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Ende 2015 einigten sich die Vertragsstaaten der UN auf 17 Ziele der Nachhaltigkeit, die "Sustainable development goals", eine ökologische, ökonomische und soziale Agenda für die Welt. Das Buch folgt der Frage, welche Herausforderungen, Lösungswege und Chancen sich für unser Land und unsere Wirtschaft aus einer Transformation in die Nachhaltigkeit ergeben. Ausgehend von den deutschen Klimazielen und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2021 zu einem generationenübergreifenden Umweltschutz werden die schwierigen, von der Politik zu bewältigenden Zielkonflikte durchdacht. Unter Einbeziehung vieler Beispiele innovativer Unternehmen und technischer Lösungen werden Handlungsfelder in den 17 SDG erschlossen. - Für ein "Happy End" der Nachhaltigkeit werden die dringend einzunehmenden Rollen aller beteiligten Akteure klar.
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Seitenzahl: 481
Veröffentlichungsjahr: 2021
Nachhaltigkeit ist längst zu einemWettlauf gegen die Zeit geworden.Lassen Sie ihn uns gewinnen!
Rüdiger Thewes
LET‘S CHANGE A RUNNING SYSTEM
Transformationswege in eine nachhaltige Wirtschaft
© 2021 Dr. Rüdiger Thewes
ISBN 978-3-347-38595-5
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Gestaltung: www.sehen-und-sein.de, Köln
Fotos S. 223 : Isabel Schneider
Weitere Bildquellen: siehe S. 288
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Sustainable Development Goals: https://www.un.org/sustainabledevelopment/
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Unseren drei Kindern.
INHALT
VORWORT
Let's change a running system
1 · DIE 3 DIMENSIONEN DER SDG
Ökologie
Klimawandel – Erderwärmung durch Treibhauseffekt
Die deutschen Klimaziele
Das Bundesverfassungsgericht legt die Generationenschraube an
Die unterschätzte Gefährdung von Ökosystemleistungen
Der CO2-Fußabdruck schafft Transparenz und ist Ansporn
Der CO2-Fußabdruck eines Unternehmens
Mehr Reduktionsdynamik durch CO2-Emissionshandel
Carbon, Capture and Storage – Irrweg oder Ausweg?
Öko-Ratings – Carbon Disclosure Projekt
Ökonomie
Ökologische Brücke in ein zweites Wirtschaftswunder?
Wachstumsdilemma – Wegschauen hilft nicht
Spielverderber Rebound-Effekt
Homo oeconomicus – Der Mensch steht im Mittelpunkt
Der agile Konsument – Change in der Denke
Soziales
Gemeinwohl-Ökonomie
Libertärer Paternalismus – Verlockungen für nachhaltige Entscheidungen?
Zielkonflikt Ökonomie – Ökologie – Freiheitlicher Lebensstil
Die Quick-Win-Mechanik in der Anwendung
2 · 50 JAHRE UN-KLIMA-POLITIK – SOLL UND HABEN
Stockholmer Klimakonferenz
Brundtland-Bericht
Montrealer Protokoll
Kyoto-Protokoll
Millenniums-Entwicklungsziele
Kyoto II
Pariser Abkommen
Global Compact
Sustainable Development Goals
3 · SUSTAINABLE DEVELOPMENT GOALS – AGENDA 2030
SDG 9 · Industrie, Innovation und Infrastruktur
Infrastruktur – Veränderungsgeschwindigkeit aufnehmen
Elektromobilität – Disruptiver Change
Trumpf der geringeren Komplexität
Reichweitenangst besiegen – Wettlauf um die besten Akkuzellen
Graphen – der Turbo für Akkuzellen?
Sechs Gigafactories für Deutschland
Punktsieg der E-Mobilität in der Ökobilanz und im Geldbeutel
Batterie-Recycling bis zu 91 Prozent
• Duesenfeld – technische Innovation schafft Lösung
Ladeinfrastruktur – auch ein Heimspiel
Trendwende in der Marktentwicklung – Interessante neue Player
Reicht unser Strom für so viele Elektrofahrzeuge?
Fazit Elektromobilität – Synthese von Ökonomie und Ökologie!
Lautlose Brennstoffzelle
• Proton Power System – Brennstoffzellen aus Puchheim
Domänen des Wasserstoffantriebs
SDG 7 · Bezahlbare und saubere Energie
Erneuerbare Energien – Eine Frage der Skalierung
Photovoltaik – still und leise an die Spitze
• Meyer Burger, NexWafe und Heliatek – Neustart in Sachsen
Achtung! – Win-Win-Konstellation
• Discounter als Trendsetter
• BayWa r.e.
Solarmodul-Recycling – Lösung steht!
Windenergie mit neuem Rückenwind
Flügel-Recycling
• Ørsted – Der 100 Prozent-Change
• Royal Dutch Shell – Neuausrichtung des Geschäftsmodells
Neue Lösungen zur Speicherung grüner Energie
Wasserstoff – ein überschätzter Traum?
