Serpentis – Herz über Kopf durch die Zeit - Marina Neumeier - E-Book
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Serpentis – Herz über Kopf durch die Zeit E-Book

Marina Neumeier

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Beschreibung

Das fesselnde Finale der »Herz über Kopf«-Trilogie – eine Reise ins Venedig der Renaissance! »Ich habe einen Teil von mir verloren, dort unten in der Aqua Virgo. Einen Teil, dessen Existenz mir erst jetzt so richtig bewusst wird, wo er nicht mehr da ist. Die Verbindung zu Leo, diese unverbrüchliche Einheit unserer Zodiaki ist durchtrennt worden und es fühlt sich an, als wäre mir ein Körperteil genommen worden. Nein, ein Organ. Irgendetwas lebenswichtiges, das nun fehlt und ohne das ich verkümmern werde.« Rosalie hat es zurück in die Gegenwart geschafft, doch die Rettung der Tabula Rubina hatte einen hohen Preis: Sie musste ihren Zeitreisepartner Leo verletzt in der Vergangenheit zurücklassen. Verzweifelt sucht sie einen Weg, ihn zurückzuholen. Neue Erkenntnisse und Unterstützung von überraschender Seite bringen sie ihrem Ziel näher – und schließlich reist Rosalie ins Jahr 1507 nach Venedig. Zwischen schwimmenden Palazzi und rauschenden Festen versucht sie Leo zu finden, während eine neue Gefahr lauert: Lucian droht die Herrschaft über Raum und Zeit endgültig an sich zu reißen und ein sagenumwobener Spiegel scheint die einzige Möglichkeit, ihn noch zu stoppen.

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Friedel Wahren

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Cover&Books by Rica Aitzetmüller

Covermotiv: stock.adobe.com

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Kapitel zwanzig

Kapitel einundzwanzig

Kapitel zweiundzwanzig

Kapitel dreiundzwanzig

Kapitel vierundzwanzig

Kapitel fünfundzwanzig

Kapitel sechsundzwanzig

Kapitel siebenundzwanzig

Epilog

Danksagung

Für Sophie

Kapitel eins

München, 04. Dezember

Leo ist fort. Leo ist fort. Leo ist fort.

Diese drei Wörter sind alles, woran ich denken kann. Sie wummern durch meinen Kopf wie aufgedrehte Bässe in einem Klub, unaufhörlich, eindringlich, unmöglich zu überhören.

Ich habe ihn zurückgelassen. Er lag am Boden, verletzt, blutend, geschwächt. Und was fast noch schlimmer ist: Bei dem Versuch, ihn doch noch in die Gegenwart herüberzuretten, habe ich ihn verloren. Er wurde von meinem Portal mitgerissen, aber er hat es nicht bis in unsere Zeit geschafft. Sonst wäre er jetzt hier, bei mir. Stattdessen ist er … irgendwo.

Ich krümme die Finger und kralle sie in den feuchten Stoff meines Kleides. Doch der Schmerz meiner Nägel, die sich dabei wie Klauen in meine Oberschenkel graben, dringt nicht zu mir durch.

Gar nichts durchdringt meine rotierenden Gedanken.

Leo ist fort.

Gerade eben noch war ich mit ihm im Rom des Jahres 1500. Es scheint nur einen Wimpernschlag entfernt zu sein, dass wir in das unterirdische Aquädukt hinuntergestiegen sind, um Cesare Borgia aus Lucians Fängen zu befreien. Cesare konnten wir vor dem Ertrinken retten und somit verhindern, dass der Lauf der Geschichte sich dramatisch verändert. Leos Zodiakus dagegen scheint für immer verloren … aus seinem Leib gerissen.

Schmerzvoll kneife ich die Augen zusammen und durchlebe noch einmal den Moment, als Lucian das Messer an Leos Handgelenk ansetzte. Leos Schrei, der mich schier zerriss … wie er mich beschwor, ich solle allein zurückreisen. Ohne ihn.

Meine beste Freundin Lara, die noch mit meinem Bruder vor mir auf dem Boden kniet, zieht mich in ihre Arme. Vorhin hat sie gezögert, mich zu berühren. Vielleicht habe ich ihr Angst gemacht, wie ich da urplötzlich im Hausflur auftauche, blutbefleckt und tränenüberströmt. Doch jetzt drückt sie mich an sich

Hemmungslos schluchzend lasse ich mich in die Umarmung sinken. Lara tätschelt mir den Rücken und stößt beruhigende Laute aus, während sie mich weinen lässt. Wie Säure brennen mir die Tränen in den Augen und haben rein gar nichts Befreiendes. Wenn überhaupt, dann fühle ich mich nur noch elender, je länger ich weine.

Irgendwann löse ich mich von Lara und wische mir mit dem Ärmel über das tränennasse Gesicht. Da merke ich, dass mich Paul mit blankem Entsetzen mustert. Er ist blasser als ohnehin schon, und seine Hände zittern. Dabei starrt er auf die Stelle an meinem Oberkörper, wo sich ein großer dunkler Blutfleck auf meinem Kleid zeigt.

»Das müssen wir uns ansehen«, sagt er knapp. »Lara, hilfst du mir?«

Es ist ihm sichtlich unangenehm, die eigene Schwester auszuziehen, doch Lara ist schon zur Stelle und schnürt das Mieder auf, damit die beiden einen Blick auf meine Verletzung werfen können. Meinen Körper hat ein merkwürdiges Taubheitsgefühl befallen. Wahrscheinlich nähme ich nicht einmal einen offenen Oberschenkelbruch wahr.

Leise fluchend kämpft Lara mit dem feuchten Stoff und den Tücken des altmodischen Mieders, an dem ich selbst schon so oft entnervt gezerrt habe, wenn ich mich allein ausziehen wollte. Aber schließlich schafft sie es, das Kleidungsstück aufzuschnüren, sodass das dünne Unterkleid zum Vorschein kommt. Auf dem weißen Leinen stechen die frischen Blutflecken noch deutlicher hervor. Beherzt fasst Paul nach dem Riss, den der Dolchstich im Gewebe hinterlassen hat, und reißt es weiter auf.

Lara lässt sich neben Paul auf die Fersen zurücksinken, und an ihren schreckgeweiteten Augen erkenne ich, wie schlimm ich aussehen muss. Aber das kümmert mich nicht.

Ich habe keine klaffende Schnittwunde an der Kehle, mir wurde nicht das Handgelenk zerfetzt, damit mir der Zodiakus geraubt werden kann. Dieser Stich in meine Seite ist nicht der Rede wert im Vergleich zu dem, was Leo widerfahren ist.

Wieder will ich mich zusammenkrümmen, weil der Schmerz in meinem Innern so heftig tobt, doch Paul hält mich an der Schulter fest. Mit konzentrierter Miene betrachtet er meine Wunde, dann wechselt er einen Blick mit Lara.

Sie beugt sich vor, bis ihre Nase fast meinen Rippenbogen berührt. »Ist das … normal?«

Langsam dringt die Besorgnis der beiden zu mir durch, und ich frage mich, wie furchtbar meine Wunde wohl aussehen muss, nachdem sie so offenkundig entsetzt reagieren. Ist die Verletzung doch schwerer, als ich angenommen habe?

»Was ist denn?« Die Worte kommen als heiseres Krächzen aus meinem Mund.

Paul beißt sich auf die Unterlippe, offenbar unsicher, wie er das, was er sieht, in Worte fassen soll.

»Wann hast du dir die Verletzung zugezogen?«, will er wissen.

Ich verstehe seine Frage nicht so recht. Meine Kleidung ist von frischem Blut durchtränkt, es ist doch offensichtlich, dass die Wunde nicht von Vorgestern ist.

»Kurz bevor ich zurückgereist bin.« Energisch dränge ich die Bilder aus der Grotte zurück, die mich sofort wieder überfallen wollen, bevor ich abermals in Tränen ausbreche.

»Wollte nur sichergehen.«, murmelt Paul. »Denn die Wunde heilt bereits, die Haut ist schon so gut wie geschlossen und …« Er stockt, den Blick weiterhin auf die Verletzung gerichtet, so als könne er nicht ganz glauben, was er da sieht.

»Das sind doch Schuppen«, wispert Lara an seiner Stelle. »Wie die von einer … einer Schlange.«

»Was?!« Ich will aufspringen, um mir das selbst im Spiegel anzusehen, doch ein heftiges Schwindelgefühl hindert mich daran. Keuchend sinke ich auf den Boden zurück.

»Bleib erst mal ruhig sitzen!«, mahnt Paul. »Du scheinst ziemlich viel Blut verloren zu haben und stehst unter Schock.«

Schock beschreibt meine Verfassung zwar nicht annähernd, aber ich höre auf meinen Bruder und bleibe sitzen.

