Lern- und Veränderungsprozesse aktiv gestalten - Klaus Konrad - E-Book

Lern- und Veränderungsprozesse aktiv gestalten E-Book

Klaus Konrad

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Beschreibung

In unserer heutigen, von Dynamik geprägten Zeit mit ihren zahlreichen Optionen und Anforderungen ist Lernen und Verändern essentiell. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für den selbstverantwortlich handelnden Menschen, der sich in Gruppen und Organisationen bewegt und dort nach Verwirklichung strebt? Auf der Suche nach aktiven Einflussmöglichkeiten liefert dieses Buch Antworten auf spannende Fragen: Warum verhalten sich Menschen in manchen Situationen wider besseren Wissens unangemessen? Welche Rolle spielen Emotionen und Metakognitionen dabei? Wie kann es gelingen, Gewohnheiten zu verändern? Welche Art von Training kann helfen, Veränderungen anzustoßen und aufrechtzuerhalten? Gezielte Fragen in den einzelnen Kapiteln, konkrete Beispiele und empirische Studien sorgen für einen fundierten Anwendungsbezug und ermöglichen Selbsterfahrung.

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Der Autor:

 

Prof. Dr. Klaus Konrad ist Professor für Pädagogische Psychologie an der Pädagogischen Hochschule Weingarten mit Forschungs- und Lehrschwerpunkten selbstgesteuertes Lernen, Wissen und Handeln, Emotions- und Handlungsregulation, Stress und Burnout sowie qualitative und quantitative Forschungsmethoden.

Er arbeitet derzeit mit Vertretern mehrerer Universitäten und Stiftungen an deutschlandweit organisierten Projekten:

 

A. Minimierung der Bildungsungleichheit

WEICHENSTELLUNG richtet sich an Viertklässler in besonderen Lebenslagen. Hauptanliegen des Projekts ist es, die Entstehung von Ungleichheit zu verhindern, bevor sie sich im schulischen Umfeld manifestiert. Mit Hilfe verschiedener Trainings- und Tutoringansätze sollen Selbstwirksamkeit, Selbststeuerung und Selbstkonzept der Kinder positiv beeinflusst werden. Innovativ ist der systemische Ansatz: Eltern, Lehrer und Kinder werden angesprochen und bei Bedarf unterstützt.

B. Optimierung der Lehrerfortbildung

In Kooperation mit Rektoren und Bildungseinrichtungen wird die fehlende Nachhaltigkeit in der Fort- und Weiterbildung genauer betrachtet. Ausgangspunkt für praktische Projekte sind handlungstheoretische Erklärungen für die Kluft zwischen Wissen und Handeln. Unter Beachtung der Eigenschaften wirkungsvoller Trainings geht es darum, konkrete Umsetzungsmodelle zu entwickeln.

Klaus Konrad

Lern- und Veränderungsprozesse aktiv gestalten

Mehrebenenkonzepte und Fördertechniken in Coaching, Aus- und Weiterbildung

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032669-9

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-032670-5

epub:   ISBN 978-3-17-032671-2

mobi:   ISBN 978-3-17-032672-9

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Vorwort – worum geht es in diesem Buch?

 

 

 

»Veränderung« und »Wandel« zählen nicht nur zu den Schlüsselworten in vielen gesellschaftlichen Debatten, sie bestimmen auch die Diskussion über Sinn und Wirksamkeit von Lernen, Aus- und Weiterbildung. Daraus leiten sich zahlreiche Initiativen ab, die darauf abzielen, »Lernen« und »Verändern« zu fördern.

Voraussetzung und Begleiterscheinung für solche Anliegen sind Konzepte, die mehrere Betrachtungsebenen beinhalten. Entsprechend erfährt die üblicherweise bevorzugte individuelle Perspektive auf Lernen und Veränderung in diesem Buch eine Ausweitung. Der Mensch wird als ein selbstverantwortlich handelndes Wesen betrachtet, das in steter Interaktion mit seinem komplexen Umfeld steht (Spisak & Della Picca, 2017, S. 2). Diese Vernetzung reicht (in persönlichen Biografien ebenso wie in Organisationen) sehr weit, womöglich, weil sie in Teilen biologisch verankert ist. Jeder Einzelne wie auch jede Gruppe oder jede Institution muss über eine hohe Flexibilität verfügen und schnell reagieren können, wenn eine lange Lebensdauer erreicht werden soll. »Survival of the Fittest« bedeutet im Sinne der Darwin’schen Evolutionstheorie das Überleben der am besten angepassten Individuen. Letztlich setzen sich diejenigen durch, die sich am besten auf sich verändernde Umwelten oder Situationen einstellen können, die – ergänzend zur natürlichen Selektionstheorie – sozial eingebunden sind und sich kommunikativ verhalten (»sozial kompatible Kommunikation«).

Wandlungsfähigkeit und Wandlungsbereitschaft sind in dieser Sicht Erfolgsfaktoren sowohl für einzelne Personen als auch für Systeme der unterschiedlichsten Art geworden. Sie haben ihren Ausgangspunkt im Lernen des Individuums und der Organisation. Wie das komplexe Zusammenspiel mehrerer Systemelemente unterstützt (»aktiv gestaltet«) werden kann, soll im vorliegenden Buch sowohl theoretisch analysiert als auch am Beispiel von (ressourcenorientierten) Selbstmanagement- und Trainingsprogrammen in ihrer praktischen Umsetzung beleuchtet werden.

Wo liegen die Schwerpunkte dieser Abhandlung? Zu den zentralen Anliegen des Bandes gehört die Betrachtung mehrerer Ebenen des Lernens (Individuum, Gruppe, Organisation  Abb. 1) sowie deren Koppelung und Veränderung. Es sind drei Handlungsebenen, die hier interagieren (Spisak & Della Picca, 2017, S. 3):

1.  Jedes Individuum handelt auf der Grundlage seines jeweiligen persönlichen, sozialen und kulturellen Hintergrunds.

2.  Individuen schließen sich Gruppen an, tauschen dort Wissen aus, gewinnen Rückhalt und erwerben intellektuelle sowie soziale Kompetenzen.

3.  Die jeweilige Organisation beeinflusst durch ihre (Führungs-)Kultur die Möglichkeiten einzelner Personen, sozialer Gemeinschaften sowie des ganzen Kollektivs.

Abb. 1: Mehrebenensystem: Die enge Verbindung von individuellem, kooperativem und organisationalem Lernen

Die Umwelt der Organisation (Markt, Schule, Gesellschaft, politische und ökologische Bedingungen) wirken sowohl auf die Organisation als auch auf die darin handelnden (Führungs-) Personen ein. Rückwirkend gestalten jede Organisation und die darin agierenden Menschen und Gruppen den Kontext mit.

Sämtliche Konzepte des Mehrebenensystems erhalten im Text einen breiten Raum. Wichtige Fragen zu Wandel und Veränderung kommen zur Sprache:

1.  Welche Ebenen der Veränderung gibt es? Wie stehen Prozesse des Lernens auf dem Niveau der Organisation, der Gruppe sowie der einzelnen Person miteinander in Beziehung?

2.  Was sind die Probleme der Veränderung? Warum gibt es eine Kluft zwischen Wissen und Handeln, zwischen Absicht umd Tun?

3.  Wie soll (etwas) aktiv verändert werden? Welche Methoden und Trainingsprogramme sorgen für nachhaltige Entwicklungen?

4.  Was können wir daraus lernen? Was bedeuten die präsentierten Erkenntnisse für die Entwicklung und Gestaltung von (individuellen und sozial geteilten) Zielen sowie von Austausch und Kommunikation?

Individuelles, kooperatives und organisationales Lernen bilden ein Netzwerk. Selbstreflexion, Wahrnehmung der Umwelt und der Beziehung zur Umwelt, Weiterentwicklung der eigenen Kommunikation und Kooperation im Sinne von Wissensmanagement und Lernen lernen in einer Organisation gehören stets zusammen und laufen synchron ab ( Abb. 1).

Basis für das Verständnis der skizzierten Vorgänge sind vor allem handlungstheoretische Positionen (»Mehrebenenmodelle«): Menschen leben – und das ist eine Bedingung ihrer Existenz und ein Grundgedanke dieses Buches – in sozialen Systemen: Sie denken, fühlen und handeln in Paarbeziehungen, informalen und formalen Gemeinschaften, in Gruppen, Organisationen und Gesellschaften.

»Lernen« bedeutet in solchen sozialen Strukturen, dass während einer Veränderung bewusste (und oft auch kommunikative) Aktivitäten wichtig sind. Es kommt darauf an, Wandlungs- und Lernprozesse aufmerksam zu reflektieren, um die ständig ablaufenden Herausforderungen optimal zu bewältigen. Innovative Programme, die solche Vorgänge fördern, werden vorgestellt.

Dieses Buch beschreibt verständlich und praxisnah, wie Lernen und Veränderung auf verschiedenen Ebenen (Individuum, Gruppe und Gesamtorganisation) interagieren. Wie kann der gemeinsame Lern- und Veränderungsprozess aktiv werden, eine konstruktive Richtung bekommen, Dynamik gewinnen und für alle beteiligten Einheiten zu einer Selbstverständlichkeit werden? Wie kann Wissen zur Anwendung gebracht werden?

Es ist kein weiterer Lern- oder Organisationsratgeber, sondern setzt wissenschaftlich fundierte und in der Praxis erprobte Maßstäbe für menschliche Lernprozesse. Der Text richtet sich an alle, die sich für Lernen und Veränderung aus verschiedenen Blickwinkeln interessieren und die solche Prozesse beeinflussen wollen.

 

Dezember 2017

Klaus Konrad

Wegweiser – die didaktischen Elemente dieses Buches

 

 

 

Lesen und Lernen sollen Spaß machen. Dazu tragen einige didaktische Elemente bei. In die Kapitel eingestreute Fragen, Beispiele, empirische Studien und Möglichkeiten zur Selbsterfahrung, ein Stichwortverzeichnis im Anhang und eine Vielzahl von Definitionen helfen Ihnen, wichtige Begriffe, Fachausdrücke und Sinnzusammenhänge nicht nur aufzunehmen, sondern auch zu behalten. So soll Lernen begünstigt werden.

•  Definitionen. Im ganzen Buch finden Sie Erklärungen wichtiger Konzepte. Der jeweilige Begriff wird dabei durch ein besonderes Format hervorgehoben.

•  Beispiele. Kernbegriffe des Kapitels werden in einen Handlungskontext eingebunden. Einzelne Beispiele betreffen Probleme und Lösungen der Veränderung aus dem Alltag. Sie sollen Ihnen helfen, das Lernmaterial aktiv und lebensnah zu verarbeiten.

•  Empirische Untersuchungen oder Experimente. Sie verleihen den Ausführungen eine größere Anschaulichkeit. Zugleich vermitteln sie Ihnen einen tieferen Einblick und eine wissenschaftliche Begründung der Inhalte.

•  Selbsterfahrung. Diese Textsegmente bieten Ihnen Anregungen für eine persönliche Auseinandersetzung. Es handelt sich häufig um kontrovers diskutierte Themen, die Sie so intensiver erfahren können.