• Enapter – Elektrolyseure im Kofferformat
• Sunfire – Flexible Brennstoffzellensysteme
• 2G Energy - Blockheizkraftwerke
• Linde – Umsatz-Krösus
Achtung! Win-Win-Konstellation
Anreiz durch KFW-Förderungen
Prügelknabe EEG-Umlage
Da wäre noch ein Flaschenhals
SDG 12 · Nachhaltiger Konsum und Produktion
Cradle to Cradle-Mindset etablieren
Recycling – Kreislaufwirtschaft
Suche nach dem Game-Changer
• Tomra System – Liebling bei PET-Flaschen
• Carbios – Charmante Selbstauflösung
• Aquavil – Rohstoffrückgewinnung mit viel Potenzial
• Unicaps – Zweiter Anlauf
• Abfallmanagement Betriebsrestaurant – Win-Win-Konstellation
Hotspot Fashion-Konsum
• Vaude – „Das nachhaltigste Outdoorunternehmen Europas“
• Hessnatur – „Schneller modisch als andere öko“
SDG 2 · Kein Hunger
Beseitigung von Hunger – allein eine Frage der Ernährung?
Ein trauriges Kapitel mit hoffnungsvollem Ausblick
• Rügenwalder Mühle – Trendsetter Fleischersatzprodukte
• Beyond Meat – Börsenstar 2019
• Mosa Meat – Super Meat – Memphis Meat, Fleisch ohne Viehzucht
SDG 14 · Leben unter Wasser
Aquakulturen – Win-Win-Lösung beschleunigen
Schutz und Regenerationsbedarf der Meere
• Grieg Seafood
• FRESH Völklingen – First Mover
Mikroplastik – Erblast auf Jahrhunderte
• Corbion – Innovativer Change
„Aufforstung“ der Korallenriffe
SDG 15 · Leben an Land
Ressourcen-Vielfalt nutzen – Wälder schonen
• Creapaper – Idee mit hohem Potenzial
• Papacks – Win-Win-Verpackungen
• Ecosia – Forsten Sie auf!
Hanf – Kommerzielles Comeback einer Nutzpflanze
• Thermo Natur – Dämmstoffe von Ritter Sport
• HempFlax – Industrielle Hanfproduktion
SDG 3 · Gesundheit und Wohlergehen
Probleme erkannt, aber nicht gebannt
Zoonosen – kleine Verursacher mit exponentieller Wirkung
Gefahr der multiresistenten Keime
Anstieg psychischer Erkrankungen
Nutri Score – Hilfe zur Selbsthilfe
Ungebrochener Trend steigender Lebenserwartung
SDG 6 · Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen
Wasser – knapper als gedacht
H2O – Das Problem der ungleichen Verteilung
• Werner & Mertz GmbH – Der grüne Frosch springt weiter als der rote
Mineralwasser – teuer bezahlte Luft
Neue Wasserquellen durch innovative Technik und Spenden
SDG 13 · Maßnahmen zum Klimaschutz
Tatkräftige Umsetzer gesucht
Wer macht jetzt was bis wann?
SDG 8 · Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum
Wachstum ohne Ende?
Sendet SDG 8 das falsche Signal?
Mut zur Differenzierung
Investorenverhalten – Ankündigungen oder Taten?
Fair Finance Guide Deutschland
• GLS Bank – Die „Win-Win-Bank“
Start in den grünen Anleihenmarkt
SDG 4 · Hochwertige Bildung
Digitale Bildung – Garant für die Zukunftssicherung
Lernen lernen
Digitales Mindset ändern
SDG 5 · Geschlechter-Gleichheit
Diversity – Marathon der Kulturveränderung
Ein irritierter Blick in den Rückspiegel
Bildung schafft Fortschritte
Bollwerk Führungsfunktionen in der Wirtschaft
Im Auge des Gesetzgebers
Personal-Analyseinstrumente, ein wertstiftender „Schatz“ für Unternehmen
Diversity – Chance auf Win-Win-Konstellation für Organisationen
SDG 11 · Nachhaltige Städte und Gemeinden
Stadtkonzepte neu denken
Smart City – der weite Weg in eine noch lebenswertere Welt
Vorfahrt für zwei Reifen
Smart City Index Bitkom
SDG 1 · Keine Armut
Wegschauen hilft nicht!
Not ohne Grenzen
SDG 10 · Weniger Ungleichheiten
Die Bombe tickt!
Ungeliebte Zahlen
Teilhabe an Wohlstand in armen Regionen der Welt
SDG 16 · Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen
Spielfeld mit Grenzen – Haltung gefragt
Wo selbst Ausnahmen die Regel nicht bestätigen dürfen
Der lange Schatten unserer Geschichte
SDG 17 · Partnerschaften zur Erreichung der Ziele
Ehrliche Partnerschaften auf Augenhöhe?
Entwicklungsfinanzierung – Geld sucht Lösung
Green Climate Fund
4 · TRANSFORMATION – MEMORY DER ERFOLGSFAKTOREN
Change – Von der Bedrohung zur Chance
5 · SDG-BASIERTE UNTERNEHMENSSTRATEGIE
Nachhaltigkeitsstrategie oder „Blümchenwiese“
Wirkungsanalyse
Wesentlichkeitsanalyse mit Stakeholderanalyse
6 · ROADMAP TRANSFORMATION
Von Umweltscham zu Umweltstolz
Nachhaltigkeitsmaßnahmen – Agil hilft
Mit Design Thinking in den Perspektivenwechsel
Future Development Camp
Lean Startup – Es muss sich alles rechnen
Umsetzungsplanung und Boxenstopps
7 · GLOBAL REPORTING INITIATIVE
8 · MAGIE DES BRANDINGS – GLÄNZT ES ODER STRAHLT ES?
