Lob der schlechten Laune - Andrea Gerk - E-Book

Lob der schlechten Laune E-Book

Andrea Gerk

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Beschreibung

Schlechte Laune ist viel besser als ihr Ruf. Sie ist die Grundtemperatur umtriebiger Schnelldenker, Inspirationsquelle für Künstler und Alltagsphilosophen, geistige Nahrung für Melancholiker und Romantiker. Gäbe es keine schlechte Laune, hätten wir keinen Schopenhauer, keinen Thomas Bernhard, keinen Dagobert Duck und keine Komödien mit Jack Nicholson. Andrea Gerk liefert ein buntes Potpourri aus unterhaltsamen und anregenden Beispielen rund um diese unterschätzte Gemütslage. Sie erkundet die Frage, warum mürrische Helden in Literatur und Film so unterhaltsam sind, fragt Psychologen wo die Grenze zwischen leisem Unmut, wildem Groll und ausgewachsener Cholerik verläuft, spricht mit Philosophen über die produktive Kraft der Übellaunigkeit, sieht professionellen Missmuts-Experten im Hotel bei der Arbeit zu, entdeckt eine Schimpfwortkünstlerin und stellt sich mit Hilfe eines Yoga-Gurus auf den Kopf, um dem Wesen der schlechten Laune auf die Spur zu kommen.

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Seitenzahl: 345

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Andrea Gerk arbeitet als Autorin und Moderatorin für öffentlich-rechtliche Radiosender und hat 2015 das Buch Lesen als Medizin bei Rogner & Bernhard veröffentlicht. Sie hat viele Jahre in Wien verbracht und lebt in Berlin, was sie als Expertin für schlechte Laune besonders qualifiziert.

ÜBER DAS BUCH

Ohne schlechte Laune wäre das Leben halb so lustig. Sie ist die Grundtemperatur umtriebiger Schnelldenker, Inspirationsquelle für Künstler und Alltagsphilosophen, geistige Nahrung für Melancholiker und Romantiker. Ohne sie wäre das Leben ein Einerlei aus Langeweile und Stillstand. Denn ein zufriedener Mensch denkt nicht, sondern liegt in der Hängematte und genießt sein Glück. Gäbe es keine schlechte Laune, hätten wir keinen Schopenhauer, keinen Thomas Bernhard, keinen Dagobert Duck und keine Komödien mit Jack Nicholson.

»Jeder Mensch hat ein Recht auf schlechte Laune. Man sollte das in die Verfassung aufnehmen.«Georges Simenon

»Ein jeder intelligente Mensch ist ein Pessimist.«Ödön von Horváth

»Das Leben hat an und für sich nur lauter Nachteile.«Thomas Bernhard

»Und von mir aus kannst du so mürrisch sein, wie du willst. Auch das hat seinen Wert.«

KARL OVE KNAUSGÅRD: KÄMPFEN

»Guten Morgen, I-Ah«, sagte Pu.»Guten Morgen, Pu Bär«, sagte I-Ah düster. »Falls es ein guter Morgen ist«, sagte er. »Was ich bezweifle«, sagte er.»Warum, was ist denn los?«»Nichts, Pu Bär, nichts. Nicht jeder kann es, und mancher lässt es ganz. Das ist der ganze Witz.«»Nicht jeder kann was?«, sagte Pu und rieb sich die Nase.»Frohsinn, Gesang und Tanz. Ringel Ringel Rosen. Darf ich bitten, mein Fräulein.«»Aha!«, sagte Pu.

A.A. MILNE: PU DER BÄR

1. Knurrigkeit statt Zwangsoptimismus

»Jeder Mensch hat ein Recht auf schlechte Laune. Man sollte das in die Verfassung aufnehmen.«

GEORGES SIMENON

Die letzten Sommerferien unserer Schulzeit verbrachten meine Freundin Eva und ich in der Gaststätte eines Badesees, um das Geld für unseren ersten elternfreien Urlaub zu verdienen. Während alle anderen ausschliefen, fuhren wir jeden Morgen auf unseren Mofas an den See, stopften die Haare unter hygienisch einwandfreie Kopftücher und gingen ans Werk. Eine half in der Küche, Hunderte von Schnitzeln zu panieren, die andere stand in dem zur Wirtschaft gehörenden Kiosk hinter der Theke. Am nächsten Tag wurde gewechselt.

Dieser Kiosk, in dem Badegäste und Campingplatzbewohner Süßigkeiten, kalte Getränke, einzelne Klopapierrollen und sonntagmorgens auch frische Brötchen kaufen konnten, war eine Art Gravitationszentrum negativer Energien. Hier entlud sich alles, was ansonsten, weil ja Ferien waren, unterdrückt werden musste. Womöglich bildeten sich auch wegen des kathartischen Potenzials dieses Ortes regelmäßig lange Schlangen vor dem kleinen Häuschen.

Welche Dramen sich unter den Wartenden abspielten, bekamen wir meist nur am Rande mit oder bei Totaleskalation, wenn es zu Handgreiflichkeiten kam.

Aber auch drinnen war in dieser Hinsicht genug los. Bestellte einer der Badehosenträger ein Bier, galt es etwa zehn Meter in den hinteren Teil des Kiosks zu gehen, die Flasche aus dem Kühlschrank zu nehmen und wieder zurückzulaufen. Kaum war das erledigt und kassiert, verlangte der Nächste ebenfalls ein Bier, und das Ganze wiederholte sich. Orderte nun ein bis dahin versteckter Dritter noch mal das Gleiche, begann es unter unseren blütenweißen Kopftüchern zu köcheln. Die Flasche knallte auf die Durchreiche, die Männer lachten, wir fauchten: »Könnt ihr nächstes Mal gleich zusammen bestellen?!«, was sie mit beschwichtigenden Grunzlauten quittierten. Manche äußerten ihre Wünsche auch absichtlich nacheinander und amüsierten sich über unseren anschwellenden Ärger.

Der Sommerkiosk war ein Zentrum schlechter Laune, die sich wellenartig hochschaukelte und zuweilen in wüsten Beschimpfungen und Unmutsbekundungen entlud. War diesbezüglich alles gesagt, gab man sich wieder seinen Urlaubsgefühlen hin, als wäre nichts gewesen. Was genau genommen ja stimmte. Auch wir fanden es nicht weiter schlimm, unsere Tage in diesem Missmutsinferno zuzubringen. Gut gelaunt waren wir nach Feierabend, und zwar ziemlich gut, schließlich hatten wir unseren Ärger bereits an den Badegästen ausgelassen. Die saßen nun ebenfalls entspannt vor ihren Zelten oder Wohnwagen, grillten Würstchen und waren froh, ihren latenten Groll bei uns losgeworden zu sein. Ohne etwas dicke Luft zwischendurch wären die penetrant schönen Sommertage unerträglich langweilig gewesen.

Damals, als die politischen Blöcke noch klar erkennbar waren, man mit der Jugendgruppe zur Friedensdemo nach Bonn fuhr und die Eltern Franz Josef Strauß wählten, schien niemand schlechte Laune besonders schlimm oder überhaupt bemerkenswert zu finden. Man nahm sie hin wie den institutionalisierten Frohsinn im »Komödienstadl«, »Ohnsorg-Theater« oder im heimischen Partykeller und war dankbar, dass es Orte gab, an denen sie gut aufgehoben war wie am Badesee, im Bierzelt, am Stammtisch, bei der Arbeit oder im Kreis der Familie.

