Lesen als Medizin - Andrea Gerk - E-Book

Lesen als Medizin E-Book

Andrea Gerk

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Beschreibung

Bücher entfalten mitunter eine magische Kraft, die uns im Innersten berührt. Aber wie funktioniert diese rezeptfreie Medizin, die schon Doktor Erich Kästner in seiner Lyrischen Hausapotheke gegen die kleinen und großen Schwierigkeiten der Existenz verordnete? Andrea Gerk hat Antworten gesucht: im Krankenhaus, im Kloster und im Gefängnis. Sie hat sich von Bibliotherapeuten Romane verschreiben und beim Lesen von Gedichten ihr Gehirn von Neurowissenschaftlern analysieren lassen. Sie hat Schriftsteller befragt und unzählige Bücher gewälzt. All das, um der geheimnisvollen Wirkung des Lesens auf die Spur zu kommen.

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks der Autorin

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

ANDREA GERK, geboren 1967, arbeitet als Autorin und Moderatorin bei öffentlich-rechtlichen Radiosendern. Sie hat Lob der schlechten Laune (2017) geschrieben und gemeinsam mit Moni Port Fünfzig Dinge, die erst ab fünfzig richtig Spaß machen (2019) und Ich bin da mal raus (2021) veröffentlicht. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

ÜBER DAS BUCH

Bücher entfalten mitunter eine magische Kraft, die uns im Innersten berührt. Aber wie funktioniert diese rezeptfreie Medizin, die schon Doktor Erich Kästner in seiner Lyrischen Hausapotheke gegen die kleinen und großen Schwierigkeiten der Existenz verordnete?

Andrea Gerk hat Antworten gesucht: im Krankenhaus, im Kloster und im Gefängnis. Sie hat sich von Bibliotherapeuten Romane verschreiben und beim Lesen von Gedichten ihr Gehirn von Neurowissenschaftlern analysieren lassen. Sie hat Schriftsteller befragt und unzählige Bücher gewälzt. All das, um der geheimnisvollen Wirkung des Lesens auf die Spur zu kommen.

Für Antonia und Johanna

»Richtiges Lesen rettet vor allem, einschließlich vor einem selbst.«

DANIEL PENNAC

1. KRISE, KRANKHEIT, KRIEG – LESEN HILFT!

BÜCHER STATT BURNOUT

Im Frühsommer 1941 begegnen ein junger Mann und eine junge Frau der Liebe. Sie spüren eine neue Lebendigkeit in sich, eine Energie, die kaum zu bändigen ist. Ihre Körper strecken sich voller Sehnsucht, kaum dass der andere den Raum verlassen hat. Sie schwelgen in gemeinsam gehörter Musik, sprechen leise Beschwörungen in warme Ohren und widmen einander sentimentale Gedichte. So wie es schon immer gewesen ist, wenn zwei außer sich sind vor Nähe.

Doch bei diesen beiden ist manches anders. Wenn sich der junge Mann, noch mit dem Geruch und der Wärme seiner Freundin auf der Haut, auf den Heimweg begibt, kann es passieren, dass ein Sterbender auf seinem Weg liegt, ein Mensch, den nur noch eine Lage Zeitungspapier, die man über ihm ausbreiten wird, vom Tod trennt.

Der Ort, an dem die beiden aufeinandertreffen, ist das Warschauer Getto, hier sitzen sie nachts bei kümmerlicher Beleuchtung, hören »deutsche Schüsse und jüdische Schreie«, zucken zusammen, zittern vor Angst und – lesen.

Ein Buch hat es ihnen besonders angetan: Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke. Der junge Mann hat diese 1936 erschienene Gedichtsammlung bei einem Bekannten entdeckt und ausgeliehen. Aber das genügt ihm nicht. Er will das Buch unbedingt selbst besitzen. Doch im Getto kann man nicht jedes Buch kaufen, das einem gefällt; deshalb hat das Mädchen jedes einzelne Gedicht, Vers für Vers, in ihrer schönen, regelmäßigen Handschrift abgeschrieben. Zu den Texten hat sie Zeichnungen angefertigt, kleine bunte Bilder. Auf einem ist ein elegant gekleidetes Paar zu sehen – die Dame trägt einen kecken Hut –, das schweigend an einem Kaffeehaustisch sitzt; auf einem anderen rauscht eine schwarze Lokomotive über einen knallroten Fleck hinweg. Auf dem Umschlag der Lyrischen Hausapotheke sieht man einen Mann: Mit seinen übergroßen, clownesken Schuhen steht er auf einer gelben Trittleiter und steckt den Kopf in ein Medizinschränkchen. Dessen Erkennungszeichen, das rote Kreuz, prangt nicht auf dem üblichen aseptischen Weiß, sondern auf zartem Himmelblau, durch das weiße Wolken schweben.

Die Blätter hat das Mädchen sorgfältig zusammengeheftet, das so entstandene Büchlein mit einer gezackten Stoffborte am Rand verziert und es ihrem Freund zum 21. Geburtstag geschenkt. Noch Jahrzehnte später erzählt er, dieses kleine Heft sei vielleicht nicht das schönste, aber in jedem Fall das liebevollste Geschenk gewesen, das er je in seinem langen Leben erhalten habe.

Mehr als ein halbes Jahrhundert später beschreibt Marcel Reich-Ranicki in seiner Autobiographie die hoffnungslose Situation, in der er mit seiner künftigen Frau Teofila, genannt Tosia, Kästners Sachliche Romanze las. Die melancholische Phantasie über ein Paar, dem nach acht Jahren die Liebe abhandengekommen ist, habe sie entzückt, obwohl oder vielleicht auch, weil ihre eigene Liebe noch so neu und aufregend gewesen sei. Während sie Kästners Zeilen lasen, dachten sie an ihre gemeinsame Zukunft, die es, »davon waren wir überzeugt, gar nicht geben konnte – es sei denn, vielleicht, in einem Konzentrationslager«.

Auch das Eisenbahngleichnis lasen sie mehrfach, diese sieben Strophen, an deren Ende Kästner lakonisch feststellt, dass wir zwar alle im gleichen Zug sitzen, »manche jedoch im falschen Coupé«. Und sie fühlten sich, mitten in ihrer »jämmerlichen Existenz«, getroffen von der schlichten Moral: »Es gibt nichts Gutes/außer man tut es!«

Als Marcel Reich-Ranicki diese Szene in seinen 1999 erschienenen Lebenserinnerungen schildert, ist er längst der bekannteste und einflussreichste Literaturkritiker im deutschen Sprachraum. Sein Urteil kann vernichtend sein. Doch auch wenn er sich die Bemerkung nicht verkneifen kann, Kästners Gebrauchslyrik zähle für ihn nicht zur großen deutschen Poesie, räumt er ein, dass ihn »seine kessen und doch etwas sentimentalen Gedichte damals gerührt und ergriffen« hätten. Mehr noch, sie hätten ihn »begeistert«.

Dr. Erich Kästners Lyrische Hausapotheke, Titelblatt der von Teofila Reich-Ranicki kopierten Ausgabe von 1936

Im Elend des Warschauer Gettos, von ständiger Todesangst begleitet, sei es ihm schwergefallen, Romane oderauch Erzählungen zu lesen. Trost habe er damals eher in der Musik gefunden, deren Wirkung stärker und unmittelbarer gewesen sei als die der Literatur. Abgesehen von den Gedichten Heines oder Goethes und den auf raffinierte Weise einfachen Versen Erich Kästners.

1957 lernte Reich-Ranicki, noch als polnischer Journalist, Erich Kästner bei einem Interview in München persönlich kennen. Nach getaner Arbeit plauderten die beiden Herren noch ein wenig, und der Kritiker erzählte dem Büchner-Preisträger, was ihm dessen Gedichte im Getto bedeutet haben. Als er Kästner schließlich die handgeschriebene Ausgabe seiner Lyrischen Hausapotheke zeigte, sei dieser schweigsam geworden: »Ich glaube, der smarte Poet hatte Tränen in den Augen.«

Als Doktor Kästners Lyrische Hausapotheke 1936 in der Schweiz erschien, hatte der Autor seine Gedichtsammlung im Vorwort ausdrücklich zu einem »der Therapie des Privatlebens« dienenden Mittel erklärt. Dass seine Medizin sogar in einer lebensbedrohlichen Situation, wie sie Marcel und Teofila Reich-Ranicki durchstehen mussten, etwas Heilsames bewirken würde, wird er sich dabei wohl nicht vorgestellt haben. Allerdings wusste Kästner aus eigener Erfahrung, dass der Inhalt eines noch so gut mit Pflaster, Aspirin und Magentropfen bestückten Medizinschränkchens nicht weiterhilft bei trostlosen Zuständen wie Liebeskummer und Einsamkeit. In der Gebrauchsanweisung, die er samt Register mitliefert, lassen sich gleich mehrere Gedichte für jede Problemlage finden, etwa »wenn das Alter traurig stimmt«, einem »die Ehe kaputt geht«, »man zu wenig von Kunst versteht« oder »uns die Großstadt zum Hals raushängt«.1

So unmittelbar und konkret wie es Doktor Kästners Beipackzettel augenzwinkernd verspricht, funktioniert die heilsame Wirkung literarischer Rezepturen sicher nicht. Doch die gereimten Arzneien aus dieser Lyrischen Hausapotheke zeigen wie durch ein Vergrößerungsglas ein wesentliches Merkmal von Dichtung und Literatur: Wörter entfalten mitunter eine magische Kraft, die uns nicht nur intellektuell voranbringt, sondern auf vielschichtige Weise im Innersten berührt. Manchmal so sehr, dass ein Vers, eine Erzählung, ein Roman das ganze Leben verändern kann, und sei es nur für ein paar Stunden.