9 · POLITIK – ANGST VOR DEM ELFMETER?
10 · MEDIEN IN DER MITVERANTWORTUNG
11 · HAPPY END?
Anhang
Dank
Quellenangaben
Bildquellen
Dialog
>> Umweltschutz ist eine Frage von Technologie, Innovation und wirtschaftlichem Erfolg. Das ist gutes, zukunftsweisendes Geschäft. <<
Peter Löscher1
VORWORT
LET`S CHANGE A RUNNING SYSTEM
Kaum ein Leitsatz löst bei Menschen so viele positive Gefühle aus wie „Never change a running system“ oder in der Sportwelt: „Never change a winning team“. Es funktioniert etwas hervorragend! Es werden gerade wirklich erfreuliche Ergebnisse erzielt. Man hat Erfolg – man kann und darf genießen.
Erstaunlicherweise findet sich das Motto „Never change a running system“ in der englischsprachigen Welt nicht. Auch in der IT-Welt geht es nicht darum, ein störungsfrei laufendes IT-System nie zu patchen. Vielmehr sollen Systemwartungen in solchen Zeitfenstern vorgenommen werden, in dem Anwender es gerade am wenigsten aktiv benötigen.2
Selbst in der Sportwelt zeigen viele Beispiele, dass Trainer in Turnieren mit Mannschaften gerade dann besonders erfolgreich waren, wenn sie die Aufstellungen geschickt von Spiel zu Spiel veränderten.
Das ökologisch-ökonomisch und soziale System auf unserem Erdball schien im Verlauf der letzten 200 Jahre gut zu funktionieren. Ressourcen und Wachstum schienen unerschöpflich. Fortschritt und Wohlstand entwickelten sich gefühlt Hand in Hand. Gerade unser Land erlebte nach 1945 eine Zeit, die als „Wirtschaftswunder“ in die deutsche Geschichte einging.
Anfang der 70er Jahre entwickelten sich erste tiefgreifendere Bedenken, ob das Zusammenspiel von Ökonomie und Ökologie in der laufenden Form ein Zukunftsmodell bleiben kann. Vorausberechnungen ließen immer deutlicher erkennen, dass wir Menschen das in der Natur bestehende Gleichgewicht in Unordnung bringen. 1972 veröffentlichte eine Gruppe von Wissenschaftlern um Dennis und Donella Meadows eine Studie, in der sie unter der Bezeichnung „Standard Run“ die Zukunft auf Grundlage eines Modells mit Daten der Vergangenheit simulierten. Sie unterstellten, dass die Menschheit so weiter wirtschaften würde wie bislang und gelangten zum Ergebnis, dass die Zivilisation unter diesen Bedingungen innerhalb der nächsten 100 Jahre zusammenbrechen würde.
Heute steht aus wissenschaftlicher Sicht fest: Das Zusammenspiel von Ökonomie, Ökologie und Sozialem bedarf tiefgreifender Veränderungen. Zwischen exponentiellem Bevölkerungswachstum, der Ausbeutung der Rohstoffe sowie der Zerstörung des Lebensraumes und dem Verlust von Biodiversität bestehen signifikante Zusammenhänge. Entsprechende Erkenntnisse sind politisch anerkannt und zumindest in Deutschland auch bei den Menschen überwiegend angekommen. Die Anforderungen an diese Veränderungen werden inzwischen gerne in einem Begriff zusammengefasst: Nachhaltigkeit.
2019 verschafften die Fridays-for-Future-Demonstrationen dem Klimaschutz einen Schub in der öffentlichen Wahrnehmung. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos Anfang 2020 widmete der amerikanische Präsident dem Thema in seiner Rede zwar nur wenig Aufmerksamkeit. Das Forum stand dennoch ganz im Zeichen des Klimaschutzes. Die Corona-Pandemie wurde kurz darauf zu einem alles überstrahlenden Ereignis. Der durch die Pandemie ausgelöste Lockdown und die damit einhergehende Entschleunigung der Menschen förderte verdrängte Systemfragen an die Oberfläche. Zukunftsforscher und Wissenschaftler wiesen auf die Chance hin, die die Pandemie für ein Umdenken in ökologischer, ökonomischer und sozialer Sicht eröffnen könnte. Es wurden die Auswirkungen des Lockdowns auf die CO2-Emissionsentwicklung beobachtet. Bei der Ausgestaltung staatlicher Förderprogramme gab es aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Presse zahlreiche Stimmen, die Nachhaltigkeitsaspekte bei diesen Programmen letztlich erfolgreich einforderten.