»Die Väter, Gastwirte, Lehrer, Handwerker und Landwirte, waren in dieser Zeit brummelige schweigsame Männer, die immer arbeiteten und kaum Verständnis für die Konsum- und Freizeitwünsche ihrer Kinder zeigten. Sie ›bruddelten‹ eigentlich nur den ganzen Tag, das heißt, sie schimpften ständig schlecht gelaunt vor sich hin, das Beste war, man ging ihnen so gut wie möglich aus dem Weg«, erinnert sich die Musikerin Christiane Rösinger in ihrem autobiografischen Buch Das schöne Leben. Womöglich war Fernsehvater Alfred Tetzlaff alias Ekel Alfred deshalb so erfolgreich, weil sich die halbe Nation darüber amüsierte, einen Doppelgänger ihres Ehemanns, Vaters oder Kollegen auf dem Bildschirm herumnörgeln zu sehen, der noch dazu in größtmöglichem Kontrast zu Stimmungskanonen wie Heinz Schenk, Willy Millowitsch und Peter Alexander stand.

Schlechte Laune prägte aber nicht nur das Grundbefinden der männlichen Bevölkerung. Auch alte Leute, von der eigenen Lieblingsoma abgesehen, präsentierten sich vorwiegend als ungenießbare Murrköpfe. Zu jeder ordentlichen Dorfgemeinschaft gehörten dunkel gekleidete Figuren, die knorzige Krückstöcke schwangen und aus zahnlosen Mündern unverständliche Schimpftiraden krächzten, sobald sich Kinder ihren Häusern näherten. Sie erinnerten an die Struldbrugs, jene verbitterten unsterblichen Wesen, von denen Jonathan Swifths Gulliver auf seinen Reisen beim Volk der Luggnaggier hört: »Sie seien nicht nur halsstarrig, mürrisch, gierig, verdrießlich, eitel und geschwätzig, sondern keiner Freundschaft fähig und für alle natürliche Zuneigung tot, die niemals weiter reiche als bis zu ihren Enkeln. Neid und ohnmächtige Wünsche seien ihre vorherrschenden Leidenschaften. Die Dinge aber, auf die sich ihr Neid in der Hauptsache zu richten scheint, sind die Laster der Jüngeren und das Sterben der Alten.«1

Innerhalb der Familie war die Rolle des Griesgrams ebenfalls fest besetzt: Irgendein verwitweter Onkel oder eine unverheiratete Tante saß bei jeder Familienfeier mit verdrießlichem Gesicht dabei, sagte kaum etwas, und wenn, dann nur galliges Zeug. Es waren Furcht einflößende Wesen, deren eigentümliche Gemütsverfassung aber alle respektierten wie beim mürrischen Alm-Öhi aus dem Kinderbuchklassiker Heidi. Unvorstellbar, dass jemand versucht hätte, diese brummigen Gestalten aufzuheitern oder ihnen ihre schlechte Laune auszureden. Die meisten hatten einiges mitgemacht, und da sie außer Langeweile, Siechtum und Tod nicht mehr viel vor sich hatten, auch allen Grund, schlecht gelaunt zu sein.

Heute kann man kaum noch in Ruhe schlecht gelaunt sein, für jede Stimmungsflaute muss man sich rechtfertigen, und die knurrigen Gesinnungsgenossen von früher trifft man fast nur noch in Film und Literatur. Das Alter ist zu einer Art zweiten Jugendzeit geworden, bevölkert von bunt gekleideten Senioren, die vor Unternehmungslust strotzen. Väter »bruddeln« nicht mehr, sondern buddeln emphatisch mit ihren Kindern im Sand, Verkäufer begrüßen einen nach amerikanischer Art überschwänglich wie einen alten Freund. Wer schwer erkrankt, soll darin eine Chance zur persönlichen Weiterentwicklung sehen, und schnappt einem jemand den Parkplatz vor der Nase weg, soll man ihm noch dazu gratulieren.

»Wir leben in der Diktatur der Positivität«, schreibt Tobias Haberl in der Süddeutschen Zeitung. »Alles Dunkle soll hell, alles Gefährliche abgeschafft, alles Triebhafte reguliert, alles Melancholische heiter gemacht werden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts muss alles sympathisch und sonnig und gut gelaunt sein, jede Wohnung, jeder Moderator, jede Zeitschrift. […] Das Leben kommt mir vor wie eine viel zu gesunde Rhabarbersaft-Schorle, auf jeden Fall wie eine halbe Sache, weil irgendwie nur noch die eine, die positive Hälfte stattfinden darf.«2

Die andere schlecht gelaunte Hälfte passt nicht ins kollektive Wohlfühlprogramm und in einen auf ökonomische Effizienz und emotionale Reibungslosigkeit angelegten Alltag. Womit kein nostalgisches Loblied auf die gute alte Schlechte-Laune-Zeit angestimmt werden soll. Gefühle und Stimmungen sind vergänglich, auch in der historischen Zeit. Empfindungen wie Scham, Ehre, Mitleid haben emotionale Konjunkturen, die viel über Gesellschaften und ihren Wandel aussagen, so die Historikerin und Emotionsforscherin Ute Frevert.3 Was also bedeutet es, wenn wir allzeit gut drauf sein sollen, stets mit uns im Reinen, ausgeglichen und zufrieden? Welches Menschenbild steckt dahinter, wenn in den USA, wo der pursuit of happiness, das Streben nach Glück sogar in der Verfassung verankert ist, Leuten wegen ihrer angeblich negativen Arbeitseinstellung gekündigt werden kann und Motivationstrainer predigen, sich von komplizierten Personen möglichst rasch zu verabschieden, um keine Zeit mit Negativem zu verschwenden? Natürlich ohne dazuzusagen, wo pubertierende Kinder oder störrische Alte nach so einer beherzten Trennung eigentlich hinsollen. Auch in den sozialen Netzwerken soll der Daumen nur nach oben zeigen. Als Facebook-User vor einigen Jahren massenweise einen »Dislike«-Button forderten, erklärte Mark Zuckerberg, man wolle Miesepetern keine Plattform bieten.4

Ähnlich wie Heimweh, Sehnsucht oder Langeweile ist schlechte Laune zu einer altmodischen Angelegenheit für komische Kauze, Ewiggestrige und unbelehrbare Sturköpfe geworden, die sich den Bekehrungsversuchen der Wohlfühlideologen verweigern. Und ist das nicht auch gut so?

Sollen die Griesgrame und Stinkstiefel in ihren düsteren Kämmerchen miesepetrig sein, während alle anderen in das Gute-Laune-Mantra »Jede Zelle meines Körpers ist glücklich« einstimmen und nur sich selbst und ihren Mangel an positiver Lebenseinstellung dafür verantwortlich machen, wenn etwas schiefgeht. Weshalb soll man sich für einen so unzeitgemäßen und zwiespältigen Gemütszustand interessieren, dessen Ausdrucksformen eher unangenehm sind, der hochgradig ansteckend und doch zu flüchtig und diffus ist, um Mentalitätsforscher, Kulturhistoriker oder Therapeuten für sich einzunehmen? Nicht mal Wikipedia interessiert sich für das Stichwort »schlechte Laune«.

