisch zu legen. Wenigstens für zehn Minuten. Er traute sich nicht. Es hätte ihn jemand überraschen können. Der trübsinnige Gedanke überfiel ihn, daß das Alter einen Schatten vorauswarf, dabei war er erst zweiundfünfzig und fühlte sich nicht weniger fit als ein Dreißigjähriger. Bis auf diese verdammten Anfälle von Müdigkeit, für die auch keine Überarbeitung als Grund herhalten konnte. Steinfurt war ein ruhiges Pflaster, für den kriminalistischen Höhepunkt der letzten Monate hatte eine Frau gesorgt, die versucht hatte, ihren Mann auf altmodische Art mit Arsen zu vergiften, in Eiscreme eingerührt.

Sein Kopf näherte sich der Tischplatte, als Patrick Knolle, ein Kollege aus seiner Abteilung, die Tür ganz auftrat.

»Totes Kind in der Fußgängerzone, willst du mit?«

Die Zeit reichte nicht, um den sicher glasigen Ausdruck aus den Augen zu verbannen, daher schenkte er es sich, so zu tun, als hätte er in seinen Akten geblättert. Statt dessen gähnte er und rieb sich die Augen.

»Noch mal«, stöhnte er.

»Totes Kind im Kinderwagen in der Fußgängerzone, von der Mutter nichts zu sehen, der Notarzt ist schon da.«

An dem jungen Kollegen war kein Zeichen von Müdigkeit zu entdecken. Rohleff gab sich einen Ruck. »Na, dann laß uns mal.«

Kalte Novemberluft und Nieselregen schlugen ihm draußen ins Gesicht, er war fast dankbar dafür, die Kälte ließ sein Hirn wieder besser arbeiten. »Noch irgendwelche Einzelheiten?«

»Kriegen wir vor Ort, der Arzt wartet auf uns.«

Knolle schob sich mit seinen breiten Schultern durch die Leute vor dem Kaufhaus, Rohleff hinter ihm registrierte säuerlich die unbekümmerte Selbstverständlichkeit, mit der sich der Jüngere seinen Weg bahnte. Die Blicke der Gaffer hingen an Knolle, an dessen hellrotem Strubbelkopf, Rohleff war einen Kopf kleiner. Seine Stimme klang gereizt, als er sich im Büro der Kaufhauses an den Arzt wandte: »Plötzlicher Kindestod?«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Würd ich nicht sagen.«

Knolle mischte sich ein. »Ich dachte, der Wagen mit dem Kind wäre draußen gefunden worden, wie kommt er hier herein?«

»Ich habe ihn ins Büro gebracht, bei den vielen Neugierigen vor der Tür war es unmöglich, eine vorläufige Untersuchung durchzuführen. Einer mußte sich ja bis zum Eintreffen des Arztes um das Kind kümmern, und wer außer mir kam dafür in Frage?« erklärte der Apotheker.

»Und dabei haben Sie den Lenker angefaßt.« Knolle deutete anklagend auf die Lenkstange.

Unmut blitzte im Gesicht des Apothekers auf.

»Die Mutter ist wohl bisher nicht gefunden worden, das macht die Sache schwierig«, setzte Rohleff ruhig ein. »Es ist wegen der Fingerabdrücke, meint mein Kollege, das konnten Sie ja nicht wissen. Es ist besser, Sie warten vorläufig draußen, aber halten Sie sich zu unserer Verfügung, wir werden noch ein paar Fragen stellen.«

Der Apotheker und der Geschäftsführer nickten wie gescholtene Schuljungen, bevor sie den Raum verließen.

»Die beiden wären wir los«, sagte Knolle und wechselte einen Blick mit Rohleff.

Der Arzt seufzte. »Ist wohl auch besser so bei dem, was ich Ihnen mitzuteilen habe. Das Kind ist schon länger tot, so viel konnte ich bereits feststellen.«

Der Säugling lag auf dem Schreibtisch, halb entkleidet. »Anzeichen äußerer Gewaltanwendung?« fragte Rohleff.

»Bislang keine.«

Alle drei Männer traten näher an den Schreibtisch heran. Noch immer umspielte ein Lächeln den blütenzarten Mund des Kindes, und die blauen Augen schauten ins Leere. Rohleff hörte, wie Knolle die Luft einzog.

»Wie lange ist das Kind bereits tot, und können Sie mir etwas über die Todesursache sagen?« fragte Rohleff.

Die Stimme des Arztes klang belegt. »Ich kann Ihnen beide Fragen nicht beantworten. Das Kind ist eventuell seit ein paar Monaten tot, aber auch das ist nicht sicher.«

»Aber dann müßte längst die Verwesung eingesetzt haben, und dieses Kind sieht doch nicht mal tot aus«, warf Knolle ein.

»Das macht mir die meisten Sorgen, ein einfacher Schädelbruch wäre mir lieber als das, was die Untersuchung bis jetzt ergeben hat. Festlegen will ich mich nicht, mir ist so etwas noch nicht untergekommen, aber ich bin auch kein Gerichtsmediziner – es ist einbalsamiert oder, wie soll ich sagen, irgendwie präpariert.«

Knolle schaltete schneller als Rohleff. »Sie meinen ausgestopft?« Unwillkürlich hatte er lauter gesprochen, er hastete zur Tür und prüfte, ob sie fest geschlossen war.

Rohleff fiel ein, daß der Kollege erst eine Woche zuvor seine Jagdprüfung bestanden hatte. Einen Augenblick nahm er die Szenerie wie durch einen Filter wahr, nicht verschwommen, aber gedämpft, das ordentliche Büro mit den hohen Regalen voller Akten und Warenmuster, den biederen Schreibtisch mit den Schnörkeln, der besser in ein Herrenzimmer als in ein Büro gepaßt hätte. Es mochte an dem matten Tageslicht liegen, von dem sich der Eindruck eines Traums, mehr eines Alptraums, herleitete, in dem er sich gefangen wähnte, vor allem das tote Kind auf der Schreibplatte schien einer mitternächtlichen Phantasie entstiegen. Er riß sich zusammen.

»Das müssen sie uns schon genauer erklären, das klingt mir zu abstrus«, wandte er ein.

Der Arzt zog den Strampelanzug des Kindes weiter herunter und entblößte den Bauch. Die Haut schimmerte matt, cremefarben mit einem Hauch von Rosa, nicht grau, nicht violett verfärbt. Vorsichtig drückte der Arzt auf den Leib des Kindes. »Das fühlt sich merkwürdig an, auch die Haut, fast wie Seife, und«, er schob mit zwei Fingern den Mund des Kindes ein wenig weiter auf, »etwas verstopft hinten die Kehle, schauen Sie selbst, ich leuchte noch mal hinein, und das gleiche habe ich bei den Nasenlöchern festgestellt.«

Rohleff winkte heftig ab. Beinahe hätte er sich vor Übelkeit gekrümmt, er fing sich aber, als sein Blick auf den Kollegen fiel, der aus dem Fenster starrte, die Körperhaltung verriet die innere Anspannung. Knolles Frau Maike, gerade fünfundzwanzig Jahre alt, erwartete ihr erstes Kind. Vor ein paar Monaten hatte Knolle im Dienst die Nachricht über den Familienzuwachs verkündet, selbst weniger erfreut, als zu erwarten gewesen war.

»Von mir aus hätten wir es damit nicht so eilig gehabt.«

»Und warum habt ihr nicht gewartet? « hatte einer der Kollegen gefragt.