Dass Literatur »seelisch verwendbar« ist, wie es in Kästners Hausapotheke heißt, weiß jeder Leser aus eigener Erfahrung. Aus der weltschmerzgeschwängerten Pubertät, in der tote Dichter einen besser zu verstehen scheinen als die lebenden Eltern, aus jenen Augenblicken, in denen zwei Buchdeckel Schutz vor dem bedrohlichen Alltag bieten – in der vollen Bahn ebenso wie in einem von Streit erfüllten Wohnzimmer.

Leser wissen, dass ein elektrisierender Pageturner über manchen Kummer hinweghelfen kann und dass der spröde Charme eines Gentlemans wie Mr. Darcy (der in Jane Austens Roman Stolz und Vorurteil der selbstbewussten Elizabeth Bennett den Kopf verdreht) auch nach der soundsovielten Enttäuschung mit dem anderen Geschlecht den Glauben an ewiges Liebesglück reanimieren kann.

Bücher können Trost schenken, Mut machen, Spiegel vorhalten, Zuflucht sein, Erfahrungen vermitteln, Perspektiven ändern, Sinn stiften. Bücher amüsieren und berühren. Und sie können ablenken – nicht zuletzt von uns selbst.

Der französische Lyriker und Philosoph Paul Valéry berichtet in seinen Tagebüchern von einem Kranken, der ohne Betäubung operiert wurde und »eine gewisse Linderung oder vielmehr eine gewisse Verstärkung seiner Kräfte und seiner Geduld dadurch fand, dass er zwischen zwei Schmerzhöhepunkten ein Gedicht aufsagte, das er liebte«.2

Primo Levi, der sich 1943 einer italienischen Widerstandsgruppe angeschlossen hatte, deshalb verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde, veröffentlichte 1958 den autobiographischen Roman Ist das ein Mensch? – einen brillant geschriebenen Augenzeugenbericht und ein bewegendes Stück Weltliteratur. Mit einer schneidenden, fast grausamen Sachlichkeit beschreibt Levi den Alltag im Lager, reflektiert die Mechanismen unter den Gefangenen, die jeden Tag um ihr Leben kämpfen, und versucht, die Grenze zu verorten, an der Menschen gerade durch ihren unbedingten Überlebenswillen das in Frage stellen, was Humanität ausmacht. In einer Szene erzählt Levi von seinen Bemühungen, einem Mithäftling Dantes Göttliche Komödie zu erklären. Während er versucht, sich an die Verse zu erinnern, erscheinen ihm die Worte Dantes auf einmal »wie ein Posaunenstoß, wie Gottes Stimme«, und einen Augenblick lang gelingt es ihm zu vergessen, »wer ich bin und wo ich mich befinde«.

Die 1946 in Belgrad geborene Performance-Künstlerin Marina Abramović, die sich in ihrer Arbeit auf radikale Weise mit den eigenen Schmerzgrenzen, aber auch mit der Belastbarkeit des Publikums auseinandersetzt, erklärt in einem Interview, ihre traurige, von elterlichem Streit und eigener Unsicherheit geprägte Kindheit nur deshalb überstanden zu haben, weil sie ständig las, schrieb und malte und ihr die Welt eines Dostojewski letztlich wichtiger war als die Welt, die sie umgab.3

Der österreichische Schriftsteller Gerhard Roth bekennt, schon als Kind lesesüchtig gewesen zu sein, »und aus dieser Lesesucht hat sich die Schreibsucht entwickelt«. Wohin extreme Lesesucht in letzter Konsequenz führen kann, spielt Roth in seinem Roman Der Plan durch. Dessen Hauptfigur ist ein bibliomanischer Bibliothekar, den seine Leidenschaft an die Ränder der Realität treibt. In abgeschwächter Form tritt dieses Phänomen bei jeder Lektüre auf, denn ein Buch ist Roth zufolge »mehr als ein Fetisch, wenn man es bei sich trägt. Es ist in diesem Moment eine zweite Wirklichkeit zur gelebten Wirklichkeit, und beide Wirklichkeiten sind wahr«.4

Wie sehr diese zweite Wirklichkeitsebene in seine Gefühlswelt eingreifen kann, dürfte auch dem wildesten Leser nicht immer bewusst sein. Dabei wird gerade diese emotionale Qualität der Literatur seit Jahrhunderten gezielt genutzt und – auch in durchaus fragwürdiger Weise – instrumentalisiert.

Seit Menschengedenken werden Wörter, Texte und Bücher als Heilmittel, aber auch als Erziehungs- und Besserungsinstrumente eingesetzt: in den Wartezimmern berühmter Mediziner, den geschlossenen Abteilungen psychiatrischer Anstalten, in entlegenen Klöstern, historischen Kerkern und modernen Gefängnisbibliotheken ebenso wie in bibliotherapeutischen Lesegruppen. Und nicht zuletzt in der Literatur selbst, die seit jeher davon träumt, den Leser im Innersten zu bewegen.

Als mir eine Freundin erzählte, dass sie eine Ausbildung zur Bibliotherapeutin begonnen hatte, war ich zunächst eher belustigt, mit was für ausgefallenen Methoden andere ihre Seelen pflegen. Aber dann fiel mir wieder ein, wie ich mit Hermann Hesse meinen jugendlichen Weltschmerz gelindert hatte. Ich erinnerte mich an heilsame – und heillose – Buchbegegnungen. Wie Treibgut tauchten meine Heldinnen und Helden aus der Buchwelt wieder auf und stießen weitverzweigte Erinnerungsräume auf, die mir auf ganz andere Weise etwas über mein Leben erzählten als ein Tagebuch oder ein Fotoalbum.

Anderen scheint es ähnlich zu gehen. Wenn ich von meinen Streifzügen durch die Heilstätten der Literatur berichtete, eine historische Anekdote zum Besten gab oder das Schicksal eines besonders verrückten literarischen Patienten schilderte, waren die meisten erst einmal irritiert. Biblio… was? Selbst meine Kollegen aus Verlagen und Literaturredaktionen gaben zu, noch nie etwas von dieser Kreativtherapie gehört zu haben. Kein Wunder, wenn selbst in Alberto Manguels epochaler Geschichte des Lesens, die ich als Erstes nach Hinweisen durchforstet habe, diese »merkwürdige Wissenschaft der Bibliotherapie« nur im Nachwort Erwähnung findet.

»Bücher, die für mich die zweite Welt sind«Gerhard Roth

Sobald ich jedoch den, für viele offenbar mental kontaminierten, Begriff Therapie wegließ und ein paar unterhaltsame literarische Initialzündungen schilderte, ließen die Aha-Erlebnisse nicht lange auf sich warten. So gut wie jeder packte mindestens ein literarisches Erweckungserlebnis aus, es sprudelte geradezu vor Geschichten. Die Unterhaltung war gerettet, denn langweilig sind diese Geschichten nie.

Ein österreichischer Freund erzählte von seiner Jugend in einem Vorarlberger Touristenort, von der Enge des Tals und den Menschen, in deren Nähe er sich stets als Fremder gefühlt habe. Er sei dann 1988 zufällig auf Norbert Gstreins gerade erschienene fulminante Erzählung Einer gestoßen. Darin wird von Jakob erzählt, dem der Vater nichts zutraut, weil er zwei linke Hände hat, der vor sich hinträumt, statt, wie seine Geschwister, im Lokal der Eltern mitzuhelfen, und darum schon in der eigenen Familie keinen rechten Platz findet. Weil er so anders ist, als so ein Dorfleben es vorsieht, schickt man ihn in der Stadt zur Schule. Aber dort wird der stille Junge zum Opfer seiner Mitschüler, die ihn quälen und Tag für Tag missbrauchen. Als er im tiefsten Schnee zu Fuß ins Dorf flieht und der Mutter droht, sich umzubringen, sollte sie ihn zurückschicken, wird anscheinend alles anders. Zwar verschwindet er wie zuvor stundenlang im Wald oder in seinem Zimmer, doch er beginnt, im Betrieb zu helfen und einfache Aufgaben zu übernehmen. Im Inneren ist er jedoch längst woanders, verwirrt sich, wie Büchners Lenz, in seinen luziden Reflexionen, die weit und hoch über dem Dorf dahinschweben. Alle Anstrengungen, sich in die sogenannte Normalität einzufügen, scheitern über die Jahre. In den Wirtshäusern trinkt er sich weg, monologisiert und singt zum Gaudium der Bauern; in der Skischule verängstigt er die Gäste, wenn er sie spaßeshalber in den Tiefschnee führt und darin stecken lässt. Immer mehr verschwindet Jakob in sich. »Er hatte den Sinn für die Wirklichkeit verloren – und nichts dazugewonnen. Niemand erwartete etwas von ihm, es sei denn Dummheiten oder eine neue Ausfälligkeit.« Zuletzt wird Jakob abgeholt und weggesperrt. Die Irritation ist beseitigt, das Dorfleben geht weiter.