Weil sich das, was wir leichtfertig als schlechte Laune abtun, bei genauerer Betrachtung als wahre Wundertüte erweist. Zügellos und anarchisch, wie sie ist, kann sie ein massives Schutzschild gegen leere Glücksversprechen sein, die alle Verantwortung dem Einzelnen zuschieben, ohne die Gesellschaft oder den Zufall noch als Verursacher in Betracht zu ziehen. Schlechte Laune kann eine Form von emotionalem Widerstand sein, ein Aufbegehren gegen die vermeintliche Kalkulierbarkeit unserer Psyche: Als unkontrollierte, unangemessene Reaktion kann sie zum fruchtbaren Störfall werden, der einer durchrationalisierten Gesellschaft, in der Algorithmen das Gefühlsleben berechnen, Apps wie »I Feel« emotionale Botschaften standardisieren und eine Wellnessideologie für die Steigerung des persönlichen Marktwerts sorgt, ganz guttut.

Im besten Fall kann schlechte Laune eine Form produktiver Kritik an der Arbeitswelt, der Familie, den (emotionalen) Zumutungen der modernen Konsumwelt sein. Auch wenn sie nicht sofort praktikable Alternativen mitliefert oder auf die Verwirklichung einer konkreten Utopie abzielt, sondern eher mit leisem Grummeln am Bestehenden rüttelt wie ein sanftes Beben.

Wischt man diese Stimmung einmal nicht wie Staub vom Tisch, entfaltet sie einen ungeahnten Zauber. Auch Staub hat einen miserablen Ruf. Er ist lästig, löst allergische Reaktionen aus und kann, falls er radioaktiv, quarz- oder asbesthaltig ist, schwere Krankheiten verursachen. Deshalb versucht die Menschheit erfolglos, die feinen Partikel per Verordnung in ihre Schranken zu weisen. Aber Staub ist stärker als jeder Lappen, und er wird noch durch die Stratosphäre schweben, wenn sich auf der Erde längst nichts mehr tut. Genau wie schlechte Laune, die ausnahmslos jeden überkommen kann, mag er sein Gemüt noch so eifrig auf Hochglanz polieren.

Ohnehin bedarf es nur einer minimalen Verschiebung der Perspektive, um in diesen so unscheinbaren wie omnipräsenten Phänomenen nicht nur anarchische Widerstandskraft, sondern auch Schönheit, kreatives Potenzial und einen hohen Unterhaltungswert zu entdecken.

Der britische Künstler Paul Hazelton verarbeitet flüchtige Stoffe, die menschliche Lebewesen absondern, wie Haare, Dreck, Staub, und fertigt daraus filigrane Skulpturen. Sein texanischer Kollege Scott Wade verwirklicht sich als »Dirty Car Artist«, indem er Meisterwerke wie Leonardo da Vincis Mona Lisa oder auch ein Porträt von Albert Einstein in die verstaubten Heckscheiben schmutziger Autos zeichnet. Die monochrom anmutenden Aquarelle des Italieners Luca Vitone verdanken ihre gedeckte Farbigkeit dem Inhalt von Staubsaugerbeuteln aus Institutionen wie dem Bundestag oder der Bundesbank, und der schwäbische Bildhauer Wolfgang Laib wurde 2015 für seine leuchtenden Blütenstaubelegien mit dem Nobelpreis der Künste, dem Praemium Imperiale ausgezeichnet. Es gibt sogar zwei Staubsammler, die sich seit Jahren darum streiten, wessen Kollektion die einzig wahre ist.

Staub beflügelt aber nicht nur Künstler und Sammler, sondern auch die Natur. Den rötlichen Abendhimmel, den so viele Dichter besungen haben, verursachen Staubpartikel in der Atmosphäre, die dafür sorgen, dass hauptsächlich rote Lichtanteile bis zur Erde durchdringen. Meist unsichtbare Mikroteilchen werden Tausende von Kilometern über die Erde geweht, um Mineralstoffe zu transportieren, die auf anderen Kontinenten für die nötige Düngung sorgen. Dieser luftgetragene Staub ist eine Art fliegender Zoo voller Lebewesen, Keime und Pollen.

So gesehen, ist eine staubfreie Umgebung weder realistisch noch erstrebenswert. Genau wie ein Leben ohne schlechte Laune. Denn diesem energiegeladenen, unzeitgemäßen Gefühlsgemisch verdanken wir nicht nur die unterhaltsamsten Filmkomödien, Popsongs, Comics, Romane und Kinderbücher, sondern auch große Erfindungen, bahnbrechende Erkenntnisse und hin und wieder einen ordentlichen Adrenalinstoß, der uns im Alltagstrott wachrüttelt.

Als »Geisteshaltung«, wie Grumpy Cat, die millionenschwere Katze mit dem mürrischen Gesicht, ihren Zustand mal beschrieben hat, erhöht schlechte Laune nicht nur nachweislich die Aufmerksamkeit und verbessert das Denken, sie ist oft die einzig natürliche Reaktion auf die Fährnisse des Daseins. Oder um es mit Arthur Schopenhauer, dem Schutzpatron aller Übellaunigen, zu sagen: Es gibt kein geglücktes Leben, nur ein Leben, das stets daran gehindert wird, zu glücken. Allein deshalb schreiben wir dem gelungenen Moment eine so große Bedeutung zu. »Verweile doch, du bist so schön«, ruft man nur dann aus vollem Herzen, wenn einem bewusst ist, dass der Normalzustand eher trübe ist.

Eine gewisse Unstimmigkeit oder Unzufriedenheit ist noch dazu Voraussetzung, um überhaupt ins Grübeln, Reflektieren und Philosophieren zu kommen. Anders, als es der Mythos vom musengeküssten Genie will, ist kreative Arbeit nämlich ganz schön anstrengend und von schweren Schlechte-Laune-Anfällen durchsetzt. Wer gut drauf ist, schreibt keine Kritik der reinen Vernunft, sondern kauft sich ein Eis und legt sich in die Hängematte. Oder wie mir der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann sagte: »Wer sich freut, denkt nicht.«

Sicher sind knurrige Zeitgenossen besonders für ihr näheres Umfeld lästig und mühsam. Wird schlechte Laune chronisch, also habituell oder pathologisch, verliert sie ohnehin ihre Produktivkraft. Ein ständig schlecht gelaunter Mitmensch, der an nichts mehr Spaß hat, verdirbt auch allen anderen die Lebensfreude. Wohin das führen kann, berichtet der Mediziner Fritz Wiedemann in einem frühen Ratgeber, dem 1953 erschienenen Buch Müde Menschen. Heilung der Zeitkrankheiten Müdigkeit, Erschöpfung, Depression, schlechte Laune: »Eine Frau muss sich erbrechen, wenn sie das mürrische Gesicht ihres Mannes sieht, ein Straßenbahnschaffner nimmt sich sogar das Leben, weil er das Genörgel seiner Frau nicht mehr erträgt.«5

So etwas mag es geben. Es kann aber auch ziemlich aufschlussreich sein, einfach mal nachzufragen, warum jemand so garstig auf einen reagiert. Mit etwas Glück erfährt man etwas Anregendes über sich oder dazu, wie man die Welt auch wahrnehmen kann.