»Betriebsunfall«, Knolle feixte. »Soll vorkommen. Dabei wollten wir mit meiner Mühle nächstes Jahr nach Spanien und Portugal runter. Wird jetzt wohl nichts daraus.«

»Schaff dir einen Beiwagen an und pack das Kurze da rein.« »Und mir den ganzen Urlaub von dem Babygequäke versauen lassen? Nee, mein Lieber.«

Rohleffs Magenwände zogen sich noch mehr zusammen. Graues Licht fiel durch ein Seitenfenster auf den Schreibtisch, und trotzdem leuchtete das seidige Haar auf dem Köpfchen, glänzten die Wangen, weich und gelöst lagen die Arme, wie im Schlaf zur Seite geglitten, die Beinchen krümmten sich leicht, eine Haltung süßer Hilflosigkeit, die unfehlbar Brut- und Pflegeinstinkte ansprach. Der geisterhafte Blick der strahlenden Augen wurde ihm unerträglich. Eine Schönheit wie auf alten Gemälden, die die Gottesmutter mit ihrem Kind auf dem Schoß darstellten, er hatte solche Bilder in Museen gesehen. Eine wurmzerfressene Leiche wäre ihm lieber gewesen als dieses Puppenkind. Knolle schienen ähnliche Gedanken zu bewegen. Diesmal flüsterte er.

»Wer macht so was?«

Die Frage brachte sie auf ihre Ermittlungsarbeit zurück. Sie wurden amtlich. »Haben Sie von Ihrem Verdacht schon etwas laut werden lassen, bevor wir herkamen?«

»Ich bin doch nicht verrückt«, antwortete der Arzt.

Rohleff hatte nur noch zwei Fragen. »Wie alt war das Kind, und ist es ein Junge oder Mädchen?«

»Sechs bis acht Monate, und was das Geschlecht betrifft, tippe ich auf Mädchen wegen der rosa Mütze, aber das läßt sich leicht feststellen.«

Als der Arzt den Strampler weiter herunterzog, drehte sich Rohleff weg, um nicht noch mehr von dieser Leichenpuppe zu sehen, und Knolle kramte mit abgewandtem Gesicht in seinen Taschen nach Block und Kugelschreiber. Nach weiterer Suche reichte er dem anderen ein Handy herüber. Rohleff nickte und tippte eine Nummer ein.

»Mädchen«, sagte der Arzt.

Die wenigen Meter zwischen Schreibtisch und Tür durchmaß Rohleff mehrmals, während er telefonierte, und vermied dabei den Blick auf die Schreibtischplatte, registrierte aber trotzdem, daß der Arzt sich weiter an dem Kind zu schaffen machte. Als er gegen Ende des Telefonats doch zu ihm hinschaute, sah er, daß der tote Säugling wieder bekleidet war und der Arzt ein paar medizinische Instrumente in seine auf einem Stuhl abgestellte Tasche einräumte.

»Das Kind kommt in die Gerichtsmedizin nach Münster. Sie schicken einen Wagen, um es abzuholen«, erklärte er dem Arzt und wandte sich dann an seinen Begleiter: »Patrick, ruf du die Kollegen von der Spurensicherung. Sie sollen sich um den Kinderwagen kümmern. Vielleicht finden sie daran ein paar verwertbare Fingerabdrücke. Sie sollen auch einen Fotografen schicken, ich benötige Fotos von dem Kind und vom Kinderwagen. Und fordere ein paar von unseren Leuten für die Befragung hier vor Ort an.«

Er begleitete den Arzt zur Tür.

Am Kassentresen warteten der Apotheker, der Geschäftsführer, die Verkäuferinnen und drei Kundinnen, eine kleine Menschentraube hielt sich am Eingang auf. Neben der Kasse lag noch der blaue Pullover.

»Ich bin nicht imstande, mehr zu erzählen, als Ihnen der Arzt vermutlich gesagt hat. Kann ich jetzt gehen?« fragte der Apotheker gereizt. »Wenn Sie weitere Fragen haben, kommen Sie in meine Apotheke, zwei Häuser weiter, rechte Seite, schlecht zu verfehlen.«

»Sie haben nicht einen weiteren Raum, in dem wir uns unterhalten können?« erkundigte sich Rohleff bei dem Geschäftsführer.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nur das Lager.«

Rohleff hatte nicht die Absicht, die Geduld des Apothekers mehr als nötig zu strapazieren. »Gehen Sie nur, ich komme zu Ihnen rüber, sobald ich hier fertig bin, und danke, daß Sie gewartet haben.« Sein ruhiger, höflicher Ton verfehlte nicht die beabsichtigte Wirkung.

Der Apotheker entspannte sich. »Dann bis später. Eine schlimme Sache, nicht?« Er deutete auf die Bürotür, bevor er ging.

»Was ist mit den Frauen hier?« fragte Rohleff den Geschäftsführer.

»Ich habe vorhin darum gebeten, daß alle bleiben, die jemanden am Kinderwagen gesehen haben – bitte!« Eine einladende Geste forderte den Kommissar auf, mit der Ermittlung zu beginnen.

Rohleff wußte oft nicht, ob er auf eifrige Möchtegernpolizisten wie diesen fluchen sollte oder ob er ihnen nicht hin und wieder Dank schuldete. Die zweite Möglichkeit erschien ihm in Hinblick auf die weitere Untersuchung des Falles als die sinnvollere, daher murmelte er etwas, das sich wie eine Anerkennung der Umsicht des Geschäftsführers anhörte. Dann begann er die Frauen zu befragen. Zwei von ihnen hatten nur gewartet, um ihre Waren zu bezahlen, und damit gezögert, um mehr vom Gang der Ereignisse mitzubekommen. Beinahe grob verwies er sie an die Kassiererin, nachdem er ihre Adressen aufgeschrieben hatte. Die dritte sagte aus, einen Mann am Kinderwagen gesehen zu haben. Ob er diesen im Eingang abgestellt habe, wußte sie allerdings nicht mehr, ganz vage stand ihr ein Bild vor Augen, wie seine Hand auf dem Lenker lag. Rohleff bat sie um eine Personenbeschreibung, begann, sich ihre Angaben zu notieren, stockte und riß die Tür hinter sich auf.

»Patrick, bist du mit dem Telefonieren fertig? Dann komm und frag rum, wer außer dem Apotheker den Wagen angefaßt hat. Stell von allen die Personalien fest. Das andere erledigt die Spurensicherung.«

Kurz nachdem er die Vernehmung der letzten Zeugin beendet und mit der der Verkäuferinnen begonnen hatte, traf das Verstärkungsteam ein. Die Beamten scharten sich einen Augenblick um Knolle, der mit Block und Bleistift im Gedränge am Eingang stand, dann kamen einige auf Rohleff zu. Er winkte die zwei Leute von der Spurensicherung mit dem Fotografen ins Büro durch und übertrug einem anderen Kollegen die weitere Befragung.

Während er seine Anordnungen traf, stand er an die Kassentheke gelehnt, eine Hand auf die Holzplatte gestützt. Gerade, als er den anderen ins Büro folgen wollte, spürte er, daß etwas unter seiner Hand auf dem Tresen lag.

»Was ist das hier?« fragte er die Kassiererin.

