Leonis – Herz über Kopf durch die Zeit - Marina Neumeier - E-Book

Leonis – Herz über Kopf durch die Zeit E-Book

Marina Neumeier

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Beschreibung

Einmal mehr muss Rosalie den Lauf der Zeit retten – auf sich gestellt im Rom der Renaissance »Ich stecke in der Vergangenheit fest – schon wieder, und ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, wie ich das alles wieder geradebiegen soll.« Kaum sind Rosalie und Leo aus ihrem Abenteuer in Florenz zurückgekehrt, werden sie in München mit einem neuen Problem konfrontiert: Die Tabula Rubina, das mächtige Artefakt des Rubiner-Ordens, ist verschwunden, und ausgerechnet Rosalie gerät unter Verdacht. Als Leo auch noch eine schmerzliche Offenbarung macht, flüchtet sie sich Hals über Kopf in die Vergangenheit. Gestrandet im Rom des Jahres 1500 überschlagen sich die Ereignisse, als Rosalie eine neue Fähigkeit in sich entdeckt, und plötzlich hängt der Lauf der Zeit mehr denn je von ihr ab. Denn Lucian Morell treibt hier noch immer sein Unwesen ... »Ein gelungener Zeitreise Roman, der definitiv Spaß macht zu lesen.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Man erfährt neues und die Vergangenheit wird zur Gegenwart. Absolut lesenswert.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Unglaublich gelungene Fortsetzung im alten Rom.« ((Leserstimme auf Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2020

Redaktion: Friedel Wahren

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow.

Covergestaltung: Cover&Books by Rica Aitzetmüller

Covermotiv: stock.adobe.com

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

1. München, 17. November

2. Die Hüter der Portale

3. München, 18. November

4. Via Cassia

5. Angitia renata

6. Palazzo Eliseo

7. Der erste Tag

8. Kardinal Orlandi

9. Furien

10. Dienstherren und Mägde

11. Modus Operandi

12. Colosseo

13. Biblioteca Vaticana

14. Das rote Buch

15. Spurensuche

16. Fieberwahn

17. Drusilla

18. Des Papstes Adjutantin

19. Luna nera

20. Endspiel

21. Aqua Virgo

22. München, 05. Dezember

Danksagung

Für PatiWeil du die beste Freundin der Welt bist.

1. München, 17. November

Warum starrt er mich immer noch an?

Professor Kippings Blick durchbohrt mich und er scheint kraft seiner Gedanken in meinen Kopf spähen zu wollen. Ich kann einfach nicht wegsehen, obwohl ich mich mit jeder Sekunde unbehaglicher fühle.

Fünf Minuten sind vergangen, seit Viktor in die Bibliothek hereinplatzte und mitteilte, dass sich die Tabula Rubina in Luft aufgelöst habe. Fünf Minuten, in denen Professor Kipping verkündete, er habe einen Verdacht, wer dafür verantwortlich sei. Und nun starrt er mich an. Unverwandt, ohne zu blinzeln.

Ich starre zurück, völlig entgeistert und den Kopf voller Fragen. Soll das heißen, seiner Meinung nach habe ich etwas mit dem Verschwinden der Tabula Rubina zu tun? Oder ist es doch nur ein klassisches Starren nach dem Motto Ich bin völlig in Gedanken versunken und sehedich überhaupt nicht? Meint er mich vielleicht gar nicht?

Dicht neben mir steht Leo, mein Zeitreisepartner, der sich keinen Millimeter bewegt hat. Ich spüre die Anspannung in jeder Faser seines Körpers, und er wirkt wie versteinert. Schockiert ihn das Verschwinden der Rubintafel so sehr, oder liegt es an Professor Kippings vielsagendem Blick in meine Richtung? Ich weiß es nicht.

Innerlich stoße ich einen tiefen Seufzer aus. Ein Drama wie dieses kann ich im Augenblick wirklich nicht gebrauchen. Gerade eben sind Leo und ich von einem knapp vierwöchigen Trip in die Vergangenheit zurückgekehrt. Fünfhundert Jahre ins Florenz der Renaissance zurückversetzt, wo wir es schaffen mussten, einen Mordanschlag auf Lorenzo de’Medici zu verhindern, damit sich der Gang der Geschichte nicht von Grund auf verändert. Ich bin erschöpft, habe eine Verletzung am Arm und wünsche mir nichts sehnlicher als eine heiße Dusche. Und vielleicht eine Tasse Kaffee. Oh ja, das würde mich an diesem Morgen richtig glücklich machen.

Stattdessen stehe ich noch immer hier, im Hauptquartier des Rubinerordens, der so etwas wie die Schirmherrschaft über Zeitreisende wie Leo und mich innehat, und frage mich, was Professor Kipping denkt. Er ist der Großmeister des Ordens in München (oder Präzeptor, wenn man die sperrige Amtsbezeichnung verwenden will) und gleichzeitig einer meiner Professoren an der Uni. Wenn ich nicht gerade mehr oder weniger freiwillig Zeit in der Vergangenheit verbringe, studiere ich Kunstgeschichte. Bis vor Kurzem hatte ich nicht die leiseste Ahnung von der Fähigkeit, die in mir schlummert. Nun ja, bis ich Leo begegnete, der die Zeitreisefähigkeit in mir wachrief. Jetzt befindet sich an meinem rechten Handgelenk gut sichtbar ein bläulich schimmerndes Mal, der Zodiakus, das Symbol meines neuen Talents.

Wie schon so oft zuvor pocht das Mal gerade unter meiner Haut wie ein zweiter Pulsschlag, und das erfüllt mich mit Unruhe. Bisher verhieß es nichts Gutes, wenn mein Mal so pochte.

Als ich eine sanfte Berührung an den Fingerknöcheln spüre, linse ich auf meine Hand. Leo fährt mit den Fingerspitzen kaum merklich über meine Knöchel, und ich erhasche einen Blick auf seinen rötlichen Zodiakus, von dem ein schwaches Glühen ausgeht. Also spürt er es auch.

Die stumme Anspannung im Raum löst sich jäh auf, als draußen auf dem Flur Stimmen laut werden. Professor Kipping wendet endlich den Blick von mir und mustert seinen Assistenten Viktor fragend. Der wirkt allerdings ratlos.

Schon bevor die Tür zur Bibliothek aufgestoßen wird, dringt eine erregte Stimme aus dem Flur herein.

»Wo ist sie? Wo ist meine Schwester?«

Die Tür fliegt auf und mein Bruder Paul stürmt herein. Ihm folgen zwei Männer, die nach Atem ringend an der Tür stehen bleiben und ihn mit vorwurfsvollen Blicken bedenken.

Mein Herz hüpft vor Freude, als ich Paul sehe. Das blonde Haar steht ihm wild vom Kopf ab, und Entschlossenheit glüht in seinen Augen, während er sich umschaut. Als er mich entdeckt und sieht, wie dicht ich neben Leo stehe, verdüstert sich seine Miene unheilvoll.

Offenbar setzt er seine unheimlichen Großer-Bruder-Fähigkeiten ein und erkennt sofort, dass sich das Verhältnis zwischen Leo und mir verändert hat. Und das scheint ihm überhaupt nicht zu gefallen.

»Du!«, grollt er und deutet mit dem Finger auf Leo, während er mit großen Schritten auf uns zukommt. »Nimm die Pfoten von meiner Schwester!«

Erst jetzt wird mir bewusst, dass Leo meine Hand genommen hat und sie hastig loslässt, als Paul mit großen Schritten auf uns zukommt. Mein Bruder umarmt mich so heftig, dass meine Rippen protestierend ächzen. Aber das kümmert mich nicht, denn nach genau dieser Umarmung habe ich mich wochenlang gesehnt. Erleichtert vergrabe ich das Gesicht an Pauls Schulter, und für einen Moment verblasst ringsum alles. Ich bin einfach nur froh, ihn zu sehen. Schließlich wussten wir lange nicht, ob wir es schaffen, in unsere Zeit zurückzukehren. Paul ist meine Familie, mein bester Freund und Vertrauter, und ich habe ihn mehr vermisst als alles andere. Tränen brennen mir in den Augen, als er sich von mir löst und mich eindringlich mustert.

»Ich habe mir solche Sorgen gemacht«, raunt er und wischt mir mit dem Daumen eine Träne von der Wange. »Nachdem das Portal kollabiert ist …« Über meine Schulter hinweg wirft er einen Blick auf das Gemälde La Primavera, das in unveränderter Schönheit auf der Staffelei steht. Er atmet tief durch und seufzt.

»Und jetzt auch noch die Tabula!« Er lässt mich los und wendet sich zu Professor Kipping und Viktor um. »Ich war im Planetensaal, als das Verschwinden der Tabula Rubina gemeldet wurde. Als Olbrich hereinkam und zu Viktor sagte, dass Rosalie und Leopoldo zurückgekehrt sind, konnte ich es kaum glauben.«

»Ja«, stimmt Professor Kipping zu. »Ein außergewöhnlich glücklicher Zufall, dass die beiden es geschafft haben. Das Zeitfenster war denkbar klein.«

Während ich der Unterhaltung der beiden folge, bildet sich in meinem Kopf ein immer größeres Fragezeichen. Was genau hat das zu bedeuten? Mir ist bewusst, dass ich noch viel zu wenig über die Hintergründe des Zeitreisens, den Orden und die Tabula weiß. Aber offenbar gibt es einen Zusammenhang zwischen den Portalen und der Tafel. Alle Anwesenden scheinen es zumindest sehr ernst zu nehmen.

