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Wie weit würdest du gehen, um dein Herz zurückzuholen? Als Leonie ihrem Freund den herzförmigen Stein schenkte, waren sie frisch verliebt. Nun ist Lukas mit einer anderen verheiratet und Leonies Leben scheint still zu stehen. Hält Lukas mit dem Stein ihr Herz gefangen? Falls ja, wie bekommt sie es zurück? Und warum taucht ausgerechnet jetzt ihr alter Feind Raphael auf und wagt es, immer noch höllisch gut auszusehen?
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Veröffentlichungsjahr: 2015
Regina Mars
Leonie Biersack
und das Herz aus Stein
Impressum
Leonie Biersack und das Herz aus Stein
Text Copyright © 2014 Regina Mars
Alle Rechte am Werk liegen beim Autor.
Regina Mars
c/o Block Services
Stuttgarter Str. 106
70736 Fellbach
www.reginamars.de
Umschlagfoto: Hugo Felix/Shutterstock.com
Umschlaggestaltung: Regina Haselhorst
Copyright © Regina Haselhorst
www.reginahaselhorst.com
Leonie Biersack fand ihr Herz am Strand. Das Meer spülte es ihr vor die Gummistiefel, während sie mit triefender Nase durch die Brandung watete. Sie bückte sich danach, und beinahe riss eine Welle sie mit.
Als sie ihr Gleichgewicht wieder hatte, lag ein Stein in ihrer Hand. Dunkelrot, in der Form eines Herzens. Meines Herzens, dachte Leonie. Sie war siebzehn Jahre alt und romantischer als ihr praktischer Wollpullover und ihr straff zurückgebundener Pferdeschwanz es vermuten ließen. Wind kam auf, kräuselte die Wasseroberfläche und riss ihr die Locken aus dem Gesicht. Die Sonne schaute durch die graue Wolkendecke und leuchtete auf den Stein in Leonies Hand. Sie deutete das als Zeichen, dass dieser Fund wichtig, ja entscheidend, für ihre Zukunft, war.
Sie genoss den Moment nur kurz, bevor eine weitere Welle sie umwarf. Völlig durchnässt ging sie zurück in die Ferienhütte. Dort zwang ihre Mutter sie, drei Tassen Bio-Kamillentee zu trinken. Als sie aus dem Familienurlaub zurückgekehrt war, schenkte sie das Steinherz ihrem Freund. Lukas fand es merkwürdig, ein Stück Fels geschenkt zu bekommen. Aber er versprach, für immer darauf aufzupassen.
„Das ist ja nicht auszuhalten, wie unprofessionell ihr euch benehmt!“ Herr Decker warf seine Fliege in die Mousse au Chocolat. „Ich gehe nach Hause. Ihr könnt sehen, wie ihr ohne mich klarkommt.“
Schon hatte er die Tür hinter sich zugeworfen. Leonie und Bert starrten ihm hinterher. Er kam nicht zurück. Leonie seufzte. Sie hätten ihm nicht sagen sollen, dass drei Kellner nicht genug für eine Gesellschaft mit hundert Gästen waren. Obwohl es stimmte. Auf Kritik reagierte er genauso empfindlich wie auf den Vorschlag, dass er mit der Hotelleitung darüber reden solle. Eigentlich brachte ihn jede Schwierigkeit in Rage, nur war er bisher nie abgehauen. Leonie schlug Bert auf die Schulter.
„Tja. Sieht aus, als wären wir auf uns allein gestellt.“
Bert nickte. „Geht eh schneller, wenn die Mimose uns nicht im Weg steht.“
Das stimmte zwar nicht, aber Leonie fühlte sich trotzdem etwas besser. Der Abend hatte gerade erst angefangen. Keine Zeit zum Rumheulen. Sie richtete ihre weiße Bluse, zog die Ärmel herunter, damit sie ihre Tattoos verbargen, und schnappte sich ein Tablett mit Sektgläsern. Bert nahm das nächste Tablett.
„Auf in die Schlacht!“ Er nickte ihr zu.