•  Deutsch- und englischsprachige Literatur zum Thema. Die Leitgedanken eines Kapitels faszinieren Sie und Sie wollen mehr darüber wissen? Dann werden Sie vielleicht in diesen weiterführenden Werken fündig.

•  Stichwortverzeichnis. Am Ende des Buches finden Sie die zentralen Konzepte noch einmal in einem Register zusammengefasst.

Noch eine Anmerkung zur gewählten Ansprache: Wo im Folgenden aus Gründen der Einfachheit und der Sprachästhetik vom Lehrer, Dozenten oder Ausbilder die Rede ist, sind selbstverständlich immer Lehrerinnen und Lehrer, Dozentinnen und Dozenten sowie Ausbilderinnen und Ausbilder gemeint.

Inhaltsverzeichnis

 

 

Vorwort – worum geht es in diesem Buch?

Wegweiser – die didaktischen Elemente dieses Buches

1 Ausgangslage

1.1 (Ver-)Änderung und Stabilität

1.2 Veränderung – eine Aufgabe der Psychologie

Teil I Was soll verändert werden?

2 Theoretische Positionen zu Lernen und Veränderung

2.1 Kognitionspsychologie: Transfer als Kernelement von Lernen und Veränderung

2.1.1 Definition und Formen des Transfers

2.1.2 Förderung und Effekte von Transfer

2.2 Handlungspsychologie: Ziele, Pläne und Vorsätze

2.2.1 Was soll verändert werden?

2.2.2 Wann gelingen oder scheitern Veränderungspläne?

2.3 Neurobiologie: Biologische Wurzeln von Lernen und Veränderung

3 Die enge Verbindung von individuellem und organisationalem Lernen im Veränderungsgeschehen

3.1 Die lernende Organisation

3.2 Individuelle Kompetenzentwicklung und Lernen

3.2.1 Veränderungen in einer Organisation

3.2.2 Wie kommt das Können in die Menschen?

3.2.3 Der Weg zum Lernen lernen

Teil II Welche Ebenen der Veränderung gibt es?

4 Individuelles Lernen: Der Mensch als sich entwickelndes Wesen

4.1 Persönlichkeit – stabil und veränderbar

4.1.1 Begriffsbestimmung

4.1.2 So bin ich. Ich kann aber auch anders!

4.1.3 Wandel und Veränderung der Persönlichkeit

4.1.4 Stabilität der Persönlichkeit

4.1.5 Kontinuität und Wandel

4.2 Das menschliche Selbst

4.2.1 Das Selbst in der Gehirnforschung

4.2.2 Das Selbst im Wechselspiel von Gedanken und Gefühlen

4.2.3 Das Selbst als soziales Produkt

4.2.4 Selbst und Selbstkonzept

5 Soziale Lernsysteme (Gruppen): Lernen geht nie allein

5.1 Lernen ist ein soziales Phänomen

5.2 Gruppenarbeit

5.3 Kooperatives Lernen

6 Die (lernende) Organisation

6.1 Mehrebenensysteme

6.2 Wer bestimmt den Wandel?

6.3 Auslöser organisationaler Veränderungen

6.4 Aufgaben bei der Gestaltung von Veränderung

Teil III Was sind die Probleme der Veränderung?

7 Grenzen der Wandelbarkeit

7.1 In welchen Bereichen ist ein Wandel möglich?

7.2 Barrieren der individuellen Informationsverarbeitung: Bewusste und unbewusste Verhaltenssteuerung

7.3 Hindernisse des sozialen Lernens

7.3.1 Grenzen der sozialen Wahrnehmung

7.3.2 Grenzen der Kommunikation

8 Die Kluft zwischen Wissen und Handeln

8.1 Theorien zum Zusammenhang von Wissen und Handeln

8.2 Wechselwirkungen zwischen Wissen und Handeln

8.3 Mehrebenenmodelle der Handlungstheorie

8.3.1 Grundlegende Annahmen

8.3.2 Der Berner Ansatz

8.3.3 Das Rubikonmodell

8.4 Thesen zum Zusammenspiel zwischen Wissen und Handeln

8.5 Konsequenzen für die Wissensanwendung

8.5.1 Ein semantischer Blickwinkel

8.5.2 Konstruktivistische Lernarrangements

8.6 Träges Wissen

8.6.1 Das Konzept »Träges Wissen« in verschiedenen Handlungsfeldern

8.6.2 Strategiewissen und Strategieanwendung

Teil IV Wie soll (etwas) verändert werden?

9 Ebene des Individuums: Alleine lernen

9.1 Lebenslanges Lernen

9.2 Unbewusste Lernprozesse verändern

9.2.1 Priming

9.2.2 Gewohnheiten

9.3 Selbstgesteuertes Lernen fördern

9.3.1 Kerndimensionen der Selbststeuerung

9.3.2 Selbststeuerungsoffene Lernumgebungen gestalten

9.3.3 Tiefenverarbeitung fördern

9.3.4 Subjektive Überzeugungen verändern

9.4 Kognition, Metakognition und Motivation/Volition trainieren

9.4.1 Förderung von Wissen

9.4.2 Anregung kognitiver und metakognitiver Strategien

9.4.3 Selbsterklärungen konstruieren

9.4.4 Metakognitionen trainieren – Lernprozesse überwachen und steuern

9.4.5 Veränderung motivieren – Motivation unterstützen

9.4.6 Selbstwertfördernde Einstellungen und Denkweisen fördern

9.4.7 Selbstbestimmtes Lernen unterstützen

9.5 Überwindung der Kluft zwischen Wissen und Handeln

9.5.1 Grundlegende Strategien der Veränderung

9.5.2 Handlungspsychologische Prinzipien

9.5.3 Metaprozesserklärungen

9.5.4 Situiertheitserklärungen

9.6 Den Willen stärken

9.6.1 Die Rubikonmetapher und ihre Anwendung

9.6.2 Strategien der Handlungskontrolle

9.6.3 WOOP

9.7 Problemorientiert(es) Lernen

9.7.1 Gegenstandsorientierter versus sozial-konstruktivistischer Unterricht

9.7.2 Problemorientiertes Lernen als Paradigmenwechsel

9.8 Emotionen kontrollieren und regulieren

9.8.1 Bedeutung und Funktion von Emotionen

9.8.2 Wie wirkt Emotionsregulation?

9.8.3 Was bedeutet Emotionsregulation im Rahmen der Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen (PSI)?

10 Ebene der Gruppe: Mit anderen lernen und arbeiten

10.1 Das Potenzial situierter Ansätze

10.1.1 Kerngedanken

10.1.2 Lösung von Transferproblemen

10.1.3 Neuere Entwicklungen

10.2 Kooperatives Lernen unterstützen

10.2.1 Prozesse und Wirkungen

10.2.2 Voraussetzungen für eine erfolgreiche Kooperation

10.2.3 Die Gruppe als Medium der Veränderung

10.2.4 Förderung der Kooperation durch gezielte Lernimpulse

11 Ebene der Organisation: Wie Organisationen lernen und sich entwickeln

11.1 Entwicklung einer Organisation

11.2 Organisationsentwicklung am Beispiel der Schulentwicklung

11.3 Ganzheitliche Ansätze der Veränderung

11.3.1 Ganzheitliche Veränderung I: Coaching

11.3.2 Ganzheitliche Veränderung II: Das Zürcher Ressourcen Modell (ZRM)® – was sind die Kernannahmen des Ansatzes?

11.3.3 Ganzheitliche Veränderung III: Ressourcen Erschließende Beratung (REB)

12 Spezifische Anwendungsfelder

12.1 Gewohnheiten ändern

12.1.1 Wie wir eigene Gewohnheiten ändern können

12.1.2 Die goldene Regel der Änderung von Gewohnheiten

12.1.3 Mini Habits

12.2 Den inneren Schweinehund besiegen

12.2.1 Verwandte Begriffe und Beispiele

12.2.2 Den inneren Schweinehund bezwingen – Lösungen

12.3 Prokrastination – das Aufschieben von Aufgaben

12.3.1 Begriffsbestimmung

12.3.2 Das Ende der Prokrastination – Lösungen

12.4 Stressimpfung

12.4.1 Ziele und Ansatzpunkte der Stressimpfung

12.4.2 Phasen der Stressimpfung

12.5 Sich selbst motivieren

12.5.1 Begriffsbestimmung

12.5.2 Fremdmotivation und Selbstmotivation

Teil V Was können wir daraus lernen?

13 Resümee: Lernen und Veränderung

13.1 Wesentliche Komponenten der Veränderung

13.2 Veränderung in pädagogischen Handlungsfeldern

13.3 Die Wirkung von Gruppen und Organisationen

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

 

1          Ausgangslage

 

 

 

Im Fokus des Kapitels stehen grundlegende Fragen zu Lernen und Veränderung. Werden die Kernaufgaben sozialwissenschaftlicher Disziplinen als Bezugsgröße angesehen, ist Veränderung als wichtiges Thema der Psychologie zu betrachten, das mehrere Berufsfelder in Forschung und Anwendung in ihren Bann zieht. Aktuell tragen Persönlichkeits-, Sozial- und Lernpsychologie den Diskurs zwischen Veränderbarkeit und Stabilität des menschlichen Individuums aus.

1.1       (Ver-)Änderung und Stabilität

Welche Verhaltensweisen Menschen an den Tag legen und wer wir sind, unser Selbst, ist das Produkt vieler Einflüsse der Person sowie der Umwelt. Wie die lern- und entwicklungspsychologische Forschung eindeutig belegt, machen sich diese Wirkgrößen vor allem zu Beginn des Lebens bemerkbar. Hier sind weitreichende Folgen zu verzeichnen: Die Anpassungsfähigkeit des frühkindlichen Gehirns ermöglicht es Eltern und Erziehern, die Entwicklung des Kindes in den ersten Lebensjahren signifikant zu beeinflussen. Wie die Beobachtung von Eltern-Kind-Interaktionen bestätigt, streben die unmittelbaren Bezugspersonen danach – innerhalb der Grenzen der genetischen Ausstattung –, über eine emotionale und intellektuelle Förderung die limbischen Schaltkreise zu optimieren.

In späteren Lebensphasen (speziell in der Pubertät, Beginn: 11./12. Lebensjahr) nimmt die Autonomie gegenüber äußeren Einflüssen zu. Der Jugendliche definiert sich aufgrund der neu gewonnenen Fähigkeit zur Selbstreflexion und zum abstrakten Denken. Die Existenz realer Spielräume (»Ich entscheide, welche Kleider ich trage«) ermöglicht es ihm, sich von den internalisierten Eltern – etwa elterlichen Werten und Vorstellungen – zu lösen und zu einer eigenen (autonomen) Identität mit einem eigenen Werteraum zu finden.

Parallel dazu geschehen im Gehirn in dieser Lebensphase weitreichende – mit Magnetresonanztomografen messbare – Umorientierungen, die sich auch in beobachtbaren Verhaltensmustern niederschlagen. Beispielsweise lieben es Jugendliche, Risiken einzugehen, mit Freunden herumzuhängen, auf Partys zu gehen und gegen zahlreiche Vorschriften aus der Welt der Erwachsenen zu rebellieren. Dies ist ganz normal und auch wichtig für einen typischen Teenager, um seine Identität zu finden.