»Sehen Sie das nicht? Ein blauer Damenpullover, reine Schurwolle, Größe sechsundvierzig, den hatte mir eine Kundin zum Bezahlen herübergereicht, als das Spektakel losging. Jetzt ist die Frau verschwunden.«

Rohleff starrte auf den Pullover. »Die Farbe würde mir nicht gefallen. Zu dunkel.«

Im Büro hatte der Fotograf eine Serie von Aufnahmen des Kinderwagens beendet, er wechselte den Film. Die zwei von der Spurensicherung waren dabei, mit Gummihandschuhen den Wagen für den Abtransport in Folie zu verpacken. Die Männer arbeiteten äußerst schnell und schweigend. Nachdem sie mit dem Wagen verschwunden waren, trat der Fotograf an den Schreibtisch heran, beugte sich mit der Kamera über das Kind, mehrmals flammte das Blitzlicht auf. Sich aufrichtend, schüttelte er den Kopf.

»Das Kind sollte am besten sitzen, von oben fotografiert es sich schlecht«, erklärte er. Rohleff spürte wieder seinen Magen, als er das Kind, heiter lächelnd, auf einem Bürostuhl sitzen sah. Sein Gürtel und der des Fotografen, um Körper und Stuhllehne geschlungen, hielten es aufrecht. Es war noch schlimmer, als das Kind halb ausgezogen auf dem Schreibtisch liegen zu sehen. Trotzdem meldete sich plötzlich ein Bedürfnis, über das seidenweiche Haar zu streichen, ein Verlangen, das gleichzeitig einen Anflug von Ekel hervorrief.

»Komischer Fall«, sagte der Fotograf, als er seine Apparate wieder einpackte. »Hab eigentlich schon Schlimmeres gesehen, weiß aber nicht, ob mir das hier lieber ist.«

Er schnallte die Gürtel los und fing den kleinen Körper auf, bevor Rohleff helfen konnte. Einen Augenblick lag das Kind im Arm des Mannes, der automatisch eine Schulter vorschob und den Kopf daran bettete. Die Illusion eines lebendigen Kindes schimmerte in einem gleichsam zeitlosen Bild auf. Etwas war natürlich grundfaul an dem Bild. Der Mann störte. Nicht speziell dieser. Der Fotograf war ein sympathischer Kerl, wahrscheinlich hatte er selbst Kinder, so geschickt, wie er dieses hielt. Das Bild aber verlangte dringend nach Weiblichkeit, Mütterlichkeit.

Die Leute von der Gerichtsmedizin trafen mit einem Blechkasten ein, um das Kind abzuholen, und versprachen, die Kleidung möglichst rasch zu weiteren Untersuchungen zurückzuschicken. Im Eingangsbereich des Kaufhauses wurden die Befragungen fortgeführt, Knolle berichtete Rohleff vom vorläufigen Ergebnis.

»Die Leute haben nichts Brauchbares beobachtet. Ein Geist muß das Kind vor dem Kaufhaus abgestellt haben.«

»Oder ein Mann. Eine Kundin will einen gesehen haben.«

»Mir hat keiner was davon erzählt, komisch, ein Mann mit Kinderwagen fällt doch immer noch mehr auf als eine Frau.«

»Wem sollte er mittags in einer fast menschenleeren Fußgängerzone auffallen? Vermutlich können wir froh sein, wenigstens die eine Zeugin zu haben, die ihn beobachtet haben will. Wer hat den Wagen angefaßt?«

»Mehrere, ich hab die Liste. Am meisten Kontakt mit dem Ding hatte wohl die mit ihrem Fahrrad. Der dreckige Reifen hat einen netten Abdruck hinterlassen. Hast du sicher bemerkt.« Ein schräger Blick traf Rohleff. »Anna Krechting heißt die Frau«, fuhr Knolle fort. »Macht sich Gedanken, ob sie dem Kind nicht doch geschadet hat.«

Er deutete auf die Frau, die allein vor einem Warenregal stand. Anna Krechting bemerkte die Aufmerksamkeit, die sich auf sie richtete, ihrem Gesicht waren Verstörung und Schuldbewußtsein anzusehen. Sie traf Anstalten, auf die beiden Ermittler zuzutreten. Rohleff kannte solche Leute. Er war nicht in der Stimmung, sich ihre Bekenntnisse und Beteuerungen anzuhören.

»Du hast ihre Aussage?«

Knolle tippte auf seinen Block.

»Dann schick sie weg, und sag ihr, daß wir sie wie alle anderen benachrichtigen wegen der Fingerabdrücke.« Er wandte sich ab, bevor die Frau ihn erreichen konnte.

Als er in die Dienststelle zurückgekehrt war, traf er im Flur auf die ersten Redakteure und einen Kollegen aus der Presseabteilung, die wohl auf ihn gewartet hatten. Das Zusammentreffen mit der Presse hätte er gern verschoben, obwohl er halbwegs mit den Zeitungsleuten gerechnet hatte und sie später sogar selbst benachrichtigt hätte. Gerade in diesem Fall war es wichtig, für genügend öffentliche Aufmerksamkeit zu sorgen, allerdings ohne drastische Sensationseffekte. Gern hätte er ein paar Augenblicke gehabt, um sich auf das Gespräch vorzubereiten. Andererseits überkam ihn der Eindruck, daß bei der Aufklärung des Falles besondere Dringlichkeit geboten wäre, obgleich dem der äußere Anschein widersprach: Das Kind war schließlich tot.

Er begrüßte die Redakteure mit einem Nicken und sicherte ihnen zwei Fotos zu, eins von dem aufgefundenen Säugling, ein zweites vom Kinderwagen, die zusammen mit einem Aufruf veröffentlicht werden sollten.

»Das Übliche. Wer kennt das Kind, wer kennt den Wagen, die Polizei sucht nach Hinweisen auf die Mutter. Eventuell zusätzlich ein Appell an die Mutter, sich zu melden.«

Weitere Fragen beantwortete er knapp, aber, wie er meinte, ausreichend. Über die Todesursache, ließe sich noch nichts sagen. Es sei kein Fall von Gewaltanwendung zu vermuten. Bereits zum Gehen gewandt, faßte ihn einer der Redakteure am Ärmel, eine Geste, die er gerade bei diesen Leuten besonders wenig schätzte.

»Das soll alles sein? Schon mal vom Recht der Öffentlichkeit auf Information und Aufklärung gehört?«

Rohleff vermutete, daß es einer von den Freiberuflern war, einer von der unangenehmen Sorte, die sich gern einmischte und dabei auf Pressefreiheit pochte.

»Gerade darum geht es«, erwiderte er heftig, »um Aufklärung. Sie leisten Ihren Teil, dafür haben Sie Ihre Informationen bekommen, und jetzt lassen Sie mich in Ruhe, die Fahndung nach der Herkunft des Säuglings läuft bereits an, meine Kollegen warten auf mich.«

Sein Blick glitt über den Mann hinweg zum Eingang, in der Nähe des Wachraums sah er eine Frau, die ihm bekannt vorkam. Sie schaute zu ihm herüber, er verschwand eilig in seinem Büro, um sie nicht zum Näherkommen zu ermutigen.

Das Gemurmel stockte bei seinem Eintreten und setzte dann wieder ein. Die Atmosphäre war gespannt, unruhig. Stühle wurden beiläufig gerückt, um ihm den Weg zum Schreibtisch einigermaßen frei zu machen, er quetschte sich an langen Beinen in Jeans und Uniformhosen vorbei und einem Paar Beine in Rock und Strumpfhosen. Lilli Gärtner blickte kurz zu ihm auf. Sie nahm an der Dienstbesprechung, die er vom Kaufhaus aus telefonisch anberaumt hatte, auf seinen ausdrücklichen Wunsch teil. Von der Mitarbeit einer weiblichen Beamtin versprach er sich Einsichten, zu denen männliche Kollegen eher selten gelangten. Sie hatte selbst zwei Kinder, zwei Töchter, acht und zehn Jahre alt. Ihr Mann unterrichtete an der Realschule, so daß kaum mit Dienstausfällen zu rechnen war, wenn die Kinder mal erkrankten. Lilli war geradezu notorisch zuverlässig. Allerdings fragte er sich jetzt, wie die Gärtners Krankheiten der Kinder tatsächlich handhabten. Konnte der Ehemann einfach so morgens seinem Unterricht fernbleiben?