Sie stieß die Schwingtür zum Saal auf und begann, die Gläser zu verteilen. Die Gäste bemerkten sie kaum, als Sektgläser wie durch Magie in ihren Händen erschienen. Leonie sah zu Bert hinüber. Er flitzte hin und her, wand sich durch die Menge und verteilte drei Sektgläser pro Sekunde. Er war eindeutig der beste Kollege, den sie im Grand Hotel Hupfenbüttel je gehabt hatte. Und sie kellnerte immerhin seit sechs Jahren hier. Leonie wollte sich gerade umdrehen, als sie eine Stimme vernahm.
„Natürlich kümmern wir uns darum.“
Lukas!
Sie erstarrte. Was zur Hölle machte der hier? Leonie spürte kalten Schweiß in ihrem Nacken. Sie wandte unauffällig den Kopf. Da stand er, mit November an seinem Arm, deren Bauch sich unter dem Satinkleid wölbte. Bestimmt waren sie das schönste Paar des Abends. Glücklicherweise waren die beiden so vertieft in das Gespräch mit einem grauhaarigen Herrn, dass sie Leonie nicht bemerkten.
Leonie hastete zurück in die Küche. Scheiße, welche Firma feierte heute? Der Kalender sagte „Wandpaneele Wörther“. Wann hatte er sich dort beworben? Hatte er das schon geplant, während sie noch zusammen gewesen waren? Sie schloss die Augen. Er durfte sie nicht sehen. Auf gar keinen Fall. Um ein Haar wäre Bert in sie hinein gerannt, als er das nächste Tablett holte.
„Sag mal, ist das nicht dein Exfreund da hinten?“
Leonie nickte. „Kannst du ihn übernehmen? Ich muss ihn wirklich nicht sehen.“
„Klar, kein Problem.“
„Danke.“
Sie atmete aus. Der gute Bert. Obwohl Neugier in seinen Augen lag. Hoffentlich kam er nicht auf die Idee, mit Lukas zu reden. Vorsichtshalber griff sie einen Salzstreuer und schüttete ein wenig Salz über ihre linke Schulter. Direkt ins Waschbecken, sie wollte ja nicht den Boden dreckig machen. Bert sah ihr kopfschüttelnd zu, sagte aber nichts. Er hatte sich an ihre Macken gewöhnt. Bevor er, frisch beladen mit neuen Sektgläsern, die Tür aufstieß, zögerte er.
„Weißt du ...“
„Was?“ Sie setzte ihr leeres Tablett auf der Spüle ab und schnappte sich in der gleichen Bewegung ein neues.
„Ich kündige zum Ende des Monats.“
Leonie hätte beinahe die Gläser fallen gelassen. Sie fing sich gerade noch.
„Was? Warum?“
„In zwei Monaten schreibe ich meinen Master. Darauf will ich mich konzentrieren.“ Er sah zu Boden. „Ich habe das mit Beate durchgesprochen; sie ist einverstanden. Sie zahlt eine Weile die Miete und dann bekomme ich hoffentlich einen Job. Einen Richtigen.“
„Ja, das wäre schön.“ Leonie riss sich zusammen. „Das klingt gut, Bert. Ich freue mich für dich.“
„Na ja, irgendwann muss man sich vom Kellnern losreißen, nicht wahr?“
„Ja. Klar. Ich höre ja auch bald auf.“ Leonie lächelte bemüht.
Bestimmt. Nachdem Leonie 10 Kisten Sekt verteilt hatte, fand sie endlich einen Augenblick zum Verschnaufen. Sie ließ sich auf den wackeligen Klappstuhl in der Küche fallen. Gesprächsfetzen drangen an ihr Ohr. Gläser klirrten. Die Geräusche vermischten sich zu einem beruhigenden Brummen und Klingen.
Leonie blickte durch den Spalt der Schwingtür, die Küche und Festsaal trennte. Wandpaneele Wörther hatte viel Geld in die Feier investiert. Die Deko in den Firmenfarben, blau und gelb, war nicht nach Leonies Geschmack. Aber sie musste zugeben, dass der Raum beeindruckend aussah. An jeder Wand waren falsche Säulen aufgereiht, die Tische brachen vor lauter Blumen fast zusammen und sechs Kronleuchter erhellten die Tanzfläche. Niemand tanzte. Alle waren damit beschäftigt, elegant herumzustehen. Leonie, die man stets mit Gewalt am Tanzen hindern musste, runzelte die Stirn. Da hinten standen sie. Keine andere hatte die katzengleiche Eleganz von November; keine andere lachte so glockenhell. Nie zu laut natürlich. Alles, was sie tat, war perfekt.