»Wir müssen sofort aktiv werden«, verkündet Professor Kipping energisch. »Je schneller wir dieser mysteriösen Sache auf den Grund gehen, desto besser. Ansonsten besteht die Gefahr, dass uns alles entgleitet.«

Viktor und die beiden Männer, die mit Paul hereingekommen sind, nicken zustimmend. Mein Bruder allerdings geht auf Professor Kipping zu.

»Verzeihung, Professor, ich möchte meine Schwester jetzt nach Hause bringen«, sagt er. »Mir ist klar, dass Sie sie angesichts der neuesten Ereignisse hier behalten wollen, aber sie ist vollkommen erschöpft. Sie war wochenlang nicht mehr zu Hause und hat sich einen Tag Pause verdient, finden Sie nicht auch?«

Professor Kipping mustert uns zunächst schweigend. Als er mich ansieht, muss ich an das kurze silbrige Aufflackern in seinen Augen denken. Ich schaudere, weil ich das bisher nur einmal gesehen habe, und zwar bei Lucian Morell. Und das hat mich gelehrt, silberne Augen zu fürchten.

Professor Kipping seufzt. »Es wäre mir tatsächlich lieber, wenn Rosalie hierbliebe, aber ich muss mir zunächst einen Überblick über die Lage verschaffen. Kann ich mich darauf verlassen, dass sie morgen wiederkommt, wenn wir sie brauchen?«

»Ja, Professor«, beteuert Paul.

Zwar geht es mir ziemlich gegen den Strich, wie hier über meinen Kopf hinweg Entscheidungen getroffen werden, aber ich bin schlichtweg zu erledigt, um Einwände zu erheben. Und im Grunde will ich ja auch nichts anderes, als endlich wieder nach Hause zu kommen und ein wenig Ruhe zu haben, bevor der Wahnsinn weitergeht.

Professor Kipping wirkt zwar nicht glücklich, aber er nickt und hebt die Hand zum Abschied. Im nächsten Moment hat er sich schon zu Viktor umgedreht und die beiden stecken die Köpfe zusammen.

Fürsorglich legt mir Paul einen Arm um die Schultern und zieht mich mit sanftem Nachdruck mit sich. Durch den voluminösen Rock des historischen Kleids, in dem ich immer noch stecke, halte ich nur mühsam mit ihm Schritt. Mehr stolpernd als aufrecht gehend eile ich neben ihm die Flure des Hauptquartiers entlang, bis wir in dem runden Foyer ankommen, das ich schon kenne. An der Wand hängt die beeindruckende astronomische Uhr und erfüllt den Raum mit leisem Ticken und Surren.

»Rosalie!«

Ich wende den Kopf, als jemand hinter mir meinen Namen ruft. Leo kommt im Laufschritt durch den Flur und kommt schlitternd auf dem blanken Marmorboden des Foyers zum Stehen.

»He, warte mal!«, keucht er. »Kann ich dich kurz sprechen? Allein.« Er wirft Paul einen vielsagenden Blick zu.

Mein Bruder grummelt etwas Unverständliches, lässt aber den Arm von meinen Schultern gleiten und geht auf das Portal zu. »Ich warte draußen am Wagen. Beeil dich, ja?«

Es passt ihm ganz offenkundig nicht, mich mit Leo allein zu lassen. Ich muss ihm nachher in Ruhe erklären, dass sich in der Zwischenzeit einiges geändert hat und Leo nicht mehr ausschließlich das unerträgliche Ekelpaket ist, als das wir ihn beide kennengelernt haben.

Leo kommt einige Schritte auf mich zu, bis er dicht vor mir steht. Als ich den Kopf hebe und ihm in die Augen blicke, verpuffen sofort alle Gedanken an meinen überfürsorglichen Bruder. Leo ist blass, kein Wunder nach den Strapazen der letzten Tage. Das Meergrün seiner Iris schillert jedoch in ungebrochener Klarheit.

»Wolltest du wirklich gehen, ohne dich zu verabschieden?«, murmelt Leo. Der Klang seiner gedämpften Stimme mit dem italienischen Akzent sorgt dafür, dass sich die feinen Härchen auf meinen Armen aufrichten.

»Ich …äh …« Ehrlich gesagt war ich so von dem Gedanken vereinnahmt, endlich wieder in mein Zuhause zurückzukehren, dass ich Leo schlichtweg vergessen habe.

»Rosalie Gryphius, du bist eine grausame Frau«, erklärt er gespielt ernst. »Kaum taucht dein Bruder auf, lässt du mich links liegen, eh?«

Skeptisch hebe ich die Brauen. »Wenn du damit andeuten willst, dass wir …«

Leo lacht. »Ich ziehe dich doch nur auf. Schließlich seid ihr nicht die Borgias.«

Spielerisch boxe ich ihm gegen den Arm. »Haha!«

Grinsend fasst Leo nach meinen Händen und hält sie hinter meinem Rücken fest, während er mich näher zu sich heranzieht. »Ich wollte noch etwas mit dir besprechen, bevor du in die Obhut deines Bruders entschwindest.«

Er lässt meine Handgelenke los und schiebt mir eine lose Haarsträhne hinters Ohr. »Kam es mir nur so vor, oder meinte Professor Kipping dich, als er sagte, er habe einen Verdacht, wer mit dem Verschwinden der Tabula zu tun hat? Er hat dich die ganze Zeit so komisch angesehen.«

Bei seinen Worten kehrt das ungute Gefühl von vorhin zurück und landet als schwerer Klumpen in meinem Magen. Also ist es nicht nur mir aufgefallen.

»Ich habe keine Ahnung, was das sollte«, murmele ich und kann die Gereiztheit in meiner Stimme nicht unterdrücken. »Was hat das überhaupt zu bedeuten? Er erfährt, dass sich die Tabula in Luft aufgelöst hat, und im nächsten Moment verkündet er schon, dass ihm klar ist, wer damit zu tun hat. Woher will er das wissen?« Vor Aufregung werde ich immer lauter, bis meine Worte von den hohen Wänden des Foyers widerhallen.

Leo legt mir einen Finger auf die Lippen, um mich zu beruhigen. »Pst, piano! Vielleicht hat es ja gar nichts zu bedeuten. Ich bleibe hier und versuche herauszufinden, was vor sich geht. Wahrscheinlich war Professor Kipping nur in Gedanken und hat deswegen dich angestarrt.«

Seine Hände umfassen mein Gesicht, und er blickt mir unverwandt in die Augen. »Wir haben unsere Aufgabe in Florenz erfüllt und sind zurückgekehrt. Auch wenn hier gerade das Chaos ausbricht, darfst du das nicht vergessen. Du hast es geschafft.«

Er senkt den Kopf und presst mir die Lippen auf den Mund. Es ist ein kurzer Kuss, keiner von der heftigen, glühenden Sorte wie gleich nach unserer Rückkehr, als ich ihn beinahe umgeworfen habe. Aber er verfügt über die Kraft, meine Beine in Gelee zu verwandeln.

»Geh jetzt, ruh dich aus! Wir sehen uns morgen.«

2. Die Hüter der Portale

Mit laufendem Motor wartet Paul in unserem uralten VW Golf vor dem Eingang zum Hauptquartier. Da wir mitten in der Stadt wohnen, benutzen wir das Auto selten, aber mein Bruder hat wohl beschlossen, mich feierlich nach Hause zu chauffieren. Als ich die Tür öffne und auf den Beifahrersitz gleite, umfängt mich augenblicklich der vertraute muffige Geruch der alten Sitzpolster, und mir entweicht ein tiefer Seufzer. Meine Röcke nehmen einen erheblichen Teil des Fußraums ein, und ich brauche ein paar Minuten, um die Stoffmassen zu verstauen.

»Dich in diesem Outfit zu sehen, macht mir erst richtig klar, dass du jetzt eine Zeitreisende bist«, bemerkt Paul, während er das Auto rückwärts aus der schmalen Arcanusstraße hinauslenkt. Diese unscheinbare Straße mitten in München umgibt eine unerklärliche, düstere Aura, die sie vor den Blicken der Menschen verbirgt. Wahrscheinlich wirkt sie auf Passanten so finster und abweisend, dass niemand sie betreten möchte. Ich atme unwillkürlich durch, als wir uns in den Verkehr einfädeln und die Arcanusstraße hinter uns lassen.

Die restliche Fahrt über schweigen wir, während ich nach draußen starre und das Treiben in der Stadt beobachte. Schon beim alltäglichen Anblick von Fahrrädern oder einem Müllauto klopft mir das Herz vor Freude. Sogar das Grau der Straßen kommt mir nicht so trist vor wie sonst. Gleichzeitig fällt mir auf, dass mir von der emsigen Betriebsamkeit ringsum allmählich der Kopf schwirrt. Nach Wochen in der ruhigen Beschaulichkeit des fünfzehnten Jahrhunderts erscheint mir die moderne Welt wie ein schillerndes Kaleidoskop aus Eindrücken.