Er nickte ihr zu. Ihre kräftige, untersetzte Gestalt und das pflegeleicht geschnittene blonde Haar entsprachen nicht seinem Schönheitsideal, stimmten aber mit dem Eindruck von Tüchtigkeit überein, den er in den Jahren der Zusammenarbeit gewonnen hatte. Neben ihr saß Harry Groß, Experte für Spurensicherung, auch einer von den jüngeren Beamten. Rohleff wunderte sich, daß er nicht selbst zum Kaufhaus gekommen war, um den Kinderwagen abzuholen, wahrscheinlich hatte ihn eine andere Aufgabe im Labor festgehalten. Der Karottenkopf von Groß konkurrierte mit dem von Knolle, die Haarfarbe machte die beiden fast zu Brüdern, wenn man von der Statur absah: Zum athletisch gebauten Knolle bildete der kugelrunde, aber trotzdem wendige Groß das genaue Gegenteil, im Mundwerk waren sich die beiden allerdings wieder ähnlicher, als es Rohleff lieb war. Außer den dreien, mit denen er bei diesem Fall eng zusammenarbeiten würde, nahmen noch zwei Polizeikommissare der Wache an der Besprechung teil.

Rohleff schlängelte sich zu seinem Bürostuhl durch, nahm Platz, kramte aus seiner Jackentasche seine Notizen hervor und legte sie in eine Mappe. Unterdessen verstummte allmählich das Gemurmel.

»Wir sollten zunächst die Informationen zusammentragen, die wir haben. Patrick, fang an«, eröffnete er das Gespräch.

»Kind, sechs bis acht Monate alt, ein Mädchen. Tot aufgefunden in einem vor dem Kaufhaus in der Steinstraße abgestellten dunkelblauen Kinderwagen. Wär vielleicht nicht aufgefallen, wenn nicht eine Frau mit dem Fahrrad, äh ...« Knolle kramte in seinen Papieren, und Rohleff fiel blitzartig ein, daß das die Frau war, die er gerade eben im Eingang gesehen hatte. Was konnte sie gewollt haben? Eine dieser lästigen älteren Schachteln, die man schwer loswurde, dachte er und verdrängte die Frage.

»Anna Krechting«, fuhr Knolle fort, »stieß den Kinderwagen versehentlich an und stellte danach fest, daß das Kind sich nicht rührte.«

»Hat Anna Krechting jemanden an dem Wagen gesehen?« fragte Lilli.

»Laut ihrer Aussage nicht, es seien keine Leute in der unmittelbaren Umgebung des Kaufhauses gewesen, deshalb sei sie auch hineingestürzt, weil sie die Mutter drinnen vermutete, ist ja auch logisch,, da der Kinderwagen vor dem Eingang zum Kaufhaus stand.«

»Ist nicht logisch«, widersprach Groß, »das Kind könnte absichtlich dort abgestellt worden sein, wir wissen doch inzwischen, daß es bereits länger tot ist, die Sache mit dem Fahrrad hat nichts mit dem Tod des Kindes zu tun.«

»Demnach eine Kindesleiche, derer man sich entledigen wollte«, sagte Lilli.

»Um die Fahrradgeschichte abzuschließen, Anna Krechting dürfte bis auf die Fingerabdrücke, die wir von ihr brauchen, in diesem Fall ohne Bedeutung sein?«

Rohleff nickte. »Anna Krechting interessiert uns nicht. Ab morgen laufen bei uns die Telefone heiß, tote Kinder regen die Leute immer auf. Harrys Hinweis könnte richtig sein, paßt zu der Aussage einer Kundin, die einen Mann am Kinderwagen gesehen haben will. Ich les euch die Beschreibung vor.« Er fingerte nach einem Blatt in seiner Informationsmappe.

»Alter ziemlich unbestimmt, jedenfalls über dreißig, dunkle Jacke oder Mantel. Am besten erinnert sie sich an seinen Schirm: dunkelrot mit Holzgriff, so einen hatte sie selbst schon mal. Ein Mann mit einem Damenschirm, über die Größe des Mannes konnte sie gar keine Aussage machen, jedenfalls trug er keinen Hut, was mehr für ein höheres Alter gesprochen hätte.« Rohleff trug nie Hüte. »Alles nicht sehr erhellend.« Er blickte in die Runde. »Kommen wir zu dem Kind. Wann können wir die Fotos haben?« fragte er einen Kollegen.

»Müßten fertig sein, ich geh nachsehen.«

»Bring uns die Abzüge herüber, es sollen keine an die Presse herausgehen, bevor ich nicht Bescheid gegeben habe, daß die Fotos in Ordnung sind. Ich will nicht zuviel Aufsehen durch die Zeitungsmeldung«, rief er ihm nach.

»Das Kind ...«, es fiel ihm plötzlich schwer fortzufahren, er nickte Knolle zu.

Eine kurze Pause entstand. Rohleff dachte zum erstenmal bei diesem Fall an Sabine, versuchte sich vorzustellen, was er ihr sagen konnte, falls sie abends nach den Tagesereignissen fragte. Es würde problematisch werden.

»Sechs bis acht Monate alt«, begann Knolle, »sagte ich bereits, schon mehrere Monate tot, wie lange genau, werden die Pathologen der Gerichtsmedizin feststellen. Die Todesursache ebenfalls unklar. Seltsam jedenfalls der Zustand der Leiche. Der Arzt sagt, sie ist präpariert worden.«

»Wie präpariert?« fragte Groß.

»Ausgestopft.«

»Sag das noch mal«, fuhr Lilli Knolle an.

»Er sagt, präpariert, irgendwas in die Bauchhöhle gestopft, fühlt sich nicht normal an, auch Nase und Kehle zugemacht, das erinnert mich an meine Jagdprüfung, Tierpräparation war natürlich kein Hauptthema.«

»Du meinst, wie ein Auerhahn oder Fuchs auf so einer Holzplatte oder einem ausladenden Ast über den Kamin genagelt, ist das dein Ernst?« fragte Groß.

Knolle zog schuldbewußt den Kopf ein.

»Vielleicht ist es einbalsamiert worden?« fragte Lilli.

»Na klar, Patrick denkt nur noch in seinem Jägerlatein, nachdem er monatelang für die Prüfung gebüffelt hat, hoffentlich ist da kein dauerhafter Schaden entstanden«, witzelte einer in der Runde, und ein Anflug von Erleichterung machte sich bemerkbar, der nicht lange anhalten sollte.

Der Kollege kehrte zurück, die Fotos in der Hand, unaufgefordert verteilte er sie. Die vorausgegangenen Erklärungen wirkten beim Betrachten nach, schärften die Wahrnehmung, sonst wäre der unnatürliche Blick des Kindes weniger aufgefallen. Das Lächeln erreichte die Augen nicht, erst auf den Fotos wurde seine Künstlichkeit erschreckend deutlich, die Monstrosität einer Leichenschändung. Rohleff erlebte den Schock vom Mittag ein zweites Mal und registrierte, wie die Bestürzung um sich griff, auch Knolle, der ja mittags dabeigewesen war, konnte sich ihr nicht entziehen. Es wurde Zeit, daß er dieser betroffenen Lethargie entgegenwirkte. Leise begann er zu sprechen.