Auch das weit entwickelte Gehirn ist im Rahmen von Lernvorgängen noch zu erstaunlicher Plastizität fähig. Allerdings sind die Grenzen unübersehbar. Zwar widerspricht die Gehirnforschung dem Satz »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr« vehement, doch ist spätestens im fünften Lebensjahrzehnt bereits ein deutlicher Rückgang der geistigen Leistungsfähigkeit zu verzeichnen.

Entwicklungspsychologisch betrachtet gibt es einen weiteren Grund für Veränderungsbarrieren: Je länger jemand die Person ist, die er denkt zu sein, desto schwerer fällt es ihm, sich zu ändern. Das Problem ist nicht so sehr, dass eine Änderung so kompliziert ist; vielmehr geht es darum, dass das Individuum Muster und Gewohnheiten entwickelt hat, die es einfacher machen, Dinge so zu tun, wie es sie tut. Es fällt ihm schwer, davon abzulassen. Abseits von angenehmen Routinen kann sich der Versuch, etwas in einer neuen Weise zu erledigen, sehr unangenehm anfühlen; es wird dem Betroffenen in der Regel als weniger effizient vorkommen, weil es sich um eine neue Vorgehensweise handelt. Hinzu kommen Aufregung und Verunsicherung für das Individuum. Diese geraten dann in den Fokus, wenn die eigenen Komfortzonen, jene Verhaltensmuster also, die uns vertraut und angenehm sind und die uns Sicherheit vermitteln, aufgegeben werden (Dachis, 2011).

Was grundlegende Lernprozesse ebenfalls erschwert, sind komplexe Wechselwirkungen zwischen personalen und situativen Bedingungen. Obwohl wir nicht wissen, wie genau das Verhältnis zwischen angeborenen und erlernten Anteilen ist, besteht doch Einigkeit dahingehend, dass es zweifellos eine Kombination von beiden Dimensionen ist, die uns zu dem macht, was wir sind.

Ungeachtet der jeweiligen Wirkweise unterschiedlicher Faktoren haben Menschen eine Tendenz zu glauben, dass Veränderungen schwierig zu realisieren sein könnten. Auch wenn es sich viele Zeitgenossen nicht eingestehen mögen: In Wirklichkeit geht es in erster Linie um die Frage, wie sie ihre Chancen nutzen und mögliche Einflussgrößen in gewünschter Weise steuern können (Schnabl & Urbansky, 2015).

Obwohl das menschliche Lern- und Veränderungspotenzial beträchtlich ist, versteht es sich von selbst, dass wir uns stets auch die Grenzen der angedeuteten persönlichen Ressourcen in Erinnerung rufen müssen. Der Grund dafür ist nicht zuletzt ein Wissensproblem, das sowohl für pädagogisch-psychologische als auch für therapeutische Handlungsfelder von Belang ist. Alle Versuche, Barrieren zu überwinden und Schwierigkeiten zu beseitigen, könnten sich als Anmaßung von Wissen erweisen (Schnabl & Urbansky, 2015). Individuen und deren Umwelten sind zu komplex, als dass die Auswirkungen möglicher Interventionen zweifelsfrei prognostizierbar wären.

Veränderungsbereite Personen, Lehrer ebenso wie Therapeuten, sind keine Handwerker, die ihr Werk nach Plan formen können; stattdessen müssen alle Betroffenen wie Gärtner die besten Voraussetzungen für das Gedeihen der Pflanzen schaffen.

1.2       Veränderung – eine Aufgabe der Psychologie

Die Psychologie hat sich aus den etablierteren Feldern der Philosophie und der Biologie heraus entwickelt. Ihre Themen sind vielfältig und für erfolgreiches Handeln von großem Interesse.

Weil die Psychologie zweifellos ein Knotenpunkt wissenschaftlicher Fachrichtungen darstellt, ist sie das ideale Feld für Menschen mit weit gespannten Interessen. Trotz ihrer unterschiedlichen Tätigkeiten, die von biologischen Experimenten bis hin zu kulturvergleichenden Studien reichen, eint die Gemeinschaft der Psychologen eine gemeinsame Fragestellung: die Beschreibung und Erklärung des menschlichen Verhaltens und der mentalen Prozesse, die ihm zugrundeliegen. Im vorliegenden Band rücken die Beschreibung und Erklärung von Lern- und Veränderungsprozessen in den Fokus. Es handelt sich dabei fraglos um ein Thema, das für viele Teildisziplinen wichtig ist. Sowohl Grundlagenforscher als auch Experten anwendungsbezogener Disziplinen setzen sich damit auseinander.

Um Veränderungen kümmern sich beispielsweise Psychologen, die an der Wissensbasis ihrer Profession arbeiten und als Grundlagenforscher bezeichnet werden. Zu ihnen gehören Biologische Psychologen, welche die Verbindungen zwischen Gehirn und Verstand erforschen; Entwicklungspsychologen, die untersuchen, wie sich unsere Fähigkeiten im Lauf unseres Lebens verändern; Kognitionspsychologen, die damit experimentieren, wie wir wahrnehmen, denken und Probleme lösen; Lernpsychologen, die unsere spezifischen und überdauernden Lernaktivitäten untersuchen; und schließlich Sozialpsychologen, die erforschen, wie wir unser soziales Umfeld und vor allem andere Menschen wahrnehmen und beeinflussen (Myers, 2014, S. 3). Die Psychologie des Lernens sowie der Veränderung umfasst darüber hinaus alltags- und praxisrelevante Aspekte. Klinische oder Pädagogische Psychologen interessieren sich vorzugsweise für die praktischen Dimensionen des Themenfeldes. Sie nutzen psychologische Konzepte und Methoden in Bildungseinrichtungen, am Arbeitsplatz oder in Kliniken, um Menschen strategisch zu schulen, ihre destruktiven Kognitionen zu behandeln oder sie auf ihre Aufgaben in Organisationen vorzubereiten.

Dieses Buch will Lern- und Veränderungsprozesse verständlich machen und zugleich den hohen Anwendungsbezug der »Veränderung« hervorheben. Beide Aufgaben berühren Kernanliegen der Psychologie: (1) die Klärung der Ursachen und Wege persönlicher Veränderungen und (2) die Implementierung und Organisation vorhandenen wissenschaftlichen Wissens, das zum Beispiel für Problemlösungen bedeutsam ist.

Psychologie soll den Erwerb von Wissen fördern, anwendbares Wissen zur Verfügung stellen, das individuelle Handeln in Beziehungen, in Ausbildung, Schule und Beruf verbessern und Rezepte anbieten, die Lösungen für zwischenmenschliche Probleme eröffnen und gegebenenfalls Fehlentwicklungen verhindern (Gerstenmaier & Mandl, 2000a, S. 12 f).

Pädagogische Experten kümmern sich in Bildungseinrichtungen um das Lernen von Individuen und Gruppen. Psychologen, die in der Beratung tätig sind, helfen Menschen dabei, Herausforderungen und Krisen (darunter Probleme im Studium, im Beruf und in sozialen Beziehungen) zu bewältigen und ihre persönliche und soziale Funktionsfähigkeit zu verbessern. Klinische Psychologen verfolgen ganz ähnliche Interessen, allerdings oftmals mit tiefergehenden Methoden: Sie diagnostizieren und behandeln mentale, emotionale und verhaltensbezogene Einschränkungen.

Als gemeinsame theoretische Basis für die interessierenden Forschungs- und Anwendungsfelder dienen die Kognitive Psychologie sowie die Handlungspsychologie ( Abb. 1.1).

Abb. 1.1: Kognitive und Handlungspsychologie – Aspekte der Veränderung

Disziplinen der Kognitionspsychologie lenken das Augenmerk auf das Wahrnehmen, Denken und Problemlösen und auf deren Veränderung.

»Cognitive theories shifted the focus of human functioning away from environmental variables and onto learners-specifically, how they encoded, processed, stored, and retrieved information. Rather than being passive recipients of information, learners were active seekers and processors of information.« (Schunk, 2008, S. 463)

Ergänzend dazu werden die Kerngedanken der Handlungspsychologie in Kapitel 8.4 ausführlich besprochen.

Auch wenn die Kognitive Psychologie nicht zum Fundament einer modernen Erkenntnistheorie geworden ist (Rorty, 1987, S. 278, zit. nach Gerstenmaier & Mandl, 2000a, S. 13), so wird ihr dennoch für die Weiterentwicklung des Verständnisses über Wissen und Erkenntnis ein hoher Stellenwert eingeräumt. Diese Erwartungen an die Kognitions- und Handlungspsychologie beziehen sich auch auf die Vermittlung von Handlungswissen für wichtige psychische und soziale Anliegen oder Herausforderungen in Familie, Ausbildung, Beruf, Freizeit und Politik (Gerstenmaier & Mandl, 2000a, S. 13 f). Gelingt die Repräsentation von Wissen in relevanten Domänen, ist eine wichtige Voraussetzung dafür erreicht, dass Lernen und Veränderung zustande kommen.

 

 

 

 

Teil IWas soll verändert werden?

 

2          Theoretische Positionen zu Lernen und Veränderung

 

 

Psychologische Theorien vermitteln wichtige Bezugsgrößen für Lernen und Veränderung. Kognitions- sowie handlungspsychologische und neurobiologische Erkenntnisse werden bevorzugt behandelt. Die dort vertretenen Konzepte erlauben es, relevante Fragen zu beantworten: Wie kommt Transfer zustande? Welche kognitiven Prozesse spielen eine Rolle? Wo liegen die Beiträge der Handlungsforschung? Was sind die biologischen Voraussetzungen und Begleiterscheinungen von Lernen und Veränderung?

2.1       Kognitionspsychologie: Transfer als Kernelement von Lernen und Veränderung

Das Thema Veränderung steht speziell im Rahmen der Lehr-Lerntheorien in enger Verbindung mit Transferleistungen. In einer ersten Annäherung bedeutet Transfer, dass Lernen und Anwenden klar voneinander unterschieden werden müssen. Eine Veranschaulichung dieser These ebenso wie Ideen zur praktischen Nutzung finden sich im Modell der neuronalen Phasen des Lernens ( Abb. 2.1). Alle subjektiv relevanten Lerninhalte müssen diese Phasen (Informationen enkodieren, verarbeiten, konsolidieren und gegebenenfalls abrufen) durchlaufen, wobei die Prozessdynamik stark von Emotionen beeinflusst und gefiltert wird.

Aus der Sicht der Kognitionspsychologie sind diese Schritte auch an der Übertragung sowie Anwendung von Nachrichten oder Erkenntnissen beteiligt. Transfer ist insbesondere für jene Maßnahmen wichtig, die individuelle Kompetenzen aufbauen wollen. Entsprechend haben psychologische und pädagogische Interventionsmaßnahmen in der Regel die Übertragung des Gelernten auf Anforderungen und Situationen außerhalb des Übungs- oder Trainingsfeldes zum Ziel.