Nachdem sich der Schwindel gelegt hat, hebe ich vorsichtig einen Arm und schaue an mir hinunter. Ich muss mich leicht verdrehen, bis ich die Wunde durch das Loch im Unterkleid sehe, und mir stockt der Atem. Dort, wo eigentlich eine wenige Minuten alte Stichverletzung sein sollte, spannt sich hauchfeine frische Haut. Der glatte Rand der Wunde ist schorfig, und bei näherer Betrachtung sind es tatsächlich trockene Schuppen, die von meiner frisch verheilten Haut abblättern, als würde ich mich häuten. Lara hat es auf den Punkt gebracht, als sie mich mit einer Schlange verglichen hat. Ein irrationaler Anflug von Angst zuckt in mir hoch. Dieses Phänomen ist ganz sicher nicht normal. Meine Verletzung ist nicht nur irrsinnig schnell abgeheilt, auch die Schuppen haben bestimmt nichts mit abgestorbenen menschlichen Hautzellen zu tun.

»Merkwürdig«, resümiert Paul trocken und trifft damit ins Schwarze. Nachdenklich wiegt er den Kopf hin und her. »Vielleicht sollte ich eine Hautprobe nehmen und untersuchen lassen. Es würde mich wirklich interessieren …«

»Paul!«, faucht Lara und versetzt ihm einen Klaps auf den Arm. »Hast du deiner Schwester nicht zugehört? Leo steckt womöglich unwiederbringlich in der Vergangenheit fest. Solange Rosalie keine gespaltene Zunge und schlitzförmige Pupillen entwickelt, kann dieses komische Hautphänomen warten.« Sie hält kurz inne. »Nein, alles kann gerade warten.«

Mit einem entschlossenen Funkeln in den Augen hält sie mir die Hand hin und hilft mir beim Aufstehen. Während Paul sie noch mit belämmerter Miene ansieht, schlingt sie mir behutsam einen Arm um die Taille und begleitet mich die wenigen Schritte ins Bad. Mit einem demonstrativen Rums zieht sie die Tür hinter uns ins Schloss.

»Deine Sachen sind ja völlig durchnässt … und voller Blut.« Naserümpfend hilft mir Lara aus den restlichen Kleidungsstücken, die inzwischen wirklich ein Fall für die Mülltonne sind. Bibbernd schlinge ich die Arme um den Oberkörper, weil mir noch immer die Kälte des römischen Wassers aus dem Aquädukt in der Via del Nazareno in den Knochen steckt.

»Du solltest dich duschen«, sagt Lara sanft. »Schaffst du das, oder soll ich bleiben und dir helfen?«

Dass sie sich so rührend um mich kümmert, treibt mir Tränen in die Augen. Lara ist sonst nicht der mütterliche Typ, der andere verhätschelt, aber gerade hat sie klar erkannt, was ich brauche. Keine weiteren Gespräche und Überlegungen, sondern einfach nur eine heiße Dusche.

»Danke, das kriege ich hin.«

Sie lächelt aufmunternd. »Ich lasse die Tür zum Wohnzimmer offen. Ruf einfach, wenn du was brauchst!«

Lara legt mir noch ein frisches Handtuch hin, dann schlüpft sie aus dem Bad.

Am ganzen Körper zitternd wanke ich in die Duschkabine und drehe das heiße Wasser auf. Vor etwas mehr als zwei Wochen stand ich zum letzten Mal unter der Dusche. Ich war gerade von meiner einmonatigen Zeitreise nach Florenz zurückgekehrt und freute mich auf ein paar entspannte Tage zu Hause. Auch heute bin ich aus der Vergangenheit zurückgekehrt, und doch ist alles anders.

Um den quälenden Gedanken keinen Raum mehr zu gewähren, greife ich wahllos nach einer Shampooflasche und will mir die Haare waschen. Zu spät fällt mir auf, dass ich eins von Pauls Produkten genommen habe, doch mir fehlt die Energie, auch nur die Augen zu verdrehen. Stattdessen lasse ich mich langsam an der kalten Fliesenwand nach unten sinken, kauere mich auf dem Boden der Dusche zusammen und lasse das heiße Wasser auf mich herabprasseln. Mir brennen die Augen, und meine Kehle ist so zugeschnürt, dass ich kaum atmen kann.

Ich habe einen Teil von mir selbst verloren, dort unten in der Aqua Virgo. Einen Teil, dessen Abwesenheit mir nun erst so richtig bewusst wird, nachdem er mir abhandengekommen ist. Die Verbindung zu Leo, diese unverbrüchliche Einheit unserer Zodiaki, wurde durchtrennt, und es fühlt sich so an, als wäre mir ein Körperteil genommen worden. Nein, ein Organ. Irgendetwas Lebenswichtiges, das nun fehlt und ohne das ich verkümmern werde.

Wie mag es Leo damit ergehen?

Ich habe meinen Zodiakus noch, doch er hat auch noch diesen Teil verloren. Und liegt irgendwo gestrandet in der Vergangenheit.

Ob ich Lucian und ihn an denselben Ort geschickt habe? Ob er ihn am Leben lässt, jetzt, da er ohne den Zodiakus nutzlos für ihn ist? Oder sind Leos Verletzungen ohnehin schon zu schwer?

Fest beiße ich mir auf die Fingerknöchel, um einen Schmerzensschrei zu unterdrücken, der bei diesen Gedanken in mir aufsteigen will.

Als ich das Bad verlasse, höre ich Lara und Paul durch die offene Tür zum Wohnzimmer leise miteinander sprechen, aber ich kann mich nicht einfach zu ihnen gesellen und mich ihren Fragen stellen. Sie meinen es nur gut und haben Antworten verdient, doch im Moment fühle ich mich dem Unausweichlichen nicht gewachsen. Stattdessen tappe ich leise in mein Zimmer und lasse mich so, wie ich bin, aufs Bett fallen. Ich habe schlichtweg keine Energie mehr, um mir einen Schlafanzug herauszusuchen, sondern wickle mich enger in mein Duschtuch und zerre umständlich die Bettdecke über mich. Der vertraute Duft des Weichspülers hüllt mich ein und gaukelt mir vor, dass alles in Ordnung ist. Tatsächlich beruhigt sich mein Herzschlag, der Schlaf überkommt mich und schluckt meine schmerzlichen Gedanken.

Kapitel zwei

München, 05. Dezember

Das Aufwachen fühlt sich so an, als müsse ich aus einem unendlich tiefen, finsteren Ozean auftauchen. Der Schlaf will mich zurückhalten, dort unten, wo es dunkel und friedlich ist, doch mein Körper treibt unaufhaltsam nach oben.

Schon bevor ich die Augen aufschlage, weiß ich, dass mir die Realität an diesem Morgen nicht gefallen wird. Ich spüre dieses dumpfe, schmerzhafte Wummern in der Brust, das mich selbst im Schlaf begleitet hat. Kaum werde ich richtig wach, dehnt es sich aus und erfüllt mich bis ins tiefste Innere. Die Ereignisse des gestrigen Tages stürzen auf mich ein, und stöhnend rolle ich mich zu einer Kugel zusammen. Die Bilder aus der Grotte ziehen an mir vorbei, und wie ein fernes Echo höre ich Leos Stimme, der mir zuruft, ich solle mich in Sicherheit bringen.

Verzweifelt vergrabe ich das Gesicht im Kopfkissen, um die Erinnerungen auszublenden. Die Schreckensbilder vor meinem inneren Auge kann ich jedoch nicht verscheuchen. Und so starre ich nur vor mich hin und lasse die Szenen über mich ergehen, wie gelähmt von Schuldgefühlen und Panik.

Mir ist klar, dass ich das Bett verlassen und irgendetwas tun sollte, statt dazuliegen und mich mit Selbstvorwürfen zu martern. Aber seit dem Moment, als Leo seines Mals beraubt wurde, scheint mich alle Energie verlassen zu haben.

Schließlich sind es zwei Faktoren, die mich doch zum Aufstehen bewegen … meine Blase drückt, und mein Magen knurrt so beharrlich, dass ich es nicht länger aushalte.

Schwerfällig rolle ich mich zur Seite und schwinge die Beine aus dem Bett. Jeder Zentimeter meines Körpers tut so weh, als wäre er unter eine Dampfwalze geraten.

Da ich noch immer nur in das Duschtuch gewickelt bin, tappe ich zuerst zu meinem Schrank und greife blind nach Unterwäsche, einer Jogginghose und einem Pulli. Ein Blick aus dem Fenster zeigt mir, dass es draußen grau und ungemütlich ist, und ich frage mich, welchen Monat wir hier in der Gegenwart inzwischen haben. Durch die beiden mehrwöchigen Aufenthalte in der Vergangenheit habe ich das Zeitgefühl vollkommen verloren. Vielleicht haben wir hier bereits Weihnachten oder Neujahr. Ich gebe den Versuch auf, das aktuelle Datum durch Kopfrechnen herauszufinden, und laufe ins Bad.

Fünfzehn Minuten später bin ich fertig und wappne mich tief durchatmend für den Gang ins Wohnzimmer. Der Radiowecker im Bad hat mir gezeigt, dass es elf Uhr vormittags ist, und Paul schläft bestimmt schon längst nicht mehr. Was bedeutet, dass ich mit ihm reden muss. Konkreter als gestern, als ich kaum mehr als Schluchzer hervorgebracht habe. Meine Zehen krümmen sich vor Unbehagen, und schon wieder wird mir ganz flau. Aber ich kann Paul nicht ewig aus dem Weg gehen. Vielleicht hat er ja einen Vorschlag, der mir helfen könnte.