Sucht man heute Literatur nach den Schlagworten Unternehmen, Organisationsentwicklung, Leadership oder Agilität, so eröffnet sich eine Auswahl, die Bibliothekswände füllt. Sucht man in der deutschsprachigen Literatur hingegen mit den Schlagworten Unternehmen, Nachhaltigkeit, SDG (Sustainable Development Goals), wird der Suchende ziemlich allein gelassen. Bei viel allgemeiner Literatur zum Thema Nachhaltigkeit wird selten eine schlüssige Synthese von Ökologie und Ökonomie mit dem Schwerpunkt Transformation gesucht. Dazu passt ein Befragungsergebnis der Europäischen Investmentbank, wonach nur 28 Prozent der Deutschen glauben, dass Technologie und Digitalisierung zu den besten Lösungen des Klimaschutzes gehören. Die verbreitete kritische Haltung gegenüber einer Synthese von Ökologie und Ökonomie korreliert mit meiner Wahrnehmung in der Beratungsarbeit: Eine gewisse Offenheit für Nachhaltigkeitsaspekte in Organisationen besteht häufig, jedoch selten in Kombination mit „Aktion aus Überzeugung“. Vielmehr spürt man die Sorge der Entscheidungsträger, einen Trend zu spät aufzugreifen und dadurch einen Wettbewerbsnachteil zu erleiden. Fast immer werden Maßnahmen in schneller Form kostenmäßig quantifiziert. Dabei führen Kurzfristbetrachtungen und noch häufiger Voreingenommenheit gegenüber Veränderungen in Sackgassen. Wir werden sehen: In Wahrheit gibt es viele Entwicklungen und gute Gründe für mehr Tatkraft und Optimismus!
Simon Sinek hat mit seinem „Golden Circle“ einen Marketingansatz geschaffen, der heute auch gerne in der Projektarbeit und bei Change-Prozessen herangezogen wird. Eine stufenweise Abarbeitung des „WHY-HOW-WHAT“ stellt sicher, dass Menschen beim Start eines Veränderungsprojektes zunächst auf der Ebene der Dringlichkeit abgeholt werden, um sie dann für den Veränderungsprozess im „Wie“ und „Was“ der Umsetzung mitzunehmen. An der Idee des Golden Circle habe ich mich auch beim Schreiben dieses Buches orientiert.
Viel wurde in den letzten Jahren bereits über die Dringlichkeit notwendiger Veränderungen im Bereich der Nachhaltigkeit geschrieben – dem Why. Dabei spielte die Darlegung der hoch komplexen Vernetzung ökologischer, ökonomischer und sozialer Spannungsverhältnisse eine wesentliche Rolle. Dieses Buch will sich daher nicht zu sehr auf die Makroebene dieser Vernetzung begeben – weder in deren Darstellung, noch in deren konzeptioneller Auflösung. Stattdessen gibt es ein klar definiertes Ziel, es in den Kapiteln nicht bei Problemvertiefung zu belassen, sondern Lösungswege und Mut machende Entwicklungen zu beschreiben. Ziel ist eine Synthese aus Ökonomie und Ökologie, unter Wahrung sozialer Anforderungen. Das Hauptaugenmerk liegt also auf den Fragen: Wo wurden in der Wirtschaft die Zeichen der Zeit bereits erkannt? Wo wurden neue Ideen oder Optimierungen entwickelt, um Nachhaltigkeit substantiell und messbar voranzubringen? Welche Erkenntnisse könnten andere Organisationen anregen, neue Wege zu gehen, selbst aus ihnen zu lernen oder eigene Ideen zu entwickeln?
Daher konzentrieren sich die nachfolgenden Kapitel recht schnell auf die SDG-Ziele und Themenfelder, in denen Unternehmen bereits Pionierarbeit geleistet und besondere Erfolge erzielt haben. Es finden sich eine Reihe von Beispielen interessanter Firmen, die ihr langjährig bewährtes Geschäftsmodell grundlegend geändert haben und dabei erfolgreich sind. Weiterhin werden innovative Unternehmen beschrieben, die mit neuen Geschäftsmodellen attraktive Nischen besetzt haben und gerade sehr spannende Entwicklungen nehmen. Das wird auch wiederkehrend mit Aktienkursentwicklungen der Unternehmen verglichen. Damit soll deutlich werden: Der Change in die Nachhaltigkeit muss nicht zusätzliche Last in einem für viele Unternehmen ohnehin schon ambitionierten Wettbewerbsumfeld sein. Es finden sich vorausdenkende, kreative Gesellschaften, die den Change in die Nachhaltigkeit schon vor Jahren entdeckt und angepackt haben. Mit teils tiefgreifender, wertebasierter Arbeit wurde die Strategie der Unternehmen modifiziert, neu ausgerichtet oder die Strategie war vom Start weg von Nachhaltigkeit geprägt. Diese Unternehmen profitieren heute von mutigen Entscheidungen und konsequent umgesetzten Veränderungen. Es sind wirtschaftlich erfolgreiche Firmen, die mit hoher Kompetenz und Professionalität nachhaltig Ertrag und Arbeitsplätze schaffen. Ihnen gelingt die Verbindung von Ökonomie, Ökologie und Sozialem, den drei Säulen, die auch den SDG zugrunde liegen. Solche Unternehmen und auch dieses Buch sind zwar keine Blaupause für einen Transfer in eine nachhaltige Wirtschaft. Als Vorbilder stellen sie aber unter Beweis, was der ehemalige CEO Peter Löscher der Siemens AG formulierte: „Umweltschutz ist eine Frage von Technologie, Innovation und wirtschaftlichem Erfolg. Das ist gutes, zukunftsweisendes Geschäft.“ Im Kern geht es also darum, Ideen von gelebter Nachhaltigkeit zu transportieren und insbesondere Vordenkern unserer Wirtschaft eine Plattform zu geben. Der Aufbau der nachfolgenden Seiten folgt somit der Idee:
Let`s change a running system!