Leonies Brust presste sich zusammen. Das Atmen wurde so schwer, dass sie den obersten Knopf ihrer Bluse lösen musste. November passte in seine Welt. Besser, als Leonie es je getan hatte. Sie wünschte nur, es würde nicht so weh tun. Lukas hatte sie vor über vier Jahren abgeschossen. Es sollte nicht mehr schmerzen. Sie versuchte zu atmen, aber ihr Hals schien zu eng, um mehr als einen winzigen Lufthauch aufzunehmen. Sie ballte die Fäuste. Egal. Da waren drei Leute mit leeren Sektgläsern. Sie hatte einen Job zu erledigen.
Leonie schaffte es zu lächeln, bis sie wieder Luft bekam. Niemand bedankte sich, wenn sie ihnen die Kelche in die Hände drückte. Sie kam Lukas und November nie zu nahe. Das war nicht einfach. Sie schienen sich jede Sekunde an eine neue Stelle zu beamen. Es gab bestimmt keinen Herrn mit grauen Schläfen und Anzug, mit dem sie noch nicht geredet hatten. Sie strahlten. Leonie schluckte ihren Neid herunter. Ihr Vater hatte gesagt, Neid schade dem Neider am meisten. Ihr Vater hätte im Übrigen gewollt, dass Leonie mit diesen Anzugträgern Sekt trank und lachte, statt ihn zu servieren. Aber daran wollte sie nicht denken. Lukas und November steuerten die Fensterfront an. Leonie wich gerade noch rechtzeitig zur Bar zurück. Sie verteilte einige Sektgläser an die grauen Massen. Grau? Sie stutzte. Je weiter sie ging, desto bunter wurde die Kleidung. Wo kamen die ganzen Farben her? Dann erkannte sie es. Frauen tummelten sich in dieser Ecke. Ihre Kleider leuchteten wie ein bunter Strauß. Blutrot, kornblumenblau, sogar kanarienvogelgelb. Sie bildeten einen Kranz um eine Gruppe Männer. Leonie lugte an einer blonden Dauerwelle vorbei. Was gab es hier zu sehen? Was guckten sich die ganzen Damen an?
Sie erkannte seine Stimme, bevor sie ihn sah. Raphael Hagen. Das durfte nicht wahr sein. Waren alle Menschen, die sie nie wieder sehen wollte, in diesem Raum versammelt? Raphael, dieser Bastard, stand im Profil zu ihr. Er konnte sie also nicht sehen. Leonie widerstand dem Impuls, ihm das Tablett an den Kopf zu werfen. Ganz ruhig. Die Schulzeit war lange vorbei. Sicherlich war er jetzt ein netter, ausgeglichener Mensch. Sicherlich. Sie sah ihn reden wie einen König zu seinem Hofstaat. Die Frauen scharten sich um ihn, die Männer hingen an seinen Lippen. Die glänzenden Gesichter der anderen Männer zeugten von Wohlstand und reichhaltigem Essen. Kein Vergleich zu Raphael. Mit dessen Wangenknochen hätte man Brot schneiden können.
Er beendete seine Geschichte und badete im Lachen seiner Zuhörer. Einer der anderen reichen Bubis wandte den Kopf. Er erblickte Leonie. Oh nein. Er deutete ungeduldig auf sein leeres Sektglas und winkte sie her. Leonie duckte sich hinter eine Säule und verschwand aus seinem Blickfeld. Wie in Zeitlupe drehte sich Raphaels Kopf. Er hatte sie nicht gesehen, oder? Das durfte er nicht. Leonie hetzte weiter, das leere Tablett in den Händen. Sie hätte Lukas beinahe gerammt. Einen Millimeter vor ihm schaffte sie es, zu bremsen. Seine Augen weiteten sich. Sie hatte diese Augen einmal sehr gemocht.
„Leonie?“
„Hi. Wie geht’s?“ Sie lächelte höflich.
Lukas stand da wie festgefroren. November glitt an seine Seite und nahm seinen Arm. Das Taubenblau ihres Kleides passte so gut zum Anthrazit seines Anzugs wie ihr honigbraunes Haar zu seinem blonden.