Wobei es sich bei derartigen Extremformen von Missmut auch nicht wirklich um schlechte Laune handelt, sondern eher um eine ernsthafte Depression oder einen hoffnungslosen Fall. Auch ein Kellner, der seinen Gästen das Essen auf den Tisch knallt, anstatt höflich zu servieren, dürfte weniger unter schlechter Laune als am falschen Beruf leiden. Und gesellschaftliche Gruppierungen, die sich in ihrem Beleidigtsein zusammenrotten (siehe Pegida & Co) und allen anderen die Schuld an ihrer vermeintlichen Benachteiligung geben, schreien nur auf verquere Weise nach Aufmerksamkeit.

Derartige Motive sind der guten schlechten Laune vollkommen egal. Niemals würden sich ihre Exponenten in Gruppen oder einem Verein zusammenschließen, das widerspräche zutiefst der streng individualistischen Verfasstheit dieser Gemütslage.

Schlechte Laune lässt sich nicht mit anderen teilen, dazu ist sie auch viel zu flüchtig. Bis man im Vereinsheim angelangt wäre, hätte sich der ganze Verdruss längst in nichts aufgelöst. Abgesehen davon, hat man ja meist wegen anderer Menschen, ihren lästigen Angewohnheiten, unangenehmen Gerüchen und den quälenden Geräuschen, die sie produzieren, so eine miese Stimmung. Deren Funktion besteht dann wiederum darin, die Verursacher in einen erträglichen Abstand zu bringen.

»Schlechte Laune hat ein schlechtes Image, warum eigentlich? Mühelos sind damit andere auf Distanz zu halten«, twittert der Philosoph Wilhelm Schmid. Wer grummelig, miesepetrig, mürrisch oder verdrießlich ist, will seine Ruhe haben, vor anderen und nicht zuletzt vor sich selbst.

Schlechte Laune ist auch deshalb nicht zur Vereinsbildung geeignet, weil zwar alle wissen, was damit gemeint ist, aber jeder etwas anderes darunter versteht. Sie ist weniger ein klar definierbares Phänomen als ein dehnbarer Begriff, mit dem sich ein verwirrend breites Spektrum emotionaler Reaktionen fassen lässt: Den einen freut nichts, der andere ärgert sich über einen Fehler, ein Dritter bekommt schlechte Laune, weil er mit einem Projekt nicht vorankommt, sein Zimmer aufräumen soll, Stress auf der Arbeit oder Beziehungsprobleme hat. Und der Vierte weiß selbst nicht, was eigentlich mit ihm los ist. Stellt sich schlechte Laune derart grundlos, als milde Verzweiflung am Weltzustand ein, ähnelt sie ihrer viel beschriebenen Schwester, der Melancholie. Dann erzeugt sie zuweilen einen von milder Düsternis durchdrungenen Echoraum auf die Beschwernisse des Daseins, einen heimeligen Zustand der Fülle und Leere zugleich, der sehr erhellend und inspirierend sein kann. Genau wie die Langeweile, von der Walter Benjamin schrieb, sie sei »ein warmes graues Tuch, das innen mit dem glühendsten, farbigsten Seidenfutter ausgeschlagen ist. In dieses Tuch wickeln wir uns, wenn wir träumen.«6

In diesem Modus kann die schlechte Laune zum Traum der Wachen und unzufriedenen Schnelldenker, der besessenen (Lebens-)Künstler, innovativen Problemlöser und Alltagsanarchisten werden. Äußerlich mögen sie griesgrämig, kantig und grau wirken, doch in ihrem Inneren brennt nicht selten ein funkelndes Feuerwerk, wie man an chronischen Grantscherben wie Arthur Schopenhauer, Isaac Newton, Ludwig van Beethoven, Thomas Bernhard, Lou Reed oder Helmut Schmidt sehen kann; aber auch an fiktiven Querköpfen wie Charlie Brown und Lucy van der Pelt, Privatdetektiv Simon Brenner und seiner Kollegin Bella Block, an Ekel Alfred, Dr. Gregory House oder Oscar the Grouch, dem zufrieden in seiner Mülltonne vor sich hin grummelnden Griesgram aus der Sesamstraße.

Neben der eher passiven Version schlechter Laune, die meist einen Hang ins Melancholische hat, gibt es auch die aktive Variante des sich permanent beklagenden, unzufriedenen Misanthropen. In der Literatur wird dieser Typus von Molières Alceste oder Thomas Bernhards Theatermacher Bruscon ebenso verkörpert wie von Shakespeares Bösewichtern Richard III., Shylock oder Iago, die von tiefem Groll getrieben sind. Anders als die sehnsüchtig-verstimmten Melancholiker in den Stücken Anton Tschechows oder deren antriebslos phlegmatischer Landsmann Oblomow.

Im Alltag kann sich die eher eruptive Form von schlechter Laune manchmal ziemlich gut anfühlen. Oder weshalb feiern Menschen Familienfeste und drängeln sich samstags freiwillig durch die Fußgängerzone? Überfüllte Kaufhäuser, der öffentliche Nahverkehr, die endlosen Staus zu Ferienbeginn und -ende und andere Brennpunkte des kollektiven Missmuts bieten ein latentes Reizklima, in dem es stimmungsmäßig schnell zur Sache geht. Und genau deshalb suchen alle diese Zentren der Übellaunigkeit auf.

Wenn der Ärger blitzschnell die neuronale Zündschnur hochbrennt, man einer mentalen Inkontinenz gleich nicht mehr an sich halten kann, weil eine geheimnisvolle Macht einem den Stecker zieht, ist auf einen Schlag alles, was unsere Mütter uns in mühevoller Kleinarbeit beigebracht haben, gelöscht, und ein ungezähmter Wilder schlägt das domestizierte Über-Ich k.o. Im besten Fall führt das zu literarisch hochwertigen Hasstiraden auf die »schamlose und unverbesserliche« Wirklichkeit, in die der österreichische Schriftsteller Werner Kofler seinen Zorn gegossen hat, man wirft mit Hausschuhen nach den Dienstboten wie Ludwig van Beethoven oder exekutiert Teekannen und Füllfedern wie Heimito von Doderer. Kurz, wir sind für einen wohltuenden Moment wieder da, wo wir alle herkommen: daheim im Neandertal.

Von dort, wo sich nach dem Gefühlssturm eine tiefe Ruhe ausbreitet, kann es wieder losgehen mit dem Erfinden, Dichten, Komponieren und den Alltag Organisieren. Denn das Schönste an der schlechten Laune ist, sagt meine zehnjährige Tochter, dass man nachher keine mehr hat. Zumindest erst mal.

2. Grumpy Old Men. Schlechte Laune ist unterhaltsam

»Das Leben hat an und für sich nur lauter Nachteile.«

THOMAS BERNHARD

Ove ist ein grauer alter Mann. Jeden Morgen patrouilliert er durch sein Viertel und prüft, ob die Garagen ordentlich verschlossen sind. Stellt ein Jugendlicher sein Fahrrad unerlaubt ab, wird es von Ove konfisziert, und selbst bei Krankentransporten besteht er auf Einhaltung des Fahrverbots innerhalb seiner kleinen schwedischen Vorortsiedlung. Ove duldet keine Regelübertretungen. Der 59-jährige Witwer in seinem schlecht sitzenden Anzug ist ein mürrischer Pedant, der am liebsten den Gehweg unter Strom setzen würde, um dem kleinen Hund seiner Nachbarin das Pinkeln ein für alle Mal abzugewöhnen.