Abb. 2.1: Phasen des neuronalen Lernens

2.1.1     Definition und Formen des Transfers

Der Begriff »Transfer« wird in der Literatur höchst unterschiedlich verwendet, was die Gefahr von Verwechslungen und Missverständnissen birgt (Stern, 2009, S. 125). Eine weithin anerkannte Begriffsbestimmung lautet wie folgt:

Definition: Transfer

Transfer bezeichnet die erfolgreiche Anwendung angeeigneten Wissens bzw. erworbener Fertigkeiten im Rahmen einer neuen, in der Situation der Wissens- bzw. Fertigkeitsaneignung noch nicht vorgekommenen Anforderung. Erleichtert eine Intervention in einem Anforderungsbereich A das Lernen in einem unabhängigen Anforderungsbereich B, wird dies als Produkt des Transfers angesehen (Stern, 2009, S. 128).

Transferleistungen weisen vielfältige praktische Implikationen auf: Können Berufsschüler das in der Schule Gelernte in ihrem Betrieb anwenden? Gelingt es dem Bodenturner, seine im Training erworbene Sprungkraft in den Wettkampf zu übertragen? Hat ein Training von Lernstrategien deren zukünftigen Einsatz zur Folge? Findet also eine Übertragung von Wissen und/oder Fertigkeiten auf neue Aufgaben überhaupt statt?

Für die Kerninteressen dieses Buches – und um Unklarheiten zu vermeiden – ist eine grundlegende Klassifikation von Transferleistungen hilfreich.

Ein Rahmenmodell (Stern, 2009, S. 127) rückt nun in den Mittelpunkt, das spezifische Dimensionen für die Einschätzung des Kontinuums zwischen proximalem und distalem Transfer vorgibt ( Abb. 2.2). Als Schlüsselelemente umfasst dieser Ansatz eine Inhaltskomponente (was wird transferiert?) und eine Kontextkomponente (wann und wo findet Transfer statt?).

(1) Die Inhaltskomponente zeigt auf, welche Fertigkeiten von einer Lern- in eine Anwendungssituation übertragen werden sollen. Müssen zum Beispiel spezifische, eng umschriebene Prozeduren oder generelle Problemlösestrategien übertragen werden?

Auf dieser Ebene ist zu beurteilen, in welcher Weise sich die Ausführung einer Fertigkeit möglicherweise verändert hat. Zum Beispiel kann sich das Tempo oder auch die Qualität der Ausführung einer Problemlösung verändert haben.

Abb. 2.2: Inhalts- und Kontextdimensionen des Transfers

Schließlich wird die inhaltliche Komponente der Übertragungsdistanz dadurch bestimmt, welche Gedächtnisoperationen für den Transfer erforderlich sind. So sollte es von Bedeutung sein, ob eine Person lediglich die Ähnlichkeit mit der Lernsituation erkennen und eine Strategie anwenden soll oder ob sie sich zwischen mehreren möglichen Handlungsalternativen entscheiden muss. Insgesamt wird also mit der Inhaltskomponente die Art des »Anforderungstransfers« (Hager & Hasselhorn, 2000, zit. nach Stern, 2009, S. 127) genauer geschildert.

(2) Die Dimensionen der Kontextkomponente heben wichtige Rahmenbedingungen hervor. Zur Sprache kommen verschiedene Merkmale der jeweiligen Situationen, in denen etwas gelernt bzw. später angewendet werden soll, bezüglich ihrer Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit. Damit kann bestimmt werden, unter welchen situativen und zeitlichen Bedingungen Transfer stattfindet (»Situationstransfer« und »zeitlicher Transfer« im Sinne von Hager & Hasselhorn, 2000, zit. nach Stern, 2009, S. 127).

2.1.2     Förderung und Effekte von Transfer

Die hier vorgetragene Taxonomie zur Beurteilung von möglichen Transfereffekten und Transferdistanzen kann ein erster Schritt sein, die lange unbeantwortete Frage nach der Existenz von Transfer durch eine genauere qualitative Betrachtung präziser zu beantworten. Psychologische Trainingsprogramme und ebenso schulischer Unterricht lassen sich auf dieser Grundlage hinsichtlich ihrer Wirksamkeit evaluieren und miteinander vergleichen.

Weitere Erkenntnisse resultieren aus der Beobachtung der Bedingungen von Transfer. Eine genaue Analyse macht es möglich, die Kontexte von Lern-, Interventions- und Anwendungssituationen gezielt und kontrolliert zu variieren, um schließlich Lern- sowie Interventionsbedingungen so zu optimieren, dass Training und Unterricht ihren Zielen möglichst nahekommen (Stern, 2009, S. 129).

Fragen des Transfers lassen sich unmittelbar mit den Phänomenen des Lernens und der Veränderung in Verbindung bringen. Positive Konsequenzen sind vor allem dann zu erwarten, wenn es gelingt, die Qualität von Lernprozessen und Veränderungen beispielsweise im Rahmen von Trainingsprogrammen angemessen zu unterstützen und zu bewerten.

Erwähnung verdienen Lernstrategietrainings, an deren Beispiel sich einige Besonderheiten nachweisen lassen: Sowohl die Effektivität als auch die Transfermöglichkeit von Lernstrategien stehen in Zusammenhang mit dem Allgemeinheitsgrad einer Strategie. Allgemeine Strategien leisten zur Lösung eines Problems oft nur einen kleinen Beitrag. Helfende Strategien sind meistens spezifischer konzipiert. Bei der Vermittlung von Lernstrategien sollte nach Auffassung von Experten besonders darauf geachtet werden, dass weder spezifische noch generelle Strategien isoliert vermittelt werden, denn erst das Zusammenspiel schafft optimale Lernbedingungen.

»Keine isolierte und gegenstandsferne, sondern fachinhaltlich eingebettete und immersive Vermittlung von Lern- und Denkstrategien […]. Wie die Forschung zeigt, sind positive, zeitlich stabile und transferierbare Effekte am ehesten dann zu erwarten bzw. traten bei Studien auf, wo die reflexionsbezogene Vermittlung von Strategien langfristig in Kontexte des fachlichen Verstehens eingebettet wurde.« (Reusser, 2001, S. 125)

Die Kernfragen von Transfer und Veränderung sollen zunächst an einem vielen Lesern vertrauten Anwendungsfeld veranschaulicht werden: gemeint ist der Umgang mit Plänen und Vorsätzen. In diesem Zusammenhang sind vier Fragen von Interesse:

1.  Was soll verändert werden?

2.  Warum scheitern so viele Veränderungspläne?

3.  Wie kann ich eine Veränderung erreichen?

4.  Was sind die biologischen Grundlagen der Veränderung?

2.2       Handlungspsychologie: Ziele, Pläne und Vorsätze

Wie zu Beginn des Kapitels angeführt, bieten handlungspsychologische Strömungen einen wertvollen Rahmen zum Verständnis von Lernen und Veränderung. Handlungspsychologie ist ein bedeutendes Segment der Psychologie, das sehr anwendungsbezogen mit psychologischen Erkenntnissen umgeht. Ein für die Schlüsselfragen dieses Buches wichtiger – und in dieser Denkrichtung begründeter – Ansatzpunkt betrifft die Frage, in welcher Weise Ziele, Pläne und Vorsätze zur Veränderung beitragen und wie sie eingelöst oder erreicht werden können.

2.2.1     Was soll verändert werden?

Änderungswünsche kommen in vielen Fällen in unseren Zielen, Plänen und Vorsätzen zum Ausdruck: Pläne verwirklichen, schlechte Gewohnheiten ändern, gute Vorsätze durchhalten. Immer wieder sind wir enttäuscht, wenn wir ein wichtiges Ziel nicht erreicht haben oder es nicht geschafft haben, einen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Die Aussagen oder Veränderungswünsche lauten stets ähnlich: »Ab morgen halte ich Diät!« »Dieses Mal werde ich meinen Urlaub besser planen.« »Ab sofort gehe ich dreimal pro Woche ins Fitnessstudio!« »Nächstes Mal werde ich mit der Vorbereitung meines Referates früher beginnen.« Vorsätze wie diese fassen wir mit dem festen Willen, sie auch umzusetzen. Doch nur selten gelingt das auf Dauer. Der Grund: Wir wissen nicht, wie eine gewünschte Verhaltensweise zur Routine – und damit erleichtert – werden kann. In diese Richtung weist auch die Studie eines Radiosenders.

Empirische Studie: Eine Umfrage zu persönlichen Vorsätzen ( Kap. 8.3.3)

Ein amerikanischer Lokalsender forderte seine Hörerinnen und Hörer an Silvester auf, dem Moderator ihre guten Vorsätze fürs neue Jahr mitzuteilen. Es meldeten sich 213 Menschen und erzählten bereitwillig von ihren Plänen. Die Bandbreite der Anliegen war breit gestreut.

Manche wollten lernen, nein zu sagen, andere mehr Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen, und wieder andere wünschten sich mehr Zeit für sich. Natürlich waren auch die »Veränderungsschlager« darunter: ein paar Pfunde abnehmen, mit dem Rauchen aufhören, geduldiger werden, weniger trinken (Nuber, 2015).

So weit, so gut. Doch die Radiomacher wollten es ganz genau wissen – sie fragten in regelmäßigen Abständen bei den Veränderungswilligen nach dem Stand der Dinge: Hatten sie ihre wichtigen Vorsätze eingehalten? In welchen Zeiträumen nehmen die Akteure wieder Abstand von ihren Vorsätzen?

Eine Woche später hielten noch 77 Prozent ihr Vorhaben ein, nach zwei Wochen waren es 66 Prozent. Als ein Monat vergangen war, hatte fast die Hälfte den Veränderungswunsch aufgegeben, nach sechs Monaten waren nur noch 40 Prozent ihren Vorhaben treu geblieben. Aber auch diese Zahl könnte geschönt sein, da es sich um Selbstangaben handelte (Nuber, 2015).

Das Phänomen ist wohl jedem vertraut: Wir wollen ernsthaft etwas an unserem Leben verändern und nehmen oft guten Mutes das Ziel in Angriff – nur um über kurz oder lang die Flinte ins Korn zu werfen. Veränderungswillige erleben regelmäßig eine große Kluft zwischen guten Absichten und deren Umsetzung, eine Kluft, die unüberwindbar scheint und demotivierend wirkt. Wenn sich die Person vornimmt: »Ich jogge ab sofort jeden Morgen 30 Minuten«, und es dann nicht tut, hat das negative Folgen. Betroffene Menschen verwenden jeden Morgen viel Energie, um mit den inneren Barrieren (den oft zitierten inneren Schweinehund  Kap. 12.2) zu kämpfen (»Morgen ist ein besserer Tag zum Joggen«; »Ooch, es ist doch noch dunkel draußen, und außerdem regnet es«); sie fühlen sich auch als Versager, wenn er siegt (Roming, 2014, S. 29). Was sind die Gründe für solche Misserfolgserfahrungen?