»Wir müssen abwarten, was die Pathologen sagen. Trotzdem können wir beide Begriffe, Präparation und Einbalsamierung, festhalten, bis einer davon wegfällt. Patrick, bei deinen einschlägigen Kenntnissen bist du dafür der richtige. Du machst dich mit beidem vertraut, aber erst später. Zunächst warten wir ab, was der Zeitungsaufruf bringt. Vorrangig für euch alle wird morgen die Auswertung der Anrufe sein.«

»Wenn ich mir die Bilder anschaue, auch das von dem Kinderwagen, dem Bettchen und allem, fällt es mir schwer, im Zusammenhang mit dem Kind an einen Mann zu denken«, begann Lilli langsam.

»Muß ein perverses Arschloch sein«, fiel Groß ein.

»Hast wohl noch nie einen Vater mit Kinderwagen gesehen, Lilli, da hat sich was geändert, auch wenn dein Mann sich um das Babywickeln gedrückt hat«, sagte Knolle.

»Haltet den Mund, laßt Lilli reden, wie kommst du darauf?«

»Wie das Kind ausschaut, die Kleidung, das Zubehör, ich hab mir von Harry schon eine Liste geben lassen, eine Babyflasche mit Tee, Windeln, ein Schnuller im Wagen. Das sieht nach Betreuung aus, nach Pflege, Zuwendung.«

»Keine weibliche Domäne mehr«, warf Knolle noch einmal ein.

»Puppenspielerei«, sagte einer der Beamten. Er hatte eine kleine Tochter.

»Ziemlich altmodisch der ganze Kram«, erklärte Knolle.

»Nicht durcheinander«, wehrte Rohleff ab, »Patrick, wiederhol das, was meinst du?«

»Ist alles nicht gerade modern, der Strampelanzug, die Mütze, der Kinderwagen, sprang mir sofort ins Auge, so was kauft heute keiner mehr, ich glaube, so was gibt's auch nicht mehr in den Läden.« Unter den Blicken der anderen errötete er sacht und fuhr sich verlegen durch seinen Schopf.

Rohleff stellte sich Knolle mit Babyjäckchen in der Hand vor. Zwei Kollegen grienten verhalten.

»Er hat recht«, stellte Lilli ruhig fest. »Das ist mir auch schon aufgefallen. Nicht mal meine Kinder haben solche Sachen noch getragen.«

»Dann schlage ich vor, du schaust dir die Kleidung des Kindes an, wenn sie aus der Gerichtsmedizin kommt. Alter, aber auch Abnutzungsgrad. Such nach Markenzeichen, frag in Fachgeschäften, seit wann diese Sachen aus den Sortimenten sind. Wenn du Hilfe brauchst, frag Patrick, der kennt sich nicht nur mit präparierten Füchsen und Motorrädern aus.«

»Aber was ist mit dem Fall, an dem ich gerade dran bin? Belästigung von zwei Schulmädchen im Bagno, auch nicht ganz ohne, obwohl es bis jetzt aussieht, als hätten wir es nur mit einem dieser Exhibitionisten zu tun, die selten handgreiflich werden. Trotzdem möchte ich nicht, daß meine Töchter so einem Kerl begegnen.«

»Ich sorg dafür, daß du davon freigestellt wirst. Noch mal zum Anfang. Vorerst suchen wir nach einem Mann mit rotem Regenschirm und auf alle Fälle die Mutter eines toten Kindes. Das heißt, alle Meldungen über verschwundene Babys, die in den letzten ein bis eineinhalb Jahren eingegangen sind, müssen überprüft werden, und zwar bundesweit, das tote Kind könnte sonstwoher stammen, Fälle aus der näheren Umgebung sehen wir uns besonders genau an.«

Er wandte sich an Groß. »Fingerabdrücke am Wagen?«

»Eine ganze Reihe. Die meisten davon nur halb oder verwischt. Ich kümmere mich morgen um die Identifizierung der verwertbaren, sobald ich die Fingerabdrücke der Leute habe, die den Wagen angefaßt haben.«

Eine halbe Stunde später war die Besprechung beendet. Eine Frage war nicht gestellt worden: Wer behielt die konservierte Leiche eines Kindes und ging mit ihr um, als ob es sich um ein lebendes handelte?

Rohleff klemmte seine Aktentasche auf dem Gepäckträger seines Fahrrades fest, als Knolle seine BMW anließ. Das dunkle Röhren des Motors klang auf, damit begann für den Besitzer der friedliche Teil des Lebens, der Feierabend. Knolle würde vielleicht eine Extrarunde drehen, bevor er nach Hause fuhr, um etwas länger die Vibrationen der schweren Maschine zu spüren, die durch den Körper schlugen wie eine Ganzheitsmassage. So hatte er Rohleff den Reiz des Fahrens erklärt, bevor er ihn einmal auf dem Rücksitz mitnahm. Rohleff hatte das eine Mal gereicht. Allein der Krach, auf Prickeln in den Eingeweiden war er auch nicht erpicht gewesen.

Er schob sein Rad über die Straße, er hatte es nicht weit. Schräg gegenüber tauchte er nach ein paar Metern in einen schmalen Trampelpfad zwischen hohen, jetzt nahezu kahlen Hecken ein, tastete sich in fast völliger Dunkelheit vorwärts, unbeirrt von einem Quieken und Rascheln rechts und links im Gesträuch. Er zählte die Gartentörchen an der rechten Seite, tiefschwarze Geometrien aus Senkrechten und Schrägen, die vierte gehörte ihm. Nach langem Herumsuchen drehte sich der Schlüssel rostig klirrend im Vorhängeschloß, ein Laut, der baldige Erlösung versprach. Die Tür pendelte in der Angel, er ließ sie halb offen hinter sich, zu dieser Jahres- und Tageszeit war das gleichgültig. Bewußt langsam lenkte er das Rad auf dem mit Kantsteinen eingefaßten Weg vorwärts, jeder Meter ließ ihn mehr in einen Gemütszustand driften, den er jetzt dringend brauchte. Stille, Entspannung, Wunschlosigkeit. Mit dem Feuerzeug suchte er nach der Petroleumlampe, entzündete sie, nahm sie aus der Hütte mit nach draußen, drehte den Docht so weit herunter wie möglich und saß dann in der Dunkelheit außerhalb des Lichtkreises auf seinem klapprigen Gartenstuhl. Die Kälte störte ihn nicht, gehörte vielmehr zum Wohlsein dazu, sie kroch ihm allmählich in den Körper und zog den Frieden von außen auch nach innen, er hatte das Gefühl, sich getrost auflösen zu können. Um ihn herum wisperte die frühe Novembernacht.

Den Schrebergarten hatte er vier Wochen nach dem Umzug nach Steinfurt und dem Einzug in das Reihenhaus gepachtet. Für das Haus waren seine ganzen Ersparnisse draufgegangen, dabei mochte er es nicht mal besonders. Aber Sabine hatte es gefallen, und er hatte sie damals entscheiden lassen, vor sieben Jahren, gleich nach der Hochzeit. Fünfundvierzig war er da gewesen, ein für die Ehe Spätberufener mit einer siebzehn Jahre jüngeren Braut. Ein bißchen stolz war er schon gewesen, aber er selbst sah ja auch jünger aus, eine drahtige Erscheinung, fanden alle, er glaubte es ihnen.