Tatsächlich sitzt Paul mit seinem Handy in der Hand bereits am Esstisch, neben sich eine Kaffeetasse. Sein hellblondes Haar steht ihm in wilden Wirbeln vom Kopf ab, und der Anblick ist mir so vertraut, dass ich leise aufseufze. Beim Klang meiner Stimme wendet er sofort den Kopf und mustert mich mit besorgter Miene. Ich betrachte ihn meinerseits, und mir fallen die dunklen Schatten unter seinen Augen auf. Außerdem wirkt er noch immer ziemlich blass. Schuldbewusst beiße ich mir auf die Unterlippe, und mir wird klar, dass wohl ich für seinen angegriffenen Zustand verantwortlich bin. In letzter Zeit war ich wirklich keine einfache Schwester für ihn.

»Hallo!«, sagt Paul endlich. »Setzt du dich zu mir?«

Ich schlurfe zu meinem angestammten Stuhl und lasse mich wenig damenhaft darauf plumpsen. Ein Klappern ertönt hinter mir, und Lara kommt mit zwei dampfenden Tassen aus der Küche. Ich bin überrascht, dass sie noch hier ist.

»Während deiner Abwesenheit war ich ziemlich oft hier«, sagt sie und klingt dabei seltsam nervös. Lara ist sonst nie nervös.

Dankbar nehme ich aber den Kaffee entgegen, den sie mir reicht, und hebe nur ungerührt die Schultern. »Ich freue mich, dass du da bist und Paul nicht die ganze Zeit allein war.«

Die beiden wechseln einen Blick, doch ich bin zu beschäftigt damit, den ersten vorsichtigen Schluck von meinem Kaffee zu nehmen, als weiter auf ihr merkwürdiges Verhalten zu achten. Mhhh. Ich verbrenne mir fast die Zunge, aber das ist es wert. Kaffee ist wirklich mein Lebenselixier.

»Was ist mit deiner Verletzung?«, erkundigt sich Paul.

»Ich fühle mich beinahe wie neu.« Beim Anziehen habe ich im Spiegel einen genaueren Blick auf die Wunde an meiner Seite geworfen, und sie ist über Nacht noch weiter abgeheilt. Es war nicht einmal nötig, sie mit einem Pflaster zu versehen. Die rasche Genesung kommt mir geradezu gruselig vor, so etwas habe ich noch nie erlebt.

Ich sehe Paul an, dass er sich gern noch ausführlicher über das erstaunliche Phänomen meiner rasanten Wundheilung unterhalten hätte, aber Lara wirft ihm einen warnenden Blick zu. Im nächsten Moment springt sie auf und deckt den Frühstückstisch. Eigentlich sollte ich ihr meine Hilfe anbieten – immerhin ist das hier mein Zuhause –, aber ich kann nur wie benebelt dasitzen und beobachten, wie sie Butter, Marmelade und eine Papiertüte vom Bäcker zum Tisch bringt. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, als ich das Logo der französischen Boulangerie auf der Tüte erkenne. Das sind mit Abstand die besten Croissants Münchens! Haben sie die heute Morgen extra für mich besorgt?

Schon wieder bekomme ich feuchte Augen, blinzele die Tränen aber energisch weg.

Paul legt mir ungefragt ein goldbraunes, buttriges Stück Glückseligkeit auf den Teller. Sosehr ich mich in den vergangenen Wochen auch mit der Renaissanceküche angefreundet habe, das hier ist einfach unvergleichlich. Hungrig reiße ich ein Stück von meinem Croissant ab und stecke es in den Mund. Hingebungsvoll kaue ich, als mir ein Gedanke kommt.

Du sitzt hier mit deinem Kaffee und dem Croissant, während Leo irgendwo in der Vergangenheit feststeckt. Verletzt. Womöglich tot.

Der Bissen im Mund scheint sich plötzlich in Sägespäne zu verwandeln. Egal, wie gründlich ich kaue, ich kann ihn einfach nicht hinunterschlucken. Die Köstlichkeit verliert jeglichen Geschmack, und vor meinem inneren Auge taucht Leo auf, der mit blutender Kehle am Boden der Grotte liegt. Oh Gott, nein! Mein Magen rebelliert, und nur mit größter Anstrengung würge ich das Croissant hinunter.

»Was ist los?« Lara ist sofort alarmiert.

»Leo …«, krächze ich und breche über meinem angebissenen Croissant in Tränen aus. Lara eilt um den Tisch herum zu meinem Stuhl und schlingt von hinten die Arme um mich. Das Kinn auf meinen Scheitel gestützt, murmelt sie beruhigende Worte, während ich von Schluchzern geschüttelt werde.

»Ich habe ihn verloren«, wimmere ich, als der Weinkrampf allmählich abebbt.

»Schsch … schschsch«, macht Lara. »Bestimmt ist noch nichts verloren. Warum erzählst du uns nicht in Ruhe, was genau passiert ist?«

Dankbar nehme ich eine Papierserviette aus ihrer Hand entgegen und putze mir die Nase.

Dann linse ich zu Paul hinüber, der absolut hilflos aussieht und anscheinend am liebsten mit mir weinen würde. Ich gebe mir einen Ruck, und mit tränenerstickter Stimme beginne ich zu erzählen. Lara und Paul unterbrechen mich kein einziges Mal, während ich von den letzten Wochen berichte. Angefangen bei meinem verstörenden Gespräch mit Leo auf Professor Kippings Dachboden, das mich dazu getrieben hat, kopflos in die Vergangenheit zu flüchten, über mein Treffen mit Leonardo da Vinci und wie ich es bewerkstelligt habe, ihn durch die Zeit zu schicken, um ihn vor Lucian zu retten, bis hin zur Befreiung von Cesare Borgia aus der Geiselhaft. Und natürlich alle Ereignisse aus der Grotte. Wort für Wort. Je länger ich erzähle, desto deutlicher wird mir bewusst, was in diesen zwei Wochen in Rom alles passiert ist. Und dass ich verschwunden bin, ohne mich von den Menschen verabschiedet zu haben, die mir in dieser Zeit so ans Herz gewachsen sind. Angelo wird verstehen, was geschehen ist, und ich bin froh, ihn noch einmal in die Arme genommen zu haben. Alle anderen habe ich ohne ein Wort zurückgelassen. Galatea, ihre zickigen Mädchen und auch Leonardo. Allzu gern hätte ich noch ein bisschen Zeit mit Cesare Borgia verbracht, um sicherzustellen, dass er wohlbehalten zu seiner Schwester Lucrezia zurückkehrt, und um ihn gegebenenfalls davon zu überzeugen, sich eine unauffällige Erklärung für seine zweiwöchige Abwesenheit zu überlegen, die nichts mit der Entführung durch einen geisteskranken Zeitreisenden zu tun hat. Immerhin war ein solches Kidnapping vor Lucians Eingreifen nicht in Cesare Borgias Vita vorgesehen.

Nachdem ich geendet habe, schweigen Lara und Paul eine ganze Weile, und ich nippe an meinem mittlerweile lauwarmen Kaffee. Nachdem ich mir das alles von der Seele geredet habe, fühlen sich meine Augenlider bleischwer an, und eine allumfassende Erschöpfung legt sich über mich. Am liebsten würde ich mich gleich wieder ins Bett legen.

Paul fasst nach meiner Hand und drückt sie. »Es tut mir so unendlich leid, was mit Leo passiert ist«, sagt er, und ich erkenne echte Anteilnahme in seinen Augen, nicht nur für mich, sondern auch für Leo.

Da wir die meiste Zeit in der Vergangenheit verschwunden waren, hatte mein Bruder nie die Gelegenheit, ihn wirklich kennenzulernen. Was er über ihn weiß, beruht auf der Meinung, die ich anfangs über Leo hatte … als er sich wie ein arroganter Arsch benahm und ich mir darüber Luft machte.

Ihn jetzt so ehrlich betroffen über Leos Schicksal zu sehen, berührt mich.

»Du warst mit ihm hier, nachdem ich nach Rom gesprungen war.« Mein Satz klingt wie eine Frage, und Paul nickt.

»Du weißt, ich hatte Vorbehalte gegen ihn. Nicht nur wegen der Art, wie er dich behandelt hatte, sondern auch aufgrund seines Auftretens im Orden. Aber als er an jenem Tag aus Kippings Villa zurückkam und verkündete, dass du spontan in die Vergangenheit gesprungen warst, da schien er vollkommen fertig zu sein. Ich weiß nicht, was er gesagt oder getan hat, um dich in die Flucht zu treiben. Jedenfalls machte er sich schlimmste Vorwürfe und rastete aus, als er dir nicht sofort folgen konnte. Ihm liegt offenbar wirklich etwas an dir. Er hätte wohl am liebsten Berge versetzt, um zu dir zu gelangen.«

Als ich ein jähes Stechen in den Augen verspüre, muss ich heftig blinzeln. Mich rührt, was mein Bruder sagt, und gleichzeitig kann ich so gut nachempfinden, wie es Leo in diesem Moment ergangen sein muss. Weil ich jetzt in derselben Situation stecke. Wenn ich wüsste, wo er sich befindet, könnten mich nichts und niemand aufhalten, sofort zu ihm zu reisen. Ich möchte schreien und toben, weil ich keine Ahnung habe, wie es um ihn steht.