Bei Licht betrachtet haben wir unter Berücksichtigung aller ökonomischen, ökologischen und sozialen Wechselwirkungen aktuell nur noch ein vordergründig funktionierendes System. Notwendig sind Veränderungen in fast allen Bereich des Lebens und der Wirtschaftswelt: Der Energieerzeugung und Mobilität, bei Produkten, Dienstleistungen und Konsumverhalten. Es muss gelingen, Unternehmen, Beschäftigte und Konsumenten für neue Wege zu gewinnen.
Am einfachsten haben es Produkte, die unter dem Label Nachhaltigkeit vertrieben werden, wenn der Konsument den persönlichen Nutzen ganz konkret erlebt und sich mit ihm im besten Falle sogar sehr identifizieren kann. In eigener Person habe ich das erlebt, als wir vor drei Jahren eine Solaranlage auf unserem Hausdach installieren und diese zur Tankstelle eines Elektroautos werden ließen. Unsere Jüngste (15 Jahre) kommentierte auf der ersten gemeinsamen Fahrt mit dem rein elektrisch betriebenen Fahrzeug: „Das ist ja schöner als Fliegen!“ Die Elektromobilität muss und wird unter Nachhaltigkeitsaspekten noch entscheidende Weiterentwicklungen durchlaufen. Doch schon heute teile ich eine Erfahrung mit anderen Nutzern: Wer das Fahren im Elektroauto erlebt hat, wird auf keinen Verbrenner mehr umsteigen. Auf dem eigenen Dach erzeugter grüner Strom als Antriebsmittel anstelle von Benzin vermittelt ein gutes Gefühl.
Dieses Buch sucht zwar immer wieder den Blickwinkel von Unternehmen. Ganz im Sinne richtig verstandener Agilität steht aber die Perspektive des Verbrauchers stets Pate. Zwar sind es die großen digital ausgerichteten Konzerne, die in den letzten Jahren viel Macht gewonnen haben. Es wird aber deutlich werden: Im Verhältnis zu vielen anderen Leistungserbringern hat die Digitalisierung auch Verbrauchern mehr Macht in die Hand gegeben, die sie zuvor so nicht hatten. Besonders in der jungen Generation ist darüber hinaus die „Sehnsucht nach einer gesunden Welt“ spürbar. Insgesamt steigt die Nachfrage nach vertrauenswürdigen Unternehmen, die die Erwartung von Konsumenten erfüllen, sich dem Thema Nachhaltigkeit zu stellen.
Dieses Buch spricht Leser an, die die Notwendigkeiten und Hürden des Transformationsprozesses in eine CO2-neutrale Welt durchdenken und besser verstehen wollen: über Daten, Fakten, technische Hintergründe, Zusammenhänge und im engeren Sinne des Wortes „Wissenswertes“ zum Thema Nachhaltigkeit. – Nachdem ich in den letzten zehn Jahren Einblicke in Unternehmen verschiedener Branchen gewonnen habe, wurde mir deutlich: Es bleibt noch viel Spielraum für nachhaltiges Wirtschaften. Insofern wendet sich dieses Buch im Besonderen an Begeisterte:
• An begeisterte Entscheidungsträger in Organisationen, die sich im „Großen“ – der Strategie des Unternehmens – einbringen können. Eine ganzheitlich nachhaltige Ausrichtung eines Anbieters schafft für Verbraucher Bindungen und fördert seine Kaufentscheidungen. Daher zahlt sich eine Nachhaltigkeitsstrategie für das Unternehmen selbst als Investition in die eigene Zukunft aus.
• An begeisterte Mitarbeiter in Organisationen, die dort als Umsetzer und Multiplikatoren für Nachhaltigkeit tätig sind. Die Beispiele der Praxis dieses Buches sollen Impulse und Rückhalt geben.
• Zwar hat nicht jeder Mitarbeiter in Organisationen den gleichen „Wirkungshebel“ auf das Kerngeschäft. Die Organisation und ihre Mitarbeiter sind aber auch selbst Konsumenten. Deswegen haben letztlich alle Mitarbeiter die Chance, mit guten Ideen und deren Umsetzung im eigenen Bereich Nachhaltigkeit zu fördern.
Bei allen Veränderungen von Organisationen ist das „Wie“ der Umsetzung für den Erfolg entscheidend. Das gilt auch für die Transformation in nachhaltige Prozesse und Produkte. Daher wird im abschließenden Teil des Buches den folgenden Fragen nachgegangen:
• Wie gelingt ein „glaubhafter Aufschlag“ der Unternehmensleitung?
• Ist die Ausrichtung der Organisation auf Nachhaltigkeitsaspekte in der Strategie verankert?
• Gibt es eine Roadmap, die den gesamten Veränderungsprozess steuert und in der Organisation wachhält, bis er selbsttragend ist?
• Wird die Notwendigkeit der Veränderung gut vermittelt?
• Werden die richtigen Mitarbeiter für ein verantwortliches Team gewonnen?
• Wie wird eine Wirkungs- und Wesentlichkeitsanalyse erstellt?