Ove ist eine Erfindung von Fredrik Backmann, dessen Roman Ein Mann namens Ove ihn zum erfolgreichsten schwedischen Autor des Jahres 2015 machte. Die Verfilmung sahen 1,6 Millionen Schweden, also rund zwanzig Prozent der Bevölkerung, und auch in Deutschland verkaufte sich die Geschichte des gnadenlosen Prinzipienreiters ausgesprochen gut. »Alle lieben Ove« lautete der Werbeslogan für die deutsche Buchausgabe, was die Frage aufwirft: Warum lieben alle einen kleingeistigen, unsympathischen Spießer, den man auf keinen Fall als Nachbarn haben möchte?

Im fiktiven Leben, also in Literatur, Film oder Theater, genießen wir es, schlecht gelaunten Stinkstiefeln dabei zuzusehen, wie sie ihre Mitmenschen drangsalieren. Mürrische alte Männer bestreiten in Hollywood ein eigenes Genre. Walter Matthau und Jack Lemmon schufen 1968 mit der Komödie Ein seltsames Paar (im Original Grumpy Old Men) einen Evergreen, in dem der Ordnungsfanatiker und Hypochonder Felix vorübergehend bei seinem Freund, dem lässigen Sportreporter Oscar, einzieht und dessen Nervenkostüm durch seine Schrullen strapaziert.

Einige Schauspieler sind auf missmutige Charaktere geradezu abonniert wie Bill Murray, der als griesgrämiger Wettermoderator Phil in der Komödie Und ewig grüßt das Murmeltier ebenso überzeugt wie als ironischer Melancholiker in Sofia Coppolas Film Lost in Translation. Die Französin Isabelle Huppert bedient virtuos sämtliche Facetten gereizter, man könnte auch sagen, zickiger Frauenfiguren, und ihr amerikanischer Kollege Jack Nicholson bestreitet große Teile seines Spätwerks als launischer Chefgrantler in Tragikomödien wie Besser geht’s nicht oder About Schmidt, in dem der Regisseur Alexander Payne sehr frei nach einem Roman von Louis Begley die Geschichte des in unterdrückter Wut erstarrten Oberspießers Warren Schmidt erzählt.

Josef Hader spielt den Privatdetektiv Brenner in den Verfilmungen von Wolf Haas’ Kriminalromanen als depressiv getönten Mieselsüchtigen und nennt als Vorbilder für diese Rolle die lakonischen Darstellungen Lino Venturas und den trotzig wortkargen Gene Hackman. Der österreichische Regisseur David Schalko hat Fernsehserien wie Braunschlag und Altes Geld gedreht, in denen es so gut wie keine gut gelaunten oder sympathischen Figuren gibt und die in seiner Heimat Kultstatus haben.

Die Sympathie der Zuschauer für missmutige Charaktere ist aber nicht nur in unserer Zeit groß. Bereits in den 1970er-Jahren war die Serie Ein Herz und eine Seele ein Straßenfeger, deren Hauptfigur Alfred Tetzlaff als »Ekel Alfred« in die Fernsehgeschichte eingegangen ist: ein ständig nörgelnder, aggressiv lästernder, permanent unzufriedener Kleinbürger, der seine Frau wie ein Dienstmädchen behandelt und Tochter und Schwiegersohn als Störfälle der häuslichen Ordnung wahrnimmt.

Viele Fans hatte auch die mürrische Hausmeisterin Else Kling aus der Lindenstraße, wenn auch nicht ganz so viele wie der Vater aller grantigen Kleinbürger, der österreichische Schauspieler Hans Moser, der schon in der Schwarz-WeißFilm-Ära ständig vor sich hin schimpfende Kellner und Kleinbürger so famos verkörperte, dass man meinen möchte, ihm sei das schöne Verb herummosern zu verdanken (das aber vom jiddischen massern = ausplaudern, verraten abstammt). Ihm sowie dem französischen Obercholeriker Louis de Funès, dem neapolitanischen Schauspieler Totò und dem US-amerikanischen Komiker W.C. Fields widmete das österreichische Filmmuseum die Reihe Der große Grant, die nicht zuletzt das Subversive der beflissenen Kleingeister, auf die diese Schauspieler abonniert waren, verdeutlichte.

Beinahe alle Kommissare – ob sie im Tatort ermitteln, in Bella Block, im Polizeiruf 110 oder bei den ins Melancholische gekippten skandinavischen Kollegen wie Wallander – sind permanent schlecht gelaunt und thematisieren diesen Zustand auch gern. Häufig, um ihr nicht vorhandenes Privatleben zu erklären. Wobei meist offenbleibt, ob zuerst die gute Laune oder der Partner weg war. Im Tatort Die Geschichte vom bösen Friederich mit den Frankfurter Ermittlern Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch) fragt die Kommissarin ihren Kollegen: »Sie und diese Sabrina, ist das eigentlich was Ernstes?« Statt direkt zu antworten, fragt Brix seine Kollegin, weshalb sie eigentlich zur Mordkommission gekommen sei: »Sie werden nie wieder eine Beziehung haben, die diesen Namen auch verdient. Das ist einfach nicht möglich. Dieser Beruf macht dich am Ende einsam. Wer will schon mit jemandem zusammen sein, der immer zu spät kommt und dann auch noch schlecht gelaunt ist. Also fragen Sie mich bitte nie wieder, ob ich mit jemandem zusammen bin!«

Sowenig sie für die Liebe taugen, so beliebt sind diese mürrischen Verfechter von Wahrheit und Gerechtigkeit beim Publikum: einsame Kämpfer für das Gute in der haltlosen Welt, die sie und uns alle umgibt.

Auch die Tatsache, dass »Elizabeth Windsor« auf Twitter 1,2 Millionen Follower hat, weist auf eine gewisse Sehnsucht nach Muffeligkeit hin. Denn die Kunstversion der echten Queen liebt nicht nur Gin (ein Getränk, das nicht nur schlechte Laune, sondern sogar Depressionen befördern soll) und ist ständig verkatert, sie meckert auch über alles und jeden. Sogar die Wochentage können ihr die Laune verderben:

»Ist immer noch Donnerstag?# sodieNasevoll«

Das deutsche Pendant der schlecht gelaunten Queen ist »Grumpy Merkel«, die aber mit 17000 Followern noch als Geheimtipp vor sich hin grummelt, während der Twitter-Philosoph Eric Jarosinski es mit seinen nihilistischen Botschaften, die er unter »NeinQuarterly« verbreitet, auf weit über 150000 Anhänger bringt.