2.2.2     Wann gelingen oder scheitern Veränderungspläne?

Gerade bei guten Vorsätzen ist die Kluft zwischen guter Absicht und erfolgreicher Umsetzung groß. Erkenntnisse aus der Motivationsforschung offenbaren verschiedene Hilfen oder Maßnahmen. Beispielsweise gelten Wenn-Dann-Pläne ( Kap. 9.6.2) als wirksames Werkzeug zur Selbstregulierung, um Menschen dabei zu unterstützen, diese Kluft zu überwinden (Achtziger & Gollwitzer, 2006).

Solche Pläne legen fest, wann, wo und wie sich das Individuum in bestimmten Situationen verhalten soll. Lautet der gute Vorsatz, mehr Bewegung in den Alltag zu bringen, dann könnte ein dazugehöriger Wenn-Dann-Plan konkret heißen: »Immer, wenn ich eigentlich mit dem Auto fahren will, gehe ich zu Fuß oder nehme das Fahrrad.«

In den meisten Fällen fehlen allerdings sicherere Pfade im Sinne stabiler Reiz-Reaktions-Verbindungen. Das Individuum ist daher angehalten, vertraute (automatisierte) Verhaltensmuster aufzubauen: Eine Information, die das Gehirn erreicht (»Kein Brot mehr da«), muss unmittelbar ein bestimmtes Verhalten auslösen (»Sportschuhe anziehen, zum Bäcker laufen«).

Als weitere Barrieren kommen vereinfachte oder gar selbstschädigende Gedanken oder Haltungen hinzu. Viele Menschen vertreten beispielsweise die Meinung, erwünschte Veränderungen allein durch ihren Entschluss bewerkstelligen zu können. Tatsächlich sind Hauruckverfahren wie »Ab morgen rauche ich nicht mehr« nur ausnahmsweise erfolgreich. Zwar erzählen Menschen immer wieder, dass sie von einem Tag auf den anderen ein Verhalten ändern oder die Weichen in ihrem Leben neu stellen konnten. Aber das bleiben Einzelfälle.

In der Regel erweisen sich die meisten Verhaltensweisen oder Denkstrukturen, die wir verändern wollen, als hartnäckig. Es handelt sich um ungünstige Gewohnheiten ( Kap. 12.1), die es durch günstigere Routinen zu ersetzen gilt. Ein prominenter Wissenschaftler und Kommunikationsforscher, der sich eingehend mit der Gewohnheitsbildung im Allgemeinen beschäftigt hat, ist Gregory Bateson (1996).

Definition: Gewohnheit

Bateson (1996) geht der Frage nach, wie ein Subjekt den unendlich komplexen Strom von Ereignissen so interpunktiert, dass es diesen Strom in die eine oder andere Richtung interpretiert bzw. für das Subjekt die eine oder andere Art der Kohärenz und Bedeutung annimmt.

In den Anfängen seiner Lerntheorie ist die Gewohnheitsbildung für Bateson (1996) ein Nebenprodukt des eigentlichen Lernprozesses.

Später benennt er das Erlernen von Gewohnheiten in seiner Lernhierarchie als Lernen II. Lernen II bezeichnet die Art, wie der Handlungs- und Erfahrungsstrom zusammen mit den Veränderungen durch Kontext-Markierungen (= Informationsquelle über die Art des Kontextes) in Kontexte unterteilt wird. Das Lernen II ist also nach der logischen Abfolge der Lernebenen definiert als »Veränderung« im Verhalten oder im Verhaltenspotenzial (einschließlich dazu passender Erlebnisweisen). In der Literatur heißt es auch »Lernen zu lernen«, »Deutero-Lernen« oder »Lerntransfer«. Lernen lernen strebt nach Tiefenverstehen und Nachhaltigkeit (z. B. im Rahmen einer Weiterbildung). Damit dieses Lernen im Zeitablauf besser geschieht, ist es wichtig, dass Individuen sowie Organisationen darauf achten, unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen (= Kontext-Markierungen) das besser gelingt. Deutero-Lernen resultiert vielfach in Gewohnheiten und Geisteszuständen und hat somit Auswirkungen auf Charakter und Kommunikation.

Gewohnheiten bilden sich mit der Zeit durch Wiederholung heraus. Sie sind nicht plötzlich da. Deshalb können wir sie auch nicht schnell von heute auf morgen wieder loswerden. »Menschen scheitern oft in ihren Veränderungsversuchen, und dieses Scheitern ist verständlich, denn äußere Signale wie Zeit oder Umgebung verleiten zu einer Wiederholung vertrauter Verhaltensweisen«, schreiben Neal, Wood und Quinn (2006, S. 198 f) von der Duke University, Durham (USA). Gewohnheiten sorgen dafür, dass wir tun, was wir immer schon getan haben, daran können auch die besten Absichten wenig ändern ( Kap. 9.2.2; Roming, 2014, S. 30).

Ein nachhaltiger Wandel wird umso eher gelingen, je mehr wir die positiven Merkmale der Handlungsregulation (z. B. Lernen überwachen oder kritisch prüfen  Kap. 8.3.3) nutzen und automatisieren. So verstandene Gewohnheiten können eine affektregulierende Wirkung haben. Sie funktionieren unabhängig von der Stimmung. Wer sich in seiner Arbeitsroutine befindet, dem ist es meist egal, ob er dazu Lust hat oder gut drauf ist; er macht es automatisch. Und weil Gewohnheiten unabhängig von den Affekten funktionieren, kann er sie auch einsetzen, um Affekte loszuwerden: Manche Menschen verjagen schlechte Stimmungen dadurch, dass sie sich in die Arbeit oder in sonstige automatisch funktionierende Verhaltensroutinen stürzen (Storch & Kuhl, 2012, S. 234). Weitere Hintergründe und Beispiele bezüglich des produktiven Einsatzes von Gewohnheiten finden sich in Kapitel 12.1.

2.3       Neurobiologie: Biologische Wurzeln von Lernen und Veränderung

Gehirnforscher und Gehirndeuter (z. B. Spitzer, 2009) verwenden häufig Beispiele, um zu erklären, wie unser Gehirn Gewohnheiten und andere Dinge lernt. Im Kern geht es darum, Wege immer wieder zu gehen und Spuren zu hinterlassen.

Beispiel: Arbeitsweise des menschlichen Gehirns

Stellen Sie sich vor, Sie stünden auf einem Aussichtsturm in einem frisch verschneiten Park. Unter Ihnen liegen 20 Zentimeter unberührter Neuschnee.

Jetzt kommen Menschen und Sie beobachten, wie diese scheinbar ziellos im Park umherlaufen. Es geht ein leichter Wind und die Fußstapfen der einzelnen Fußgänger werden rasch wieder verweht.

Malen Sie sich nun weiter aus, dass sich an der einen Ecke des Parks ein Kiosk befindet und an der anderen eine Sitzgelegenheit (Bank). Das hat zur Folge, dass Sie nach ein paar Stunden aus Ihrer Vogelperspektive eine Spur vom Kiosk zur Parkbank ausmachen können. Und ein einmal ausgebildeter Pfad wird sich selbst erhalten, weil die Leute lieber auf ihm laufen – ganz einfach, weil das leichter geht. Eine Spur, die entstanden ist, sorgt schon durch ihre Existenz für ihren Erhalt (Roming, 2014, S. 30).

Solche »Trampelpfade« gibt es auch in unserem Gehirn (Malabou, 2006). Sie entstehen im Prinzip genauso wie die Spuren im Park – durch ständige Benutzung. Bestimmte Verbindungen zwischen Nervenzellen werden durch wiederholte Erfahrungen gestärkt.

Wenn wir jeden Morgen nach dem Aufwachen Kaffee trinken, existiert eine neuronale Bahnung für diese Handlung. Sobald wir aufwachen, feuern die zuständigen »Kaffeeneuronen«, und wir gehen ganz automatisch an die Kaffeemaschine. Wir müssen nicht viel denken.

Ähnliche neuronale Verbindungen gibt es für viele Handlungen im Alltag: Autofahren, Zähneputzen, das Öffnen der Flasche Wein am Abend, den Griff zur Schokolade im Supermarkt. Über 45 Prozent unserer täglichen Handlungen beruhen nicht auf bewusstem Nachdenken, sondern auf Gewohnheiten.

Das Gehirn liebt diese Automatismen, es geht gerne ausgetretene Pfade (Malabou, 2006). Auf diese Weise spart es Energie und bewältigt komplexe Abläufe – wie zum Beispiel beim Autofahren oder Tischtennisspielen –, ohne jede einzelne Handlungssequenz bewusst planen zu müssen. Wenn wir beschließen, einen oder mehrere dieser bequemen Trampelpfade zu schließen, wird sich das Gehirn zur Wehr setzen. Denn für die neue Verhaltensweise, die wir ihm anbieten (zum Beispiel ab sofort Gemüse statt Fleisch zu essen), gibt es noch keine neuronale Bahnung. Die muss erst angelegt werden. Und das gelingt nur mit der richtigen Strategie, die meistens als anstrengend erlebt wird. Der Wunsch allein, etwas Neues zu wollen, reicht dabei nicht aus.

Wie Alltagserfahrungen zeigen, können wir uns auf die Motivation kaum verlassen. Sie hängt in Teilen davon ab, wie wir uns fühlen. Und Gefühle sind vielfältig beeinflussbar – vom Wetter, von Misserfolgen – und können jede Motivation mindern. Verlässlicher als die Motivation ist unsere Willenskraft, auch wenn mittlerweile viele Studien die Begrenztheit des menschlichen Willens nahelegen.

Sogar die Willensstärke kann ermüden, wenn wir sie überstrapazieren: Wenn wir unsere Willenskraft ausgeschöpft haben (zum Beispiel indem wir viele Entscheidungen getroffen haben), geben wir früher oder später nach. Dann macht sich die Selbsterschöpfung breit.

Diese verlangsamt den präfrontalen Kortex, der für die Selbstregulation zuständig ist (Bauer, 2015). Ein erschöpfter präfrontaler Kortex reagiert träge und macht es einem Menschen schwer, seine Reaktionen zu kontrollieren. Dann können Menschen der Schokolade nicht widerstehen und »vergessen« unangenehme Aufgaben. Ermüdet dieser bewusste Teil im Gehirn, übernehmen die Basalganglien das Steuer. Und die interessieren sich nicht für höhere und langfristigere Ziele. Sie lassen das Individuum den Herzinfarkt vergessen, wenn es sich eine Zigarette anzündet (Roming, 2014, S. 30). Sie sorgen auch dafür, dass die Waage im Bad nicht ins Bewusstsein dringt, wenn sich Appetit auf Süßes meldet.

Wie der Gehirnforscher Gerhard Roth (2009) erklärt, sind Basalganglien eine Art »Handlungsgedächtnis«. Dort sind alle Bewegungsmuster niedergelegt, die sich irgendwann einmal als erfolgreich erwiesen haben (Roth & Strüber, 2015).

Hier, so bleibt festzuhalten, sind die Gewohnheiten zu Hause. Und deshalb muss das veränderungswillige Individuum seine Basalganglien erreichen, wenn es schlechte Gewohnheiten ändern und neue installieren will. Alles, was wir an Bewegungen ausführen, insbesondere wenn es überraschend, neu und ungewohnt ist, muss mit diesem Handlungsgedächtnis abgeglichen werden (Roth & Strüber, 2015).