• Gibt es Nachhaltigkeitsziele, die mit anderen unternehmerischen Zielen gleichrangig verfolgt werden?
Sehr geachtet habe ich darauf, in allen Kapiteln polarisierende Formulierungen zu vermeiden. Das Thema Nachhaltigkeit leidet seit seiner Entstehung unter widerstreitenden „Ideologisierungen“, die der Sache nicht zuträglich sind. Fortschritte und Erfolge werden sich schneller einstellen, wenn von allen Beteiligten stets die Sachebene gesucht und gewahrt wird. Schuldzuweisungen und Streit über das Ausmaß von Fehlentwicklungen kosten Zeit und vernebeln Lösungswege. Es muss im Kern darum gehen, auf die Maßnahmenebene zu gelangen und dort messbare Erfolge zu erzielen.
Immer wieder wird es um die wichtige Frage gehen, wie wir in Deutschland im erforderlichen Umfang unseren Beitrag zu den Zielen des Pariser Klimaschutzabkommens beisteuern können. Grundlegend dafür ist eine Quick-Win-Matrix, die eine Einordnung ermöglicht, mit welchen Maßnahmen, Ressourcen und leistungsfähigen Playern wir die höchste CO2-Reduktion erzielen können – bei gleichzeitig geringstmöglichen Einschränkungen unternehmerischer oder individueller Freiheitsrechte.
Schon an dieser Stelle kann vorweggenommen werden: Gleichgültig, ob in der Nahrungsmittel-, Energie-, Fahrzeug-, Kleidungs-, Elektronikindustrie oder in der Finanzwirtschaft – es gibt keine Branche, die nicht den Veränderungsdruck aus dem „Zielfeld“ Nachhaltigkeit spürt. Dabei ist gleichgültig, ob dieser Druck vom Bundesverfassungsgericht, der Politik, Kunden, Investoren oder von der Straße ausgeht. Es hat sich ein gesellschaftlicher Trend herausgebildet. Unternehmen werden Nachhaltigkeit bezüglich Risiken und Kosten anders bewerten müssen. Es ist ein Thema, das bleiben wird. Umso mehr lohnt es, sich seines jetzt anzunehmen.
>> Wenn wir keinen Planeten mehr haben, geht es der Wirtschaft nicht gut. <<
Al Gore3
1 · DIE DREI DIMENSIONEN DER SDG
Im Jahr 2016 haben die Vereinten Nationen mit der sogenannten Agenda 2030 17 Ziele der Nachhaltigkeit geschaffen: Die Sustainable Development Goals (SDG) mit ihren 169 Unterzielen bzw. Zielvorgaben wollen drei Dimensionen in Balance bringen: Ökologie, Ökonomie und Soziales. Lassen Sie uns vor einer Vertiefung der einzelnen Ziele einen Blick auf die aktuelle Ausgangsituation in den drei Dimensionen werfen.
ÖKOLOGIE
Klimawandel – Erderwärmung durch Treibhauseffekt
Die Lage ist bedrohlich und wissenschaftlich ziemlich eindeutig: Falls der Ausstoß der klimaschädlichen Treibhausgase weiter so stark zunimmt wie in den letzten Jahrzehnten, droht der Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 um 60 bis 110 Zentimeter zu steigen. Gletscher, Eisschilde, Meereis und Permafrostböden werden weiter auftauen. Kleinere Gletscher, auch in Europa, könnten bis zum Jahr 2100 mehr als 80 Prozent ihrer Eismasse verlieren. Weltweit stieg der Meeresspiegel im 20. Jahrhundert insgesamt um 15 Zentimeter, aktuell erhöht er sich doppelt so schnell wie im Mittelwert des letzten Jahrhunderts: etwa um 3,6 Millimeter pro Jahr.4
Das Klima auf der Erde war zwar noch nie konstant, sondern schwankte auch schon zu Zeiten, als es den Menschen noch nicht gab. Im Unterschied dazu verzeichnen wir jetzt allerdings einen schnellen, exponentiellen Ausschlag in nur noch eine Richtung. Chartanalytiker von Aktien würden vom Ausbruch nach oben sprechen. Zwischen 2010 und 2019 lagen acht der global wärmsten Jahre seit 1880. Die Jahre 2015 bis 2019 waren die wärmsten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.5 Vom Menschen verursachte Emissionen haben dazu geführt, dass die CO2-Konzentration in der Atmosphäre heute um 40 Prozent über dem Niveau vor Beginn der Industrialisierung (etwa 1750) liegt und so hoch wie noch nie zuvor in den zurückliegenden 800.000 Jahren.
Wie ist es Wissenschaftlern möglich, eine so weit in die Vergangenheit zurückreichende Aussage zu treffen? Sobald Schnee auf den Eisschild fällt und sich zu Eis verdichtet, schließt er Luft ein und bildet mit diesen Luftblasen eine Momentaufnahme der Atmosphäre im Eis ab. Durch Bohrungen in der Antarktis bergen Wissenschaftler teils kilometerhohe Eiszylinder mit den über Jahrhunderte eingeschlossenen Luftblasen. Die Analyse dieser Blasen ergeben die Konzentration von Treibhausgasen in der sehr weit zurückliegenden Vergangenheit.