In unserer Straße angekommen, rangiert Paul den Wagen in eine Parklücke am Straßenrand. Wir haben es beide eilig, ins Haus zu kommen, und hasten mit hochgezogenen Schultern durch den einsetzenden Nieselregen ins Treppenhaus. Oben in der Wohnung bleibe ich einen Moment im Eingang stehen und atme tief durch. Der vertraute Geruch meines Zuhauses umhüllt mich wie eine warme Decke und beruhigt mein Nervenflattern. Alles ist genau so, wie ich es zurückgelassen habe. Der Spiegel neben der Tür hängt noch immer leicht schief, und Schuhe liegen überall in der kleinen Diele herum. Paul hat in meiner Abwesenheit nicht einmal den Sonnenblumenstrauß weggeworfen, der inzwischen welk und vertrocknet in der Vase am Fensterbrett steht.

Mein Bruder steht an der Tür zum Wohnzimmer und wirft mir einen forschenden Blick zu. »Willst du erst einmal duschen?«

Ich nicke sofort, begeistert von der Vorstellung, wieder fließend heißes Wasser zur Verfügung zu haben. Doch zuerst nehme ich meine treue Umhängetasche ab und ziehe mein Handy heraus. Wie nicht anders zu erwarten, ist der Akku leer.

»Gib es mir!«, sagt Paul und streckt die Hand aus. »Ich stecke es ans Ladekabel.«

Im Bad befreie ich mich von meinem Renaissance-Gewand, was gar nicht so einfach ist. Bisher hatte ich immer Hilfe beim Auskleiden, aber die historische Robe aus eigener Kraft auszuziehen, stellt mich vor ungeahnte Herausforderungen. Die Ärmel lassen sich noch einigermaßen leicht aufschnüren, schwierig wird es mit dem Miederteil. Ich drehe und verrenke mich und bin kurz davor, Paul um Hilfe zu bitten, da kann ich mich doch herauswinden. Atemlos puste ich mir eine Haarsträhne aus der Stirn und drapiere das Kleid sorgfältig über dem Wäschekorb, weil es viel zu kostbar ist, um es achtlos auf den Boden zu pfeffern. Beim Blick in den Spiegel fällt mir die Bandage am linken Arm auf. Die Wunde pocht nach dem Kampf mit dem Kleid ein wenig, aber sonst hätte ich sie beinahe schon wieder vergessen. Vorsichtig löse ich den Verband und atme erleichtert auf. Die Verletzung sieht gut aus, bei Weitem nicht so dramatisch, wie ich es nach einem Streifschuss erwartet hätte. Es hat sich bereits Schorf gebildet, und nichts deutet auf eine Entzündung hin. Trotzdem nehme ich mir vor, die Wunde nach dem Duschen mit antiseptischer Heilsalbe einzureiben. Als ich endlich unter die Dusche hüpfe, bin ich so ungeduldig, dass ich nicht abwarte, bis das Wasser warm wird, sondern mich direkt unter den kalten Schauer stelle. Noch nie im Leben hat sich eine Dusche so gut angefühlt. Das heiße Wasser umfängt mich wie eine wohlige Ganzkörperumarmung, und seufzend lasse ich mich hineinsinken. Göttlich. Absolut göttlich. Dreimal schäume ich mir den Kopf ein und verbrauche Unmengen an Kurspülung, bis sich mein Haar nach Wochen der Pflege mit Seife wieder gesund und geschmeidig anfühlt. Ich könnte stundenlang unter der Dusche stehen, ohne dass das Wasser kalt wird. Anders als in der Vergangenheit, als das Badewasser mühsam von Hand erhitzt wurde und ich mich in einen kleinen Bottich hocken musste.

Als ich mich schließlich doch dazu durchringen kann, die Dusche zu beenden, wickle ich mich in ein flauschiges Handtuch und eile in mein Zimmer, um mir frische Kleidung herauszusuchen. Summend wühle ich in meinen Schubladen herum und seufze vor Wohlbehagen, als ich in eine Jogginghose und ein weiches Sweatshirt schlüpfe. Mir war überhaupt nicht klar, wie sehr ich meine gemütlichen Gammelklamotten vermisst habe.

Im Wohnzimmer werde ich von dem verführerischen Duft von Kaffee und Rührei willkommen geheißen. Paul verteilt gerade die Eier auf zwei Teller und hebt lächelnd den Kopf, als ich hereinkomme. Wie ferngesteuert gehe ich auf den Esstisch zu und greife nach der gefüllten Kaffeetasse. Ich zittere vor Vorfreude, als ich den ersten Schluck nehme und der Geschmack auf meiner Zunge explodiert. Bitter, vollmundig und samtig. Das ist der Himmel! Glücklich lasse ich mich auf einen Stuhl sinken und schwelge in meinem ersten Kaffee seit Wochen. Paul schiebt mir einen Teller mit Rührei und frischem Toastbrot zu, und ich stelle die Tasse ab, um heißhungrig eine Gabel voll zu nehmen. Der Geschmack breitet sich in meinem Mund aus, und … unwillkürlich verziehe ich das Gesicht. Bäh, ist das salzig!

Mühsam schlucke ich den Bissen hinunter und nehme einen großen Schluck Kaffee, um den Geschmack zu vertreiben. »Meine Güte, Paul, wie viel Salz hast du in die Eier gestreut? Bist du immer noch verknallt?«

Mein Bruder mustert mich mit hochgezogenen Brauen. Dann nimmt er einen Bissen von seinem eigenen Teller und zuckt die Achseln. »Das ist genauso gewürzt wie immer. Was hast du denn? Bisher hat dir mein Rührei doch immer geschmeckt.«

Stirnrunzelnd betrachte ich meine eigene Portion. Und dann wird mir klar, was los ist. Paul hat das Essen nicht versalzen, ich bin diese Würze nur nicht mehr gewohnt.

»In der Vergangenheit wurde kaum Salz verwendet, weil es so teuer und selten war. Ich habe mich wohl so sehr daran gewöhnt, dass es mir jetzt zu viel ist«, erkläre ich entschuldigend.

Paul rollt mit den Augen. »Schau sie dir an!«, unkt er. »Kommt aus der Vergangenheit zurück und ist zu Miss Empfindlich geworden. Ab jetzt also nur noch basische Küche?«

Unter dem Tisch verpasse ich ihm einen Tritt. »Ich bin eben gerade ein bisschen empfindlich. Aber zu viel Salz ist ohnehin ungesund.« Lachend beiße ich in den gebutterten Toast.

 

Ich genieße noch zwei weitere Scheiben Toast und einige Gabeln voll Rührei. Paul schenkt mir ungefragt Kaffee nach, und eine Weile frühstücken wir in geselligem Schweigen, bevor er seinen leeren Teller von sich schiebt und die Ellbogen auf dem Tisch abstützt.

»Wir haben viel zu besprechen, hm?« Er fährt sich durch den widerspenstigen hellblonden Schopf. Als sich unsere Blicke treffen, sehe ich Müdigkeit und eine stumme Bitte in seinen Augen. Also erzähle ich ihm, was passiert ist, seit ich im Keller der Alten Pinakothek in das Gemälde von Botticelli gefallen bin.

Pauls Augen werden immer größer, während ich meine Zeit im Florenz des Jahres vierzehnhundertachtundsiebzig beschreibe. Er unterbricht mich nicht, sondern hört nur zu, während ich von Sandro Botticelli und Leonardo da Vinci berichte und wie wir es geschafft haben, Lorenzo de’Medici am Tag des Attentats zu retten.

Erst als ich Lucian Morell erwähne, öffnet mein Bruder den Mund. Vor Aufregung glühen seine Wangen. »Erzähl mir alles, was du über ihn weißt! Wie sah er aus? Verdammt, ihr seid wahrscheinlich die Ersten, die ihn seit Hunderten von Jahren gesehen haben!«

Es ist nicht schwer, ihm Lucian zu beschreiben, denn die Erinnerung an ihn hat sich wie Säure in mein Gedächtnis eingebrannt. So schnell werde ich den Kerl nicht vergessen, insbesondere nachdem ich ihm eine mehrere Zentimeter lange Haarnadel in den Hals gerammt habe.

»Ich fasse es nicht«, murmelt Paul. »Wirklich unglaublich, dass ihr ihm begegnet seid … dass du gegen ihn gekämpft hast.«

Er stützt den Kopf in die Hände. »Ich bin fast durchgedreht, als du an jenem Tag nicht nach Hause gekommen bist. Leo wollte dich dem Orden vorstellen, stattdessen erfahre ich, dass ihr zwei in der Vergangenheit verschollen seid und keiner weiß, ob und wann ihr zurückkehrt, weil euer Portalgemälde hinter euch kollabiert ist.«

»Man hat dir nicht gesagt, was passiert ist?«

Pauls Augenbrauen ziehen sich grimmig zusammen. »Die Rubiner waren wohl zu beschäftigt damit wie kopflose Hühner im Kreis zu rennen, statt mich gleich zu informieren. Stell dir vor, es stand zu befürchten, dass ihre zwei wertvollsten Instrumente für immer in Raum und Zeit verschollen wären. Da dachte niemand daran, mir Bescheid zu sagen. Am Abend fuhr ich ins Hauptquartier, nachdem ich den ganzen Tag nichts von dir gehört hatte, und erfuhr dort, was passiert war. Vier Wochen lang warteten wir jeden Tag auf eure Rückkehr und behielten alle Gemälde aus dem Umkreis der Medici im Auge. Wir konnten schließlich nicht wissen, wie lange ihr brauchen würdet. Unsere Hoffnung bestand lediglich darin, dass sich etwas verändert und dadurch erkennbar wird, ob ihr Fortschritte macht.«

Das klingt logisch. Jede Veränderung der Vergangenheit hat unmittelbare Auswirkungen auf die Gegenwart. Und diese Veränderungen sind am schnellsten in Kunstwerken oder Literatur zu erkennen.