Innen war das Haus großzügig geschnitten, gut ausgestattet, alles frisch und neu. Zwischen Terrasse und Jägerzaun hatten nur ein Alibirasen und als Abschluß ein paar krüppelige Büsche Platz. Auf der Terrasse hörte man die Kaffeetassen der Nachbarn hinter den massiven Backsteintrennmauern, die ihn an Zoogehege erinnerten, klirren. Man sah die Leute nicht, befand sich aber zwangsweise durch die Geräuschemissionen mitten unter ihnen. Er gewöhnte sich an, auf seiner eigenen Terrasse nur herumzuschleichen und mit sehr gedämpfter Stimme zu sprechen. Zum Streiten gingen sie ins Wohnzimmer oder in die Küche und machten die Fenster zu.

Eine Wohnung mit Balkon wäre nicht schlechter gewesen, aber Sabine war unerschütterlich bei ihrer Begeisterung für das Haus geblieben. Dafür bekam er seinen Schrebergarten mit alten Apfel- und Pflaumenbäumen, einem vermoosten Rasen mit Maulwurfshügeln unter den Bäumen und einer Bretterbude, die fast auseinanderfiel. Diesmal widerstand er Sabines Wünschen. Er verabscheute Gartenhäuser, die wie Almhütten aussehen wollten, mit Sprossenfenstern und Laubsägezierat. Dem Gestank nach Holzschutzmitteln, der den garantiert verrottungsbeständigen Bauwerken meist anhaftete, zog er den mäuseköttelgeschwängerten Mief in seiner alten Hütte vor. Sogar das Mobiliar hatte er behalten. Eine Eckbank mit Tisch innen, draußen eine sogenannte Garnitur aus Klapptisch mit Stühlen, Eisen und morsches Holz, nur noch der jährliche Anstrich hielt die Holzlatten in Form, ein Stuhl war im Sommer zusammengebrochen. Die Trümmer hatte er aufgehoben. Sabine kam nur an schönen Tagen mit in den Garten.

Das Bild des toten Kindes drängte sich unversehens auf. Ein Engelsgesicht. Plötzlich erinnerte er sich an eine Geschichte aus seiner Schulzeit, die der Lehrer erzählt hatte. Oder war es der Pfarrer gewesen? Er sprach von einer schwangeren Frau, ein »gesegneter Leib« umschrieb er prüde ihren Zustand. Das dritte oder vierte Kind, vielleicht auch das fünfte hatte sich angekündigt, und die Frau wollte kein weiteres, die Leute waren bitterarm, der Mann arbeitslos. An diesem Punkt erschien die Geschichte auch nach vierzig Jahren noch modern. Eines Abends, als die Kinder schon im Bett lagen und der Mann außer Haus auf Arbeitssuche war – komisch, so spät noch, dachte Rohleff jetzt –, saß die Frau mit einem Flickkorb in der Küche. Auf einmal erschien ihr das unerwünschte Kind in einer Aureole von Licht und fragte sie mit süßer Stimme, ob sie denn gar keine Liebe übrig hätte und ihm das Leben nicht gönnte.

So hatte er sich das Kind damals vorgestellt: blauäugig, lieblich, mit goldenen Löckchen. In der Pause hatten sie Witze über die Geschichte gerissen. Oder hatte sie nicht eine Lehrerin erzählt, Frauen konnten so etwas besser.

Die Kälte wurde nun doch unbehaglich, er regte sich unruhig auf seinem quietschenden Gartenstuhl. Ein Blick auf die Armbanduhr, die er nahe an die Lampe hielt, zeigte ihm, daß es schon fast halb acht war, länger konnte er die Heimkehr nicht aufschieben. Langsam erhob er sich.

Der Nieselregen hatte bei Dienstschluß aufgehört, über Rohleff blinkten zwei einsame Sterne, als er nach Hause radelte. Hinter der Haustür empfing ihn der Duft von Fleischsoße, im Topf schon leicht angesetzt, dickflüssig verschmort. Er merkte, wie ihn der Hunger überfiel.

Sabine stand in der Tür zur Küche und warf einen wissenden Blick auf die feuchten Ränder seiner Hosenbeine und die Schuhe.

»Noch eine halbe Stunde später, und die Rouladen wären angebrannt.«

Wäre seiner Ansicht nach auch kein Unglück gewesen. Das Fleisch eine Spur angebrannt, bedeutete für ihn den absoluten kulinarischen Gipfel, mit einer Erinnerung garniert: seine Mutter in der Kittelschürze am Herd, im Gulaschtopf rührend.

»Was gab's heute bei dir?«

Er antwortete einsilbig, erzählte nicht von dem Kind, ließ lieber sie reden, von ihrem Job in der Stadtverwaltung: eine kaputte Kaffeemaschine, Bürger, die selbst einfache Formulare falsch ausfüllten und dann noch maulten, Kollegentratsch.

Kauend und lauschend betrachtete er sie. Kräftiges dunkles Haar, in dem noch keine Spur Grau zu entdecken war, in Wellen bis zur Schulter; helle makellose Haut, ein Hals, bei dem ihm der altmodische Vergleich »schwanenhaft« einfiel, den er nie aussprach, aber der den Wunsch erweckte, um diesen schlanken Hals zu fassen, die warme, zarte Haut im Nacken zu spüren, sich bis zu den Ohrläppchen vorzutasten. Begehren regte sich und mehr noch die Zärtlichkeit, die aus Nähe Geborgenheit schaffen kann, eine Vorstellung von Zusammengehörigkeit.

»Schmeckt's dir?« unterbrach Sabine ihren Büromonolog.

Er grunzte zufrieden. Später, vor dem Fernseher, setzte sie sich neben ihn aufs Sofa, er zog sie an sich, bis ihr Kopf an seiner Schulter lag.

»Hast du es dir überlegt?« fragte sie.

»Was?« fragte er zerstreut.

»Gehst du endlich zum Arzt und läßt dich untersuchen?« Sie stemmte sich gegen seinen Arm, richtete sich halb auf, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Er drückte sie wieder zurück.

»Sei still, laß mich die Nachrichten sehen.«

Trotz der kleinen Verstimmung, die ihre Frage ausgelöst hatte, endete der Abend angenehm im Bett, Sabine spornte ihn nach dem ersten Mal wieder an, er ließ sich mitreißen, beinahe flammte die Leidenschaft des ersten Ehejahres auf, bei ihr bestimmt nicht ohne Hintergedanken, das bestätigte sich, als sie vor dem Einschlafen ihre Frage wiederholte.

»Wann gehst du endlich?«

Er antwortete auch diesmal nicht.

14. November

Sie sah in die schaukelnde Wiege, griff nach dem Deckbett, schüttelte es zurecht, zupfte an dem leichten Stoff, der wie ein Zelt über das Kopfende fiel: der Wiegenhimmel, wolkenweiß, mit einem Volant, der die Öffnung säumte. Eine silberne Rassel hing an einem rosa Seidenband vom Scheitelpunkt des Himmels bis in Griffhöhe von kleinen, spielsüchtigen Händen, die jetzt fehlten. Das Scharren der Kufen auf dem gewachsten Holzfußboden klang anders, mechanisch, leblos, erzeugte nicht die gewohnten Bilder im Kopf Die Hände, die die Wiege bewegten, fühlten sich um den Widerstand betrogen, den das Gewicht des Kindes sonst mit sich brachte. Ein Zimmer, dem der Mittelpunkt fehlte. Nutzlos die weiche Bürste auf dem Wickeltisch, die Cremedosen, der Stapel mit Babywäsche, die Bären und Puppen im Regal und im Fenster. Alles gemahnte auf einmal an Tod; nicht Tod, dachte sie, Seelenlosigkeit. Die alte Einsamkeit griff nach ihr. Es war allein ihre Schuld.