Kaum etwas scheint unterhaltsamer zu sein, als anderen dabei zuzusehen, wie sie sich schlecht gelaunt durchs Leben lavieren. Vorausgesetzt, ein gewisser Sicherheitsabstand ist gegeben. Nörgelt die griesgrämige Oma während der gesamten Weihnachtsfeiertage, einem zermürbenden Grundrauschen gleich, wird sich ihre muffige Stimmung wie ein lähmender Grauschleier ausbreiten. Die fröhlichsten Gemüter ermatten langsam, aber sicher, bis alle niedergeschlagen vor ihren Tellern sitzen und nicht erwarten können, dass Weihnachten endlich vorbei ist. Lachen wird jedenfalls keiner mehr.

Warum ist eine Gemütslage, die uns im Alltag auf die Palme bringt – die pampige Kellnerin, der wortkarge Busfahrer, der schimpfende Hausmeister und allen voran der mürrische Partner oder die trotzigen Kinder –, hochgradig amüsant, wenn sie uns in Büchern, Filmen, Theater, Musik oder Kunst begegnet?

»Fast jeder hat so einen Problemfall in der Verwandtschaft oder im Bekanntenkreis und kennt die Griesgrämigkeit seines Hauptdarstellers also aus eigener Erfahrung«, schreibt Filmkritikerin Anke Sterneborg über Ein Mann namens Ove.1

Nachahmung und Wiedererkennung an sich bereiten Freude, also auch die Imitation des Abschreckenden oder sogar Schrecklichen. Schon der antike Philosoph Aristoteles beschrieb diesen Effekt in seiner Poetik: »Denn von den Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z.B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen.« Aristoteles war überzeugt, dass die Tragödie uns mit »Furcht und Schauder« erfülle, dadurch unser Mitleid wecke und dies wiederum einen reinigenden, kathartischen Effekt habe.

Wobei wir nicht nur andere in diesen Kunstfiguren wiedererkennen, sondern vor allem uns selbst. Betrachtet man Privatdetektiv Simon Brenner, Ekel Alfred, Dr. House oder Ove durch die Brille Sigmund Freuds, könnte man sagen, hier erhält das »Verdrängte« eine Bühne, und die Zwangsneurose wird gleichsam als Fest inszeniert. Die moderne Literatur strotzt auch deshalb vor neurotischen Charakteren, so Freuds These, weil diese das charakterliche Spektrum der Leser spiegeln. Sich selbst mit einer gewissen Verdrehung behandelt zu sehen, erzeugt nicht nur Lust, sondern erlaubt darüber hinaus, die eigene Neurose zu akzeptieren und sie, so Freuds Formulierung, »ohne Schuld zu genießen«.

Ohnehin zeigt sich in den meisten Fällen auch bald ein weicher, liebenswerter Kern unter der rauen Schale, ein von Kummer verpupptes großes Herz, das nur von dem oder der Richtigen freigelegt werden muss. Wie bei Harriet Lauler, diese »schwarze Wolke in Menschengestalt«, die Shirley MacLaine in der Komödie Zu guter Letzt spielte. Damit der Nachruf, den die einst erfolgreiche, noch immer kontrollsüchtige Geschäftsfrau schon zu ihren Lebzeiten bei der jungen Journalistin Anne in Auftrag gibt, nicht nur Schlechtes enthält, beschließt die biestige alte Dame, ein besserer Mensch zu werden, engagiert sich sozial, trifft nach Jahren ihre Tochter wieder und wird DJane bei einem Sender für Independent-Musik. Mit Annes Unterstützung schaufelt die kratzbürstige Rentnerin ihr zugerümpeltes Innenleben frei und entdeckt ihr gutes Herz.

Auch Ove durchläuft eine geradezu märchenhafte Wandlung. Die gute Fee, der Ove und die Zuschauer diese Metamorphose verdanken, ist seine neue pakistanische Nachbarin Parvaneh. Die hochschwangere Mutter zweier Kinder ist zwar zwei Köpfe kleiner als der Hüne, lässt sich aber von der knurrigen Art des Alten nicht abschrecken. Dank ihrer oft recht ruppigen Charmeoffensive bekommt Oves Panzer langsam Risse. Damit macht Parvaneh intuitiv genau das Richtige, schließlich wollen Missmutige auf Augenhöhe angesprochen werden. Mit Samthandschuhen und säuselnden Schmeicheleien dringt man gar nicht zu ihnen durch, und falls doch, steigert das nur die schlechte Laune.

Dieser Mechanismus lässt sich auch in der bereits erwähnten Komödie Besser geht’s nicht studieren. Darin spielt Jack Nicholson den zwangsneurotischen New Yorker Schriftsteller Melvin Udall, der zum Essen ins Lokal sein eigenes Plastikbesteck mitnimmt, zum Händewaschen jedes Mal ein neues Stück Seife benutzt und es panisch vermeidet, auf die Pflasterfugen der Gehwege zu treten. So rührselig die Liebesromane sind, mit denen Melvin sehr erfolgreich sein Geld verdient, so grob und beleidigend verhält er sich gegenüber seinen Mitmenschen. Seinen hübschen Nachbarn Simon macht er mit schwulenfeindlichen Sprüchen nieder. Ein Pärchen, das an seinem Stammtisch Platz genommen hat, wird mit antisemitischen Klischees beschimpft. Nur die Kellnerin Carol, die tatsächlich ein hartes Leben führt und allen Grund hätte, schlecht gelaunt zu sein, ist ihm gewachsen. Natürlich verliebt sich Melvin in sie und versucht, mehr oder weniger erfolgreich, ein besserer, sprich freundlicherer Mensch zu werden. Seine von vielen Rückschlägen begleitete Wandlung ist der eigentliche Plot des Films und dank der schauspielerischen Meisterleistung Jack Nicholsons ein echtes Bravourstück.

Lass mich in Ruhe! Unmut als Schutzschild

»Nichts auf der Welt ist so wunderbar ansteckend wie schlechte Laune.«CHARLES DICKENS

Auch Henning Mankells Kommissar Wallander verbirgt seine Einsamkeit und Verletzlichkeit unter einer rauen Schale: »Vielleicht will ich hauptsächlich meine Ruhe vor mir selbst haben. Vor der zunehmenden Lustlosigkeit, die mir zu schaffen macht und von der ich niemandem erzähle.«

Etwas für sich behalten zu wollen, ist so wenig zeitgemäß wie sich zu langweilen, dem Müßiggang zu frönen, in Sehnsucht und Heimweh zu schwelgen oder einfach mal in Ruhe abzuwarten. Ständig sollen wir etwas Sinnvolles tun und möglichst jede Regung miteinander teilen. Aber manchmal geht das nicht oder erst nach einer gewissen Zeit. Bis es so weit ist, kann Missmut ein gutes Mittel sein, um nicht die Fassung zu verlieren und nach außen seine Würde zu wahren. Mitleid ist das Letzte, was ein echter Griesgram will, und in der Regel weckt er auch alle möglichen Gefühle bei seinen Mitmenschen, dieses aber nicht. Eine harte Schale kann Halt geben und wie ein mentaler Schildkrötenpanzer vor den Zumutungen der Welt schützen.