Den Kopf in die Hand gestützt, suche ich nach einem anderen Thema, damit meine Gedanken nicht weiter in diesen finsteren Strudel hineingerissen werden.

»Hast du schon etwas vom Orden gehört?«, frage ich schließlich.

»Ja, schon gestern Abend. Ich wollte es dir eigentlich gleich nach dem Aufstehen erzählen.«

Ich hebe den Kopf und begegne seinem Blick.

»Die Tabula ist wieder aufgetaucht, genauso plötzlich und unerklärlich, wie sie verschwunden ist.«

Erleichtert stoße ich die Luft aus und lasse mich auf meinem Stuhl zurücksinken. Dann war ich zumindest in dieser Hinsicht erfolgreich. »Damit sind die Portalgemälde gerettet«, seufze ich und streiche mental einen Punkt von meiner Problemliste. Wenn mit der Rettung der Tabula nun auch noch irgendetwas schiefgelaufen wäre, hätte ich einen Schreikrampf erlitten.

Nachdem die Tabula hier in der Gegenwart verschwunden war, nahm auch die Macht der Gemälde, in denen die Portale für Zeitreisen verborgen sind, unaufhaltsam ab. Je länger die Tabula verschollen blieb, von der die Macht der Portale abhängig ist, desto mehr verkümmerten die Gemälde. Ich bin wirklich sehr erleichtert, dass dieser Verfall nun aufgehalten ist. Nicht auszudenken, wenn ich es vergeigt hätte!

»Ich habe den Orden noch nicht darüber informiert, dass du hier bist«, sagt Paul »Aber jetzt, da die Tabula wieder aufgetaucht ist, rechnen die Mitglieder sowieso jeden Tag mit eurer Rückkehr. Etwa zwei Tage können wir sie noch hinhalten, wenn du hier in der Wohnung bleibst und dich bedeckt hältst.«

Der Stein, der mir gerade vom Herzen gefallen ist, legt sich gleich wieder auf meine Brust.

»Das ist lieb, aber wir müssen ihnen Bescheid geben. Sie sollen erfahren, was mit Leo passiert ist. Und dann überlegen wir uns, was wir tun können.«

Wobei … ganz wohl ist mir nicht bei dem Gedanken, Leos Schicksal komplett in die Hände des Ordens zu legen. Unwillkürlich denke ich nämlich an das Gespräch, das Leo und ich vor einigen Nächten im Bett geführt haben. Über die Theorie, dass Professor Kipping einen Spion in der Vergangenheit hat und uns bewusst Informationen vorenthält. Er scheint Einzelheiten der Vorgänge zu kennen, die er nur so erfahren konnte.

Aufgrund des Silberglanzes in seinen Augen, den ich einmal bei ihm wahrgenommen habe, hat sich ein schwer fassbares Gefühl von Misstrauen in mir entwickelt. Ich kann es nicht benennen, aber irgendetwas sagt mir, dass Professor Kipping mehr verbirgt als eine Kunstsammlung auf seinem Dachboden.

Kurz ringe ich mit mir, ob ich mich Paul und Lara anvertrauen soll, verwerfe den Gedanken aber gleich wieder. Es ist nur ein Bauchgefühl, ich habe keinerlei Beweise und werde erst etwas sagen, wenn ich mir absolut sicher bin. Ansonsten würde ich die beiden nur unnötig beunruhigen.

Eine Weile mustert mich Paul, so als verstünde er, was mir gerade durch den Kopf geht, und nickt dann.

»Dann gebe ich ihnen Bescheid. Aber ich werde darauf bestehen, dass du heute noch nicht ins Hauptquartier kommen musst. Das alles noch mal vor dem Orden auszubreiten, wird anstrengend, und du siehst noch immer echt fertig aus.«

Ich rolle mit den Augen und würde ihm gern einen Knuff verpassen, aber nach dem gestrigen Tag fühle ich mich tatsächlich noch wie erschlagen und belasse es bei einem Gähnen.

Den restlichen Tag verbringe ich im Bett und starre blicklos an die Wand, während Paul und Lara immer wieder zur Tür hereinlugen. Wahrscheinlich wollen sie sichergehen, dass ich noch atme. Kaum habe ich mich hingelegt, überrollt mich die Erschöpfung, aber statt Schlaf zu finden, fühle ich mich einfach nur elend.

Vielleicht hat der Schock jetzt endgültig nachgelassen, und die Realität heißt mich mit deprimierender Endgültigkeit willkommen.

Eine Realität ohne Leo. Die Einsamkeit, die mich bei diesem Gedanken überkommt, jagt mir einen Schauder über den Rücken. Und obwohl ich mich so sehr bemühe, den Kopf auszuschalten, kann ich nicht verhindern, dass mich mein eigener Geist mit den widerlichsten Visionen martert.

Womöglich spürst du rein gar nichts mehr von Leo, weil er inzwischen tot ist.

Stumm kralle ich die Finger in mein Federbett und gebe mir verzweifelt Mühe, diese Möglichkeit aus meiner Fantasie zu verbannen. Trotzdem kreist sie durch meinen Kopf wie ein Aasgeier, beutegierig und hämisch kreischend.

Er ist tot, er ist tot, er ist tot.

Nein, verdammt! Die Verbindung unserer Zodiaki mag vielleicht unwiederbringlich zerbrochen sein, und tatsächlich trennen uns mehrere Jahrhunderte, trotzdem ist er noch immer bei mir. Ich klammere mich an dieses Gefühl in meinem wunden Herzen und versuche alle anderen Gedanken zu verdrängen. Dennoch bleiben diese Furcht und nagender Zweifel zurück.

Vor meinem Fenster geht allmählich die Sonne unter und Schatten verdunkeln mein Zimmer. Der anbrechende Abend fühlt sich tröstlich an, doch gleichzeitig vergrabe ich mich noch tiefer unter meiner Decke. Der erste Tag ist vergangen. Der erste Tag ohne Leo, der so viel mehr für mich geworden ist als nur ein Zeitreisepartner. Ich konnte ihm mein Herz nicht öffnen und verfluche meinen falschen Stolz. Denn dadurch war ich unfähig, den ersten Schritt zu tun und mit ihm über meine wahren Gefühle zu sprechen. Ihm einfach frei heraus zu gestehen, was ich empfinde, ohne mögliche Konsequenzen zu fürchten. Leo ist ein schwieriger Charakter, mit ihm wird es nie leicht sein, und doch ist er mein Gegenpart. Mit seiner Hilfe gehe ich an meine Grenzen, er kitzelt verborgene Stärken aus mir heraus und weckt genauso meine Sanftheit, wenn es in seinem Innern zu ungestüm zugeht. Daran ändert auch nichts, dass ihm das Mal entrissen wurde, welches uns auf einer tieferen Ebene verband. Lucian hat mir meinen Zeitreisepartner genommen, aber er hat es nicht geschafft, mir mein Herz zu rauben. Weil es Leo gehört.

Bevor ich einschlafe, presse ich die Lippen auf meinen Zodiakus und wünsche mir, dass Leo es spürt. Irgendetwas soll ihm zeigen, dass ich an ihn denke und ihn so bald wie möglich nach Hause holen will.

Ich weiß nicht, wie spät es ist, als ich das nächste Mal aufwache, aber ich bin so erschöpft, dass ich nicht aufstehen und nach der Uhrzeit sehen kann. Die ganze Nacht über bin ich immer wieder hochgeschreckt, gejagt von wirren Träumen, in denen mich Leos Stimme verfolgte. Bei jedem Aufwachen überkam mich die irre Hoffnung, Leo wäre tatsächlich hier, weil seine Stimme noch so klar in meinen Ohren klang. Aber meine Hand tastete stets über eine leere Betthälfte, und geknickt schlief ich wieder ein.

Allmählich weicht die bleierne Müdigkeit von mir. Noch einmal lasse ich die Träume Revue passieren und stelle fest, dass sie etwas in mir wachgerufen haben. Einen Funken entzündet. Vielleicht war es Leos Stimme, die mich im Schlaf begleitete, aber die lähmende Verzweiflung, die mich gestern niedergedrückt hat, weicht allmählich einer neuen Entschlossenheit.

Deutlich beschwingter stehe ich auf und gehe ins Bad, um mich frisch zu machen. Beim Blick in den Spiegel entfährt mir ein Stöhnen. Mein Haar sieht aus, als hätte ein Huhn darin gebrütet. Habe ich es am Tag zuvor überhaupt gekämmt?