»Und dann sah es gestern plötzlich danach aus, als hättet ihr Erfolg gehabt. La Primavera regenerierte sich, und am späten Abend war Lorenzos Vita wieder die alte. Der Orden traf sämtliche Vorbereitungen, und jede Minute wurde mit eurer Rückkehr gerechnet. Aber ihr seid nicht gekommen …«

Paul vergräbt die Zähne in der Unterlippe, und ich sehe ihm an, wie sehr ihm die bangen Stunden des Wartens zu schaffen gemacht haben. Das Portalgemälde hatte sich in der Gegenwart wieder regeneriert, aber wir kamen trotzdem nicht zurück.

»Die Warterei hat mich wahnsinnig gemacht. Die Rubiner haben zwar versichert, dass das Portal wieder voll funktionstüchtig sei, aber ich habe mir trotzdem Horrorszenarien ausgemalt, weshalb ihr nicht zurückkehren konntet.«

»Es lag an meiner Verletzung«, sage ich leise und versuche das Zittern in meiner Stimme zu verbergen. »Ich musste mich ausruhen, bevor ich die Heimreise antreten konnte. Mann, ich hätte mir echt gewünscht, aus der Vergangenheit mit dir kommunizieren zu können!«

Paul zieht eine Grimasse. »Soll ich beim Orden anfragen, ob ich mich mit einem intertemporären Kommunikationsverfahren beschäftigen darf? Die Entwicklung würde bestimmt Spaß machen.«

Ich rolle mit den Augen und verbeiße mir ein Schmunzeln. Es ist so klar, dass er einen Scherz reißt. Paul redet nicht gern über seine Gefühle, aber bei diesem Gespräch hat er keine andere Wahl. Und ich weiß, dass ihm das bewusst ist.

»Die ganze Zeit über, während du fort warst, habe ich an dich gedacht und mich gefragt, wie es dir gerade geht. Ob du wohlauf und in Sicherheit bist.« Er rauft sich die Haare und starrt auf die Tischplatte. »Ich musste einfach daran glauben, dass es dir gut geht. Es ist meine Schuld, dass du in diesen Schlamassel geraten bist. Die Vorstellung, es könnte dir schlecht gehen, war unerträglich.« Pauls Stimme klingt ganz rau vor unterdrückten Emotionen.

In mir breitet sich Ratlosigkeit aus. Fragen und Gefühle, die angesichts der gewaltigen Ereignisse der letzten Wochen völlig in den Hintergrund gerückt sind, brechen sich wieder Bahn. Was hat Paul mit dieser ganzen Sache eigentlich zu tun? Warum wusste ich nichts über seine Mitgliedschaft im Orden, bevor sich herausstellte, dass ich eine Zeitreisende bin? Und warum gibt er sich die Schuld dafür?

»Paul«, sage ich sanft, weil er noch immer bis in die letzte Faser angespannt ist. »Warum bist du Mitglied im Orden? Und seit wann?«

Er schweigt so lange, dass ich schon glaube, er antwortet nicht mehr, doch schließlich hebt er doch den Kopf. »Sie haben mich letztes Frühjahr angeworben. Irgendwie sind sie auf meine hobbymäßigen Forschungsarbeiten über die Raumzeit aufmerksam geworden und mit mir in Kontakt getreten. Der Rubinerorden besteht hauptsächlich aus Wissenschaftlern verschiedenster Disziplinen, die alle daran arbeiten, die Geheimnisse der Tabula weiter zu enträtseln. Ich bin Teil der Abteilung Kosmos, die sich mit den physikalischen Abläufen hinter den Zeitreisen beschäftigt.«

Ich spüre, wie mir die Hitze in den Kopf steigt. Das ist doch … ausgerechnet mein Bruder arbeitet seit Monaten hinter meinem Rücken für eine Geheimgesellschaft, um Zeitreisen zu erforschen?

»Du bist so ein Lügner!«, platzt es aus mir heraus. Ich bin so wütend, dass ich mich kaum auf dem Stuhl halten kann. »Kannst du dich noch daran erinnern, wie wir über Outlander gesprochen haben? Du hast dich geweigert, die Serie zu schauen, und sie lächerlich genannt, weil es darin um Zeitreisen geht. Du hast mir lang und breit erklärt, warum wir in unserem Universum nicht durch die Zeit reisen können. Während du bereits für die Rubiner gearbeitet und mich an sie verpfiffen hast, als ich von einem Zeitsprung erzählte.«

Ich hatte noch keine Zeit, mich damit auseinanderzusetzen, doch dass er das getan hat, verletzt mich noch immer. Wie konnte er die Rubiner alarmieren, ohne davor noch einmal mit mir zu sprechen oder mich zumindest zu warnen? Ich war völlig unvorbereitet, als Leo auftauchte und mir mitteilte, dass ich ab sofort Zeitreisende bin und ihn ins Hauptquartier der Rubiner begleiten soll. Seit diesem Zeitpunkt haben sich die Ereignisse überschlagen.

Paul ist blass geworden. »Ich konnte dir nichts darüber verraten, Rosa. Der Orden legt Wert auf strikte Geheimhaltung, und ich musste auf die Tabula schwören, niemandem von meiner Tätigkeit zu erzählen. Nicht einmal dir. Glaub mir, dir das alles zu verschweigen, war das Schwerste überhaupt.«

Das mag ja sein, aber ich bin trotzdem keineswegs bereit, ihm sofort zu verzeihen. »Ich bin deine Schwester, und du hast mich ins offene Messer laufen lassen. Wusstest du, dass die Möglichkeit besteht, ich könnte der Aquarius sein?«

»Nein, das wusste ich nicht«, gesteht Paul zähneknirschend. »Der Orden hält die Informationen über die Geburtskoordinaten neuer Zeitreisender streng geheim, und ich bin längst nicht weit genug aufgestiegen, um mit eingeweiht zu werden. Über dieses Wissen verfügt nur der enge Kreis um den Präzeptor. Allerdings denke ich allmählich …« Er stockt und beißt sich auf die Unterlippe. »Inzwischen glaube ich, dass meine Aufnahme in den Orden kein Zufall war. Es ist eine enorme Glückssache, ob ein Zeitreisender seinen ergänzenden Partner wiederfindet, aber heutzutage gehen die Rubiner dabei systematischer vor, eine Begegnung zu unterstützen. Geburtsdaten sind leichter zugänglich, werden genauer und systematischer erfasst. Der Orden hat eine Abteilung, die sich nur mit der Analyse und Auswertung dieser Daten beschäftigt und mögliche Zeitreisende im Auge behält. Womöglich ist man bei den Recherchen auf dich gestoßen und hat mich rekrutiert, damit ich Bescheid weiß und mich melde, sobald ich eine Auffälligkeit bei dir bemerke. Und genau das habe ich ja auch getan.«

Sein Blick ist jetzt offen, voller Aufrichtigkeit und Reue, was es schwer macht, meinen Zorn auf ihn weiter aufrechtzuerhalten. Außerdem muss ich die neuen Informationen verarbeiten, die er mir gerade offenbart hat. So wie er es erzählt, kling es tatsächlich plausibel, dass mein mögliches Schicksal als Zeitreisende ein Grund für seine Anwerbung in den Orden war. Ganz abgesehen davon, dass mein Bruder ein genialer Wissenschaftler ist, der dort bestimmt noch von Nutzen sein wird.

»Schön, dass du einsiehst, welchen Mist du gebaut hast!«, fauche ich und greife nach meiner Tasse, um einen großen Schluck Kaffee zu trinken.

»Seit Mama und Papa tot sind, habe ich immer auf dich aufgepasst. Ich bin dein großer Bruder, und ich wollte immer nur, dass du in Sicherheit und glücklich bist. Wahrscheinlich habe ich instinktiv gespürt, dass der Orden für dich nur Ärger bedeutet, und wollte dich davon fernhalten.«

Wow, das hat gesessen. Seine leisen Worte schaffen es, dass meine Wut in sich zusammenfällt wie ein Kartenhaus.

»Ich wollte nie Geheimnisse vor dir haben, Rosa.« Über den Tisch hinweg streckt er mir die Hand entgegen, und ohne Zögern greife ich danach. Erleichterung überkommt mich, denn ich mag es wirklich nicht, auf meinen Bruder wütend zu sein. Außerdem bin ich keine nachtragende Person.

»Keine Geheimnisse mehr«, stimme ich zu und drücke ihm die Hand.

Einige Minuten lang sagt keiner von uns etwas. Ich nippe weiter an meinem Kaffee und denke darüber nach, was Paul gesagt hat.

»Was genau bedeutet das Verschwinden der Tabula für den Orden?«, will ich schließlich wissen und stelle damit eine meiner dringlichsten Fragen. Zwar bin ich seit einem Monat Zeitreisende, doch alle Hintergründe habe ich noch nicht wirklich durchblickt. Vor allem interessiert mich, was es mit der sagenumwobenen Tabula Rubina auf sich hat.