In stockendem, atemlosem Ton erzählt Norbert Gstrein von einem, der erst durch die anderen zum Außenseiter wird, der nicht sein und bleiben darf, weil sein Wesen den Rahmen der dörflichen Ordnung sprengt. Meinem Vorarlberger Freund begegnete hier Einer, der ebenso anders war wie er und der ihm einen Weg wies – hinaus aus dem engen Tal.

Eine Kollegin berichtete von ihrem Vater, der als junger Mann den von seinen Eltern übernommenen Friseursalon an einen Kneipenkumpel verkaufte, um nach Kanada auszuwandern. »Properties are burden« (dt. etwa: Eigentum ist eine Last) hatte er in Henry David Thoreaus Kultbuch Walden gelesen, diesem berühmten Selbstversuch eines Achtundzwanzigjährigen, der im Jahr 1845 an den Walden-See in die einsamen Wälder Massachusetts zog, um abseits von aller Zivilisation ein Leben im Einklang mit der Natur zu führen. Leider klappte es mit dem Bohnenanbau nicht so gut wie bei Thoreau, und so kehrte der alternative Friseur nach einem Jahr zurück in die Heimat und stutzte wieder Haarschöpfe statt Stauden. Die Begeisterung für Thoreaus Buch hat er sich aber, trotz dieses Misserfolgs, bewahrt und an seine Kinder weitergegeben.

Ein weiterer, normalerweise nicht sehr gesprächiger Freund kam beim Reden über die Wirkung von Büchern auf seine Zeit bei der NVA. Der Dienst bei der Nationalen Volksarmee der DDR sei für ihn die schlimmste Phase seines Lebens gewesen, wie er mehrfach betonte. Den Drill, die ihm unsinnig erscheinenden Regeln, die demütigende Pflicht zu Gehorsam und Ordnung habe er kaum ertragen können. Weil er sich innerlich so sehr gegen dieses Dasein gesperrt habe, sei ihm ständig etwas danebengegangen und deshalb auch noch so gut wie jeder Ausgang gestrichen worden. An den Wochenenden, die er in der Kaserne habe verbringen müssen, sei er aber zumindest allein auf der Stube gewesen und habe in Ruhe lesen können. Die entsprechenden Bücher, erzählte er, gab es bei einer Offiziersfrau, die einen kleinen Buchhandel in der Kaserne betrieb und erstaunlicherweise Lektüre im Angebot hatte, die in der DDR ansonsten nur als Bückware oder gar nicht zu bekommen war. Unzählige Gedichte hat er in dieser Zeit gelesen, so viele wie später nie mehr: so klein wie die welt und so groß wie allein von E. E. Cummings, aber auch Romane wie Das Paradies ist nebenan von Cees Nooteboom. Und als ein Kollege einen Band mit Wolf Biermanns Gedichten mitbrachte, der unter den Soldaten bald von Hand zu Hand ging, hat mein Freund sich jedes einzelne abgeschrieben. Die Blätter besitzt er noch heute.

Die prägnanteste Antwort auf die Frage, ob Literatur heilsam sein kann, stammt von einer allein lebenden älteren Frau, die voller Emphase feststellte: »Ohne meine Bücher wär’ ich doch schon längst gestorben!«

Leidenschaftliche Lesebekenntnisse und Bucherlebnisberichte wie diese zeigen, dass es sie tatsächlich gibt, diese fast magischen Worte und Geschichten, die ein Leben prägen und nicht selten Wendepunkte markieren. Doch so intensiv die Begleitumstände dieser Lektüreerfahrungen meistens geschildert werden – nur die wenigsten können sich an den genauen Inhalt des betreffenden Textes erinnern. In seinem Essay Tage des Lesens stellt Marcel Proust fest, dass sich gerade die Störungen von außen, die Unterbrechungen des Leseflusses, sanft in unsere Erinnerung eingraben und uns später kostbarer werden als das, »was wir damals mit Hingabe lasen«. Nehmen wir diese vor langer Zeit gelesenen Bücher später wieder zur Hand, spiegeln sie das Vergangene, »die nicht mehr existierenden Wohnstätten und Teiche«, und sind »die einzigen aufbewahrten Kalender der entflohenen Tage«.5

Wenn wir an unsere ersten Begegnungen mit der betörenden Welt der Geschichten und Märchen denken, uns in diese Leselehrlingszeit vertiefen, tauchen dann vollständige Inhalte vor unserem inneren Auge auf? Oder Bilder, Stimmungen, sinnliche Details?

Die kühle, immer etwas feuchte Hand meiner Mutter, die über meine Stirn streicht, die warmen Marmorplatten über der Heizung, auf denen ich als Kind am liebsten lag und las.

Die bunten Einbände der Reader’s-Digest-Jugendbuchreihe, die meine Eltern abonniert hatten. Vier Romane in einem Band: David Copperfield auf 120 Seiten! Ganz besonders liebte ich Betty Smiths Roman Ein Baum wächst in Brooklyn, der mir eine tiefe Sehnsucht einpflanzte, irgendwann, in unvorstellbarer Zukunft, nach New York zu reisen. Worum es in der Geschichte geht, weiß ich nicht mehr, nur ein paar Bilder sind noch da, die aber womöglich eher aus der Verfilmung des Romans durch Elia Kazan stammen.

Stefan Zweigs Ungeduld des Herzens habe ich mindestens dreimal gelesen. Trotzdem sind mir davon nur einige dürre Fragmente im Gedächtnis haften geblieben. Und wenn ich heute darin blättere, animiert mich die melodramatische Sprache auch nicht, das Buch noch mal zu lesen. Woran ich mich aber noch genau erinnere, ist das Gefühl, mit dem ich in diese Geschichte eingetaucht bin, als könnte ich darin ohne Angst meinem zerrissenen und unruhigen Innenleben begegnen. Etwas sprach mich an, ohne sich zu erklären.

Sicherlich hängt diese Form von »Biblioamnesie« auch damit zusammen, dass sich Literatur nicht eins zu eins nacherzählen lässt und Kunst nun mal mehr ist als die schlichte Summe ihrer Teile. Aber es muss noch einen anderen Grund geben für diese literarische Demenz. Und da offenbar nicht nur ich darunter leide, kann es auch nicht nur an meinem tatsächlich ziemlich schwachen Gedächtnis liegen.

Was bedeuten diese schwarzen Löcher? Warum erinnern wir uns so eindringlich an besondere Leseerlebnisse, vergessen aber die konkreten Inhalte, also das, was wir gelesen haben? Sind unsere intensivsten Lektüreerfahrungen weniger intellektuelle als vielmehr emotionale Eindrücke? Spiegeln, flüchten, heilen wir uns lesend auf unsichtbaren Kanälen, und versinkt ein Teil dieser Erfahrung wiederum in jener Region, die Freud »das Unbewusste« nannte? Wie kann es sein, dass wir uns durch Wörter besser fühlen, sie uns in die Lage versetzen, etwas anderes wahrzunehmen als unsere Einsamkeit und Beschränktheit, unser Anderssein?

THEORIEN UND TOLLE TYPEN

Es tut wohl, den eignen Kummer von einem anderen Menschen formulieren zu lassen. Formulieren ist heilsam«, schreibt Erich Kästner im Vorwort zu seinen Erste-Hilfe-Gedichten und bringt wunderbar beiläufig eine psychologische Grunderkenntnis auf den Punkt. Der amerikanische Philosoph und Psychologe William James – er war der ältere Bruder des Schriftstellers Henry James und gilt als Begründer der amerikanischen Psychologie – vertrat die Ansicht, es gebe nur zwei Arten zu denken: argumentieren und erzählen. Erzählen scheint die wesentlichere zu sein. So entwickelt sich beispielsweise in der Psychoanalyse eine Geschichte zwischen Analytiker und Patient, bei der es nicht um literarische Wahrhaftigkeit geht, sondern darum, eine emotionale Wahrheit aus dem Leben des Patienten zu verdeutlichen. Gelingt es dem Patienten, das, was Freud »unbewusste neurotische Wiederholung« nannte, zu artikulieren und in eine Geschichte zu verwandeln, dann scheint das eine heilsame Wirkung zu haben. In dem Moment, wo das eigene Erleben Teil eines gemeinsamen bewussten Diskurses wird, eröffnet dieses Bewusstsein die Möglichkeit, sich selbst aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen und sich dadurch besser zu fühlen.