Mehrere Minuten lang kämpfe ich mich mit der Bürste durch den Wirrwarr auf meinem Kopf und verfluche einmal mehr meine widerspenstige Mähne. Als irgendwann gefühlt mehr Haare zwischen den Borsten der Haarbürste stecken, als noch meinen Kopf zieren, erkläre ich das Unterfangen für beendet und kümmere mich um eine rasche Katzenwäsche.

Im Wohnzimmer erwartet mich ein ähnliches Bild wie gestern. Über Unterlagen gebeugt sitzt Paul am Esstisch, während ich Lara in der Küche herumwerkeln höre. Ich bin überrascht, wie natürlich und vertraut es sich anfühlt, dass sie ständig hier ist. Als meine beste Freundin hat sie schon immer viel Zeit bei mir zu Hause verbracht, aber momentan ist es eher so, als hätten wir eine dritte Mitbewohnerin.

Der Gedanke verflüchtigt sich, als mir Kaffeeduft in die Nase steigt. Neugierig luge ich in die Küche, wo Lara an unserem Vollautomaten herumdrückt und leise vor sich hin schimpft.

»Gestern konntest du es noch. Gib mir einfach schwarzen Kaffee, ja? Na los, du kannst es doch!«

Ich lächele in mich hinein, während ich ihr zuhöre, wie sie der Kaffeemaschine gut zuredet.

»Sie mag es, wenn man sie tätschelt, dann läuft sie wie von selbst.«

Bei meinem Kommentar fährt Lara herum. Sie unterzieht mich einer raschen Musterung, und ihre sorgenvolle Miene hellt sich auf. Offenbar sieht sie mir an, dass ich mich nicht weiter von der Verzweiflung unterkriegen lasse.

»Ich bin Barista«, schnaubt Lara und pustet sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus ihrem kunstvollen Messy Bun gelöst hat. »Zumindest zeitweise. Im Café komme ich mit einer Maschine klar, die mehr Funktionen als ein Space Shuttle hat, aber diese Kiste treibt mich in den Wahnsinn.« Sie verpasst der Kaffeemaschine einen Klaps und runzelt die Stirn, als plötzlich ein rotes Symbol auf dem Display aufleuchtet.

»Na, wer sagt’s denn?«

Ich lehne mich neben sie an die Küchenzeile und beobachte, wie die Maschine dampfend und summend frischen Kaffee ausspuckt.

»Wie geht’s dir heute?«, will Lara wissen.

»Besser.« Kurz hebe ich die Schultern und suche nach den richtigen Worten. »Ehrlich gesagt schwirrt mir noch immer der Kopf, und eigentlich läge ich liebend gern auch heute im Bett und würde mich im Elend suhlen. Aber damit ist niemandem geholfen.«

Der Kaffee ist durchgelaufen, und Lara nutzt die Gunst der Stunde, um eine weitere Tasse zu ordern. Die Maschine tut ihr den Gefallen und mahlt knatternd neue Bohnen.

»Rosalie, ich kann mir denken, wie es dir gerade geht. Genauso wie Paul. Zugegeben, wir beide kennen Leo kaum, aber ein Blick auf dich genügt, um zu wissen, dass er dir inzwischen viel bedeutet. Ehrlich gesagt wüsste ich nicht, ob ich mich in deiner Situation so schnell gefangen hätte.«

»Keine Ahnung, ob ich mich wirklich gefangen habe. Es tut immer noch verdammt weh, aber es bringt Leo nicht zurück, wenn ich im Selbstmitleid versinke.« Mein Lächeln fühlt sich plötzlich wieder wackelig an, und schnell schnappe ich mir den Kaffee und trage die vollen Tassen zum Esstisch.

Paul, der unser Gespräch in der Küche zweifellos mitgehört hat, schiebt seine Unterlagen beiseite, als ich zum Tisch komme. Ich gebe ihm einen schnellen Kuss auf die Wange, bevor ich mich setze.

Nachdem ich gestern nicht mehr als einen Bissen Croissant hinunterbekommen habe, stürze ich mich jetzt heißhungrig auf das bereitstehende Frühstück. Weil ich mich noch gut daran erinnere, wie salzig ich das Rührei bei meinem letzten Frühstück zu Hause fand, beschränke ich mich vorsichtshalber auf Brot und Käse, aber selbst das ist eine Offenbarung. Nie hätte ich es für möglich gehalten, wie sehr ich eine einfache Scheibe Mischbrot vermissen könnte.

Heißhungrig verschlinge ich drei Scheiben, dann lehne ich mich fürs Erste gesättigt auf meinem Stuhl zurück.

Paul mustert mich amüsiert. »Du machst fast den Eindruck, als hättest du in den letzten Wochen auf Kohlenhydrate verzichten müssen.«

»Wenn du wüsstest!«, schnaube ich und denke an die hausgemachten Ravioli aus Galateas Küche. Meine Güte, waren die gut!

»Ich verstehe dich«, pflichtet mir Lara bei. »Wenn ich im Urlaub bin, habe ich nie Heimweh, sondern Sehnsucht nach Brezen.«

Wir philosophieren eine Weile über die Grausamkeit des Brezenentzugs, da vibriert Pauls Handy.

Seine Miene wird ernst, als er die Nachricht liest, und rasch tippt er eine Antwort.

»Jemand vom Orden?«, erkundige ich mich.

Er nickt.

»Hast du ihnen schon Bescheid gegeben?«

»Ja.« Mein Bruder wirft mir einen prüfenden Blick zu, doch ich bin ganz entspannt.

»Ich würde heute gern im Hauptquartier vorbeischauen.«

Paul hebt die Brauen. »Fühlst du dich denn schon bereit dazu? Wenn du möchtest, halte ich die Rubiner noch länger hin.«

Ich schüttele den Kopf. »Der Orden ist meine wichtigste Anlaufstation, wenn es um Leos Rettung geht. Seit Jahrhunderten beschäftigen sich die Rubiner mit Zeitreisen, und wenn mir jemand bei einer Lösung helfen kann, dann sie. Oder etwa nicht?« Ich blicke meinem Bruder in die Augen und sehe, dass sich meine kämpferische Entschlossenheit darin spiegelt. »Mir ist nur wichtig, Leo in die Gegenwart zurückzuholen. Alles andere kann warten.«

»Ich helfe dir. Egal, was kommt«, verspricht er mir mit ernster Miene.

Lara neben ihm nickt energisch. »Ich auch. Wäre doch gelacht, wenn du deinen Casanova nicht wieder in die Arme schließen könntest.«

Kapitel drei

Der Planetensaal

Eine Stunde später machen wir uns mit dem Auto auf den Weg zum Hauptquartier der Rubiner. Lara setzen wir unterwegs bei ihrer Arbeit im Café Adelheid ab. Sie protestierte zwar vorher dagegen und wollte sich krank melden, um uns zu begleiten, doch ich konnte sie davon abhalten. Es ist schon schlimm genug, dass sie die Uni und ihr Privatleben mir zuliebe so schleifen lässt, da muss sie nicht auch noch Probleme im Job bekommen. Außerdem bin ich mir gar nicht so sicher, ob wir sie zu den Rubinern mitnehmen dürften. Sie sind die schlimmsten Geheimniskrämer der Geschichte. Man findet keinen einzigen Eintrag über ihre Vereinigung bei Google, das habe ich selbst überprüft. Wahrscheinlich ist es das höchste der Gefühle, dass sie Lara als Mitwisserin dulden. Sie in ihrem verborgenen Hauptquartier willkommen zu heißen, würde wohl eine Grenze überschreiten.

So hat mir Lara das Versprechen abgenommen, sie in Echtzeit per SMS auf dem Laufenden zu halten, und springt vor dem Café widerstandslos aus dem Auto.

»Wir sehen uns später!«, höre ich sie noch rufen und sehe im Rückspiegel, wie sie mit gespreiztem Zeige- und Mittelfinger zwischen ihren Augen und uns hin und her zeigt. Ich behalte dich im Blick.

Ich verdrehe die Augen und stelle die Heizung höher. Inzwischen weiß ich, dass wir Anfang Dezember haben, und es ist bitterkalt draußen. Nach den frühsommerlichen Temperaturen in Rom bin ich besonders empfindlich und habe mich in meine dickste Winterjacke gehüllt, bevor ich das Haus verlassen habe. Ein wenig traurig denke ich an meinen kuscheligen Wollmantel, den ich während meiner Zeitreise in Rom zurückgelassen habe. Ich hoffe, Galatea kann mit meiner modischen Hinterlassenschaft etwas anfangen.

Paul biegt in die Ludwigstraße ein, und kurz darauf fahren wir am Hauptgebäude der Universität vorbei. Wehmut überkommt mich, als ich die Studenten beobachte, die in die Universität oder die angrenzende Bibliothek eilen, um möglichst schnell dem eisigen Wind zu entkommen. Vor einigen Wochen wäre ich jetzt unter ihnen gewesen, bestimmt unausgeschlafen wie immer, aber bereits in freudiger Erwartung auf die baldige Weihnachtspause. Inzwischen fühlt sich mein Alltag vor den Zeitreisen ganz fremd an, so als läge er selbst in einer historischen Vergangenheit.