»Das ist am Anfang schwierig, und deshalb laufen viele neue Bewegungsweisen holprig ab. Je häufiger wir aber diese Bewegung ausführen oder intensiv üben, desto flüssiger geht es und – das ist ganz wichtig – desto weniger müssen wir darauf achten, und schließlich machen wir die Bewegung oder Handlung wie im Schlaf.« (Roming, 2014, S. 30)

Verfahren und Übungen zur Veränderung von Gewohnheiten werden noch einmal vertieft in Kapitel 12.1 behandelt. Zuvor geht es um die enge Verbindung von individuellem, kooperativem und organisationalem Lernen im Veränderungsgeschehen. Diese Dimensionen und deren Bedingungen bestimmen am Ende auch die stabilen Muster, die wir ändern wollen.

 

3          Die enge Verbindung von individuellem und organisationalem Lernen im Veränderungsgeschehen

 

 

 

Sozialwissenschaftliche Ansätze – vor allem die Handlungstheorien – betrachten menschliche Aktivitäten in ihrem komplexen Zusammenspiel und in ihren jeweiligen Funktionen für ein System. Damit verbindet sich die Annahme, dass sich Individuen, Gruppen und Organisationen bei der Bearbeitung von vielschichtigen Problemen allein und in sozialen Gemeinschaften flexibel und effizient selbst regulieren können.

Besonderes Augenmerk legt das Kapitel auf die lernende Organisation. Was sind die Besonderheiten der lernenden Organisation? In welcher Weise sind individuelles und kollektives Wissen und Handeln auf verschiedenen Regulationsebenen miteinander verbunden? Wie entstehen in einem solchen System individuelle Kompetenzen? Wie geschieht dort Lernen und Veränderung?

3.1       Die lernende Organisation

Aufgrund ihrer flexiblen Selbstorganisationskompetenzen können Individuen, Gruppen und Organisationen Veränderungen trotz nicht vorhersehbarer und nicht vorausplanbarer Herausforderungen erfolgreich und zielorientiert steuern (Greif, Runde & Seeberg, 2004, S. 129). Wie laufen solche Vorgänge in einer (lernenden) Organisation ab? Wer sind die maßgeblichen Akteure?

Wandel ist normal und sicherlich kein Spezifikum unserer Zeit, auch wenn wir gegenwärtig große Veränderungen erleben und diese an Zahl, Dynamik, Ausdehnung und Wirkung zugenommen haben. Dies zeigt sich im makropolitisch-gesellschaftlichen Bereich ebenso wie in organisatorischen und mikropolitischen Strukturen. Stichworte wie Globalisierung und Individualisierung markieren eine Tendenz zunehmender gesellschaftlicher und ökonomischer Vernetzung bei gleichzeitiger Auflösung und Erweiterung der persönlichen Lebensentwürfe und -wege. Bewegung, Dynamik und Verunsicherung steigen gleichermaßen (Wiendleck, 2008, S. 13).

Träger der Prozesse von Veränderung (z. B. vom Wissen zum Handeln oder umgekehrt) sind in wichtigen Fällen (wenn auch nicht immer) zugleich Individuen und ineinander verschachtelte soziale Systeme. Auf Organisationen kommen in diesem Zusammenhang wichtige Aufgaben zu.

Definition: Organisation

Wenn hier von Organisation die Rede ist, so richtet sich das Augenmerk nicht allein auf Organisationen der Wirtschaft, etwa die Unternehmen, sondern auch auf öffentliche Verwaltungen und Bildungseinrichtungen.

Organisationen entwickeln sich und werden entwickelt. Sie sind keineswegs statische oder starre Systeme, sondern historisch gewachsen, umweltbezogen und dynamisch. Gleichwohl gibt es keine etablierte Geschichtsschreibung der Entwicklung solcher Einheiten. Es ist jedoch offenkundig, dass sich Organisationen im Laufe der Zeit mehr oder weniger verändern und dass unterschiedliche Organisationsformen mit jeweils eigener Geschichte parallel nebeneinander existieren (Wiendleck, 2008 S. 14 f).

Gegenwärtig existiert wenig Klarheit über die konstituierenden Strukturmerkmale einer Organisation. Einvernehmen besteht lediglich darüber, dass Organisationen soziale Systeme der Arbeitsteilung und Koordination sind und Leistungsvorteile in der Auseinandersetzung mit der Umwelt bieten.

Organisationen sind allgegenwärtig. Sie durchdringen die Gesellschaft und beeinflussen das Leben der Menschen in so vielfältiger und nachhaltiger Weise, dass der Begriff der »Organisationsgesellschaft« (Wiendleck, 2008, S. 13) zum Synonym einer umfassenden Ordnungsstruktur geworden ist, die zwar von Menschen geschaffen wurde, aber zugleich eine eigene innere Dynamik entfaltet, die sich einer willentlich zielorientierten Einflussnahme von »außen« und »oben« widersetzt. Gewiss besitzen Organisationen Trägheit, die ihre Flexibilität bremst und zweifellos verfügen auch Führungskräfte nicht über vollständige Informationen, die nötig wären, um Organisationen vorbildlich auf künftige Anforderungen vorzubereiten (Wiendleck, 2008, S. 17).

Gleichwohl gibt es überzeugende Gründe für die Annahme intern-intentionaler Entwicklungsmechanismen, die Entwicklungen anstoßen und Anpassungen ermöglichen.

Insbesondere Sozialwissenschaftler sehen in Begriffen wie »Eigendynamik« und »lernende Organisation« einen klaren Erklärungsgewinn. So haben Chris Argyris (1997) und andere in den 1970er und 1980er Jahren den Begriff »lernende Organisation« geprägt und ausdifferenziert: Selbstreflexion, Wahrnehmung der Umwelt, Beziehung zur Umwelt, Weiterentwicklung der eigenen Kommunikation und Kooperation (im Sinne eines Wissensmanagements) sind ihre wesentlichen Instrumente.

Definition: Lernen in Organisationen

Handeln und Lernen in Organisationen erfolgen immer mehrstufig in sich selbst organisierenden Prozessen mit unterschiedlichen, aber zusammenwirkenden Ebenen. Hervorzuheben sind Individuum, Gruppe und Organisation. Im Zusammenspiel dieser Einheiten werden miteinander verbundene Strukturen und Prozesse auf verschiedenen Systemebenen als Potenziale und Ressourcen für die zielorientierte Bewältigung komplexer Situationen entwickelt und genutzt (Greif et al., 2004, S. 129).

Übertragen auf die Gestaltung von Veränderungen (oft als »Change-Management« bezeichnet; Greif et al. 2004) symbolisiert »lernen«, dass während eines Projektes oder einer Intervention bewusste Aktivitäten wichtig sind. Für die Beteiligten kommt es darauf an, Wandlungs- und Lernprozesse aufmerksam zu reflektieren, um die ständig ablaufenden Veränderungen optimal zu bewältigen (Hofmann, 2010, S. 87 f). Was den außenstehenden Beobachter anbelangt, tauchen in diesem Zusammenhang folgende Fragen auf: Wie lernt ein Individuum, eine Gruppe oder eine Organisation konkret? Welche Lernprozesse finden statt, wenn zum Beispiel eine Schule ihr Profil verändert, eine Behörde zum Dienstleister im Wettbewerb wird oder eine Weiterbildungseinrichtung eine neue Zielgruppe für sich gewinnt? Sollen diese Fragen zutreffend beantwortet werden, empfiehlt es sich, auf die im Rahmen der Definition genannten Analyseeinheiten zurückzugreifen: Individuum, Gruppe, Organisation. Wie Abbildung 3.1 zu entnehmen ist, impliziert »Veränderung gestalten«, individuelles Lernen und organisationale Veränderung mit der kulturellen Entwicklung zu verbinden.

In welcher Weise diese Ebenen verbunden sind, hängt vom jeweils gewählten Anlass sowie vom Management des Wandels ab (Hofmann, 2010, S. 88;  Abb. 3.1).

1.  Ebene des Individuums. Das klassische lebenslange Lernen des Individuums hat eine weitreichende Bedeutung: Führungskräfte und Mitarbeiter lernen fortlaufend. Sie entwickeln auf der Basis ihrer Potenziale (mehr oder weniger motiviert) neue Kompetenzen, eventuell auch eine neue Einstellung zu ihrer Tätigkeit sowie neue Fertigkeiten. Der Lernbedarf richtet sich zum einen danach, was diese Mitarbeiter für die Umsetzung der Veränderung benötigen. Zum anderen orientieren sich die Lernziele daran, welche persönlichen Kompetenzen die »neue Situation« nach der Veränderung erfordern.

2.  Ebene der Gruppe. Gleichzeitig verändern Führungskräfte ebenso wie Mitarbeiter die Kommunikation und Struktur der Zusammenarbeit untereinander. Wollen sie ihre Ziele bestmöglich gemeinsam erreichen, müssen Organisation sowie Solidarität neugestaltet und andere Formen der Kommunikation gelernt werden. Auch hier gilt: Die Veränderung muss durch Austausch und Kooperation bewältigt werden, zum Beispiel in Projektgruppen, Steuerungsgruppen und Workshops. Nach der Veränderung sind eventuell neue Formen der Zusammenarbeit angemessen, etwa Qualitätszirkel oder Lerntandems (Hofmann, 2010, S. 88). Experten für wirtschaftliche Entwicklungen betonen aktuell Mechanismen der Disruption als Quellen der Veränderung; sie begreifen Disruption als Chance: »Eine Unternehmenskultur muss Ideen, Unternehmergeist und Querdenken fördern. Nur Unternehmen, die bereit sind, Hierarchien aufzubrechen und Etabliertes zu hinterfragen, können disruptive Innovationen zulassen.« (Ott, 2015, S. 24) Disruption beschreibt dabei die Entwicklung, bei der traditionelle Geschäftsmodelle, Produkte oder Dienstleistungen durch Innovationen (z. B. Flash-Speicher, Elektromobilität) abgelöst werden.

Abb. 3.1: Veränderung gestalten bedeutet, individuelles Lernen und organisationale Veränderung mit der kulturellen Entwicklung zu verbinden.

3.  Ebene der Organisation. Für die Organisation sowie Koordination veränderungswilliger Mitarbeiter oder Führungskräfte und ihre Zusammenarbeit ist es bedeutsam, wie die Ziele der Veränderung mit einem Sinn, einer Zukunftsaussicht und einer klaren Richtung verbunden sind: Wird die Veränderung als überraschend erlebt? Müssen sich die Mitarbeiter und die Einrichtung insgesamt als Spielball der Umwelt empfinden? Oder wird der Wandel als beabsichtigt eingeschätzt und als Chance bewertet, auf die direkte Umwelt mitgestaltend Einfluss zu nehmen? Im ersten Fall werden Personen wie Strukturen – falls sie sich nicht auflösen – kurzfristiges Überleben und Krisenmanagement lernen. Im zweiten Fall werden sie Veränderungsinteressen sensibel wahrnehmen und vorausschauende Veränderung lernen (Hofmann, 2010, S. 87 f).