„Leonie. Schön, dich zu sehen. Arbeitest du immer noch hier?“ Ihre perfekten Zähne glitzerten, als sie sprach. Leonie rang sich ein weiteres Lächeln ab.
„Nicht mehr lange. Wie geht es euch? Du bist jetzt im sechsten Monat, nicht wahr?“
November legte eine Hand auf ihren Bauch. Der schmale goldene Ring daran funkelte im Licht der Kronleuchter.
„Im Siebten. Nicht mehr lange und wir sind endlich zu dritt.“
„Das ist aber schön.“ Leonie musste hier weg. Sofort. Aber Lukas schoss plötzlich vor und packte ihren Arm.
„Mach bitte keine Szene“, flüsterte er.
„Keine Sorge.“ Die letzte und einzige Szene war vier Jahre her. Wie kam er darauf, dass sie jetzt ihren Job riskieren würde, um sich zu rächen? Sie riss sich los. „Ich muss leider wieder an die Arbeit. Macht´s gut, Leute.“
Sie drehte sich um und stand vor Raphael. Was zur Hölle? Er starrte sie an.
„Leonie?“ Seine Stimme klang rau.
„Gut erkannt.“ Sie biss die Zähne zusammen und wartete. Ein Grinsen wie es höhnischer nicht sein konnte erhellte sein Gesicht.
„Leonie Biersack. Die Uniform steht dir.“
Sie hätte ihm das Tablett ins Gesicht hauen können, beherrschte sich aber.
„Danke. Tschüss. Ich muss weiter.“
Er stellte sich ihr in den Weg. Leonie war weder klein noch zierlich, aber er überragte sie um fast einen Kopf. Seine Augen starrten auf sie nieder. Komische Dinger, seine Augen. Das hatte sie früher schon gedacht. Sie hatten die Farbe von Eisbonbons. Das kälteste Blau, das man sich vorstellen konnte.
„Wie geht es dir?“, fragte er.
Trottel. Das konnte er doch sehen. Leonie hob das Kinn. Sie hatte schon damals nichts auf seine Meinung gegeben und jetzt war nicht der Moment, damit anzufangen.
„Supergut“, Sie betonte jede einzelne Silbe. „Und dir?“
„Nicht schlecht.“ Seine Zähne blitzten. Ob er und November denselben Zahnarzt hatten? „Ich habe einen neuen Job. Abteilungsleiter bei Wandpaneele Wörther.“
„Klingt prickelnd. Bist du nicht auch dort, Lukas?“
„Er ist Assistent des Abteilungsleiters.“ November drückte seine Hand.
„Ach, du bist Raphaels Assistent?“
„Genau. Ein interessanter Posten.“ Lukas´ Lächeln war so schmal wie unaufrichtig. Oha, das gefiel ihm nicht. Er hatte schon in der Schule in Raphaels Schatten gestanden. Nun, immerhin hatte er eine Karriere. Leonies Finger schlossen sich fester um das Tablett.
„Hast du nicht auch BWL studiert, Leonie?“ Klar, dass Raphael direkt ihren wunden Punkt erwischte. Woher wusste er das überhaupt?
„Ich musste unterbrechen. Familiäre Gründe.“
„Du hast immer noch nicht weiter gemacht?“, fragte Lukas. „Wie lange kellnerst du inzwischen? Fünf Jahre? Sechs?“
„Tja.“ Gott, sie wollte weg. Sie wandte sich an Raphael. „Und was hast du vor, jetzt wo du zurück bist? Reich werden? Schöne Frauen verführen?“
Er grinste schon wieder, der Sack. Und plötzlich hatte er ihre Finger in der Hand. Seine Lippen fühlten sich weich an, als er ihren Handrücken küsste. Leonie war so schockiert, dass sie nichts tat.
„Nur eine.“
Sie entriss ihm ihre Hand. „Und wie heißt die arme Frau?“
„Leonie Biersack.“
Was zur - was? Er durchbohrte sie mit seinem eisigen Blick. Wie in einem Fiebertraum sah sie, dass er einen Schritt auf sie zu machte. Leonie haute ihm das Tablett auf den Kopf. Nicht zu fest natürlich. Es klang wie ein Gong.