Ich seufze laut auf, als mir bewusst wird, dass ich zumindest dieses Semester endgültig abhaken kann.

Paul wirft mir einen Seitenblick zu, als wir an einer roten Ampel halten. »Falls es dich beruhigt … ich schwänze die Uni auch schon seit Wochen. Wir sind also gleichauf.«

Das beruhigt mich nicht im Geringsten, sondern verschlimmert mein schlechtes Gewissen nur noch.

»He, entspann dich!«, ermahnt mich Paul, der meine Gedanken errät, ohne mich ansehen zu müssen. »Ich überlege ohnehin, den Studiengang zu wechseln.«

Mir fallen beinahe die Augen aus dem Kopf, als ich das höre. »Wie bitte?« Er macht gerade den Master in Mechatronik und Informationstechnik, und bisher schien er immer vollauf glücklich mit dieser Wahl zu sein.

In den letzten Wochen warst du doch nur damit beschäftigt, in der Zeitgeschichte herumzuhüpfen, statt deinen Bruder zu fragen, wie es ihm geht.

Na, vielen Dank auch an meine innere Stimme, die es wie immer schafft, in den richtigen Momenten spitze Bemerkungen zu machen!

Paul rutscht unruhig auf dem Fahrersitz hin und her. »Es schien mir vernünftiger, in diese Richtung zu gehen, auch wenn mein Herz immer für die Physik geschlagen hat. Aber seit ich bei den Rubinern bin … mag sein, dass sie mich ursprünglich nur rekrutiert haben, weil sie dadurch an dich herankommen wollten. Aber die Arbeit im Orden macht mir wirklich Spaß. Davor habe ich mich nur ab und zu in Physikvorlesungen geschmuggelt und nebenbei ein paar Aufsätze geschrieben. So intensiv in die Materie einzutauchen, zeigt mir einfach, dass dies das Richtige für mich ist. Es fühlt sich nicht wie Arbeit an. Klingt das verständlich?«

Ich berühre seine Hand, mit der er krampfhaft den Schaltknüppel umklammert. »Genauso geht es mir mit Kunstgeschichte«, entgegne ich sanft. »Was ich für mein Studium tun muss, fühlt sich nicht wie Arbeit an. Na gut, von Referaten vielleicht abgesehen, die sind echt nervig.« Ich ziehe die Nase kraus, und Paul prustet trocken.

»Kannst du dich noch an das Gespräch erinnern, nachdem ich mich für diesen Studiengang entschieden hatte?«

Paul zieht eine Grimasse. »Nur ein Gespräch?Ich erinnere mich noch verdammt gut an unsere endlosen Diskussionen. Du hast mir so lange in den Ohren gelegen, bis ich dich gewähren ließ, nur damit ich meine Ruhe habe.«

»Ja, eigentlich wolltest du mir raten, etwas Vernünftiges zu studieren, ein Fach, das mir sichere Jobaussichten nach dem Studium versprochen hätte. Ich weiß, du hast es gut gemeint und dir Sorgen um meine Zukunft gemacht, aber ich habe mich für den Weg entschieden, der mich glücklich macht. Auch wenn mich nach dem Abschluss mies bezahlte Jobs und womöglich ein Schicksal als Taxifahrerin erwarten.«

»Und nicht zu vergessen die schicksalhafte Begegnung mit einem Zeitreisenden, dem du womöglich nie begegnet wärst, wenn du brav BWL studiert hättest.«

»Paul!«, rufe ich aus. »Da merke ich mal wieder, dass du der geborene Naturwissenschaftler bist. Allen Wahrscheinlichkeiten zum Trotz haben Leo und ich uns schon einmal getroffen. Irgendwo in Florenz, wo wir uns berührt haben und ich das Zeitreisen in ihm wachgerufen habe. Glaubst du wirklich, das Schicksal hätte beim zweiten Mal keinen Weg gefunden? Selbst wenn ich Theologie in einem Nonnenkloster studiert hätte.«

»Ich glaube nicht, dass man in Nonnenklöstern studieren kann«, wendet Paul lahm ein.

»Was ich eigentlich sagen wollte …«, fahre ich ihm laut über den Mund. »Dass ich dich in allem unterstütze, was dich glücklich macht. Und ich freue mich, wenn du erkannt hast, dass es für dich die Physik ist. Auch wenn es bedeutet, dass du kein fünfstelliges Einstiegsgehalt bei einem Autobauer erwarten kannst.«

»Sag das nicht!«, grummelt Paul, und ich sehe ihm an, dass ihn meine Worte rühren.

Seit unsere Eltern nicht mehr leben, hat er die Rolle als mein starker Beschützer übernommen, war manchmal mehr Vater als Bruder und unterstützt mich auch heute noch uneingeschränkt. Wenn er könnte, hätte er sich wahrscheinlich persönlich auf den Weg in die Vergangenheit gemacht, um mich wieder nach Hause in Sicherheit zu befördern. Dafür habe ich ihn lieb, unendlich. Aber manchmal braucht er eben auch den Zuspruch seiner kleinen Schwester. Gleichgültig, wie zerstört ich gerade wegen Leos Situation bin, wenn er mich braucht, steht mein Bruder für mich immer an erster Stelle.

»So«, sagt Paul, nachdem wir uns ein paar weitere Hundert Meter durch den heillos verstopften Münchner Innenstadtverkehr gequält haben und er sich sammeln konnte. »Gleich kommen wir beim Orden an. Was genau hast du vor?«

»Ich erzähle den Rubinern, was passiert ist. Und dann fordere ich, dass sie ihre gesamten Anstrengungen auf Leos Rettung konzentrieren.«

Ich bin wild entschlossen, Antworten zu erhalten, was Leo betrifft, und auch alles drumherum. Und wenn ich dabei jemandem auf die Füße trete …

»Übertreib es nicht!«, warnt mich Paul und scheint zu ahnen, wie hitzig meine Gedanken gerade auflodern. »Ich weiß, wie impulsiv du sein kannst, aber damit beißt du bei Kipping auf Granit. Und bevor du was anderes sagst … ich war dabei, als Leo kaum noch zurückzuhalten war, weil er dir sofort hinterher wollte. Kipping bestand darauf, dass er wartete und sich nicht kopfüber in ein x-beliebiges Bild stürzte. Leo wollte ihn auf jede erdenkliche Weise umstimmen, aber Kipping blieb hart. Das sollst du wissen, bevor du die Krallen wetzt.«

Ich bin mir nicht sicher, ob ich genervt sein soll, weil er mich belehrt, oder dankbar, dass er mich rechtzeitig bremst.

Am meisten wurmt mich, dass er wahrscheinlich recht hat. Ich kann ziemlich aufbrausend sein und merke, dass ich gerade in der richtigen Stimmung wäre, um Professor Kipping unverblümt meine Meinung vor den Latz zu knallen. Aber offenbar muss ich mit mehr Fingerspitzengefühl vorgehen, wenn ich dem Anführer des Rubinerordens tatsächlich Informationen entlocken möchte.

Tief durchatmend ringe ich Ungeduld und Frustration nieder, die sich ansonsten zu einem gefährlichen Cocktail vermischen würden.

»Nun gut, ich gebe mir Mühe, es nicht zu übertreiben«, gelobe ich.

»Wenn jemand etwas aus ihm herausbekommt, dann ohnehin du«, seufzt Paul und biegt in die Arcanusstraße ab. Jetzt, im Winter, wirkt die düstere Gasse noch abweisender als sonst, und wir nähern uns schnellen Schrittes dem Gebäude.

Anders als bei meinen vorherigen Besuchen herrscht heute im Hauptquartier des Rubinerordens keine meditative Stille. Vom großen runden Foyer aus ist niemand zu sehen, doch das ganze Gebäude summt vor Aktivität wie ein umschwärmter Bienenkorb. Der Hall trägt unzählige aufgeregte Stimmen in den Eingangsbereich herunter, und von allen Seiten sind Schritte zu hören. Die Rubiner sind in Aufruhr. Einzig die astronomische Uhr an der Wand gegenüber der Pforte lässt sich nicht beirren, surrt und tickt in stetigem Rhythmus.

»Sag mal!« Ich stoße Paul leicht in die Seite, während wir nebeneinander die geschwungene Treppe nach oben steigen. »Hier scheint ja der Teufel los zu sein. Wundert mich, dass sie mich nicht schon gestern herbeordert haben, nachdem du ihnen Bescheid gegeben hast.«

Paul wirft mir ein schiefes Grinsen zu. »Sie wollten dich tatsächlich sofort hier haben. Aber ich habe ihnen klargemacht, dass du Zeit brauchst, bevor du dich diesem Irrsinn stellst. Zwar hat der Orden einen Zeitreisenden verloren … aber du musstest deinen Partner zurücklassen.«

Er greift nach meiner Hand, und ich umklammere sie. Es hat etwas Tröstliches, die Hand meines großen Bruders zu spüren. Das Wissen, dass er mir beisteht, verleiht mir Kraft. Außerdem stimme ich ihm zu … hier herrscht der totale Irrsinn.