Aus der Perspektive der Anthropologie sichern die auf verschiedenen Niveaus verankerten Wandlungsprozesse das Überleben der Menschheit. Bereits vor etwa 400.000 Jahren bildete sich bei den »Frühmenschen« eine grundlegende Erkenntnis aus: Wegen einer veränderten Umwelt sahen sie sich gezwungen, ihre Nahrung entweder mit einem Partner zu suchen oder aber zu verhungern. Tomasello (2016) spricht von einer »Moralität der zweiten Person«, die sich schematisch in drei Formeln darstellen lasse: Auf die »Du ist mehr als Ich«-Formel, die frühmenschliche Moral des Mitgefühls, folgt die »Du gleich Ich«-Formel der Fairnessmoral. Gemäß der »Wir ist mehr als Ich«-Formel treten die Partner die Gesamtkontrolle über ihre Einzelhandlungen uneingeschränkt an den gemeinsamen Akteur »wir« ab. Damit ist die menschliche Spezies von der strategischen Kooperation zur echten Moral übergegangen. Verantwortlich für diese Entwicklungen sind einige der in Abbildung 3.1 genannten kognitiven Prozesse:

•  kollektive Intentionalität

•  sozial-interaktive Prozesse kulturellen Handelns und kultureller Identität

•  selbstregulierende Prozesse der moralischen Selbststeuerung und moralischen Identität

Wie die angeführten Ebenen zueinander stehen, lässt sich mit dem Konzept des Selbstmanagements beschreiben (Graf, 2012, S. 20). Selbstmanagement unterscheidet sich von dem später eingeführten Begriff »Selbststeuerung« ( Kap. 9.3).

Definition: Selbstmanagement

Selbstmanagement beschreibt die Fähigkeit des Individuums, die eigenen Handlungen und Aktivitäten so zu steuern, dass sie dem entsprechen, was es auch tun will (Storch, 2003). Im Unterschied zur »Selbststeuerung« steht dabei nicht das Lernen im Fokus.

Im Zuge des eigenen Selbstmanagements strebt die Person danach, eigene Stärken und Schwächen zu erkennen, handlungswirksame persönliche und berufliche Ziele zu setzen, produktiv mit der zur Verfügung stehenden Zeit umzugehen, vorhandene Belastungen zu reduzieren und Ressourcen gezielt zu aktivieren.

Überlegungen zum Selbstmanagement veranschaulichen, wie wichtig es ist, das Zusammenspiel verschiedener psychischer Dimensionen zu betrachten.

Ein wirkungsvolles Selbstmanagement wird immer mehr zu einem Erfolgsfaktor und ist heute eine Kernkompetenz professionell wirkender Führungskräfte in Einrichtungen oder Unternehmen (Ott, 2015, S. 24).

Gerade sozial, pädagogisch oder klinisch ausgerichtete Organisationen streben danach, ihre Klienten sowie Patienten für die Bedeutung eines umfassenden und gezielten Selbstmanagements zu sensibilisieren.

3.2       Individuelle Kompetenzentwicklung und Lernen

Infolge vielfältiger sozio-kultureller, wirtschaftlicher, technologischer und unternehmensbezogener Entwicklungen wird in den letzten Jahren die Bedeutung und Notwendigkeit eines umfassenden Selbstmanagements erkannt.

Dazu passende Maßnahmen zur Förderung selbstbezogener Kompetenzen werden auf individueller und organisationaler Ebene bereits seit geraumer Zeit konsequent umgesetzt. Organisationen kommt dabei die Verantwortung zu, leistungs- und gesundheitsförderliche, aber auch entwicklungsorientierte Rahmenbedingungen, Strukturen und Prozesse zu schaffen. Es gilt, beeinträchtigende Belastungsfaktoren zu erkennen und abzubauen. In gleicher Weise sind gezielt Ressourcen zu gewährleisten, zu nutzen und zu fördern (Graf, 2012, S. 20). In günstigen Fällen geschieht auf diese Weise Lernen und individuelle Kompetenzentwicklung. Zugleich vollziehen sich organisatorische Veränderungen.

3.2.1     Veränderungen in einer Organisation

Veränderungen in einer Organisation anzuregen bedeutet, den eigenen Arbeits- und Lebensrhythmus immer wieder neu zu definieren und den eigenen Qualifikationsstand fortwährend mit den Anforderungen des Umfeldes zu vergleichen sowie an vorhandene Bedürfnisse anzupassen (Graf, 2012, S. 23). Dabei erscheint es ratsam, sowohl aktuell vorhandene Herausforderungen als auch aufgrund der vielfältigen Entwicklungen zu erwartende künftige Anforderungen in einem lebenslangen Geschehen mit zu berücksichtigen.

Veränderung in einer Organisation zu bewirken ist ein lebenslanger Prozess, der mit der Vermittlung von Faktenwissen und Informationen oder mit Schulungen und Qualifizierungen nicht mehr zu bewältigen ist. Eine erweiterte Perspektive in Form einer Kompetenzentwicklung ist gefragt (Erpenbeck & Sauter, 2016, S. 30). Was ist mit Kompetenz gemeint?

Definition: Kompetenz

Der Begriff Kompetenz »umfasst beruflich relevante Kenntnisse (Wissen), Fähigkeiten (Können) und motivationale Einstellungen (Wollen), die selbstorganisiert und sich selbst aktualisierend, im Bewusstsein der eigenen Wirksamkeit (self-efficacy) im Hinblick auf die Ausführung konkreter Handlungen (Zuständigkeit) im situativen Kontext adäquat angewandt werden (Performanz).« (Bender, 2004, S. 252)

Wie die Definition erkennen lässt, bezeichnen Kompetenzen aus heutiger Sicht die Anwendung von Können und Wissen in Situationen, in denen mehr als routinemäßiges Handeln verlangt wird. Kompetenzen sind damit Voraussetzungen für die selbstgesteuerte Bewältigung neuer, komplizierter Lebensanforderungen; sie sorgen für das individuelle Bestehen in Veränderungsprozessen. Ein prominentes Beispiel ist die Selbstmanagement-Kompetenz.

Definition: Selbstmanagement-Kompetenz

Aktivitäten des Selbstmanagements zeichnen sich dadurch aus, dass der Akteur in einer bestimmten Situation seine Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft eigenverantwortlich steuert und erhält. Die Selbstmanagement-Kompetenz weist darüber hinaus; sie ist umfassender konzipiert. Es handelt sich um eine Kernkompetenz von Individuen in Organisationen der unterschiedlichsten Art. Selbstmanagement-Kompetenz ermöglicht, die eigene Leistungsfähigkeit (Wissen, Fähigkeit, Gesundheit, mentale/körperliche Fitness) und Leistungsbereitschaft (Engagement, Identifikation) langfristig zu erhalten und Wohlbefinden und Balance im Leben zu realisieren (Graf, 2014).

Wie zu sehen ist, vereint diese selbstbezogene Kompetenz relevante Aspekte des Selbstmanagements. Zugleich zeigt sie Ansatzpunkte auf, wie Selbstmanagement auf den Ebenen Individuum und Organisation erweitert und gefördert werden kann. Dies geschieht im Rahmen eines Systems, etwa der lernenden Organisation, das ausgesprochen vielschichtig, komplex und letztlich auch individuell ist ( Kap. 6.2).

Eine gezielte und umfassende Förderung selbstbezogener Kompetenzen auf verschiedenen Systemebenen lässt Individuen auch langfristig qualifiziert, engagiert, leistungsstark, kreativ und gesund bleiben (Graf, 2012, S. 24). Dazu gehört auch die Stärkung der Selbstverantwortung. Selbstverantwortung steht mit Fragen nach dem Sinn des eigenen Lebens in Verbindung. Es geht darum, den Kompass einzustellen. In welche Richtung möchte ich mein Leben lenken? Welche Lebensprinzipien möchte ich verwirklichen? Für was will ich im Leben einstehen? Selbstverantwortung beinhaltet, im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung für die eigenen Bedürfnisse und Werte einzustehen und sich aktiv dafür einzusetzen (Graf, 2012, S. 74). Wie kommt es in einer Organisation zur Entwicklung selbstbezogener Kompetenzen?

Dies gelingt in erster Linie dann, wenn einzelne Mitarbeiter vom Sinn des Wandels überzeugt sind; sie sollten die Verbindung zwischen den organisationalen und den individuellen Veränderungswegen nachvollziehen können. Auf dem Weg dorthin sind unterstützende Maßnahmen bedeutsam.

Eine wichtige kommunikative Aufgabe besteht darin, ein Lernsystem zu etablieren, in dem sich soziale Strukturen ebenso wie individuelle Kompetenzen entsprechend den Zielen der Veränderung entwickeln (Hofmann, 2010, S. 90). Ein Beispiel kann diese Vorgänge veranschaulichen.

Beispiel: Veränderungen in einer Organisation

In einem Zeitungsvertrieb werden neue Führungs- und Produktlinien eingeführt. Die Regionalleiter erfahren auf diese Weise eine deutliche Erweiterung ihrer individuellen Verantwortlichkeit.

Eine weitreichende Folge dieser Neuerung besteht in der Durchführung von Trainings zu Kommunikation und Führungskompetenz. Beispielsweise werden sie darin geschult, durch eine offene, transparente und klar organisierte Kommunikation Unsicherheiten bei den Beschäftigten zu reduzieren.

In Einklang mit den vorgefassten Zielen erhalten die Mitarbeiter nun den Auftrag und die Chance, eigene Projekte zu entwickeln und regionale Schwerpunkte festzulegen. Zusätzlich erforderliche Absprachen mit der Führungsebene des Vertriebes finden regelmäßig zu fest vereinbarten Zeitpunkten (»Jour fixe«) statt.

3.2.2     Wie kommt das Können in die Menschen?

Erfahrungen der eigenen Kompetenz sammeln Menschen vor allen Dingen in der Schulzeit. Als Schüler lernten wir angeblich nicht für die Schule, sondern für das Leben. »Das Leben« ist für Kinder und Teenager nicht unbedingt dasselbe wie für Eltern und Lehrer, aber Schüler setzen diesen Spruch zumindest in der Hinsicht um, dass sie ihren aktuellen Lebensvorstellungen entsprechend mehr oder weniger für die Schule arbeiten. Es ist von Beginn an ihr eigenes persönliches Leben, für das Schüler lernen – und das ist eine sehr subjektive Angelegenheit. Letztlich muss jede Person und jede Organisation ihren eigenen Weg finden, Selbstmanagement-Kompetenz zu fördern, zu unterstützen und zu leben.

Welche Rolle spielen dabei Lernen, Übung und Ausdauer? Wie kommt das Wissen in die Menschen und wie entwickeln diese daraus Kompetenzen als funktionale Verbindung von Wissen, Verstehen, Wollen und Können (Kompetenzdefinition  Kap. 3.2.1)?

In den klassischen Lerntheorien wird Lernen als Geschehen im Individuum beschrieben: Die Theorien der Konditionierung, des Modell-Lernens, des Lernens durch Versuch und Irrtum und des Lernens durch Einsicht bestätigen unsere Alltagserfahrungen, wie wir uns Wissen aneignen und Verhaltensnormen einüben (Hofmann, 2010, S. 90).