Paul seufzt. »War ja klar, dass der italienische Mistkerl es dir noch nicht erzählt hat.«

»Hör auf ihn so zu nennen! Wir hatten wichtigere Dinge im Kopf.«

»Ernsthaft, du verteidigst ihn? Darf ich dich daran erinnern, dass du ihn von der ersten Minute an nicht ausstehen konntest? Hat er dir etwa den Kopf verdreht?«

Ich blase die Backen auf. »Erste Eindrücke sind manchmal falsch, Paul. Aber jetzt lenk nicht vom Thema ab!«

Grummelnd lehnt sich Paul auf seinem Stuhl zurück. »Du willst also wissen, was die Tabula für den Orden bedeutet, ganz abgesehen davon, dass er sich nach ihr benannt hat.« Auf der Suche nach den richtigen Worten tippt er sich gedankenverloren ans Kinn. »Es hängt alles mit Lucian und Frederick Morell zusammen. Logisch, oder? Sie waren Zeitreisende wie schon so viele vor ihnen, aber sie haben als Erste entdeckt, wie man die Tabula Rubina benutzt.«

Inzwischen hänge ich an Pauls Lippen, begierig, mehr über die Ursprünge des Zeitreisens zu erfahren. Als ich nicke, räuspert Paul sich und fährt fort.

»Vor langer Zeit lagen die Portale der Zeit offen, für jeden zugänglich, der ihre Geheimnisse kannte. Es waren besondere Orte wie Stonehenge oder die Pyramiden von Gizeh, die noch heute von dieser Legendenbildung umgeben sind. Doch die Portale waren wankelmütig, wer durch sie hindurchreiste, verfügte über keinerlei Kontrolle, wo oder wann man landete. Und irgendwann verschwanden die Berichte über Zeitreisende und wurden zu Legenden und Hirngespinsten. Es waren die Morells, die im siebzehnten Jahrhundert die uralten Schriften des Hades Pantamegistos wiederentdeckten. Darin berichtete er, dass den Menschen bewusst geworden war, welche Macht ein Einzelner über Raum und Zeit erlangen kann. Hades beschloss daraufhin, alle Portale in der Tabula Rubina zu bannen, sie zu verschließen, um die Menschen in ihrer Gier zu stoppen. Damit ein Einzelner nie mehr allein nach dieser Macht greifen konnte.«

Paul legt eine Pause ein und wirft mir einen Blick zu, um zu überprüfen, ob ich ihm noch folge. »Also gut, er hat es geschafft, die Portale in der Tabula zu versperren«, bestätige ich. Wie genau Pantamegistos das bewerkstelligt hat, frage ich besser gar nicht erst. Irgendetwas sagt mir, dass die Antwort mein geistiges Fassungsvermögen sprengen würde. »Wie ging es weiter?«

»Nun, Lucian und Frederick haben Pantamegistos’ Bann gebrochen und die Portale wieder geöffnet. Denn obwohl die Portale verschlossen worden waren, wurden immer noch Menschen mit der Fähigkeit zum Zeitreisen geboren. Sie hatten nur keine Möglichkeit mehr, diese zu nutzen. Außerdem hatten die Reisenden vor Pantamegistos’ Maßnahme kaum Kontrolle über ihre Zeitsprünge und konnten manchmal nur einmal im Leben ein Portal benutzen. Die Brüder wollten dies ändern und schafften es nicht nur, die Portale wieder zu öffnen, sondern entdeckten in den Schriften auch einen Weg, selbst darüber zu bestimmen. Und zwar mit der Tabula Rubina. Mit ihrer Hilfe lassen sich Portale erschaffen, die ein zielgerichtetes Reisen durch die Zeit ermöglichen. Die Morells fanden bald heraus, dass sich Gemälde dafür am besten eignen. Es sind keine frei zugänglichen Orte mehr, über die jeder stolpern kann, sondern Fenster in eine andere Zeit. Die Macht der Portale entfaltet sich, sobald die letzten Pinselstriche ausgeführt wurden, und dies stellt sicher, dass man in der Zeit der Fertigstellung landet, sobald man sich auf den Weg in die Vergangenheit gemacht hat. Seit seiner Gründung versteht sich der Orden der Rubintafel als Hüter der Portalgemälde. Die Tabula verleiht ihm die Gewalt über die Portale … und damit auch über die Zeitreisenden. Nur durch ihre Macht werden sie kontrolliert und offen gehalten.«

Eine seltsam feierliche Stimmung liegt in der Luft, als Paul endet. Die Geheimnisse, die er gerade enthüllt hat, flirren wie greifbar durch den Raum. Und endlich verstehe ich. Ohne die Tabula haben die Rubiner also keine Macht über die Portale. Jetzt ist mir völlig klar, warum vorhin alle so ausgeflippt sind.

»Heißt das, dass keins der Portalgemälde mehr funktioniert?«, will ich wissen.

Nachdenklich wiegt Paul den Kopf. »Im Moment sind sie alle noch intakt, aber in einigen Tagen werden sie ohne die Anwesenheit der Tabula instabil, und die ersten werden kollabieren. Ein bisschen so, wie es mit La Primavera passiert ist. Die alten, mächtigen werden am längsten durchhalten, doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie alle ruiniert sind. Sobald der Orden über mehr Einzelheiten verfügt, wird man euch auf die nächste Mission schicken, um dem Verschwinden in der Vergangenheit nachzuspüren.«

Mein Herz setzt einen Schlag lang aus. Eine weitere Mission … schon wieder? »Was ist, wenn ich das nicht will?«, protestiere ich. »Ich bin doch gerade mal seit ein paar Stunden zurück!«

»Glaub mir, das gefällt mir auch nicht«, beschwichtigt mich Paul. »Aber die Situation ist äußerst gefährlich. Der Orden geht gewissenhaft mit der Tabula um, doch wer auch immer sie an sich gebracht hat, könnte schlimmen Schaden anrichten.«

»Nun, wenn es nach Professor Kipping geht, ist längst klar, wer dafür verantwortlich ist«, schnaube ich.

Paul wirkt überrascht. »Tatsächlich?«

Ich erzähle ihm von Professor Kippings Bemerkung und dass Leo und ich den Eindruck hatten, er habe mich damit gemeint.

Zu meiner Überraschung entfährt Paul ein Prusten. »Das kann nicht dein Ernst sein! Dich zu beschuldigen, ist das Letzte, was ich Professor Kipping zutraue.«

Gereizt verschränke ich die Arme vor der Brust. »Leo hatte denselben Eindruck«, halte ich dagegen.

»Ach, wenn das so ist!«

»Mir ist das ernst, Paul, ich habe mir diesen Blick nicht eingebildet.«

Pauls Miene wird angesichts meines Tonfalls nun doch nachdenklich.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er etwas weiß«, sagt er dann voller Überzeugung. »Das kann er gar nicht, oder?«

Ich zucke die Achseln. »Woher soll ich das wissen? Seitdem ich durch die Zeit reisen kann, glaube ich an so einiges. Vielleicht kann er ja hellsehen.«

»So ein Quatsch, kein Mensch kann hellsehen!«

Ich muss grinsen, weil es so absurd klingt ihn das sagen zu hören, wo er doch Mitglied in einer Gesellschaft ist, die sich mit sehr realen Zeitreisen beschäftigt, als wären sie das Normalste der Welt. Einen Moment lang überlege ich, ihn auf das silberne Aufblitzen in Professor Kippings Augen anzusprechen, das ich vorhin wahrgenommen habe. Aber bevor ich etwas sagen kann, ertönt das durchdringende Schrillen der Türklingel.

Erschrocken wende ich mich Richtung Flur. »Das wird doch nicht jemand vom Orden sein, oder? Sie haben gesagt, dass ich einen Tag Pause bekomme und mich erst morgen wieder blicken lassen muss.«

Für einen weiteren Trip in die Vergangenheit bin ich wirklich noch nicht bereit. Wenn jemand vor der Tür steht, der mich ins Hauptquartier zurückbringen will, werde ich mich schlichtweg weigern. Mir steht eine Nacht in meinem eigenen Bett zu, bevor ich mich wieder ins Abenteuer stürze … falls ich das überhaupt vorhabe. Obwohl ich wahrscheinlich keine große Wahl habe.

Paul stemmt sich von seinem Stuhl hoch. »Ich glaube nicht, dass es jemand vom Orden ist. Die würden nicht sturmklingeln.«

Mich überkommt das Gefühl, dass er genau weiß, wer da so vehement klingelt, und ich beobachte ihn argwöhnisch, während er zur Wohnungstür geht. Er drückt den Summer, und im nächsten Moment sind Schritte zu hören, die die knarrende Holztreppe heraufpoltern. Ich höre eine atemlose weibliche Stimme, und dann schiebt sich die zierliche Gestalt meiner besten Freundin Lara an Paul vorbei in die Wohnung. Ich springe auf und werde fast von ihr umgeworfen, als sie auf mich zustürmt und mich umarmt.

»Ich konnte es gar nicht glauben, als Paul mir schrieb, dass du wieder da bist! Ich war in der Bibliothek und bin so schnell wie möglich hergekommen.« Laras Stimme klingt undeutlich, weil sie in mein Haar hineinspricht und mich nicht loslässt, als ich sie sanft wegschieben will.

»Lara, du erstickst mich!«

Endlich lockert sie ihren Würgegriff und mustert mich betreten. Dabei sehe ich, dass ihr Tränen in den dunkelblauen Augen stehen.