Kann dieser Prozess auch in der Auseinandersetzung mit Kunst und Literatur eintreten? Der österreichische Schriftsteller Robert Musil notiert um 1920 in seinen Tagebüchern: »Ein Buch ergreift oder fesselt mich. Es ist ein liebes Buch, ein geistvolles, ein langweiliges, ein gemütvolles usw. Ist es das wirklich oder nur für schlechte Beobachter? Ist es Verlegenheit oder Gesetz, dass wir in der Praxis solche Aussagen von einem Buch machen und dass es die gleichen sind wie von einem Menschen?« Aber nicht nur literarische Figuren wie Raskolnikow und Madame Bovary oder auch deren Schöpfer ergreifen den Leser, vielmehr kann das auch, wie bei den mysteriösen Anti- und Sympathien, die man in der Begegnung mit anderen erlebt, ein »unkonkretes Drittes« sein. Was sich dahinter verbirgt, bleibt für Musil aber vorerst »noch ungelöst«.6

Womöglich wusste sein Zeitgenosse und Landsmann Sigmund Freud, den der Dichter ebenso bewunderte wie kritisierte, des Rätsels Lösung. Erinnert doch das »unkonkrete Dritte« an einen Interaktionsraum, den Freud »Tummelplatz« nannte: jenes weite, wilde Feld, auf dem die sogenannte Übertragung zwischen Patient und Analytiker stattfindet. Ein mentaler Spielplatz, »auf dem ihm [dem Patienten] gestattet wird, sich in fast völliger Freiheit zu entfalten, und auferlegt ist, uns alles vorzuführen, was sich an pathogenen Trieben im Seelenleben des Analysierten verborgen hat«.7

Offenbar können auch Kunst und Literatur solch einen Tummelplatz eröffnen, indem sie verborgene Regionen unseres Gefühlslebens berühren und verdrängte Emotionen ins Bewusstsein treten lassen. Darauf bauen schließlich die meisten Kreativtherapien. Die Auseinandersetzung mit Kunst kann helfen, ungeordneten Gefühlen, die einen zu überwältigen scheinen, eine Form zu geben und sie damit überschaubar zu machen. Und: Kunst kann schlicht davon erzählen, dass man nicht allein ist mit seinen Empfindungen und Erfahrungen. Mit Erich Kästner gesagt, kann es »bekömmlich« sein »zu erfahren, dass es anderen nicht anders und nicht besser geht als uns selbst. Es beruhigt auch zuweilen, das gerade Gegenteil dessen, was man empfindet, nachzufühlen.«

Was Kästner mit eleganter Ironie in seiner Lyrischen Hausapotheke verpackte, die Idee, Literatur könne als poetisch fundierte Seelenkur durchaus praktischen Nutzen haben, ist nicht etwa die abwegige Phantasie eines einzelnen Herrn. Durch alle Epochen hinweg haben Dichter davon geträumt, nicht nur Diener von Bildung und Erbauung zu sein, sondern tief in die Gefühlswelt ihrer Leser vorzudringen und deren Wahrnehmung gründlich durcheinanderzuwirbeln.

Schon Miguel de Cervantes’ Don Quijote, der 1605 mit seiner Rosinante auf die literarische Bühne galoppierte und seither als Urgestein des modernen Romans gilt, ist eine ausufernde Phantasie über die ebenso abenteuerlichen wie fatalen Folgen der Lesesucht. Weil er der Lektüre von Ritterbüchern verfällt, vergisst der Junker Alonso Quijano seine Pflichten, lässt Haus und Hof verkommen und verkauft sein letztes Hemd, »um Ritterbücher zum Lesen anzuschaffen«. Die Folge dieser exzessiven Lesefreuden ist das Gegenteil einer gelungenen Bibliotherapie: Der Hidalgo verfällt der Bücherdroge, macht die Nacht zum Tag, »und so, vom wenigen Schlafen und vom vielen Lesen, trocknete ihm das Hirn so aus, dass er zuletzt den Verstand verlor«. Als er sich schließlich einen neuen Namen verpasst und loszieht, um als fahrender Ritter Don Quijote all das zu erleben, was er bislang nur aus Büchern kennt, zeigt sich, dass er keinen Unterschied mehr zwischen Realität und Fiktion erkennt: Er ist längst, was er liest.

Erst auf dem Totenbett, als all die surrealen Abenteuer überstanden sind und auch der letzte Kampf verloren ist, findet »der Ritter von trauriger Gestalt« aus seiner literarischen Phantasie heraus. Er verlässt die irdische Welt als geheilt, wobei offenbleibt, ob er damit wirklich besser dran ist. So steht am Anfang der Kunst des Romans die so großartige wie größenwahnsinnige Phantasie eines Autors über die existenzielle Macht des Erzählens.

Die Erfahrung, dass Lektüre einen in regelrechte Wahnzustände versetzen kann, wird jeder leidenschaftliche Leser schon mal gemacht haben. Immer wieder entdecke ich Texte, die mich so bewegen, dass ich mich fassungslos frage, wie ich sie so lange übersehen konnte. Dann muss ich sofort all das Versäumte nachholen, gerate in einen regelrechten Leserausch, verschlinge ein Buch nach dem anderen, werte parallel dazu akribisch Rezensionen, Interviews und biographische Texte aus und spiele nach, was ich darin finde. Einen meiner intensivsten literarischen Liebesräusche verdanke ich Hanns-Josef Ortheil, dem ich bereits nach vier Seiten komplett verfallen war. Ob der Mann womöglich etwas zu alt für mich wäre oder seit Jahrzehnten mit derselben Frau verheiratet ist, all diese profanen Parameter spielen zum Glück überhaupt keine Rolle, wenn man sich in Schriftsteller verliebt. Oder besser gesagt in die Person, die man sich zu den Büchern eines Schriftstellers zusammenphantasiert. Ortheil ist in dieser Hinsicht ein dankbares Liebesobjekt. In einem seiner Bücher lernt man seine Kinder kennen (gut, dass meine bereits Namen hatten, sonst hätte ich sie sofort Lo und Lu genannt). In einem anderen nimmt er einen sogar mit in sein Haus in Stuttgarter Hanglage. Dort wird man bekocht und mit Ortheils Lieblingschampagner bewirtet: Ruinart Rosé – das ist auch mein Lieblingschampagner! Ich wusste es, Hanns-Josef Ortheil und ich sind Seelenverwandte! Meine Kinder müssen in den nächsten Tagen Nudelgerichte essen, die Herr Ortheil in diesem Buch zubereitet (schmecken ihnen nicht), und meine Tochter muss sich schon morgens auf dem Weg zum Kindergarten meine Begeisterungselogen über den erst elfjährigen Hanns-Josef anhören und wie schön er Die Moselreise mit seinem Vater beschrieben hat.

Mama hat sich in einen elfjährigen Schriftsteller verliebt, sagt sie beim Abendessen zu meinem Mann, der matt erwidert, Männer in senfgelben Hosen seien für ihn nicht satisfaktionsfähig. Du hast ja keine Ahnung, keife ich los. In Italien, wo Ortheil viele Jahre gelebt hat, sind diese Hosen geradezu ein Distinktionsmerkmal, das hat mir Tobias erzählt, und der weiß alles! Mann und Kind stehen auf und räumen wortlos ihre Teller in die Spülmaschine.

Ich ziehe mich mit Hanns-Josef zurück. Inzwischen lese ich bestimmt schon das zwölfte Buch in Folge. Während also meine Kulturbanausenfamilie mit Playmobil-Männchen spielt, schlendere ich mit Hanns-Josefs Alter Ego, einem Pianisten, durch Zürich, und plötzlich nervt mich etwas, nur eine Nuance, ein einzelner Satz. Und dann geht es nicht mehr. Ich kann Hanns-Josef Ortheil nicht mehr ertragen. So war es jedes Mal, wenn ich in einen Schriftsteller verliebt war. Irgendwann ist es wie in jeder Beziehung, und genau das, was einen am Anfang so entzückt hat, die kleinen Macken und Ticks, gehen einem urplötzlich total auf die Nerven. Dann wird es Zeit, etwas Abstand zu gewinnen und den anderen in neuem, kühlerem Lichte zu betrachten. Und – den Kindern endlich mal wieder etwas zu kochen, was ihnen auch schmeckt.

»Bücher, in denen ich immer wieder gelesen habe«Hanns-Josef Ortheil

Die Idee, dass Dichtung und Heilkunst etwas Wesentliches verbindet, existierte schon lange, bevor Cervantes sich mit seinem Ritterabenteuer aus dem finsteren Kerker herausphantasierte. Ende des 16. Jahrhunderts saß er mehrfach im Gefängnis, und womöglich tröstete oder therapierte er sich kraft seiner Phantasie auch ein wenig. In der Vorrede seines Jahrhundertwerks nennt er seinen Text einen Sohn, »der im Gefängnis erzeugt wurde, wo jede Unbequemlichkeit ihren Sitz hat, jedes triste Gelärm zu Hause ist«.

Schon die kultischen Handlungen, Beschwörungen und Opferriten vieler primitiver Kulturen waren von dem Glauben an eine magische Energie und Kraft bestimmter Worte getragen. Über der sagenhaften Bibliothek von Alexandria prangte der Schriftzug psychēs Iatreion (Heilstätte der Seele). Der griechische Gott Apollon gilt als Gott der Poesie und der Heilkunst.

Es war aber ein Autor und Philosoph, der die Vorstellung, Dichtung könne eine heilsame und reinigende Wirkung haben, vom Olymp auf die Erde brachte. Aristoteles verknüpfte in seiner im 4. Jahrhundert vor Christus verfassten Poetik erstmals einen Begriff mit Dichtung und Musik, der bis dahin nur im Zusammenhang mit religiösen oder kultischen Handlungen oder im Umfeld der Medizin verwendet wurde: die sogenannte katharsis. Ärzte verwendeten diesen Begriff als Terminus technicus für die Ausscheidung schädlicher Substanzen. Purgierende, also reinigende Methoden gehören seit jeher zu den fundamentalen Verfahren der Naturheilkunde. Wer sich schon einmal einer Fastenkur unterzogen hat, wird das wissen.