„Nein danke.“ Sein Sinn für Humor hatte sich nicht verbessert in all den Jahren. Bevor er antworten konnte, stampfte sie an ihm vorbei.
Danach ignorierte sie die Drei, so gut es ging. Was nicht leicht war. Immer, wenn sie ihnen über den Weg lief, wurde sie angestarrt. Raphaels gruseliger Blick, Novembers Rehaugen, Lukas´ misstrauisches Starren. Leonie war froh, als die Gäste endlich aufbrachen. Herr Decker blieb verschwunden. Sie würde einen neuen Vorgesetzten einarbeiten müssen, den Dritten in diesem Jahr. Müde kontrollierte sie die Küche, dann verließ sie das Hotel durch den Seitenausgang. Manchmal fragte Bert, ob es ihr nicht lästig war, dass sie immer als Letzte ging. Dass sie es war, die alles regelte, wenn ein Chef überfordert war, wenn alles um sie herum zusammenbrach. Was für eine seltsame Frage. Sie war stolz darauf.
Es regnete, als Leonie zuhause ankam. Tropfend öffnete sie die Tür zur Diele und stand vor dem üblichen Problem: Wo konnte sie ihren Mantel aufhängen? Es war nicht leicht. Seit dem letzten Besuch ihrer Mutter hingen von allen Garderobenhaken Rosmarinsträuße. Also breitete sie den Mantel über einer Kiste aus. Die Kiste gehörte ebenfalls ihrer Mutter. Leonie musste sie bitten, das Zeug abzuholen. Immer noch standen überall Reste ihres gescheiterten Klangschalen-Versands herum, zu viele für Leonies winzige Wohnung.
Sie öffnete die Schlafzimmertür, warf sich auf ihr Bett und wühlte sich unter die Decken. Sie würde duschen müssen. Die Zähne putzen. Aber zuerst fünf Minuten ausruhen. Leonie schloss die Augen und lauschte den Geräuschen. Über ihr knackte die Decke; Schritte erklangen. Wasser rauschte durch die Leitung und der Regen prasselte gegen das Fenster. Ihre Bettdecke roch nach Waschmittel. Leonie vergrub ihr Gesicht darin. Sie liebte ihre Wohnung. Die dunklen Holzdielen, die hellen Vorhänge, die Küche mit den karierten Fliesen. Die niedrige Miete. Ohne die hätte sie nie als Kellnerin arbeiten und gleichzeitig ihre Schwester unterstützen können. Es klingelte.
Leonie rollte sich stöhnend aus dem Bett und trottete zur Tür.
„Mein Engelchen! Meine Rettung!“
Ihre Mutter platzte in den Raum. Das moosgrüne Kleid flatterte hinter ihr her wie ein Banner. Trotz der Falten um ihren Mund war Aura Biersack eine schöne Frau. Die kupferroten Haare hatte Leonie von ihr geerbt, obwohl die Farbe bei Aura inzwischen mehr Henna als Natur war. So zierlich wie sie war Leonie seit der sechsten Klasse nicht mehr gewesen. Als sie sich umarmten, hatte sie Angst, Aura zu zerbrechen.
„Mein Inspirationsmäuschen, du musst mir helfen!“, sagte ihre Mutter. „Es ist furchtbar! Das Finanzamt will eine Einnahme-Überschussrechnung!“
„Was? Bis wann?“
„Bis morgen!“ Auras Augen weiteten sich.
„Bis morgen? Das dürfen sie nicht. Man hat immer eine Frist, vier Wochen oder so.“
„Die hatte ich auch. Aber ich habe gespürt, dass es nicht der richtige Zeitpunkt dafür war, mit dem abnehmenden Mond und allem. Ottmar hat mir ebenfalls davon abgeraten. Ich konnte sie also erst heute machen und jetzt komme ich nicht damit klar. Kannst du mich retten, Seelenengelchen?“
Leonie lächelte. „Natürlich.“
„Fantastisch!“
Ihre Mutter knallte einen Karton vor Leonies Füße. Super. Noch einer.
„Was ist das?“
„Alle Rechnungen vom letzten Jahr. Wir werden sie sortieren und gucken, welche relevant sind.“
„Okay“, Leonie kratzte sich am Hinterkopf. „Ich setze erstmal Tee auf. Magst du auch einen?