»He, nicht weinen!«

»Kein Problem«, schnieft Lara. »Ich habe mir ein Wimpernlifting machen lassen und brauche keine Mascara mehr. Jetzt kann ich so viel weinen, wie ich will.«

Wir müssen beide lachen. Das ist so sehr Lara, dass ich mich überhaupt nicht mehr einkriege. Ich bin so froh, dass sie hier ist! Giggelnd wie zwei Schulmädchen stehen wir da, bis Lara irgendwann dicke Tränen über die Wangen kullern und sie mich wieder umarmt.

»Ich dachte, du bist für immer verloren«, schnieft sie an meiner Schulter, und ich habe wieder Mühe, sie zu verstehen. »Meine beste Freundin war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt, und niemand wusste, ob sie zurückkommen würde. Paul meinte, dass diese Zeitreise ein Versehen war, aber wir konnten uns nicht verabschieden, es gab keine Vorwarnung. Irgendwann wurde mir klar, dass du nicht einfach in Urlaub gefahren bist oder in einem Funkloch feststeckst. Du hast in dieser Welt nicht mehr existiert, warst vielleicht für immer fort. Das war total hart. Ich hatte so oft mein Handy in der Hand und habe dir über irgendetwas Belangloses eine Nachricht geschrieben. Bis mir klar wurde, dass ich dich nicht erreichen kann. Vielleicht nie mehr.«

Sie hält mich nach wie vor fest umklammert, während alles aus ihr herausbricht. Der Stoff meines Shirts fühlt sich an der Schulter schon ganz nass an, doch diesmal löse ich die Umarmung nicht. Was sie sagt, bricht mir das Herz, weil es mir genauso ergangen ist, und doch muss es für sie viel schlimmer gewesen sein. Die Ungewissheit war sicher unerträglich.

 

Den restlichen Tag sitzen wir auf der Couch und bringen uns gegenseitig auf den neusten Stand. Lara hat eine Tüte mit Süßigkeiten aus der Tasche geholt, und beim Anblick von Schokolade und Gummibärchen bin plötzlich ich es, die mit den Tränen kämpft. Im Gegensatz zu Salz haben meine Geschmacksknospen keinerlei Problem mit der herrlichen Süße von Industriezucker, und das erleichtert mich ungemein.

Lara lauscht meinem Bericht über die Ereignisse in Florenz mit deutlich mehr Begeisterung als Paul, dem ich seine Besorgnis die ganze Zeit angesehen habe. Sie betrachtet meine Zeitreise jetzt, da ich wieder sicher und wohlbehalten zurück bin, als spannendes Abenteuer und will jedes Detail erfahren.

Mein Hals ist schon ganz kratzig vom vielen Reden, als ein Geräusch, das ich schon eine Weile nicht mehr gehört habe, meine Aufmerksamkeit auf sich zieht … das charakteristische Piepsen meines Handys, das eine neue Nachricht meldet. Offenbar ist das Gerät wieder ausreichend geladen und hat sich von selbst angeschaltet. Und jetzt hört es überhaupt nicht mehr auf zu piepsen. Ich greife hinter mich, wo das Handy auf einem kleinen Beistelltisch zum Laden liegt, und ziehe es vom Kabel. Der Akku ist zu achtzig Prozent voll, und der Sperrbildschirm zeigt den Hinweis, dass ich neue Nachrichten habe. Neugierig tippe ich die Pin ein und öffne die Nachrichten-App. Uff, da hat sich ja einiges angesammelt! Zuerst fallen mir Laras zahlreiche Nachrichten ins Auge, gefolgt von denen diverser Freunde, die sich nach mir erkundigen. Ganz oben allerdings befindet sich eine Mitteilung von einer Nummer, die ich nicht kenne, abgeschickt vor einer Stunde. Ich klicke darauf, und mein Herz sackt mir in den Magen, als ich sehe, was mir da geschickt wurde. Mindestens zehn Fotos. Sie laden nervtötend langsam, und alles in mir kribbelt vor Aufregung, bevor ich das erste Bild öffnen kann. Es ist das Foto, das Leo am Ostersonntag in Florenz von mir gemacht hat, bevor wir uns auf den Weg zum traditionellen Lo-Scoppio-del-Carro-Spektakel gemacht haben. Im Gegensatz zu mir hat er nämlich daran gedacht, sein Handy in der Vergangenheit auszuschalten, und hatte somit noch Akku, um zu fotografieren.

Auf dem Bild trage ich die prächtige pfauenblaue Festtagsrobe, die eigens für mich geschneidert wurde, während mein Haar zu einer dieser opulenten Frisuren geflochten ist, die meine Hausmagd Peppina so meisterhaft gezaubert hat. Es ist ungewohnt, mich selbst in dieser Aufmachung zu sehen, mitten in einem Schlafzimmer, das ich vor fünfhundert Jahren bewohnt habe. So surreal, ein digitales Foto aus dieser Zeit zu sehen!

Nachdem ich den Handybildschirm mehrere Minuten lang schweigend angestarrt habe, beugt sich Lara neugierig zu mir herüber und linst auf das Foto. Ihre Augen werden riesengroß, und kurzerhand greift sie nach dem Gerät.

Sie stößt ein ungläubiges Geräusch aus. »Ist es das, was ich glaube, dass es ist?«

»Wie bitte?« Ich kann ihr nicht ganz folgen.

Ungehalten fuchtelt sie mit dem Handy vor meiner Nase herum. »Ist das ein verdammtes Foto aus der Vergangenheit? Denn danach sieht es aus.«

»Ach so, ja. Leo hat mich einmal mit seinem Handy fotografiert.«

Bei meinen Worten verengen sich Laras Augen zu Schlitzen. Sie sieht aus wie ein Raubtier, das Witterung aufgenommen hat und eine ungute Ahnung überkommt mich.

»Leo«, sagt sie gedehnt und wischt mit dem Finger über das Display. »Über ihn hast du nicht besonders viel erzählt. Glaub ja nicht, dass du mich mit den tollen Geschichten über Sandro Botticelli und Lorenzo de’Medici ablenken kannst. Immerhin habt ihr beide wochenlang als Ehepaar zusammengelebt und … oh!«

Aufgeregt hopst sie auf den Sofakissen auf und ab. Inzwischen ist sie beim Durchblättern der Fotos auf die Selfies gestoßen, die Leo und mich zeigen. Laras Augen werden kugelrund, und ich befürchte, dass sie ihr jeden Moment aus den Höhlen kullern.

Lara fährt zu mir herum und hält mir das Handy so dicht vors Gesicht, dass ich bestimmt schiele, während ich etwas zu erkennen versuche. »Raus mit der Sprache!«, fordert sie stürmisch. »Ich kenne diesen Blick bei Männern. Wie er dich auf diesem Bild anschaut zeigt eindeutig, dass er absolut verknallt ist.«

Sie hat Leos Gesicht vergrößert, sodass es den gesamten Bildschirm einnimmt. Er hat den Kopf leicht nach unten geneigt und betrachtet mich lächelnd von der Seite. Ich kann mich noch genau an das unwirkliche Glühen seiner meergrünen Augen erinnern und wie heftig mein Herz geflattert hat.

Seufzend schiebe ich Laras aufdringliche Hand samt Handy beiseite und werfe einen Blick über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass wir allein sind. Paul hat sich schon kurz nach Laras Ankunft in sein Zimmer verzogen, damit wir in Ruhe quatschen können. Besser gesagt, damit er seine Ruhe vor unserem Gequassel hat. Die Tür zum Flur ist geschlossen, aber ich bin lieber vorsichtig. Beim letzten Mal, als ich Lara auf dieser Couch etwas Intimes anvertraut habe, hat mein Bruder uns belauscht und postwendend die Rubiner alarmiert. Jetzt scheint er aber wirklich nicht in der Nähe zu sein.

Lara mustert mich abwartend und trommelt dabei mit ihren manikürten Fingern auf den Oberschenkeln herum. Wenn ich meine eigenen Nägel so betrachte, könnten die auch mal wieder professionelle Pflege gebrauchen …

Ein ungeduldiges Räuspern hindert mich daran, weiter abzuschweifen. »Genügt es zu sagen, dass es kompliziert ist?«

Statt sich zu einer Antwort herabzulassen hebt Lara die Augenbrauen. Okay, schon kapiert, damit wird sie sich nicht zufriedengeben.

Also berichte ich en detail, was in den vergangenen Wochen zwischen mir und Leo passiert ist. Zunächst wirkt Lara wenig begeistert. Als ich ihr aber erzähle, wie ich Leo aus dem Kerker befreit habe, wird ihre Miene weicher. Und weil sie es mir ohnehin aus der Nase gezogen hätte, gestehe ich ihr sogar freiwillig, dass wir miteinander im Bett gelandet sind. Wobei ich auch das Verhütungsdesaster nicht auslasse, das mir nach wie vor schwer schwer im Magen liegt. Ich meine, wie unverantwortlich war das bitte? Inzwischen habe ich meinen Zyklus mehrmals im Kopf durchgerechnet und bin mir sicher, dass ich nicht schwanger bin. Trotzdem könnte ich mich für unsere Gedankenlosigkeit immer noch treten. Vielleicht sollte ich mir die Tage zur Sicherheit einen Schwangerschaftstest besorgen … nur um wirklich sicher zu sein.