Bis ins 19. Jahrhundert, als Rudolf Virchow die Zellularpathologie einführte, bestimmte die sogenannte Vier-Säfte-Lehre das medizinische und naturwissenschaftliche Menschenbild. Schon der griechische Arzt Hippokrates war der Ansicht, dass der menschliche Körper verschiedene Säfte – Blut, gelbe und schwarze Galle sowie Schleim – enthalte, die in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen sollten. Patienten, die zu viel oder zu wenig von einer Substanz in sich hatten, rückten die Ärzte mit purgierenden Methoden zu Leibe: Aderlass, Schröpfen oder abführende Mittel galten als bevorzugte Behandlungsmethoden. Großen Einfluss erlangte der in Griechenland geborene Arzt Galēn, der um das Jahr 170 erstmals eine medizinische Systematik verfasste, die sechzehn Bücher umfassenden Methodi medendi, die in Teilen bis ins 19. Jahrhundert Bestand hatte. Wie Hippokrates vertrat auch Galēn die Ansicht, dass nicht organische Fehlfunktionen Krankheiten verursachten, sondern ein Ungleichgewicht der vier Körpersäfte Körper und Geist schädige.

Die Annahme, der Mensch sei nur dann gesund, wenn seine Substanzen ausgeglichen sind, bezog sich also nicht nur auf den Körper, sondern auch auf den Geist beziehungsweise auf das Wechselspiel von Körper und Geist. Dementsprechend durchdringt diese Vorstellung die Philosophie ihrer Zeit und spiegelt sich auch in den Schriften Platons und seines Schülers Aristoteles.

Von seinen Kommilitonen wurde Aristoteles, der später eine der größten Bibliotheken seiner Zeit besaß, nur »der Leser« genannt. Er forschte über das Wesen des Goldes, des Glücks und der Freundschaft, untersuchte und analysierte Körper und Wesen von Tieren. Charles Darwin bezeichnete ihn später als »einen der größten, wenn nicht den größten Beobachter, der je gelebt hat«. Aristoteles verfasste auch eine kleine Abhandlung über die Tragödie, die noch zweieinhalbtausend Jahre später Geltung hat: Alle bedeutenden Dramentheorien, ob sie von Lessing, Schiller, Nietzsche oder Brecht stammen, beziehen sich auf die aristotelischen Regeln oder versuchen, sich von ihnen abzusetzen, und bis heute wirkt sich das Modell auf zahlreiche zeitgenössische Spielarten des Theaters aus.8

In dieser folgenreichen Theorie stellt Aristoteles die These auf, eine der wichtigsten Funktionen der Tragödie bestehe darin, beim Zuschauer durch die Identifikation mit dem Helden und seinem tragischen Schicksal »Jammer und Schaudern« hervorzurufen. Diesen Affekten solle das Publikum freien Lauf lassen und sich dadurch »lustvoll erleichtern«.

Ob das antike Theaterpublikum wirklich so heftig mitfühlte, sich unüberhörbar seinem Jammer hingab und schließlich »lustvoll erleichtert« und entsprechend gut gelaunt nach Hause ging?

Die Aufführungen der griechischen Tragödien fanden im Rahmen der sogenannten Dionysien statt, die bis zu acht Tage dauern konnten. So wie bis heute im christlich geprägten Abendland den meisten viele Figuren und Geschichten aus der Bibel bekannt sind, waren dem antiken Publikum die Protagonisten der großen Tragödien und ihr Schicksal vertraut. Deshalb lag der eigentliche Reiz der dramatischen Wettkämpfe darin, zu erleben, wie es den Dichtern gelang, das Altbekannte noch einmal neu und andersartig zu erzählen. In festlicher, erwartungsvoller Stimmung werden die Zuschauer in den prächtigen Amphitheatern bereit gewesen sein, sich vom tragischen Geschick einer Antigone oder eines Prometheus berühren zu lassen.

Ob sich Aristoteles auch eine kathartische Wirkung davon versprach, wenn das Publikum nicht mit einem von den Göttern geprüften Helden zittern, sondern über die Widrigkeiten des menschlichen Schicksals lachen würde, kann man nur mutmaßen. Seine Theorie des Lächerlichen, die in Kapitel sechs der Poetik angekündigt wird, ist verloren gegangen. Aristoteles, der Lehrer an Platons Akademie war, hatte den Text als Gedächtnisstütze für seine Vorlesungen verfasst und ihn womöglich deshalb nicht besonders sorgsam aufbewahrt. Doch nicht nur weil Teile des Textes verloren gegangen waren, geriet dieses Werk während der nächsten Jahrhunderte in Vergessenheit. Die Poetik des Aristoteles passte nicht in die Lehren des Christentums, das immer mehr das Weltbild bestimmte und dessen Potentaten diese scheinbar so harmlose Theatertheorie als höchst subversives, gefährliches Machwerk betrachteten.

Das zumindest ist die These eines Bestsellers, in dessen Kräftezentrum die Angst steht: Angst vor den starken und gefährlichen Gefühlen, die das Lesen wecken kann. In Umberto Ecos historischem Kriminalroman Der Name der Rose versteckt der alte, blinde Klosterbibliothekar Jorge de Burgos (dessen Name nicht umsonst an einen anderen Bibliotheksbesessenen, den argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges, erinnert) ein Buch, dessen Wirkung er für ungeheuerlich hält. Um diesen geistigen Sprengsatz unter Verschluss halten zu können, ist er bereit, zu morden und zu sterben. Bei der geheimen, mit Argusaugen gehüteten Schrift handelt es sich um das fehlende Zweite Buch der Poetik des Aristoteles. Also nicht etwa um einen Aufruf zum Volksaufstand oder Sturz des Papstes, sondern um eine Abhandlung über die Komödie und ihre erheiternde Wirkung. Doch gerade die Fähigkeit der Komödie, die Menschen zum Lachen zu bringen, fürchtet der alte Jorge wie der Teufel das Weihwasser. Wenn das Lachen die Menschen von ihrer Angst befreit, mutmaßt der strenge Dogmatiker, werden sie auch ihre Gottesfurcht verlieren. Und ohne dieses Druckmittel wird es bald überhaupt keinen Glauben mehr geben.

Die Befürchtungen des alten Bibliothekars sind keine abwegigen oder besonders originellen literarischen Phantasien Umberto Ecos, vielmehr spiegeln sie den herrschenden Geist der Zeit: Wo das Denken die vorgegebenen Bahnen der christlichen Heilsgeschichte verließ, wo der Glaube an ein Jenseits hinterfragt oder die Freiheit des Einzelnen propagiert wurde, mussten die Schriften der dafür verantwortlichen Denker verschwinden. Auch die Werke antiker Freigeister wie Epikur und Lukrez ruhten jahrhundertelang wie Scheintote in abgelegenen Klosterbibliotheken, wo sie höchstens noch den einen oder anderen Kopisten in tiefe Glaubenskrisen stürzen konnten.

Erst mit der Renaissance erwachte das aufgeklärte Denken der antiken Philosophen und Dichter zu neuem Leben und wurde in bestimmten Kreisen enthusiastisch aufgenommen. Der italienische Dichter und Gelehrte Francesco Petrarca, der in seinen Canzonieri voller Hingabe seine unermüdliche Liebe zu Laura besingt und neben Dante Alighieri und Boccaccio als einer der wichtigsten Vertreter der frühen italienischen Literatur gilt, hatte diese Mode ausgelöst. Nachdem Petrarca vergessene Manuskripte antiker Autoren wiederentdeckt hatte und sich durch seine um 1330 erschienene Rekonstruktion von Livius’ Monumentalwerk Ab urbe condita (Römische Geschichte – Von der Gründung der Stadt an) Ruhm und Ehre erworben hatte, eiferten ihm viele seiner Zeitgenossen nach und begaben sich auf die Jagd nach verschollenen Klassikern der Antike. Wer einen solchen Schatz entdeckte, erwarb sich hohes Ansehen unter seinen Gesinnungsgenossen, den sogenannten Humanisten. Diese gebildeten Männer studierten leidenschaftlich antike Geschichte, Rhetorik, Dichtung und Philosophie. Hatten sie einen der verschollen geglaubten Texte aufgespürt, tauschten und diskutierten sie voller Enthusiasmus die Werke ihrer Idole.

Auch der Italiener Poggio Bracciolino, der 1380 in dem toskanischen Dorf Terranuova zur Welt kam, in Florenz und Rom studiert und mehreren Päpsten als Sekretär gedient hatte, war von dem Wunsch getrieben, verlorene Schriften wiederzuentdecken und sie vom Staub der Jahrhunderte zu befreien. Als leidenschaftlicher Bücherjäger spürte Poggio, der für seine außergewöhnlich schöne Handschrift und sein elegantes Latein bekannt war, zahlreiche fast vergessene Werke antiker Dichter und Philosophen an den entlegensten Orten Europas auf. Wie weitreichend solche Wiederbelebungsversuche sein konnten, zeigt der amerikanische Literaturwissenschaftler und Pulitzerpreisträger Stephen Greenblatt anhand des Versepos De rerum natura von Lukrez, das Poggio 1417 in einem deutschen Kloster entdeckte. Mit diesem Fund, so Greenblatt, begann nichts weniger als die Wende zur Renaissance und damit zum modernen Denken.