Darüber hinaus existieren weitere anspruchsvolle aktive Lernformen, wie zum Beispiel ein Problemlöseverhalten oder Formen des selbstgesteuerten Handelns (Konrad, 2008). Gerade in Veränderungsprozessen geht es weniger darum, dass Menschen sich bekanntes Wissen aneignen oder bekannte Kompetenzen abrufen, denn das benötigte Wissen und die erforderlichen Kompetenzen sind bei dringendem Wandlungsbedarf kein präexistenter Bestand, auf den sich zurückgreifen ließe. Im Zuge des Wandels wird von Subjekten vielmehr neues Wissen entwickelt, das für die Zukunft wesentlich ist. So wird von den Mitarbeitern eines Unternehmens die Fähigkeit zur Veränderung bei gleichzeitig gänzlich neuen Erfahrungen verlangt. Es geht um eine Auseinandersetzung mit neuen Gegebenheiten, bei der Lernende auf der Basis ihrer Lernmotivation an vorhandenes Wissen anschließen. Werte, Motive, Interessen, Widerstände des Lernenden beeinflussen das Ergebnis ebenso maßgeblich wie die direkte Lernumwelt oder Lernlandschaft, also die Bereitstellung von Lerngelegenheiten und Lernbeziehungen (Hofmann, 2010, S. 91). Lernende sind so betrachtet Akteure im Lerngeschehen. Es handelt sich um Subjekte mit individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, die für ein erfolgreiches Lernen beachtet werden sollten. Sie lernen dann besonders effektiv, wenn sie selbst wissen, wie sie Lösungswege finden können und wie ihre Lernprozesse verlaufen. Für die Gestaltung von Lernsituationen kommt es darauf an, Reflexionsprozesse beim Einzelnen zu fördern. Bewährte Ansätze dazu werden in den Kapiteln 9.4.2 und 11.3.1 erläutert. Sie tragen durchweg dazu bei, relevante Fragen zu beantworten:

Welches Wissen und welche Kompetenzen sind bereits vorhanden? Welche Stärken sind typisch? Was wird zusätzlich gelernt? Wie werden diese neuen Kompetenzen entwickelt? Was ist hilfreich, was hinderlich beim Lernen? Wie lerne ich selbst optimal? Und: Hat sich das seit meinem letzten Rückblick verändert?

Individuelle Kompetenzentwicklung benötigt nach alledem Impulse durch eine herausfordernde, anregende Lernumwelt. Diese trägt in günstigen Fällen dazu bei, neues Wissen zu entwickeln, das für die Zukunft wesentlich ist.

3.2.3     Der Weg zum Lernen lernen

Als theoretische Grundlage zu reflexiv lernenden Organisationen und Wissensmanagement wird in der Fach- und Praxisliteratur sehr oft auf die klassischen Konzepte zu den höheren Stufen des reflexiven Lernens rekurriert. Gregory Bateson (1996) folgt mit seinem pädagogischen Konzept der individuellen kognitiven Aktivierung dem, was in Kapitel 2.2.2 als »Deutero-Lernen« oder »Lernen zu lernen« für Systeme bezeichnet wurde.

Wie Abbildung 3.2 ausweist, sind zum Verständnis dieses Geschehens drei Schleifen wesentlich.

Abb. 3.2: Prozesslernen nach Gregory Bateson (Mathias Hofmann: Durch Veränderung lernen, durch Lernen verändern. In J. Graf (Hrsg.): Seminare 2010, managerSeminare, Bonn 2010.)

1.  In der ersten Schleife reflektiert der Lernende eine Handlung anhand des Ergebnisses. Eventuell korrigiert er daraufhin seine Aktivitäten – bis er mit dem Ergebnis zufrieden ist (Single Loop).

2.  In der zweiten Schleife überdenkt das Individuum die Erfolgsfaktoren dieses Lernens und analysiert, wie es beim nächsten Problem schneller zum Ergebnis kommt. Es kann von Mal zu Mal besser nachahmen, wichtige Teilschritte erkennen und sich mit der Erfahrung erreichbare Ziele setzen (Double Loop).

3.  In der dritten Schleife reflektiert der Lernende den entstandenen Ziel-Handlungs-Ergebnis-Prozess und begreift, wie er auf Dauer stetig leichter höhere Ziele erreichen kann. Die Person verbessert mit der Analyse des Geschehens ihre eigene Lernfähigkeit (Hofmann, 2010, S. 92). Im fortlaufenden Lerngeschehen erkennt das Individuum den Sinn seiner Zielsetzungen und Handlungen; sie werden Teil einer langfristigen persönlichen Entwicklung (Triple Loop).

Wie Abbildung 3.2 zeigt, folgt die Individualisierung der Lerninhalte und Lernmethoden einem nachvollziehbaren Prinzip: Jeder beteiligt sich dort, wo er das größte Interesse und die besten Kompetenzen einbringen kann – zum Lernerfolg aller. Die Verbindung der individuellen Entwicklung und Lernprozesse erfolgt über den Sinn des Vorhabens (z. B. mehr Zufriedenheit bei der Arbeit), die gemeinsam daraus abgeleiteten Ziele und über die gemeinsam vereinbarten Aufgaben. Sinn und Ziele gelten für alle. Die Wege, dorthin zu gelangen, können verschieden sein. Die Unterschiedlichkeit wird transparent verabredet. Ist die Veränderung gelungen und ist das Ziel erreicht, ist dies ein Erfolg aller Beteiligten (Hofmann, 2010, S. 94). Und alle haben einen individuellen Nutzen.

Menschen lassen sich vor allem dann auf Veränderungen ein – und tragen zu Veränderungen in Organisationen bei –, wenn sie selbst verstehen, wie sie gerne lernen, warum sie sich für welches Lernen entscheiden und wie diese Wege im Gesamtprozess nützlich sind. Folgende Anregungen fördern die Selbsterkenntnis der Beteiligten und sind unmittelbar lernförderlich (Hofmann, 2010, S. 94).

Selbsterfahrung: Veränderungen in einer Organisation praktisch initiieren

 

•  Starten Sie Veränderungsprozesse mit einem Kernsatz oder Leitgedanken, den alle als Sinn der Veränderung mittragen können (z. B. »Wir wollen in unserer Abteilung wertschätzender miteinander umgehen.«). Dieser Sinn stiftet einen Nutzen für jeden Einzelnen und belohnt den individuellen Aufwand.

•  Vereinbaren Sie mit verschiedenen Personen divergierende Wege, um die gemeinsamen Ziele zu erreichen (individuelle Entwicklungsziele). Jeder ist dafür verantwortlich, seine individuellen Lerngewohnheiten und Entwicklungsmöglichkeiten für den Erfolg des Wandels einzubringen (z. B. »Wir wollen unsere Einstellungen, Ziele und Strategien klären«).

•  Bilden Sie Partnerschaften zwischen Lernenden (Lerntandems) mit verschiedenen Kompetenzen und Lernpräferenzen, sodass aus der gegenseitigen Anleitung und dem Verschränken der Lernprozesse für beide ein Nutzen entsteht (z. B. »Wie können wir voneinander profitieren?« »Was können wir voneinander lernen?«).

•  Reflektieren Sie in Zwischenevaluationen und zum Abschluss eines Änderungsgeschehens die individuellen Lernprozesse. (z. B. »Was hat jeder individuell gelernt, wie hat jeder gelernt?« »Was heißt das für den nächsten Veränderungsprozess?«).

•  Kalkulieren Sie in das Entwicklungsgeschehen Ressourcen für die Qualifizierung der Mitarbeiter ein: Zeit, Budget, Kooperations- und Kommunikationsaufwand. (z. B. »Wie können wir uns weiterbilden?« »Was brauchen wir dafür?«)

Bislang standen grundsätzliche Überlegungen und Prinzipien zu Lernen, Veränderung und Kompetenzentwicklung im Fokus. Die weiteren Kapitel gehen auf die bislang genannten Ebenen der Veränderung genauer ein: Individuelles Lernen, Lernen in Gruppen und Lernen in Organisationen werden separat behandelt.

 

 

 

 

Teil IIWelche Ebenen der Veränderung gibt es?

 

4          Individuelles Lernen: Der Mensch als sich entwickelndes Wesen

 

 

 

Nach allgemeinen Betrachtungen zu Lernen, Kompetenzentwicklung und lernenden Organisationen wird nun die erste Kerndimension der Veränderung, die Persönlichkeit, genauer betrachtet. In der alltäglichen Kommunikation, im Auftreten der Person zeigen sich die Eigenart und die Beständigkeit, die eine Persönlichkeit ausmachen – ein individuelles charakteristisches Muster des Denkens, Fühlens und Handelns. Aber was ist typisch für die wissenschaftliche Sicht auf die Persönlichkeit (Myers, 2014, S. 552)? In welcher Beziehung stehen Vorstellungen über die Persönlichkeit zu den Begriffen Selbst und Selbstkonzept? Was die erste Frage anbelangt, offenbart ein Blick in die Fachliteratur unterschiedliche Perspektiven: Wird die menschliche Person, ihr Denken und Handeln (z. B. mit Methoden der Gehirn- sowie Kognitionsforschung), sehr detailliert betrachtet, lassen sich Veränderungsprozesse auf einer Mikroebene des menschlichen Organismus nachweisen. Sozial-kognitive und Handlungs-Theorien bevorzugen diesen Weg (Zimmerman, 1990), weil dynamische Prozesse in ihrem Fokus stehen. Eine andere Position vertreten Persönlichkeitstheorien, die sich für stabile Einstellungen und Eigenschaften des Menschen interessieren.

4.1       Persönlichkeit – stabil und veränderbar

Bevor über Veränderungen nachgedacht werden kann, scheint es angemessen, die Dimensionen und Ziele der Veränderung genauer zu betrachten. Hier berühren wir Fragen und Themen der Persönlichkeitspsychologie.

Menschen können sich in ähnlicher Weise entwickeln. Beim Wahrnehmen, Lernen, Denken und Fühlen kann es zu Überschneidungen kommen. Gleichwohl gibt es auch Besonderheiten. Einzigartige Elemente sind Teil unserer Persönlichkeit.

4.1.1     Begriffsbestimmung

Die Persönlichkeit spielt im Alltag, beim Lernen und Lehren, im Unterricht und in Leistungssituationen eine große Rolle.

Heutige Forscher beschäftigen sich mit den grundlegenden Dimensionen der Persönlichkeit und ihren biologischen Grundlagen sowie mit der Interaktion von Person und Umwelt. Besonderes Augenmerk richtet sich auf die Teilthemen Selbstwertgefühl, selbstwertdienliche Verzerrungen und kulturelle Einflüsse auf das Selbst (Myers, 2014, S. 552).

Definition I: Persönlichkeit

Wenn sich ein Mensch in unterschiedlichen Situationen sehr ähnlich verhält, dann wird dies meist auf seine Persönlichkeit zurückgeführt. In diesem Sinne ist Persönlichkeit ein einzigartiges, relativ überdauerndes und stabiles Verhaltenskorrelat (Steinebach, 2016).