»Ihr habt miteinander geschlafen?«, kreischt Lara so laut, dass es mit Sicherheit nicht nur Paul im Nebenzimmer hört, sondern auch das ganze Haus.

»Psst!«, zische ich und lausche besorgt, ob mein Bruder ins Zimmer gestürmt kommt. Aber es bleibt ruhig, und ich habe wohl einfach Glück, dass er wieder mal mit Kopfhörern vor dem PC sitzt.

»Das hättest du mir zu allererst erzählen müssen«, schimpft Lara.

»Ist dir das wichtiger als die Tatsache, dass wir es geschafft haben, eine unwiederbringliche Änderung der Geschichte zu verhindern?«

»Ich wusste ja schon, dass ihr es geschafft habt! Du und dein Liebesleben, ihr seid da doch tausendmal brisanter.« Mit glänzenden Augen lehnt sie sich zu mir herüber. »Wie stehen die Dinge jetzt zwischen euch?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sage ich zögernd.

Lara wirkt verdutzt. »Wie meinst du das, du bist dir nicht sicher?«

»Na ja, es hat sich einfach nicht ergeben, dass wir uns darüber unterhalten. Wir mussten uns ja immer noch auf die Mission konzentrieren. Außerdem weiß ich gar nicht, was ich wirklich für ihn empfinde.«

Lara bleibt stumm, und ihr Blick schweift zwischen mir und dem Foto auf dem Handydisplay hin und her.

»Rosalie«, sagt sie schließlich, »ich glaube, das ist richtiger Mist, den du da erzählst.«

»Wie bitte?«

»Ich kenne dich besser als irgendjemanden sonst und weiß, dass du dich nie mit einem Kerl einlässt, wenn dein Herz nicht dabei ist. Du bist so vorsichtig und bedacht, wenn es um Männer geht, und das ist wundervoll, denn es bewahrt dich vor jeder Menge Ärger.«

»Er ist einfach so verwirrend!«, platzt es aus mir heraus. Das Thema wühlt mich so auf, dass ich nicht mehr still sitzen bleiben kann, sondern aufspringe und vor dem Fernseher auf und ab tigere. »Ich habe mich noch nie so gefühlt wie mit Leo. Noch nie! Ständig sendet er mir widersprüchliche Signale, und das macht mich kirre. Ich bin so sauer auf ihn, dass ich ihn eigenhändig erwürgen könnte, und im nächsten Moment möchte ich ihn küssen. Ich traue mich einfach nicht, mit ihm über meine Gefühle zu sprechen, weil da etwas zwischen uns steht. Er hat es bisher nur angedeutet, doch das scheint der Grund zu sein, warum er oft so abweisend ist. Und trotzdem komme ich nicht dagegen an. Selbst am Anfang, als er so unausstehlich zu mir war, hatte ich keine Chance.«

»Du solltest mit ihm darüber sprechen«, sagt Lara sanft. »Woher willst du wissen, wie es ihm geht, wenn ihr nie ein offenes Gespräch geführt habt? Am Ende tänzelt ihr nur ewig umeinander herum und findet nie den Mut, euer Verhältnis zu klären.« Sie richtet sich auf der Couch auf und schaut mir unverwandt in die Augen. »Lass es dir von einer sagen, die schon jede Menge Frösche geküsst hat – das Risiko, zurückgewiesen zu werden, besteht immer. Es passiert ständig, dass einer mehr empfindet als der andere, aber immerhin weißt du dann, woran du bist.«

Ich lasse mich wieder neben Lara auf die Couch plumpsen, und sie schlingt mir einen Arm um die Schultern.

»Ich werde mit ihm reden«, verspreche ich, mehr mir selbst als Lara.

»Tu das!« Sie drückt mich ermutigend. »So, und jetzt erzähl mir ganz genau, wie er küsst.«

3. München, 18. November

Ich habe so gut geschlafen wie schon lang nicht mehr. Traumlos, tief und erholsam. Nie war meine Matratze so bequem oder die Bettwäsche weicher. So etwas lernt man erst richtig zu schätzen, wenn man wochenlang in historischen Betten geschlafen hat.

Behaglich drehe ich mich auf die andere Seite, strecke träge meine Glieder und blinzele in die morgendliche Helligkeit. Ganz langsam gleite ich aus dem friedvollen Zustand zwischen Schlafen und Wachen heraus. Mann, ist das schön, zu Hause zu sein!

Lara war gestern noch bis zum frühen Abend bei uns, ehe sie zu einer abendlichen Schicht im Café Adelheid musste. Nachdem sie aufgebrochen war, haben Paul und ich Pizza bestellt und den Abend vor dem Fernseher verbracht.

Halb wach taste ich mit der Hand über mein Nachtkästchen, bis ich mein Handy zu fassen bekomme und es anschalte. Ich reibe mir die Augen, bevor ich die Nachrichten checke, die über Nacht eingegangen sind. Lara fragt, ob Leo sich schon gemeldet hat. Gestern Abend habe ich mich noch dazu durchgerungen, ihm zu antworten, doch ein Blick auf sein Chatfenster genügt und zeigt mir, dass ich keine neue Nachricht von ihm erhalten habe. Zumindest zeigen die blauen Haken, dass er meinen kurzen Text gelesen hat. Ich lege das Handy beiseite, weil ich nicht in pubertäre Verhaltensmuster zurückfallen und auf das Display starren will, in der Hoffnung auf Antwort.

Barfuß tappe ich in die Küche. Von Paul ist noch nichts zu hören, und ich genieße die morgendliche Ruhe, während ich mir eine Tasse Kaffee koche. Dann mache ich es mir auf der Couch bequem und schalte den Fernseher ein. Ich lande auf einem Vierundzwanzigstunden-Nachrichtensender, und fasziniert wie nie zuvor verfolge ich die Beiträge über das aktuelle Weltgeschehen. Ich war so lange buchstäblich in der Versenkung verschwunden, dass in der Zwischenzeit der Dritte Weltkrieg hätte ausbrechen können. Das ist zwar nicht passiert (zumindest noch nicht), dafür wird ein langer Beitrag über die politische Krise zwischen den USA und Nordkorea gesendet, der auch ziemlich besorgniserregend klingt. Ich zappe weiter und lande bei einer Dokumentation über Pinguine in Chile, ein guter Ausgleich zu den politischen Hiobsbotschaften.

Eine halbe Stunde später kommt Paul verschlafen ins Wohnzimmer, lässt sich neben mich fallen und schnappt sich meine Kaffeetasse. Bevor ich protestieren kann, nimmt er einen großen Schluck.

»Hey, mach dir doch selbst einen!«

»Keine Zeit«, gähnt er. »Der Orden hat sich gemeldet. Du sollst um elf im Hauptquartier sein.«

Ein kurzer Blick auf die Wanduhr sagt mir, dass das schon in einer halben Stunde ist. Sofort springe ich vom Sofa auf.

»Dieser Verein hat wirklich kein Gespür für Zeitmanagement! Müssen die immer kurz vor knapp Bescheid geben?«

Schimpfend eile ich ins Bad, weil mir mal wieder viel zu wenig Zeit bleibt, um mich fertig zu machen. Schon beim ersten Mal, als ich zum Orden gerufen wurde, ging alles von jetzt auf gleich. Da kam Leo sogar vorbei und hat mich höchstpersönlich aus dem Bett geworfen.

In rekordverdächtigen zehn Minuten schaffe ich es, im Bad fertig zu werden, damit Paul nach mir duschen kann. In meinem Zimmer ziehe ich wahllos Kleidungsstücke aus dem Schrank und schlüpfe hinein. Hauptsache warm, denn draußen sieht es grau und ungemütlich aus, und Regen prasselt gegen die Fensterscheiben. Ich tippe gerade eine verärgerte Nachricht an Lara, als Paul angezogen und mit nassem Haar in meinem Zimmer erscheint.

»Bist du soweit?«

»Ja.«

Ich folge ihm in den Flur, schnappe mir meinen dunkelblauen Wollmantel vom Kleiderhaken und stopfe im Gehen das Handy in die Tasche. Mehr nehme ich nicht mit, denn ich habe nicht vor, den ganzen Tag bei den Rubinern zu verbringen. Schließlich habe ich noch ein Leben abseits des Zeitreisens, und das hat in letzter Zeit genug gelitten. Zum Beispiel habe ich die ersten vier Uniwochen verpasst, und wenn ich dieses Semester nicht komplett abschreiben will, muss ich mich mal wieder um mein Studium kümmern. Hoffentlich kann mir Professor Kipping diskret unter die Arme greifen, um meine wochenlange Abwesenheit zu erklären. Denn ohne ärztliches Attest, das mir irgendeine monatelange schwere Krankheit bescheinigt, könnte ich ziemliche Probleme bekommen.

»Weißt du, worum es geht?«, frage ich, als wir im Auto sitzen.

Paul zuckt mit den Schultern. »Es kam nur eine kurze SMS von Viktor. Keine weiteren Details.«

Ich kann es mir nicht verkneifen, die Augen zu verdrehen. Wenn mir etwas auf die Nerven geht, dann die chronische Geheimnistuerei des Ordens. Da ist es direkt überraschend, dass sie auf so profane Kommunikationsmittel wie SMS zurückgreifen. Brieftauben sind anscheinend doch aus der Mode gekommen.

Nach etwa zehn Minuten Fahrt merke ich auf und schaue zunehmend verwirrt aus dem Fenster. Gerade fahren wir das Rondell hinauf, das uns um das Monument des Friedensengels herumführt.