Eine Ausgabe von Lukrez’ Über die Natur der Dinge findet sich auch in der Bibliothek Michel de Montaignes, von dem später noch die Rede sein wird. Es ist eines der wenigen Bücher, die Montaigne mit Anmerkungen versehen hat. Offenbar hatte er dieses bahnbrechende Werk akribisch durchgearbeitet, während er sich ansonsten gerne als ausgesprochen lässigen Leser darstellt: »Stoße ich beim Lesen auf Schwierigkeiten«, schrieb er, »zernage ich mir denn auch nicht die Nägel hierüber, sondern lasse die Sache, nachdem ich sie zwei-, dreimal vergeblich angegangen bin, auf sich beruhn.«9

Was Poggio und seine Freunde antrieb, auch unter den widrigsten Umständen ihre Bücherjagd fortzusetzen, war eine Obsession mit therapeutischem Wert: »Wie jeder andere in der damaligen Welt hatten sie mit der stetigen Präsenz von Schmerzen zu kämpfen – Schmerzen, für die es keine medizinische Linderung gab –, ebenso mit dem beständig drohenden Tod«,10 bemerkt Stephen Greenblatt. Das von christlichen Dogmen bestimmte Denken und Handeln ihrer Zeitgenossen beengte und bedrückte diese Freigeister. Wie befremdlich und zugleich befreiend musste ihnen dagegen ein Weltbild erscheinen, wie es Lukrez in De rerum natura entwirft. Darin existieren nur kleine, sich zufällig bewegende Atome, es gibt keinen göttlichen Plan, keine Vorsehung und kein Nachleben. In vielerlei Hinsicht nimmt Lukrez damit die unendlichen und beängstigenden Möglichkeiten der Moderne vorweg. Der antike Atomismus, der kühne Geister wie Giordano Bruno und Galileo Galilei beeinflusste, den Naturwissenschaftler wie Isaac Newton und Albert Einstein rezipierten und von dem Künstler wie Botticelli oder Shakespeare inspiriert waren, muss den Humanisten wie die Pforte zum Paradies erschienen sein. In einer Zeit, die von intellektueller Dürftigkeit und Engstirnigkeit geprägt war, fanden die Humanisten in ihrer Bibliomanie auch Schutz vor »eitlem Zynismus«. So schrieb Poggio an einen Freund: »Manchmal bin ich frei und kann lesen.«11

Derartige Befreiungsgefühle kann Literatur auch bei ganz alltäglichen Beklemmungszuständen auslösen. Hält man sich ein Buch vor die Nase, sind noch die kommunikationswütigsten Mitmenschen, die einen in Bussen, Bahnen oder im Kaffeehaus belästigen, in der Lage, dieses Stoppzeichen korrekt zu deuten. Auch in meiner Familie war der Rückzug hinter zwei Buchdeckel schon immer sakrosankt. Vielleicht weil Lesen unter Kleinbürgern den Nimbus des Unantastbaren besitzt? Hatte einer eine Aufgabe für mich, sagte garantiert ein anderer: Lass das Mädchen, du siehst doch – es liest. Bildung, Bücher, das bedeutete Aufstieg und Freiheit. Aber wovon eigentlich? Von den engen Familienbanden, die am Eingang zu diesem literarischen Universum endeten? Weil die anderen nicht mehr mitkamen?

Mit einem Buch war man jedenfalls endlich allein. Lesen bedeutete, für sich sein zu dürfen. Und hatte man davon genug, brauchte man nur ins Wohnzimmer zurückzugehen, wo die Waltons, die Familie Feuerstein oder Onkel Hans schon auf einen warteten.

FINGERNÄGEL, ESSGEWOHNHEITEN, SEX

In seiner Geschichte des Lesens erzählt der argentinische Autor und Übersetzer Alberto Manguel eine Anekdote aus dem 13. Jahrhundert: Die Schüler des französischen Troubadours Richard de Fournival, der als Gründer der ersten öffentlichen Bibliothek des Landes gilt, glaubten, es sei dem körperlichen Wohlbefinden zuträglich, Texte auswendig zu lernen. Als Beleg für diese Annahme führten sie den römischen Arzt Antyllus an, der im 2. Jahrhundert geschrieben hatte, »wer niemals Verse auswendig lerne, sondern auf Bücher zurückgreifen müsse, könne sich seiner giftigen Säfte nur unter großen Mühen und durch übermäßiges Schwitzen entledigen, während Menschen mit einem geschulten Gedächtnis diese Säfte mit dem Atem ausstießen«.

Schule gemacht hat dieses therapeutische Ausatmen giftiger Substanzen offenbar nicht. Was dagegen wiederbelebt wurde und immer mehr Anklang bei vielen Patienten findet, ist ein eher ganzheitlicher Zugang zu Krankheit beziehungsweise Gesundheit. Im Zuge des medizinischen Fortschritts, der vor allem im Laufe des 20. Jahrhunderts immer ausgefeiltere technische Möglichkeiten mit sich brachte, schien die Medizin ihr eigentliches Objekt, den Menschen, immer mehr aus dem Blick zu verlieren.

Dem gegenüber stehen zahlreiche alternative Behandlungsmethoden, die inzwischen sehr gefragt sind und bei denen es weniger darum geht, Krankheitssymptome mit rasch wirkenden Medikamenten zu unterdrücken, als zu verstehen, woher die Krankheit kommt und was dem Patienten tatsächlich fehlt.

Um das herauszufinden, mussten sich Ärzte bis vor nicht allzu langer Zeit in erster Linie auf ihre gute Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis verlassen. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts fand der amerikanische Zahnarzt William Thomas Green Morton heraus, dass er seinen Patienten Schmerzen ersparen konnte, wenn er sie mit Äther betäubte, und ebnete damit der Narkose den Weg. 1895 entdeckte der deutsche Physiker Wilhelm Conrad Röntgen die nach ihm benannten Röntgenstrahlen, wofür er den Nobelpreis erhielt. Bevor der Mensch dank dieser segensreichen Erfindungen durchleuchtet werden und man sein Inneres untersuchen konnte, ohne ihm damit unerträgliche Schmerzen und tödliche Infektionen zuzufügen, mussten Ärzte auf andere Weise Ursachenforschung betreiben. Da ihnen die entsprechenden Geräte und Medikamente fehlten, waren sie viel mehr noch als ihre heutigen Kollegen auf ihre Wahrnehmung angewiesen und auf ihre Intuition. Als der italienische Arzt Gerolamo Cardano, der als einer der letzten Universalgelehrten der Renaissance gilt und in so gut wie jeder wissenschaftlichen Disziplin bewandert war, einmal von einem Fürsten um eine Diagnose für seine Krankheit gebeten wurde, antwortete Cardano: »Eine solche Diagnose sei erst zu wagen, wenn er den Herrn über längere Zeit vom Morgen bis zum Abend, vom Staatsakt bis zum Stuhlgang begleiten könne. Ohne Kenntnis aller Gewohnheiten eines Menschen könne kein Arzt wissen, was ihm fehle.«

Un Medecin. Ein Doctor der Arzney, Martin Engelbrecht (1684–1756)

Eine wahrlich fürstliche Behandlungsmethode, die in zeitgenössischen Wartezimmern um keinen Preis zu haben wäre, bemerkt der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg in seinen Frankfurter Vorlesungen zu Literatur und Therapie. Cardanos ausgedehnte Beobachtung seiner Patienten, so Muschgs Diagnose, sei gleichsam die historische Version der chinesischen Medizin, über die der Autor ebenfalls eine vielsagende Anekdote zu erzählen weiß. Ein Freund habe in Hongkong einen chinesischen Arzt konsultiert, der zu seiner Überraschung aber kaum etwas über seine Krankheit habe wissen wollen und ihn stattdessen in ein Gespräch verwickelt habe. Der Arzt befragte den Patienten über seine Arbeit, über eine vergangene, aber unabgeschlossene Liebesgeschichte, über seine Gewohnheiten, bot ihm schließlich eine Tasse Tee an und blickte dann ruhig aus dem Fenster. Als Muschgs Freund fragte, wann man denn endlich zur Sache komme, deutete der chinesische Arzt auf den Tee und antwortete lächelnd, man sei längst dabei: »Er habe die Ehre gehabt, seinem Gast beim Reden zuzuhören und beim Gehen zuzusehen, sein Sitzen, seine Bewegungen, seine Augen und Fingernägel zu betrachten; dann drückte er, mit einer höflichen Entschuldigung, den Finger auf zwei Stellen am Rücken meines Freundes, hier und hier tue es ihm weh, nicht wahr?«12

Hierzulande sind solche Erlebnisse eher selten, häufig kommt man nicht einmal dazu, in Ruhe zu erklären, worum es eigentlich geht. Kein Wunder, wenn ein durchschnittlicher Arztbesuch dem Deutschen Ärzteblatt zufolge gerade mal 7,8 Minuten dauert.13 Dabei würde schlichtes Zuhören mehr bewirken als jedes hektisch ausgestellte Rezept. Ein Psychosomatikexperte aus Frankfurt am Main berichtet in einem Artikel, dass er viel Zeit spart, seit er seine Patienten einfach mal ausreden lässt. Nach einem ausführlichen Gespräch seien die meisten so zufrieden, dass sie gar nicht mehr wiederkämen. Im Gegensatz zu all den anderen, die ihre Beschwerden buchstäblich nicht losgeworden sind und sich nicht richtig verstanden fühlen.