Mit verhaltener Stimme erklärt mir Paul, dass er mich in den Planetensaal bringt. Für gewöhnlich wird die Tabula Rubina dort aufbewahrt, und der Saal bildet das Herzstück des Hauptquartiers.

Mein Puls beschleunigt sich, je länger wir Korridore und Flure entlanglaufen. Hier, im Innern des Gebäudes, gibt es keine Fenster. Das erschwert die Orientierung, und mich überkommt das Gefühl, immer tiefer in einen gewundenen Stollen vorzudringen, aus dem ich allein nicht mehr herausfinde. Ich war erst zweimal hier, einmal in Professor Kippings Büro, am Tag nach meiner Entdeckung als Zeitreisende, das andere Mal in der Bibliothek, wo Leo und ich nach unserer Rückkehr aus Florenz gelandet waren. Schon bei meinen vorherigen Besuchen kamen mir die Wege endlos lang und verwinkelt vor, doch heute scheinen wir eine halbe Ewigkeit unterwegs zu sein. Oder kommt es mir nur so vor, weil ich zunehmend nervös werde? Meine Hände sind ganz schwitzig, wenn ich daran denke, dass ich den Rubinern gleich Rede und Antwort stehen muss. Und obwohl ich Paul und Lara die Ereignisse schon einmal in aller Ausführlichkeit erzählt habe, ist das hier etwas ganz anderes. Das Urteil des Ordens über mein Verhalten in Rom fällt bestimmt um einiges strenger aus. Andererseits bin ich aktuell ihre einzige verbliebene Zeitreisende und dementsprechend wertvoll. Sie werden mir bestimmt nicht den Kopf abreißen, egal, was ich ihnen beichte. Und das ist ja immerhin eine Menge.

Pauls Schritte werden langsamer, und er wirft mir einen prüfenden Blick zu. Wir sind wohl angekommen, und mein Herz pocht vor Aufregung. Inzwischen stehen wir vor einer geschlossenen Flügeltür aus poliertem Ebenholz. Paul holt tief Luft, dann klopft er, und im nächsten Moment schwingen die beiden Türflügel nach innen auf.

Ich trete neben meinem Bruder über die Schwelle und dann … Wow!

Ehrlich gesagt habe ich mir keine großen Vorstellungen von diesem Saal gemacht, sondern mich auf die Menschen konzentriert, denen ich hier gegenübertreten muss. Doch der Planetensaal verdrängt jeden Gedanken an die Rubiner augenblicklich in den hintersten Winkel meines Kopfes und lässt nur Platz für ehrfürchtiges Staunen.

Es fühlt sich an, als stünde ich an der Schwelle zum Nachthimmel und müsste nur einen Schritt tun, um darin zu versinken. Die holzvertäfelten Wände und Decken des großen ovalen Saals sind mitternachtsblau gestrichen, und die Decke über mir ist übersät mit unzähligen goldenen Sternen. Bei genauerem Hinsehen fällt mir auf, dass mit dünnen goldenen Linien und Lettern die verschiedenen Sternbilder eingezeichnet sind. Allein dieser Anblick ist atemberaubend, aber da sind noch die Planeten. Glaskugeln hängen an Nylonfäden wie schwerelos von der Decke und bewegen sich kaum merklich vorwärts. Ich lege den Kopf in den Nacken und erkenne schmale Schienen in der Deckenverkleidung, entlang derer die Planeten des Sonnensystems mithilfe eines verborgenen Mechanismus in ihren Bahnen unter der Decke geführt werden. Zwischen den acht großen Planeten schweben kleinere Monde und glitzernde goldene Sterne.

Erst als mir Paul eine Hand auf den Rücken legt und mich sanft vorwärtsschiebt, löse ich den Blick von dem faszinierenden Planetenmodell. Ich fühle mich leicht benommen, als hätte ich zu lange in die Sonne gestarrt, die übrigens auch als Glasball im Raum schwebt und mit einem geheimnisvoll wabernden, goldschimmernden Gas gefüllt ist.

Im Zentrum des Saals, direkt unter der Sonnenkugel, steht ein Glaskasten auf einem zierlichen goldenen Podest. Mein Herz hüpft vor Freude, als ich die Tabula Rubina unversehrt auf einem dunkelblauen Samtkissen im Innern des Kastens liegen sehe. Ja, Paul hat mir schon gestern bestätigt, dass die Tabula wieder aufgetaucht ist. So richtig glauben kann ich es aber erst jetzt, da ich sie mit eigenen Augen wahrnehme. Wohlbehalten und unbeschädigt hinter Glas.

Vor dem Glaskasten steht ein monströser Tisch, an dem bestimmt dreißig Personen Platz finden, im hinteren Teil des Raumes verteilen sich Pulte und Schreibtische. Und überall in Nischen und auf Wandregalen lagern faszinierende Apparaturen und Geräte, die ich mir gern genauer ansehen möchte.

Aber vorerst wird meine Aufmerksamkeit von den Personen in Anspruch genommen, die rings um den Tisch sitzen und mich anstarren wie eine Fata Morgana. Professor Kipping, sein Assistent Viktor und ein älterer Herr, den ich schon ein paar Mal flüchtig gesehen habe.

»Rosalie.« Professor Kipping springt flinker auf die Beine, als ich es seiner gebrechlichen Erscheinung zugetraut hätte, und kommt mit großen Schritten auf mich zu.

Ich stehe da wie festgefroren, während er mir die Hände auf die Schultern legt und mich mit bewegter Miene betrachtet. Ich erkenne aufrichtige Sorge um mich, was mich ehrlich überrascht. Irgendwie hatte ich angenommen, dass es ihm mehr um die Tabula als um mich geht.

»Ich bin so froh, dass es Ihnen gut geht. Kommen Sie, setzen Sie sich zu uns!« Mit der Hand wedelt er zum Tisch, wo Paul schon bereitsteht und mir einen Stuhl zurechtrückt. Dann lässt er sich neben mir nieder, sodass wir genau gegenüber von Viktor und dem anderen Mann sitzen, während Professor Kipping am Kopfende der Tafel Platz nimmt.

»Ich glaube nicht, dass Sie und Olbrich sich schon offiziell vorgestellt wurden. Er ist der Schatzmeister und Sekundant des Ordens, meine rechte Hand.«

Ah, den Namen Olbrich höre ich nicht zum ersten Mal, und nun habe ich endlich ein Gesicht dazu. Wir nicken uns zu, dann lasse ich den Blick über die überschaubare Runde gleiten. Eigentlich habe ich deutlich mehr Personen erwartet. Oder wird noch jemand kommen?

»Im Namen der gesamten Gesellschaft der Tabula Rubina kann ich Ihnen versichern, wie unglaublich froh wir sind, Sie wieder zurück in der Gegenwart begrüßen zu dürfen«, beginnt Professor Kipping und bestätigt damit, dass wir vollzählig sind. »Wir waren sehr erleichtert, als uns Ihr Bruder bestätigen konnte, dass Sie wohlauf zurückgekehrt sind.«

Er nickt Paul zu, doch schon im nächsten Moment verfinstert sich seine Miene. »Zu erfahren, was Leopoldo zugestoßen ist, erschüttert uns. Wir als Orden verurteilen zutiefst, was Lucian Morell ihm angetan hat … und so vielen anderen vor ihm.«

Eine bedrückte Stimmung legt sich über die Tischgesellschaft, und mein Inneres krampft sich einmal mehr schmerzhaft zusammen. Wenn Professor Kipping nur nicht so wie ein besorgter Großaktionär klänge …

»Ihr Bruder hat uns in groben Zügen informiert, aber ich hoffe, dass Sie uns mehr darüber erzählen, was Sie auf Ihrer letzten Zeitreise erlebt haben.«

Drei Augenpaare richten sich erwartungsvoll auf mich, und jetzt ist der Moment gekommen, vor dem mir gegraut hat. Ich muss die Karten vor dem Orden auf den Tisch legen. Während ich tief durchatme, weiche ich Viktors Blick aus, der mich wie gewöhnlich voller Abneigung mustert, und beginne zu erzählen.

Dem Orden zu berichten, was sich in Rom zugetragen hat, dauert nicht annähernd so lange, wie vor Lara und Paul alle Details auszubreiten. Trotzdem fühlt sich mein Hals ganz rau an, als ich geendet habe. Wortlos starre ich auf die polierte Tischplatte vor mir und studiere die Maserung des Holzes, während sich ringsum bleiernes Schweigen ausbreitet.

Offenbar sind die Neuigkeiten für die Herren vom Orden schwerer zu verdauen als für meine Familie.