Wieder hatte sie eins verloren. Sie erinnerte sich an das erste Mal, an die langen öden Jahre des Wartens, die vorausgegangen waren, den Neid, den die Blicke in fremde Kinderwagen hochgespült hatten. Ein Verlangen war herangewachsen, das immer mehr Eigenleben gewann und ein Bild ausbrütete, das schließlich die Verwirklichung herbeigezwungen haben mußte. Ein Triumph des Willens. Schwangerschaft, ein natürlicher Zustand des weiblichen Organismus. Leben nach innen, ein Horchen und Warten. Vielleicht hatte sie das Außen aus den Augen verloren oder war einfach leichtsinnig geworden. Zu hastig war sie die Kellertreppe hinabgelaufen und gestürzt, dabei hatten ihr alle gesagt, sie müsse sich in ihrem Zustand vorsehen.

Eine ganze mögliche Zukunft, zusammengezogen auf einen Punkt, beendet, ausgelöscht. Sie war hart bestraft worden für ihre Unachtsamkeit. Es wäre nur ein Klumpen Fleisch gewesen, noch kein Kind, hatte eine Schwester in der Klinik gesagt, eine dumme Gans, die Schwester.

Es hatte doch das Bild des Kindes gegeben und eine komplette Vorstellung von Zukunft, mit allem, was ein Leben umfassen konnte, zurückgeworfen in die graue Welt des Unmöglichen. Erst viel später war sie daraufgekommen, daß man das Schicksal korrigieren konnte, man mußte es nicht einfach nur erdulden. Ein kurzer überraschender Augenblick, der eine Chance eröffnet hatte, und sie hatte nicht gezögert, die Chance zu ergreifen.

Unten im Haus schepperte die Klappe vom Briefschlitz. Sie schrak zusammen und lauschte einen Augenblick. Es war wohl nur die Zeitung, die der Briefträger gebracht hatte.

Nackt stand er vor dem Badezimmerspiegel, die Haut glühte von der heißen Dusche, Wasser perlte ab. Ein, zwei tiefe Atemzüge begleiteten eine Übung, die die Intimität dieses Raumes provozierte und gleichzeitig vor der Lächerlichkeit bewahrte. Er drückte die Brust heraus, zog den Bauch ein, vollführte eine Seitwärtsdrehung aus der Hüfte, um eine Ideallinie im Spiegel einzufangen, ein Morgenritual, um die innere Vorstellung zur Deckung mit dem äußeren Bild im Spiegel zu bringen. Es ergab sich keine Ähnlichkeit mit der weich gewordenen Figur der meisten Männer, die auf die Sechzig zugingen. Was hieß schon zweiundfünfzig? Die biologische Uhr ticke heute anders, individueller, steuerbarer, hatte er in einer Zeitschrift im Wartezimmer seines Zahnarztes gelesen. Sein Blick konzentrierte sich auf eine empfindliche Stelle. Auch mit diesem Teil seiner Anatomie war alles in Ordnung, die vergangene Nacht hatte es bewiesen. Wie schützend legte sich seine Hand über Penis und Hoden. Er spürte die runzlige Haut, die Weichheit des erschlafften Geschlechts. Immerhin bestand die Möglichkeit, daß doch etwas damit nicht stimmte, ein verborgener, aber bislang unbewiesener Mangel, der sein Selbstbild anrühren würde. Es war schon angerührt. Unwillkürlich hatten sich die Bauchmuskeln entspannt und die Schönheitslinie verdorben: Eine breite Delle erschien oberhalb, eine Wölbung unterhalb der Taille, ein noch nicht sehr ausgeprägter Rettungsring von Fett blähte sich um die Hüften. Rohleff griff nach dem Handtuch.

Auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer versuchte er zu vermeiden, daß seine Aufmerksamkeit sich mehr als flüchtig auf die Zimmertür richtete, hinter der ein leeres Zimmer lag, nicht einmal Tapeten bedeckten den Putz.

Als er in die Küche herunterkam, roch es verlockend nach frischem Kaffee und Toastbrot, die Saftpresse lief. Sabine wandte ihm den Rücken zu, konzentriert auf die Arbeit. Er setzte sich, wollte nach der Zeitung greifen, sie lag nicht am üblichen Platz. Das Geräusch hinter ihm stockte.

»Hast du die Zeitung ...«

Sie klatschte ihm die Zeitung auf den Teller, sie war aufgeschlagen und wieder zusammengelegt auf halbe Größe, die Überschrift und die Bilder sprangen ihn geradezu an.

»Suchst du das hier? Warum hast du mir nichts davon gesagt?«

Schwer fiel sie auf den Stuhl neben ihm, ihre Stimme schraubte sich höher. »Warum hast du mir nichts von dem Kind gesagt?«

Er suchte sie zu beschwichtigen, einen Arm um sie zu legen, er rang bereits nach Ausflüchten.

Sie stieß ihn zurück. »›Totes Kind vor Kaufhaus gefunden. Äußerst makabrer Fund: die Leiche soll ausgestopft sein‹«, zitierte sie, schrill, atemlos. »Ein ausgestopftes Kind! Irgendein perverses Schwein hat ein Kind getötet und ausgestopft, und du hast mir gestern abend erzählt, es sei nichts Besonderes vorgefallen. In welcher Welt lebst du eigentlich?«

Sie war aufgesprungen, stand am Tisch, die Hände auf die Tischplatte gestemmt, sie zitterte, Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf. Noch vor einem Jahr hätte er sie trotz der ersten Zurückweisung in diesem Zustand der Erregung in den Arm nehmen können, jetzt wagte er es nicht, sie hätte sich gewehrt wie eine Furie. Er sah es in ihren Augen.

»Das stimmt doch alles gar nicht so. Ich muß herausfinden, wer den Mist in die Zeitung gesetzt hat.«

»Du meinst, das ist alles erlogen? Eine Zeitungsente? Das kann ich nicht glauben. Was ist mit dem Kind?« Ihre Stimme wurde von Verunsicherung gedämpft, stieg dann aber mit jedem Wort wieder höher. »Ein totes Kind hat es doch gegeben? Der Bericht, die Fotos, die Bitte der Polizei um Hinweise, das denkt sich keiner aus.«

Er bemühte sich, Autorität in die Stimme zu legen, Amtlichkeit, um ihrer Erregung entgegenzuwirken.

»Wir haben ein Kind gefunden. Das veröffentlichte Foto ist echt. Bis jetzt wissen wir aber nichts über die Todesursache, das Kind ist einfach nur tot. Die Untersuchungen sind erst angelaufen.«

Diesmal sprach sie sehr leise. »So ein süßes Kind. Als ob es lebte. Da ist mehr dran, als du sagen willst. Ich kenne dich, ich weiß, wann du mir etwas verheimlichst. Ist es jetzt schon so weit, daß du mir nichts mehr sagst, weil es um ein Kind geht? Was ist mit dem Kind? Sei nicht so verdammt feige.«

Das Telefon unterbrach den Streit, vielmehr er unterbrach ihn, indem er die Gelegenheit wahrnahm und hastig nach dem piependen Handy auf dem Frühstückstisch griff, er hatte es aus dem Schlafzimmer mitgebracht. Mit dem Gerät in der Hand entfernte er sich vom Tisch, zog sich ans Fenster zurück, um zu unterstreichen, daß er ein dienstliches Gespräch erwartete.