Dass die Geschichte eines Patienten entscheidend ist, um seine Erkrankung erkennen, verstehen und behandeln zu können, davon ist die amerikanische Medizinprofessorin Rita Charon überzeugt. Die 1949 in Providence, Rhode Island, geborene Internistin und promovierte Literaturwissenschaftlerin arbeitet mit großem Einsatz daran, ihre beiden Disziplinen in einen Dialog miteinander zu bringen. Wenn Ärzte lernen, Patientengeschichten wie literarische Texte zu lesen und zu interpretieren, so Charon, wird das die medizinische Praxis grundlegend verändern.

Seit 1982 unterrichtet die Harvard-Absolventin an der New Yorker Columbia University angehende Allgemeinmediziner und Chirurgen. Eines Tages, als sie schon eine ganze Weile ihre Lehrtätigkeit ausgeübt hatte, stattete Rita Charon ihren Kollegen von der literaturwissenschaftlichen Fakultät einen Besuch ab und fragte, »ob sie einem Doktor beibringen können, wie Storys funktionieren, wie man sie interpretiert«.14 Sie konnten. Und so ließen sie Dr. Charon Textinterpretationen schreiben, aber auch das eine oder andere Rezept unterschreiben, wie sie lachend gesteht. 1999 schloss sie ihren Ausflug in die akademische Welt der Literatur mit einer Dissertation ab. Darin widmete sie sich ihrem Lieblingsschriftsteller Henry James, dem Großmeister des psychologischen Erzählens, und untersuchte die Rolle der Literatur in der Medizingeschichte.

Sie sei überhaupt nur zur Medizin gekommen, erklärt die schmale, dunkelhaarige Rita Charon bei einem Vortrag, weil sie zeit ihres Lebens eine besessene Leserin gewesen und nach jedem Besuch der Schulbibliothek mit mindestens zehn Büchern nach Hause gekommen sei. Dieses exzessive Lesen habe ihr Interesse am Menschen geweckt und sie gelehrt, aufmerksam zu sein, verschiedene Ausdrucksebenen gleichzeitig wahrzunehmen und die Äußerungen des Patienten wie einen komplexen Text zu interpretieren.

Zur Jahrtausendwende gründete Rita Charon gemeinsam mit Kollegen das Graduierten-Programm »Narrative Medicine«. Es wird nicht nur von angehenden Ärzten und Studenten anderer Fachbereiche besucht, auch interessierte Laien erhalten hier eine Art Grundausstattung mit literaturwissenschaftlichem Rüstzeug. Die Teilnehmer sollen sensibilisiert werden für Geschichten, Sinn für die Komplexität einer Erzählung entwickeln und lernen, deren Gesamtstruktur zu erkennen. Das auf diese Weise gewonnene Verständnis der Patientengeschichte soll sie schließlich zum Handeln – in diesem Fall Behandeln – bewegen. Wobei Rita Charon gerade den Subtext, also all die unausgesprochenen Hinweise, die sich in den Erzählungen aller Patienten finden und die ein guter Arzt quasi zwischen den Zeilen herauslesen muss, für besonders wichtig hält.

Was bedeutet das konkret? Die praktizierende Ärztin Rita Charon hat in ihrer Sprechstunde im Columbia Presbyterian Hospital zuerst den üblichen Fragenkatalog abgeschafft, den viele Ärzte bei der ersten Konsultation herunterleiern. Statt ihre Patienten in stereotyper Weise nach Beschwerden, Symptomen und Vorerkrankungen abzufragen, stellt Frau Charon sich ihrem Gegenüber erst einmal vor und erklärt den Patienten, nun eine ganze Menge erfahren zu müssen über ihren Körper, ihre Gesundheit und ihr Leben: »Bitte erzählen Sie mir, was Sie glauben, was ich über Ihre Situation wissen sollte.«

Seit sie auf diese Weise vorgeht, macht Dr. Charon die Erfahrung, dass die Patienten regelrecht danach gieren, gründlich und detailliert über sich Auskunft zu geben. Manche berichten von erschütternden Verlusten in ihren Familien, von Eheproblemen oder der schwierigen Beziehung zu einem ihrer Kinder, bevor sie auf den eigentlichen Grund ihres Krankenhausbesuchs zu sprechen kommen. Andere beginnen zu weinen, weil sie niemand bisher auf diese Weise nach dem Zustand ihres Lebens gefragt hat und nicht nur nach ihrem womöglich vorübergehenden Leiden.

Wofür ist Medizin da?, fragt Rita Charon. Eine ihrer Aufgaben sei es tatsächlich, Expertisen und Behandlungspläne zu erstellen. Bei einer wirklich gelungenen Behandlung gehe es aber auch darum, Kontakt zueinander herzustellen und einander zu begegnen.

Narrative Medicine bedeutet also auch, etwas scheinbar Selbstverständliches zu lernen: genau hinzuhören, zu erkennen, wie ein Patient seine Leidensgeschichte schildert, aber auch, wie er sein Umfeld, seine Biographie darstellt. Ein guter Arzt sollte die Geschichte des Patienten wie einen vielschichtigen literarischen Text interpretieren, da sie einiges über die Bedeutung seiner Krankheit erzählt: »Dies gilt erst recht für psychiatrische Patienten, deren Geschichten oft so eng mit ihrer Krankheit verwoben sind, dass beides nicht mehr zu entwirren ist«,15 so die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt, die selbst zweieinhalb Jahre lang an der New Yorker Payne Whitney Psychiatric Clinic für Patienten Schreibkurse gegeben hat. Wie zahlreiche Autoren, Theatermacher, Literaturwissenschaftler und andere Wortkünstler war sie schon mehrfach zu Gast bei Rita Charons Narrative-Medicine-Workshops oder -Vortragsreihen.

»Three of the million windows in my house of fiction/self« (Drei der Millionen Fenster in meinem Haus der Geschichten/meines Selbst) Rita Charon

Interdisziplinäre Projekte, wie sie Rita Charon mit ihren Kollegen und auch die Wissenschaftler am Berliner Forschungskolleg Languages of Emotion betreiben, erscheinen vielversprechend. In derart produktiven Verknüpfungen literarischer und medizinischer Methoden zeigt sich nicht nur eine Perspektive für die Zukunft, sondern werden auch die verblassenden Umrisse eines traditionellen Ärztebildes deutlich.

Bis ins 19. Jahrhundert mussten sich Mediziner, um überhaupt zu einer Diagnose zu gelangen, auf das verlassen, was sie wahrnehmen konnten – also auf offensichtliche Symptome, ihre Beobachtungen am Krankenlager und nicht zuletzt auf die Berichte der Patienten. Der amerikanische Neurowissenschaftler Eric Kandel schreibt in seiner großen Studie über Das Zeitalter der Erkenntnis und die fundamentalen geistes- und naturwissenschaftlichen Veränderungen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts einsetzten: »Damals gehörten Natur- und Geisteswissenschaften noch nicht zwei verschiedenen Kulturen an; das Studium der Medizin war nicht nur wegen der heilenden Kräfte, die es verlieh, hoch angesehen, sondern auch wegen der umfassenden kulturellen Gelehrsamkeit, die es bot. Weil das Medizinstudium der beste Weg war, die natürliche Welt zu erforschen, studierten tatsächlich einige große Denker der französischen Aufklärung – Diderot, Voltaire und Rousseau – Medizin, um ihr humanistisches Wissen zu erweitern.«16

Medizin und Literatur haben sich schon immer gegenseitig angezogen. »Beide, der Arzt und der Schriftsteller, sind auf ihre Weise Fachleute für menschliches Leiden: der eine, indem er es behandelt, der andere, indem er es beschreibt«,17 bemerkt die Schweizer Journalistin Klara Obermüller in dem Sammelband Literatur und Medizin, der sich auch mit Poesie- und Bibliotherapie befasst. Vielleicht gibt es so auffallend viele dichtende Mediziner, weil das, was beide tun, so eng miteinander verwandt ist? Verbindet so unterschiedliche Schriftsteller wie Schiller, Tschechow, Schnitzler, Döblin und Benn ihr sezierender Blick auf das Innenleben ihrer Figuren? »Der Arzt und der Schriftsteller – sie rebellieren gegen die Vergänglichkeit. Sie haben stets das gleiche Ziel vor Augen: die Verteidigung des Lebens. Und einen gemeinsamen Feind: den Tod. So darf man denn sagen, dass sie Geschwister sind – die Medizin und die Literatur«,18 schrieb Marcel Reich-Ranicki in einem Aufsatz über diese Fachleute für menschliche Leiden.

Der Schriftsteller David Wagner erzählt in seinem Roman Leben von einer Organtransplantation, die er am eigenen Leib erfahren hat: »Es gibt Leberwurst zum Abendbrot, ein rundes Metalldöschen mit Foliendeckel liegt auf dem Tablett. Ausgerechnet Leberwurst. Leberwurst habe ich schon als Kind nicht gemocht. Angewidert schiebe ich die Packung zur Seite. Fünf oder sechs Tage nach einer Lebertransplantation – ist da Leberwurst nicht ein wenig rücksichtslos?« Wie ein Geschichtenhaus sei ihm das Krankenhaus vorgekommen, bemerkt Wagner in einem Interview.

Solange erzählt wird, ist man noch nicht tot, habe ich irgendwo gelesen.