Der CO2-Gehalt in der Atmosphäre zeigt einen exponentiellen Anstieg
Angaben in zurückliegenden Jahren und parts per million (ppm)
Quelle: 6
Die Graphik zur CO2-Entwicklung verdeutlicht unser Problem: Wir haben es mit einem exponentiellen Anstieg zu tun. Bewegte sich der Anteil von CO2 in der Atmosphäre über „Urzeiten“ zwischen 150 und 300 ppm (parts per million), wurden 2019 erstmals 415 ppm gemessen. Wenn wir so weitermachen wie im Moment, werden 2060 etwa 560 ppm erreicht sein. Dann hätten wir Menschen die CO2-Menge in der Atmosphäre innerhalb von etwa zweieinhalb Jahrhunderten verdoppelt.7 Derzeit ist es auf der Erde 1,2 Grad wärmer als vor der Industrialisierung; auf dem aktuellen Pfad bewegen wir uns – bis zum Ende dieses Jahrhunderts – Richtung 3 Grad Erwärmung! Klimaforscher warnen, dass es ab 450 ppm richtig ungemütlich wird: Dann droht die Zwei-Grad Grenze mit Extremwetter und ökologischen Kettenreaktionen, die niemand mehr kontrollieren kann. Daher kommt im Bereich der Ökologie dem Schutz der Atmosphäre und damit der Regulierung der Erdtemperatur die entscheidende Rolle zu. Die Erdatmosphäre hält bzw. steuert die Temperatur auf der Erdoberfläche. Der physikalische Hintergrund ist leicht verständlich:
• Sonnenstrahlung durchdringt die Atmosphäre.
• Auf der Erdoberfläche wird ein Teil der Energie in Wärme umgesetzt, der übrige Teil als Infrarotstrahlung reflektiert.
• Ein Teil der Infrarotstrahlung wird von der Atmosphäre eingefangen und sorgt so für Temperaturen auf der Erde, die Leben ermöglichen. Bis zu welcher Höhe und mit welcher Geschwindigkeit die Temperatur weiter ansteigt, hängt vom Anteil der Treibhausgase in der Atmosphäre und damit maßgeblich vom Umfang der anthropogen emittierten Treibhausgase ab.
Der beschriebene sogenannte natürliche Treibhauseffekt mit seiner wichtigen Temperatur regulierenden Funktion wird durch die in der Atmosphäre enthaltenen Spurengase gewährleistet, hauptsächlich Wasserdampf und CO2, Methan (CH4) sowie Lachgas (Distickstoffoxid N2O). Die Treibhauswirkung von Methan – vornehmlich durch wasserbedeckte Reisfelder und extensive Viehzucht verursacht – ist zwar wesentlich stärker als die des CO2, wird in der Atmosphäre aber viel schneller wieder abgebaut. Spätestens seit den Kyoto-Abkommen konzentriert sich das Augenmerk beim Umweltschutz daher auf die Reduzierung des rund 80 Prozent der Treibhausgase ausmachenden CO2.8
Corona-bedingt sind im Jahr 2020 die Treibhausgas-Emissionen im Vergleich zum Vorjahr wegen der weltweiten Lockdowns gesunken, bewirkten aber nur eine winzige Delle in der aufsteigenden Kurve.9 Das Klimasystem ist träge. Heute emittiertes CO2 bleibt etwa 100 Jahre lang in der Atmosphäre und wirkt über diesen Zeitraum wärmend. Bildlich betrachtet füllen wir die Atmosphäre Jahr für Jahr mit CO2 wie einen Eimer mit Wasser. Wenn der Wasserhahn um zehn Prozent zugedreht wird, läuft trotzdem noch sehr viel Wasser ein und der Eimer füllt sich weiter. So stieg auch 2020 die CO2-Menge in unserer Atmosphäre weiter an, Lockdown-bedingt lediglich ein wenig langsamer.10 Deswegen überrascht es auch nicht, dass das Jahr 2020 trotz des Lockdown-bedingten Emissionsrückgangs das in Europa wärmste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen war. Es kommt noch ein wichtiger Aspekt hinzu: Heute emittiertes CO2 erhöht die Temperatur – vergleichbar dem Warmwerden einer konventionellen Herdplatte – nur langsam. Den wahren Effekt gegenwärtiger Emissionen erleben wir erst etwa zehn Jahre später. Reduzieren wir heute also Emissionen, wird der Klimaschutz-Effekt auch erst entsprechend zeitversetzt eintreten. Und was bis dahin passiert, haben wir schon gar nicht mehr in der Hand.11
Wir sollten festhalten: Trotz manch verbliebener Unklarheiten im Detail sind sich alle international anerkannten Organisationen wie Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC), NASA, oder auch die staatlichen Wissenschaftsakademien aus 80 Ländern einig: Der Klimawandel der letzten 200 Jahre ist ein Fakt, für den mit hoher Wahrscheinlichkeit der Mensch verantwortlich ist.12
Die deutschen Klimaziele
Im Pariser Klimaschutzabkommen hatte Deutschland für den Zeitraum bis 2020 auf Basis des Jahres 1990 eine CO2-Reduktion um 40 Prozent zugesagt. Nachdem wir Ende 2019 eine Reduktion um nur 35,7 Prozent ausweisen konnten, hätte unser Land nach einer Analyse der Denkfabrik Agora Energiewende den Zielwert mit einem Ergebnis von 37,8 Prozent verfehlt.13 Die „Bremsspuren“ der Covid-19-Pandemie in Produktion und Verkehr verhinderten dies und führten für das Jahr 2020 zu einer Übererfüllung (40,8 Prozent). Im Sport sind es oft glückliche oder unerwartete Ergebnisse, die bei Gewinnern viel Freude auslösen. Wenngleich das deutsche Klimaziel von vornherein hätte ambitionierter sein sollen, das Ergebnis war ein Erfolg, über den wir uns freuen dürfen. Denn immerhin sind in den zurückliegenden 30 Jahren in drei Bereichen deutliche CO2-Reduktionen gelungen: Im Energiesektor um fast 39 Prozent, im Sektor Industrie um rund 40 Prozent und bei den privaten Haushalten vor allem dank besserer Heizungen um etwa 42 Prozent. Nur der Verkehrssektor stagnierte auf hohem Niveau.