Das gilt auch bei profaneren Belastungen als einem Trauerfall oder Lebensmüdigkeit, wie mir kürzlich beim Besuch des Supermarkts auffiel. Unsere Einkäufe hatten es schon aufs Transportband geschafft, doch da meine Töchter an dieser Stelle pausenlos neue Dinge entdecken, auf die sie mich insistierend hinweisen müssen, versäumte ich es, rechtzeitig den mobilen Trennbalken zu positionieren. Als ich die Kassiererin darauf hinweise, dass es nicht meine Waren sind, die sie über den Scanner zieht, handle ich mir eine böse Rüge ein: Warum ich nicht aufpasse, knurrt sie, storniert missmutig und grunzt genervt eine Summe, die ich ebenfalls genervt entrichte und den Laden verlasse.

Die Kinder fragen besorgt, was denn los sei – vor allem, weil sie wegen der kleinen Auseinandersetzung um die begehrten Gratis-Sammelbildchen gekommen sind, die freilich auch nur nach Lust und Laune verteilt werden. Während die eine Verkäuferin den Kindern, selbst wenn sie nur ein Eis am Stiel für 60 Cent gekauft haben, augenzwinkernd ein ganzes Paket davon in die Hand drückt, besteht eine andere auf einem garantierten Einkaufswert von über 10 Euro, um den Kindern auch nur ein einziges der begehrten Briefchen auszuhändigen. Mit derart anarchischen Zuständen kann man noch dem fröhlichsten Kind die Laune verderben. Kinder sind hochgradige Regelfetischisten und beharren strikt auf deren Einhaltung.

Mir dämmert, dass etwas in der Art auch der Kassiererin die Laune verdorben haben wird, da sie wegen meiner Unachtsamkeit den monotonen Fluss, in dem sie die einzelnen Waren über den Scanner zieht, unterbrechen musste. Ich bin in ihr System eingedrungen und habe ihren Rhythmus gestört. Vielleicht befand sich die Frau – nach vielen Stunden eintöniger Hand-über-Scanner-Bewegungen und den immer gleichen Äußerungen (vierzehneuroneunzigvielendankschönentagnoch) – in einem beruhigenden Flow, der ihren Geist in das schöne Hotel aus dem letzten Mallorca-Urlaub transformiert hatte, in den Schrebergarten oder auf die Couch, zumindest an einen Ort ohne Piepsgeräusche, desorientierte Kunden und vorlaute Kinder.

In seinem Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre erzählt der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz von Oktopussen, die nicht nur zur Tarnung Farbe und Muster ihrer Haut ändern können, sondern auf diese Weise auch miteinander kommunizieren. Die Kraken tragen damit Stimmungen beziehungsweise »ihren Geist nach außen« und signalisieren ihren Artgenossen durch die bizarren Farb- und Strukturveränderungen ihrer Haut, wenn Gefahr naht oder sie sich bedroht fühlen. »Hieß das, dass Oktopusse miteinander telepathisch kommunizierten? Sie nahmen einander vollkommen wahr, alles war zugleich außen und innen. Vielleicht waren sie deshalb solche Einzelgänger und verwendeten Tinte. Um von Zeit zu Zeit das Medium zu verdunkeln, in dem sie dachten, in dem sich ihre Kommunikation abspielte.«2 Was wir schlechte Laune nennen, ist wie ein Druck auf die Tintendrüse: eine Portion Garst und Gift versprühen, um den unaufhörlichen Strapazen zwischenmenschlicher Begegnungen und Auseinandersetzungen zu entkommen.

Und je sensibler Lebewesen ihre Umwelt wahrnehmen, umso schutzbedürftiger werden sie. Demzufolge kann der Habitus des verschlossenen Griesgrams, missmutigen Lästerers oder cholerischen Wahrheitssuchers ein mentales Versteck, ein neurotischer Zwang oder auch schlicht und einfach ein großer Spaß sein.

Einer, der das Rollenfach des notorischen Nörglers virtuos beherrschte und die Produktivkraft des Grantelns zu unvergleichlicher Meisterschaft trieb, war der 1989 verstorbene österreichische Schriftsteller und Dramatiker Thomas Bernhard. Unnahbar und chronisch verstimmt, wie er sich in der Öffentlichkeit gab, hielt der schwerkranke Schriftsteller sich lästige Leute wie Journalisten vom Hals; wo er sein Unbehagen literarisch ausdrückte, wurde er zum Spiegel eines ganzen Landes und einer Generation, die sich ihre eigene Geschichte so nicht erzählen lassen wollte. In seiner Heimat galt Bernhard deshalb lange Zeit als »Nestbeschmutzer«, hatte er doch seinen Landsleuten immer wieder vorgehalten, was sie nicht sehen wollten, und damit unter anderem einen der größten Theaterskandale der 2. Österreichischen Republik ausgelöst.

Am 4. November 1988 wurde Bernhards Stück Heldenplatz in der Regie von Claus Peymann am Wiener Burgtheater uraufgeführt. Obwohl das Theater den Text streng unter Verschluss hielt, tobte schon vorher eine erbitterte Debatte, nachdem die Presse einige Zitate daraus veröffentlicht hatte. Der Rechtspopulist Jörg Haider wollte den Burgtheaterdirektor am liebsten außer Landes verweisen (»Hinaus mit diesem Schuft aus Wien«). Der wegen seiner ungeklärten Vergangenheit als Wehrmachtsoffizier in Misskredit geratene Bundespräsident Kurt Waldheim hielt das Stück »für eine grobe Beleidigung des österreichischen Volkes«, und das Boulevardblatt »Neue Kronen Zeitung« schimpfte über die Verschwendung von Steuergeldern.

Das Stück, zur Hundertjahrfeier des Burgtheaters geschrieben, ist eine Abrechnung mit den zutiefst reaktionären Tendenzen innerhalb der österreichischen Gesellschaft, die sich als erstes Opfer des Nationalsozialismus stilisiert und eine Aufklärung der eigenen Rolle und Schuld erfolgreich verdrängt hatte. Damit war Heldenplatz auch ein bissiger Kommentar zum 50. Jahrestag des sogenannten Anschlusses an das Deutsche Reich.

Ort der Handlung ist eine Wohnung in der Nähe des Heldenplatzes, an dem Hitler 1938 die jubelnden Massen »Heim ins Reich« holte. Genau fünfzig Jahre später hat sich hier der jüdische Intellektuelle Professor Schuster aus dem Fenster in den Tod gestürzt. Nun sind die Hinterbliebenen versammelt und lassen sein Leben Revue passieren. Von den Nazis verjagt, war er in Oxford im Exil und kehrte nach dem Krieg nach Wien zurück. Doch Österreich erschien ihm unerträglich; seine Frau glaubt noch immer die jubelnden Massen am Heldenplatz schreien zu hören, und sein Bruder klagt das ungebrochene Weiterleben des Antisemitismus im Land an.

Trotz der erbitterten Proteste, die so weit gingen, dass ein Misthaufen vor dem Theater abgeladen wurde und die Vorstellungen regelmäßig von Buh rufenden, pfeifenden und türenschlagenden Zuschauern gestört wurden, war das Stück ein beispielloser Erfolg. Der Applaus nach der Uraufführung dauerte eine Dreiviertelstunde, danach wurde es einhundertzwanzig Mal gespielt.