Wobei sich aus der positiven Wirkung des Erzählens nicht automatisch ableiten lässt, dass auch der Akt des Lesens gesund ist. Aus der Perspektive eines Physiotherapeuten zum Beispiel kann Lesen gar nicht gesund sein. Schon allein das dauernde Sitzen: mit krummem Rücken an den Schreibtisch geklemmt oder halb liegend auf der Couch, tief versunken in fiktive Welten und darum völlig unerreichbar für das Knirschen und Stöhnen von Nacken- und Schultermuskulatur, Bandscheibe und Verdauungsorganen. Zwar ist den meisten Lesern die Idee bekannt, dass Körper und Geist eine harmonische Einheit bilden sollten, allerdings vor allem aus Philosophie und Literatur und weniger aus der Praxis.

Wer sein Leben den Büchern widmet, womöglich selbst welche schreibt, muss damit rechnen, dass sich all das Denken und Zweifeln nicht nur auf seine Psyche auswirkt, sondern auch im Körper zu wüten beginnt. Wie sonst wäre die epidemische Ausbreitung von Alkoholismus, Nikotinsucht und Polygamie unter Schriftstellern zu erklären? Natürlich wissen die meisten, dass diese anstrengenden Überlebensstrategien nicht spurlos an ihnen vorübergehen – wenn Dichter und Denker eines nicht sind, dann unreflektiert. Wahrscheinlich sind nicht wenige Geistesmenschen gerade deshalb mit einer Grundskepsis gegenüber gut aussehenden Menschen ausgestattet. In Robert Menasses Roman Sinnliche Gewißheit begegnet der Philosoph Roman Gilanian in einer Bar in São Paulo dem Model Alexandra. Von ihrer Schönheit provoziert, lässt er sich darüber aus, dass »nur die Dummheit zur Schönheit befähige, [die] ja nichts anderes sei als blinde Übereinstimmung mit dem äußeren Schein der Welt, was ein Gefühl von Harmonie schaffe, das sich natürlich auch physisch ausdrücke. Intelligenz hingegen sei Negation des äußeren Scheins, steter Widerspruch zu den Erscheinungen des äußeren Lebens, ›wie es eben ist‹, und dieses andauernde Spannungsverhältnis zum Leben grabe sich natürlich auch in die eigene physische Erscheinung ein, vor allem in die Physiognomie, oder, weil es ja wesentlich eine innere Spannung sei, in die inneren Organe, deren unharmonisches Funktionieren dann eben die äußere Gestalt des intelligenten Menschen verwüste.« Ein gut erfundener Trost für alle grauen, aber schlauen Bücherwürmer.

Ein geradezu allumfassend gelehrter Mediziner war der 1135 im andalusischen Córdoba geborene Maimonides. Er war in Philosophie, Recht und Astronomie bewandert, schrieb über die Grundlagen der Kalenderberechnung, über Logik und jüdische Glaubens- und Rechtsfragen. Vor allem aber galt er als größter Arzt seiner Zeit, der für seine Heilkunst über alle Maßen verehrt wurde. Ein arabischer Poet mit dem Namen al-Kadi al-Said (1156–1212) schrieb in einem Gedicht, Maimonides hätte selbst den Mond von seinen Flecken und Eklipsen geheilt, wenn der ihn um Hilfe gebeten hätte.

Maimonides gilt auch als bedeutender jüdischer Religionsphilosoph des Mittelalters, und sein Grab im israelischen Tiberias ist eine Pilgerstätte für gläubige Juden, die ihn unter dem Namen Rambam verehren, eine Abkürzung für Rabbi Moses Ben Maimon.

Nachdem Maimonides’ Geburtsstadt Córdoba 1148 an die Almohaden gefallen war, wurden Juden verfolgt und die Familie vor die Wahl gestellt, zum Islam überzutreten oder auszuwandern. Wie viele andere entschied sich Maimonides’ Familie für die Flucht, gelangte über Marokko nach Ägypten und ließ sich in Fustat nieder, heute ein Stadtteil Kairos. Hier wurde Maimonides rasch zum Oberhaupt der jüdischen Gemeinde und führte ein klassisches Gelehrtendasein. Doch dann kam sein Bruder, der die Familie als Juwelenhändler ernährt hatte, bei einem Schiffsunglück ums Leben, und die Aufgabe des Versorgers fiel ihm zu. Maimonides begann daraufhin, als Arzt zu arbeiten, und erwarb sich innerhalb kürzester Zeit einen so hervorragenden Ruf, dass ihn die angesehensten Familien konsultierten und er schließlich Hofarzt beim Nachfolger des legendären Sultan Saladin wurde.

Diese besondere Stellung bescherte ihm aber nicht gerade ein beschauliches Leben. Schon am frühen Morgen, schrieb Maimonides an einen seiner Übersetzer, wurde er im weit entfernten Palast erwartet. Dort hatte er den ganzen Tag zu bleiben, falls das Staatsoberhaupt, eines seiner Kinder, die Minister oder eine der Haremsdamen nur das kleinste Unwohlsein verspürten. Kehrte Maimonides am Nachmittag endlich nach Hause zurück, warteten bereits die nächsten Bedürftigen auf ihn: »Ich steige ab von meinem Reittier, wasche mir die Hände und widme mich meinen Patienten und bitte sie, ein leichtes Mahl mit mir zu teilen, das einzige, das ich innerhalb von 24 Stunden verzehre. Dann untersuche ich sie, schreibe Rezepte und gebe ihnen Anweisungen für die verschiedenen Krankheiten. Die Patienten kommen und gehen bis zum Sonnenuntergang, manchmal gar bis zur späten Nacht. Wenn es Abend wird, bin ich so müde, dass es mir kaum noch gelingt zu sprechen.«

In der medizinischen Praxis von Rabbi Moses Ben Maimon spiegeln sich die religiösen Überzeugungen seiner Zeit wider. Dazu gehörte, dass Gesundheit keinen Wert an sich darstellte. Ein gesunder Körper war vielmehr die Voraussetzung, um höhere Werte wie Weisheit, Tugendhaftigkeit und vor allem Gotteserkenntnis zu erlangen. Die vornehmste Aufgabe des Arztes bestand deshalb nicht darin zu heilen, sondern die Patienten zu einer sorgfältigen und ausgeglichenen Lebensführung anzuhalten. Dafür unerlässliche Maßnahmen erläutert Maimonides in seiner Diätetik für Seele und Körper (Regimen Sanitatis), die er auf Wunsch des Sultans al-Afdal, eines Sohnes Saladins, verfasste. Auf die Krankheiten seines Patienten, der unter anderem unter Verstopfung und Melancholie litt, geht Maimonides aber nur im dritten Teil dieser Schrift ein und erläutert ansonsten allgemeingültige und gut verständliche Regeln für ein gesundes Leben. Sicher wurde diese Schrift auch deshalb innerhalb kürzester Zeit sehr bekannt: Sie diente während des ganzen Mittelalters als Lehrstoff an Akademien und Universitäten, wurde ins Hebräische und Lateinische übersetzt und vielfach in anderen medizinischen Werken zitiert. Auch wenn die medikamentösen Anordnungen aus Maimonides’ Abhandlung heute weitgehend veraltet sind, liest sich sein Werk noch immer wie ein praktischer Wegweiser zu gelungener Lebensführung. Ganz besonders, wenn er sich Gedanken über die richtige Einstellung des Arztes zum Patienten macht oder darüber sinniert, wie sich die psychische Gesundheit am besten erhalten lässt. So rät der Mediziner seinen Kollegen, die Patienten nicht nur durch gute Ernährung zu stärken, sondern er empfiehlt auch, alles anzuwenden, was die Stimmung hebt, also Düfte, Musik, Literatur, Gymnastik, kurz: eine Art philosophisch-psychologisches Training zur Unterstützung des körperlichen und seelischen Wohlbefindens: »Man vergesse ferner nicht, die vitalen Kräfte anzuregen, durch Instrumentalmusik, durch Erzählung für den Kranken erfreulicher Geschichten, die seine Seele erfreuen und seine Brust tiefer atmen lassen, durch humoristische Neuigkeiten, die ihn ablenken, über die er mit der Gesellschaft lache. Man wähle ferner als Pfleger eine Person, die ihm angenehm ist.«19

Mehr als hundert Jahre später, 1272, empfahl das Hospital des Kalifen Al Mansur in Kairo Lesungen des Korans als Teil der medizinischen Behandlung. Neben der medizinischen und chirurgischen Versorgung hielt man Priester bereit, die »Tag und Nacht Patienten den Koran vorlasen, die zuhören wollten; für schlaflose Patienten wurden Musik und Geschichtenerzählen angeboten«.20 Die Überzeugung, dass geistige Sammlung und Zerstreuung die Genesung fördern, war offenbar äußerst modern.

Aus heutiger Sicht wirken Maimonides’ Empfehlungen wie eine Vorwegnahme psychologischer Erkenntnisse. Wenn er erklärt, der Arzt habe die Aufgabe, »die seelischen Affekte, die zu Unrast führen« zu verscheuchen, besonders »wenn es sich um Kranke handelt, die an seelischen Störungen beziehungsweise an durch diese bedingten Organstörungen leiden«,21 dann scheint selbst Freud nicht mehr weit.

WENN ICH NICHT SCHREIBE, VERLIERE ICH DEN VERSTAND

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