Vor allem Olbrich murmelt unentwegt vor sich hin. »Kann Portale öffnen … unglaublich … Portale.«

Irgendwann räuspert sich Professor Kipping. »Wirklich höchst erstaunlich. Ich wüsste nicht, dass ich schon einmal von einer Zeitreisenden mit solchen Fähigkeiten gehört habe.«

Überrascht blicke ich auf. »Nein?«

Er schüttelt den Kopf. »Die Portale waren schon immer an Örtlichkeiten gebunden, in alter Zeit an Kultstätten wie an jenes, das Sie im Pantheon geöffnet haben, oder seit der Gründung des Ordens in Gemälden. Aber ein Portal, das von einer Zeitreisenden selbst willkürlich geöffnet wird? Nein, so etwas gab es noch nie.«

Ich spüre, dass ich erröte. Mir war schon klar, dass es etwas Besonderes ist, die Portale öffnen zu können, aber irgendwie nahm ich an, dass es eine seltene, aber nicht vollkommen unmögliche Gabe ist. Professor Kipping angesichts dieser Tatsache so vollkommen perplex zu erleben, fühlt sich merkwürdig an. Selbst Viktor hat es ausnahmsweise die Sprache verschlagen.

Im nächsten Moment meldet sich leise Enttäuschung in mir. Wenn es heißt, dass meine Fähigkeit ein nie da gewesenes Novum ist, dann kann mir der Orden wahrscheinlich doch nicht wie gehofft weiterhelfen. So, wie sie alle aussehen, wissen sie nicht mehr darüber als ich. Aber vielleicht gibt es noch andere Wege.

»Was wollen Sie wegen Leo unternehmen?«, frage ich kühn.

Professor Kipping hebt die Brauen. »Leo?«

»Ja.« Ungeduldig nicke ich. »Wir sprechen die ganze Zeit nur über mich, aber es ist doch viel wichtiger, wie wir ihn aus der Vergangenheit retten können. Als ich ihn das letzte Mal sah, war er ernstlich verletzt und hatte gerade sein Mal verloren.«

Angespannt beobachte ich, wie Professor Kipping einen Blick mit Olbrich wechselt.

»Rosalie, so leid es mir tut, aber ich fürchte, wir können kaum etwas unternehmen.«

»Was soll das heißen?«, zische ich, und Kälte klirrt in meiner Stimme. Paul bemerkt den tödlich ruhigen Ton und setzt zu einer Erklärung an, aber mit einer unwirschen Handbewegung halte ich ihn auf. Meine ganze Aufmerksamkeit konzentriert sich auf Professor Kipping, der mich seinerseits wachsam mustert.

»Sie müssen verstehen, in welcher Lage wir uns gegenwärtig befinden«, erklärt er dann bedächtig und in einem Tonfall, der mir deutlich macht, dass er mich durchaus für eine Bombe hält, die jeden Moment hochgehen kann. »Lucian ist gefährlicher denn je und hat einmal mehr bewiesen, dass er vor nichts zurückschreckt. Wenn Ihre Beobachtungen zutreffen, dann steht er kurz davor, die Zwölfzahl der Zodiaki in sich zu vereinen. Das hätte ungeheuerliche Folgen für uns alle. Deshalb sehen wir uns gezwungen, Sie wieder in die Vergangenheit zu schicken und Ihnen alles Notwendige mitzugeben, damit Sie ihn aufhalten.«

Professor Kippings Aussage erreicht mich mit Verzögerung, und als ich endlich kapiere, detoniert die Bedeutung in meinem Kopf wie eine Rohrbombe.

»Mich in die Vergangenheit schicken, um Lucian aufzuhalten?«, wiederhole ich und klinge selbst in den eigenen Ohren schrill.

Jetzt schaltet sich auch Olbrich ein. »Sie haben durchaus bewiesen, dass Sie es allein mit ihm aufnehmen können. Sie sollten sich bewusst machen, dass Sie das Zeug dazu haben.« Er mustert mich mit einem Gesichtsausdruck, der mich wohl ermutigen soll, an mein eigenes Potenzial zu glauben.

Ich muss tief Luft holen und mich sammeln, um die Wut in Schach zu halten, die mir gegen die Schläfen pocht.

»Verstehe ich das richtig, dass seitens des Ordens kein Interesse besteht, Leo aus der Vergangenheit zu retten?« Krampfhaft umklammere ich die geschnitzten Armlehnen meines Stuhls, während ich auf eine Antwort warte.

»So leid es mir tut, aber wir können diesem Fall zurzeit nicht unsere volle Aufmerksamkeit schenken. Wir haben keine Zeit für eine Rettungsmission und müssen unsere Ressourcen auf Lucian konzentrieren. Leopoldo ist clever, er wird sich zurechtfinden.«

Die Eiseskälte erfüllt mich inzwischen bis ins tiefste Innere. »Der Stellenwert eines Menschen hängt für Sie also einzig und allein mit seinem Zodiakus zusammen«, stelle ich fest und zittere inzwischen so sehr, dass ich es nicht mehr verbergen kann. »Sie wissen, dass ich ihn retten könnte. Aber Sie lassen ihn im Stich, weil er dem Orden ohne Zodiakus nicht mehr von Nutzen ist. So ist es doch, oder?«

»Rosalie, ich verstehe, dass Sie aufgebracht sind, aber hier geht es um mehr als um eine Einzelperson. Auch mich berührt Leopoldos Schicksal, aber als Orden sind wir einem höheren Ziel verpflichtet. Das Wohlergehen der Welt liegt in unseren und damit auch in Ihren Händen.«

In meinem Kopf wummert es inzwischen so heftig, dass ich kaum einen vernünftigen Gedanken fassen kann.

»Ja, Sie als Orden sind dieser höheren Sache verpflichtet. Mir liegt vor allem daran, den Mann zu retten, den ich liebe, und mit ihm gemeinsam Lucian Morell aufzuhalten. Auch mir wurde dort unten in der Aqua Virgo ein Stück entrissen, und ich kann es nur bei Leo wiederfinden. Nur als Team richten wir etwas gegen Lucian aus. Wir beide haben lange genug gebraucht, um das zu begreifen, weil uns Leos dämliche Nativität von Anfang an Steine in den Weg gelegt hat. Wenn Sie alle das nicht kapieren, dann wünsche ich Ihnen viel Spaß dabei, weitere vierhundert Jahre auf das nächste Zeitreisepaar zu warten, das sich findet und ohne Bedenken von Ihnen benutzen lässt.« Brüsk stehe ich auf und mache mir nicht die Mühe, die Tränen wegzuwischen, die mir über die Wangen rinnen.

Ich kann es einfach nicht fassen, welche Wendung dieses Gespräch genommen hat. Sie werden Leo nicht helfen, wollen ihn einfach in der Vergangenheit sich selbst überlassen und stattdessen mich allein gegen Lucian losschicken, als wäre Leo so etwas wie ein Kollateralschaden.

Ohne noch einmal zurückzublicken, stürme ich aus dem Planetensaal. Schon im Gehen brechen die letzten Dämme, und blind vor Tränen stürze ich hinaus in den Flur. Hinter mir herrscht schockiertes Schweigen, und ich habe schon kopflos einige Meter zurückgelegt, bevor ich Schritte höre, die mir folgen.

Zum Glück ist es Paul, der mich energisch am Arm packt, um mich in die richtige Richtung zu dirigieren, weil ich in meiner Rage nicht auf den Weg achte. Ganz abgesehen davon ist das Hauptquartier so verwinkelt, dass ich auch mit klarem Kopf nicht ohne Weiteres den Weg nach draußen gefunden hätte.

Mit Pauls Hilfe schaffe ich es binnen kürzester Zeit nach draußen und breche vor Erleichterung fast in die Knie, als mir auf der Arcanusstraße ein eisiger Wind ins Gesicht peitscht. Das Wetter hat sich in der Zwischenzeit merklich verschlechtert und spiegelt auf unheimliche Weise meine Laune wider. Dieselben Eiskristalle, die im Wind tanzen, rauschen mir durch die Blutbahn, und ich erbebe.

Mehrere Minuten lang verharre ich auf den Stufen vor dem Portal, versuche mich zu beruhigen und zu Atem zu kommen. Aber wilde Schluchzer branden in mir auf, brechen sich Bahn, ehe ich sie aufhalten kann. Und ich will es auch gar nicht.

Die Hoffnung, die ich heute Morgen verspürt habe, als ich hierher aufgebrochen bin, ist schlagartig verpufft. Ausgelöscht von der berechnenden Rationalität der Rubiner.

Welle um Welle überrollt mich, und dann spüre ich Pauls Arme, die mich umschlingen und festhalten. Ich vergrabe das Gesicht an der Brust meines Bruders, der mich einfach nur fest an sich drückt, während ich den Tränen freien Lauf lasse.

Ich weiß nicht, wie lange wir so dastehen, aber als ich aufblicke, glitzert Frost in Pauls Wimpern und Augenbrauen. Sein Blick ist ernst, geradezu düster.

»Es tut mir so leid, Rosa.« Mehr sagt er nicht.

»Nein«, murmele ich nach einer Weile, und die Tränen versiegen endgültig. »Ich bin froh, dass ich es erfahren habe. Jetzt weiß ich zumindest, womit ich es zu tun habe. Die Rubiner können mir gestohlen bleiben.«