Ebenso legendär ist der Skandal, den Thomas Bernhards 1984 erschienener Text Holzfällen verursachte. Kaum ausgeliefert, wurde der Text beschlagnahmt und aus den österreichischen Buchhandlungen entfernt, weil ein früherer Freund des Autors, der Komponist Gerhard Lampersberg, sich beleidigt fühlte und klagte. Der Untertitel von Holzfällen lautet Eine Erregung, was genau genommen das Gesamtkunstwerk Thomas Bernhard charakterisiert.

Holzfällen ist eine raffiniert komponierte, sich über mehr als dreihundert Seiten entwickelnde musikalische Wiederholungsschleife. Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, sitzt dabei in einem Ohrensessel und beobachtet eine Abendgesellschaft. Man wartet auf einen Burgtheaterschauspieler, der versprochen hat, gegen Mitternacht, nach der Aufführung der Wildente, bei diesem »künstlerischen Abendessen« zu erscheinen. Angeekelt betrachtet der Erzähler die »grauenhaften, verlogenen, gescheiterten Kunstnieten«, »Antikünstler« und »völlig geistlosen Poltermimen«, wettert innerlich gegen alles und jeden und wird zugleich von Erinnerungen an sein Leben in den Fünfziger-Jahren eingeholt, seine Beziehung zu Joana und die enge Freundschaft mit dem inzwischen verhassten Ehepaar Auersberger:

»Was für lächerliche und gemeine Menschen, dachte ich, auf dem Ohrensessel sitzend, und gleich darauf, was für ein gemeiner und lächerlicher Mensch ich selbst bin, der ich ihre Einladung angenommen und mich ganz ungeniert, als ob nichts geschehen wäre, in ihren Gentzgassenohrensessel gesetzt habe, meine Beine ganz ausgestreckt übereinandergeschlagen und sicher schon das dritte oder vierte Champagnerglas ausgetrunken, und ich dachte, dass ich selbst noch viel gemeiner und niederträchtiger bin als diese Auersberger, die dich mit ihrer Einladung, die du angenommen hast, übertölpelt haben.«3

Eine immer größere Erregung erfasst den Erzähler. Schließlich läuft er hinaus in die nächtliche Stadt, die er ebenfalls hasst und die für ihn doch die beste Stadt ist, deren Bewohner er hasst und die doch für ihn die besten Menschen sind. Anziehung und Abstoßung, Zuneigung und (Selbst-)Hass, außen und innen bleiben so unvereinbar wie unauflöslich miteinander verbunden. Am Ende richtet der Erzähler seine schleifenartigen Schimpftiraden gegen sich selbst, der in seinem Furor genauso lächerlich und dürftig ist wie alle anderen. Eine vielschichtige, bohrende Auseinandersetzung mit menschlichen Beziehungen, mit Liebe, Hass und Verrat, die durch ihre musikalische Kompositionsweise und die subtile Ironie hochgradig unterhaltsam ist.

Worin überhaupt ein gravierender Unterschied zum unreflektierten Alltagsmissmut besteht. Kommt dieser unangenehm rechthaberisch, selbstgefällig, nörgelnd, besserwisserisch und ohne einen Funken Selbstironie oder -reflexion daher, ist er schwer auszuhalten. Wie die sprichwörtlich gewordene Schrebergartenmentalität, mit der all jene Kleingeister gemeint sind, die unerbittlich auf ihren selbst aufgestellten Regeln und Ausschlusskriterien beharren, so unsinnig und menschenfeindlich sie auch sein mögen. Womöglich, weil sie sonst nicht viel haben, woran sie sich halten können.

Den literarischen Grüblern und Grantlern mangelt es in der Regel nicht an kritischer Selbstreflexion. Meist machen sie sich eher zu viele Gedanken über sich, die Welt und vor allem über deren Verlogenheit. Wie Molières MenschenfeindAlceste, der die bedeutungslosen Floskeln und Formeln der höfischen Gesellschaft anklagt. Oder die schöne Gift spritzende Tante Tientje aus A.F. Th. van der Heijdens Roman Das Biest, die ihr knallgelbes Putztuch ebenso blitzschnell und unvermittelt zückt (besonders gern, wenn sie bei anderen zu Gast ist), wie sie ihre boshaften Bemerkungen abfeuert. Jedes Wochenende sucht sie ihr Elternhaus heim und triezt ihre alten Eltern: »Murmelnd oder fauchend trat sie ein, das Gesicht erstarrt, giftgetränkt. […] Oft klemmte das gefürchtete grellgelbe Staubtuch bereits zwischen ihren Fingern. Wenn sie besonders schlechter Laune war, schlug sie mit dem Lappen nach den Möbelstücken, anstatt den Staub wegzuwischen.«4 Der gallige Furor dieser grandiosen Frauenfigur erweist sich im Lauf der Geschichte als verzweifelter Versuch, nicht nur die anderen dazu zu bringen, ein verdrängtes Familiengeheimnis offen anzuerkennen, sondern auch als Ablenkungsstrategie, um sich die eigene Verantwortung und Schuld nicht eingestehen zu müssen. Indem Tientje die anderen beschimpft und drangsaliert, lenkt sie von sich ab und schützt sich auf diese Weise.

Leichtherziger ist die Wahrheitssuche, der Sven Regeners sanft-missmutiger Herr Lehmann nachgeht, wenn er durch seine überschaubare Berlin-Kreuzberger Welt streift und am liebsten über den tieferen Sinn und Zweck von Wörtern wie »Orangensaft«, »Frühstück«, »Sportbecken« oder »Lebensinhalt« nachdenkt:

»Lebensinhalt ist doch eine Scheißmetapher, das steht ja wohl mal fest […], aber selbst wenn man sie verwendet, was soll das denn dann sein? Gibt es irgendeinen, der mir das mal sagen kann? Kann ich jetzt zu einem von den Leuten hier an den Tisch gehen und ihn fragen: Entschuldigung, kannst du mir mal ein, zwei Lebensinhalte nennen? Nix! Nix! Aber alle glauben, es gibt so was. Und keiner denkt darüber nach.«5

Keiner, außer Herrn Lehmann, der aber auch ansonsten etwas anders ist als die anderen. So kann er sommerlichen Grill- oder Badevergnügungen überhaupt nichts abgewinnen, und will er doch einmal ins Schwimmbad, dann nur in der Hoffnung, dort die hübsche Köchin Katrin zu treffen. Aber schon auf dem Hinweg denkt er missmutig: »Das ist genau so ein Tag, an dem man auf keinen Fall ins Prinzenbad fahren sollte.«

Sind Figuren wie der verträumte Herr Lehmann oder auch ein hochsensibler Wortklauber wie der Ich-Erzähler aus Wilhelm Genazinos Roman Ein Regenschirm für diesen Tag, der sein Geld als Probeläufer für englische Luxus-Herrenschuhe verdient und mit schattigem Blick den Alltag und seine absurden Erscheinungen seziert, nicht tröstliche Beispiele für die sympathischen Aspekte des Missmuts?

Begleitet von Figuren wie diesen, lässt sich das mürrische Gemaule und Gegrummel an Frühstückstischen und Bushaltestellen doch gleich viel besser ertragen! Nicht zuletzt, weil die fiktiven Miesepeter verdeutlichen, wie groß die Diskrepanz zwischen kunstvoller und profaner Übellaunigkeit ist und wie viel die echten Sauertöpfe von den fiktiven in puncto Eleganz und Originalität des Ausdrucks lernen können.