»Dachte ich mir, daß du das bist, Patrick, ich hab's gelesen, gerade. Ich will wissen, woher das kommt, du weißt, was ich meine, verdammt noch mal.«

Danach war es einfach, der Fortführung ihrer Auseinandersetzung zu entgehen, er stürzte den Kaffee im Stehen hinunter, griff nach seiner Jacke, sah nicht zu ihr hin.

»Laß uns heute abend darüber reden, dann weiß ich mehr.«

Ein Rückzug in Feigheit, dachte er, als er sich auf das Rad schwang.

Die erste Stunde im Büro schnauzte er herum, bis er sich im Griff hatte. Zwischendurch las er den Artikel, er kannte ja nur die Überschrift.

»Wie kommt das in die Zeitung?« Er las laut vor. »›Einer beherzten Zeugin ist es zu danken, daß das tote Kind überhaupt entdeckt wurde‹. Das muß doch von dieser Dingsbums stammen.«

»Anna Krechting. Da waren die Presseleutchen wohl eifriger als wir«, antwortete Knolle. »Hab ich die Krechting nicht gestern noch hier gesehen? Irgendwie mein ich, daß sie auf dem Flur herumgegeistert ist, als die Redakteure gerade da waren, und dann war sie plötzlich weg.«

Vielleicht hätte er doch noch mit ihr reden sollen, überlegte Rohleff. Das war immer das Kreuz mit den Betroffenen, manchmal nur Randfiguren, wie diese Krechting, für die die Aufmerksamkeit oder die Zeit nicht reichte oder einfach nur das Mitgefühl. Immerhin hatte sie nichts von ihrem Fahrrad verlauten lassen, ganz dämlich konnte sie nicht sein. Oder wußte sie etwas, was sie übersehen hatten und was sie ihnen mitteilen wollte? Er blätterte in den Akten und las ihre Aussage noch einmal durch. Unwichtig, entschied er, kein Anhaltspunkt, der weiterführen konnte.

»War die Krechting schon hier für die Fingerabdrücke?«

Knolle schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«

»Dann sorg dafür, daß sie noch einmal befragt wird. Ob ihr etwas aufgefallen ist, nur der Ordnung halber. Der Hinweis auf den Zustand der Kindesleiche, stammt der auch von ihr?«

»Unwahrscheinlich. Woher sollte sie das wissen? Ich tippe auf den Apotheker oder den Geschäftsführer. Schlaue alte Burschen mit langen Ohren. Knöpf ich mir mal vor.«

»Laß es, es ist eh egal.«

Lilli Gärtner kam herein und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

»Anrufe?« fragte Rohleff.

»Ich hab schon ein Klingeln im Ohr.«

»War was dabei?«

»Zwei Leute wollen den Mann mit dem Schirm gesehen haben, fällt ja auch auf, so ein weinroter Damenschirm. Sollten eigentlich alle Verdächtigen bei sich tragen. Eine Zeugin hat ihn definitiv am Kinderwagen bemerkt, ein anderer Passant sah ihn in ein Auto einsteigen, Automarke unbekannt, Farbe zwischen Schlammgrün und Dunkelblau. Führt uns nicht direkt weiter. Ungefähr hundert Anrufer bis jetzt, die behaupteten, das Kind erkannt zu haben, ein paar beschimpften die unbekannte Mutter und verbreiteten sich über Sadismus und schwarze Messen in Deutschland, ein paar wollten etwas zum Kinderwagen loswerden, eine erzählte mir lang und breit, so ein Modell hätte sie auch gehabt, könnte sie aber nicht empfehlen, der Karren wäre bei dem Preis innen nicht genug gepolstert, es war schwer, die Dame aus der Leitung zu kriegen.«

»Ein Mann mit einem Regenschirm. Will mir nicht einleuchten, daß ein Mann mit dem Fall zu tun hat«, sagte Rohleff.

»Es ist nicht mehr wie früher, heute kümmern sich auch Männer um die Kinder, die neue Vätergeneration.« Lilli streifte Knolle mit einem amüsieren Blick. »Trotzdem gebe ich Karl recht, ich tippe auch auf eine Frau, nach der wir suchen müssen oder nach zweien, die, die den Wagen mit dem Kind abgestellt hat, und die Mutter des Kindes.«

»Was auch auf eine Frau hinauslaufen könnte, nicht zwei«, warf Knolle ein, »das hatten wir alles gestern, wir wiederholen uns schon. Was ist mit dem Regenschirmliebhaber? Ist der raus aus der Fahndung?«

»Nicht, solange wir seinen Anteil an der Sache nicht eindeutig geklärt haben. Mach Dampf mit den Fingerabdrücken am Wagen, wann krieg ich die Liste von vermißten Kindern unter einem Jahr?«

Groß legte gegen Abend eine Sammlung von Fingerabdrücken vor, die er am Wagen gefunden hatte, ein paar winzige hatte die Untersuchung der Babyflasche ergeben, die einer erwachsenen Person am Ende der Flasche waren allesamt verwischt.

»Was hältst du davon?« fragte Rohleff.

»Es könnten die des toten Kindes sein. Werde ich überprüfen, wenn ich einen Satz Abdrücke aus der Pathologie bekomme. Ich habe deswegen angerufen. Deutliche Spuren auf der Flasche, von Hautcreme, würde ich sagen. Der Anordnung nach könnte es so gewesen sein, daß die Hände des Kindes um die Flasche gepreßt worden sind. Die Daumen liegen nicht richtig.«

»Wer gibt einem toten Kind eine Flasche in die Hand?« fragte Rohleff.

»Wer fährt ein totes Kind spazieren?« entgegnete Groß.

Knolle bretterte nach Dienstschluß mit seiner BMW an Rohleff vorbei, die Faust mit dem Daumen nach oben ausgestreckt, kollegialer Abschiedsgruß. Rohleff würde an diesem Abend direkt nach Hause radeln, ohne Aufenthalt, die Feigheit nicht wieder aufkommen lassen. Einen verlangenden Blick warf er dennoch auf die gegenüberliegende Straßenseite, an der sich die Hecken entlangzogen. Gern hätte er noch eine Weile in seiner Bretterbude gewerkelt, hätte sich die Stuhltrümmer vom Sommer endlich vorgenommen. Ein paar alte Bretter standen schon bereit für die Erneuerung der Sitzfläche und der Rückenlehne, das Eisengestell war noch gut. Sein Nachbar Bernie hatte ihm die Bretter überlassen, der warf nichts weg, was noch einen Gebrauchswert hatte, Zinkwannen, in die das Regenwasser hineinklatschen konnte, Bretter, grau verwittert, aber stabil. Gerade diese Art von Holz liebte Rohleff, nicht den Mist aus dem Baumarkt, Leimholz oder Spanplatte. Die Bretter konnten auch schon leicht krumm sein, das verlieh ihnen Charakter. Sehr sorgfältig würde er sie zusägen, die Kanten abschleifen, sich mit jedem Handgriff Zeit lassen und damit die Zeit auskosten. Die Gegenwart glitt immer schneller an ihm vorbei. Das Holz reichte vielleicht auch noch für die vorsorgliche Reparatur eines zweiten Stuhls, die Stühle mußten nicht erst auseinanderfallen.

»Hast du was vergessen?« fragte Lilli, die als eine der letzten das Polizeigebäude verließ. Er winkte zu ihr hinüber, schwang sich in den Sattel. Am Samstag, nahm er sich vor, würde er an den Stuhl gehen.