»Fahren wir nicht ins Hauptquartier?«, frage ich Paul.

Er wirft mir einen kurzen Seitenblick zu. »Nein, wir sollen in Professor Kippings Villa kommen.«

Nun … das überrascht mich. Gestern hat es sich danach angehört, als solle ich ins Hauptquartier zurückkehren, zumindest habe ich das ganz automatisch angenommen. »Weißt du, warum … Ach, vergiss es! Die haben dir bestimmt nicht gesagt, warum das Treffen bei Professor Kipping stattfindet.«

Paul schnaubt spöttisch. »Ich sehe schon, langsam kapierst du, wie der Laden läuft.«

Die Villa Kipping sieht noch genauso aus wie bei meinem letzten Besuch vor einigen Wochen. Lange Banner hängen an der Fassade und machen auf die Ausstellung von Professor Kippings privater Kunstsammlung aufmerksam.

Ich fühle mich leicht beklommen, als ich neben Paul die flachen Stufen zum Eingang hinaufsteige. In diesem Haus hat alles für mich begonnen. Meine erste Zeitreise habe ich von hier aus unternommen, als ich eins von Professor Kippings Gemälden berührt habe. Diese Erfahrung scheint unendlich weit zurückzuliegen. Trotzdem kann ich mich noch genau an das Gefühl von Hilflosigkeit und Entsetzen erinnern, als ich mich völlig unvorbereitet in der Vergangenheit wiederfand.

Als wir eintreten, ist das Foyer menschenleer. Ohne die Masse an schnatternden Ausstellungsbesuchern, die sich letztes Mal hier drängten, wirkt die Villa so still und ausgestorben wie ein Mausoleum.

Zielsicher durchquert Paul den Eingangsbereich, und ich folge ihm, vorbei an den verwaisten Räumen und in einen langen Flur, der mir sehr bekannt vorkommt. Hier bin ich entlanggekommen, als ich mich von der Vernissage davongestohlen habe, um Professor Kipping zu folgen. Wie beim letzten Mal gelangen wir am Ende des Flurs in die Bibliothek. Zwar hat sie nicht die beeindruckenden Ausmaße der Büchersammlung im Hauptquartier, doch auch hier reichen die weiß lackierten Regale bis unter die Decke. Außerdem faszinieren mich von jeher Räume, in denen Bücher verwahrt werden.

In einer Ecke steht eine lederne Sitzgruppe neben einem offenen Kamin aus weißem Marmor, in dem ein Feuer prasselt. Dort sitzen Professor Kipping, Viktor und Leo zusammen und führen murmelnd ein Gespräch.

Leo bemerkt unser Auftauchen als Erster und hebt den Kopf, als Paul und ich näher kommen. Sein Blick streift mich kurz, doch er schaut so schnell wieder weg, dass ich ihm nicht in die Augen sehen kann. Mhh …

Jetzt richtet sich auch Professor Kipping in seinem Ohrensessel auf. »Die Geschwister Gryphius, wunderbar, dass Sie es zeitnah geschafft haben!«

Mit einer Geste fordert er uns auf, Platz zu nehmen. Ich bin versucht, mich neben Leo zu setzen, doch Paul bugsiert mich mit einem überraschend energischen Schubs in einen Sessel am Feuer. Mit einem wenig damenhaften Plumps lande ich auf dem Sitzpolster, was mir ein herablassendes Lächeln von Viktor einbringt. Er selbst sitzt stocksteif auf einem Polsterstuhl, ein Bein über das andere gelegt und die Hände geziert vor dem Körper verschränkt. Ich wische mir eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht und funkele Paul an, der sich an meiner Stelle auf das Sofa neben Leo gesetzt hat.

Professor Kipping, der von der kurzen Szene nichts mitzubekommen scheint, hustet heiser. Erst jetzt fällt mir auf, dass er blasser ist als sonst und dass eine Wolldecke über seinem Schoß liegt. Ist er krank? Das würde zumindest erklären, warum ich hierher beordert wurde und nicht ins Hauptquartier. Vielleicht fühlt er sich zu schwach, um das Haus zu verlassen.

»Ich hoffe, Sie haben sich gut von der Rückkehr nach Hause erholt, meine Liebe«, wendet er sich an mich.

»Ja, danke. Es war wunderbar, mal wieder eine heiße Dusche zu nehmen.«

Viktor hüstelt leise. Er neigt sich zu Leo hinüber und flüstert ihm etwas ins Ohr. Beide grinsen. Seit wann tuscheln Viktor und Leo? Und warum habe ich das Gefühl, dass sie sich auf meine Kosten amüsieren?

Da Leo heute Vormittag offenbar beschlossen hat, mich zu ignorieren, und stattdessen gemeinsame Sache mit Viktor dem Vampir macht, straffe ich die Schultern und wende mich demonstrativ von ihnen ab.

Stattdessen konzentriere ich mich auf Professor Kipping und darauf, was ich gestern mit Lara besprochen habe. Nachdem ich ihr vom ominösen Verschwinden der Tabula erzählt habe, waren wir uns einig, dass ich die Rubiner heute darauf ansprechen soll. Vor allem um herauszufinden, ob Professor Kipping mich tatsächlich weiterhin verdächtigt.

»Professor, darf ich Sie fragen, ob es schon Neuigkeiten über das Verschwinden der Tabula Rubina gibt?«

Auf meine Frage hin kann ich buchstäblich beobachten, wie sich die Falten auf Professor Kippings wächserner Haut vertiefen, wie Eiskristalle, die auf einer kalten Fensterscheibe wachsen. Kurz bin ich beunruhigt, ob es falsch war, ihn so direkt zu fragen. Belastet ihn der Verlust der Tabula so sehr, dass seine Gesundheit angegriffen ist? Habe ich es gerade noch schlimmer gemacht?

Doch dann lächelt er müde. »Wir haben weiterhin nichts als Vermutungen. Den Zeitpunkt des Verschwindens in der Vergangenheit auszumachen ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Was die Sache schwierig macht, da wir Leo und Sie so bald wie möglich in die Vergangenheit schicken müssen, damit Sie den Schaden rückgängig machen. Nach Ihrem durchschlagenden Erfolg in Florenz sollten Sie diese Aufgabe gemeinsam meistern können. Allerdings brauchen wir dafür einen zeitlichen und örtlichen Anhaltspunkt.« Er wiegt den Kopf und wirkt älter denn je.

In meinem Kopf arbeitet es auf Hochtouren, während ich überlege, ob oder wie ich ihn auf die merkwürdige Situation von gestern ansprechen soll. Wie er mich angestarrt hat … und dieses silberne Leuchten in seinen Augen. Sollte ich es überhaupt tun? Ich versuche nicht allzu auffällig hinzustarren, aber heute ist keine Spur von Silber in seinen Augen zu entdecken. Wer sind Sie?, geht es mir immer wieder durch den Kopf. Doch ich kann diese Frage nicht vor allen Anwesenden stellen, nicht, wenn ich eine ehrliche Antwort bekommen will.

»Nun ja«, wirft Viktor gedehnt ein. »Ganz ohne Anhaltspunkte stehen wir nicht da, oder?«

Professor Kipping schüttelt den Kopf. »Wir haben schon gestern darüber gesprochen, Viktor. Aber bis nicht alle Details überprüft sind, spreche ich keine Anschuldigung laut aus.«

Viktors dunkle Käferaugen durchbohren mich hasserfüllt. »Da bin ich anderer Meinung … wir alle setzen höchstes Vertrauen in Ihre Einschätzung.«

Bei seinen Worten explodiert die Anspannung, die die ganze Zeit in mir geschwelt hat. In meinem Kopf summt der Zorn, und ich spüre, wie ich die Fassung verliere.

»Spuck’s aus!«, fahre ich Viktor an. »Welche Anhaltspunkte sind das?«

Er wirkt erschrocken und wird ein bisschen blass um die Nase, was mich ungemein befriedigt.

»Ihr beschuldigt mich, nicht wahr? Kurz nachdem Sie vom Verschwinden der Tabula erfahren hatten, haben Sie mich angesehen, Professor. Das ist mir nicht entgangen.«

Paul greift über die Armlehne des Sofas hinweg nach meiner Hand, doch ich schüttele ihn ab. Seit gestern zerbreche ich mir den Kopf darüber, was dieser Satz und das Starren von Professor Kipping zu bedeuten haben. Jetzt soll er mir gefälligst erklären, was es damit auf sich hat. Ich gebe mich nicht mehr mit Andeutungen und Heimlichtuerei zufrieden.

»Rosalie, Sie müssen verstehen, dass Sie trotz allem die unsicherste Variable in dieser Angelegenheit sind. Der Orden hatte noch keine Gelegenheit, Sie gründlich kennenzulernen. Wir haben noch keine Nativität für Sie gestellt, weswegen so vieles noch im Dunklen liegt …«

»Was heißt das, Sie haben noch keine Nativität für mich gestellt?«

»Nativität ist ein alter Ausdruck für ein Geburtshoroskop. In einem besonderen Ritual fertigt der Orden für jeden Zeitreisenden eine Nativität an. Aus den Gestirnen und ihrem Stand im Augenblick der Geburt lassen sich umfangreiche Prophezeiungen und Vorhersagen ableiten, die den Lebensweg beleuchten.«