„Oh ja, Bärlauch-Springkraut, wenn du das da hast. Ich muss nur schnell das Auto umparken, Engelchen. Ich stehe im Halteverbot.“
Schon war sie weg. Leonie trug den Karton in die Küche, setzte eine Kanne Tee auf und begann mit dem Sortieren. Es ging schneller als sie gedacht hatte. Bevor ihre Mutter wiederkam, hatte sie bereits ihren schrottreifen Laptop zum Laufen gebracht und eine halbe Exceltabelle gefüllt. Der Tee war kalt.
„Entschuldige, Mäuschen, ich habe ewig keinen Parkplatz gefunden.“ Aura strahlte. „Weißt du, als ich ausstieg, breitete sich vor mir der schönste Park aus, den du dir vorstellen kannst. Ich musste ihn durchqueren. Es fühlte sich an, als würde etwas nach mir rufen. Und leicht wie eine Feder und klar wie ein Sonnenstrahl, trugen meine Füße mich zu ihr.“
„Zu ihr?“, fragte Leonie. Es hätte sie nicht gewundert, wenn ihre Mutter einer Elfenkönigin begegnet wäre.
„Eine Buche. Das war ein Baum, sage ich dir! Groß, stolz, die Arme dem unendlichen Himmel entgegengestreckt. Ich habe mich ihr genähert und achtsam ihre Rinde berührt. Dann, als die Blätter leise zu mir flüsterten, legte sie mir ein Geschenk zu Füßen. Sieh her.“
Hoffentlich kein totes Eichhörnchen, dachte Leonie. Das wäre nicht das erste Mal gewesen. Und sie wusste nie wohin mit den Dingern. Aber die Hand ihrer Mutter öffnete sich und enthüllte eine Buchecker. Leonie bedankte sich. Sie legte die Buchecker in einen Korb auf dem Fensterbrett. Darin befanden sich bereits drei Eichenblätter, ein Kieselstein und zwei Vogelfedern.
„Ich bin bei den Ausgaben bis zum Juli gekommen“, sagte Leonie, „Guck mal hier. Kannst du das entziffern? Ist die vom Schreiner?“
Ihre Mutter überflog die Quittung, die Leonie ihr hinhielt. „Nein, die ist von Melissa, der Feng-Shui-Expertin. Eine wunderbare Frau. Sehr spirituell.“ Ihr Blick wanderte zu Leonies Gesicht. Sie betrachtete ihre Tochter zum ersten Mal genauer. „Herzsternchen, was ist mit dir? Deine Ausstrahlung ist ganz chaotisch. Ist etwas passiert?“
„Nicht wirklich.“
„Herzsternchen, lüge nicht. Das ist schlecht für die Seele.“
Leonie seufzte. „Ich habe Lukas getroffen. Und November. Sie waren auf der Party im Hotel, auf der ich gearbeitet habe.“ Sie umfasste ihre kalte Teetasse. „November ist schon richtig rund. Aber es steht ihr. Natürlich. Lukas hat jetzt einen Job in dieser Wandpaneele-Firma.“
„Das klingt nicht sehr aufregend.“
„Nein.“ Leonie lachte. Ein trauriges Lachen. Was war los mit ihr? „Aber es ist ein richtiger Beruf. Kein Aushilfsjob wie Kellnerin. Ich bin inzwischen die Älteste im Team.“
„Aber du magst das Kellnern doch.“
„Schon, nur ... Mama, ich habe BWL studiert! Noch ein Semester und ich wäre fertig. Dann könnte ich endlich was Richtiges machen. Aber ich unterstütze Nina jetzt seit Jahren und komme nicht dazu, es zu Ende zu bringen. Mir reicht´ s.“
„Ach, Mäuschen. Diese Dinge sind nicht wichtig.“ Ihre Mutter lehnte sich über den Küchentisch und drückte Leonies Hand.
„Doch, das sind sie. Weißt du, wer noch da war? Raphael Hagen.“
„Warst du nicht in den verliebt?“
„Nein!“ Leonie knallte ihre Teetasse auf den Tisch.
„Sicher? Ich weiß noch, wie du damals erzählt hast, dass ein richtiger Märchenprinz in eure Klasse gekommen ist.