Entwicklung der CO2-Emittenten in Deutschland nach Sektoren
Angaben in Millionen Tonnen CO2-Äquivalente (ohne Schwefeldioxid)
Quelle: 14
Obgleich der Sektor Energie mit einem Anteil von 40 Prozent der Hauptemittent geblieben ist, haben sich die erneuerbaren Energien in unserer CO2-Bilanz sehr ausgezahlt: Ihr Anteil am Bruttostromverbrauch stieg von 3,4 Prozent im Jahr 1990 auf 49 Prozent im Jahr 2020. Die weiteren Meilensteine bei den deutschen Klimaschutzzielen wurden von der Bundesregierung im Klimaschutzgesetz (KSG) Ende 2019 wie folgt definiert:
• Bis 2030 sollten die CO2-Emissionen im Vergleich zu 1990 um 55 Prozent sinken und
• bis 2040 um mindestens 70 Prozent reduziert werden.
• 2050 sollte Klimaneutralität erreicht werden.
Entwicklung und Ziele der CO2-Emissionen in Deutschland
Angaben in Millionen Tonnen CO2-Äquivalente (ohne Schwefeldioxid)/Prozentangabe auf Basis 1990
Anpassung der Ziele
Beschluss der Bundesregierung vom 12.05.2021
Quelle: 15
Um die Ziele im Jahr 2030 sicherzustellen und Transparenz über Emittenten und Handlungsfelder zu schaffen, schlüsselte die Bundesregierung im KSG die Wirkungsbereiche erneut auf Sektoren auf:16 Der Energiesektor sollte bis 2030 eine Emissionsreduktion auf der Basis von 1990 um 61 bis 62 Prozent erreichen, die Industrie 49 bis 51 Prozent, der Gebäudebereich 66 bis 67 Prozent, der Sektor Verkehr 40 bis 42 Prozent und die Landwirtschaft 31 bis 34 Prozent. Die Transformationsziele wurden in Anlage 2 des KSG ausgewiesen, allerdings in Jahresschritten nur bis einschließlich 2030, nicht für die Jahre 2031 bis 2050.
Quelle: 17
Flankierend wurden von der Bundesregierung bereits eine Reihe Maßnahmen beschlossen, um die Sektorenziele zu unterstützen, beispielsweise
• das Paket für den Kohleausstieg,
• die nationale CO2-Bepreisung von fossilen Brennstoffen ab 2021,
• Prämien für Elektrofahrzeuge und
• verbesserte Förderkonditionen für die energetische Gebäudesanierung.
Das Bundesverfassungsgericht legt die Generationenschraube an
Mehrere junge Beschwerdeführer legten Verfassungsbeschwerde gegen das oben in Text, Balkendiagramm und Tabelle wiedergegebene KSG ein und bekamen Recht: Am 24.03.2021 verkündete das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein wegweisendes Urteil18, das in ersten Reaktionen als „spektakulär“ und „epochal“ bezeichnet wurde. Tatsächlich liest sich die Entscheidung auf 70 engst beschriebenen Seiten wie ein Paradigmenwechsel, verpflichtet sie die Politik doch zu einer generationenübergreifenden Betrachtung und Rechtssetzung. Der Entscheidung des BVerfG lagen zwei wesentliche Ausgangsüberlegungen zu Grunde:
• Bei unserer heutigen Lebensweise sei nahezu jegliches Verhalten unmittelbar oder mittelbar mit dem Ausstoß von CO2 verbunden. Deswegen stehe nur noch ein taxierbares Restbudget an CO2-Emissionen zur Verfügung, um die Erderwärmung innerhalb des Zielpfades des Pariser Klimaabkommens zu begrenzen. So habe der Sachverständigenrat des IPCC für Deutschland ein ab 2020 verbleibendes nationales Restbudget von 6,7 Gigatonnen ermittelt, bei dessen Einhaltung es gelingen müßte, den Anstieg der mittleren Erdtemperatur mit einer Wahrscheinlichkeit von 67 Prozent auf 1,75 °C zu begrenzen. Da das KSG mit seiner Anlage 2 jedoch bereits gut sechs Gigatonnen CO2-Emissionen bis 2030 zulässt, verbliebe für die Zeit ab 2030 bis 2050 vom nationalen Restbudget weniger als eine Gigatonne.
• Zwar ließe sich das CO2-Restbudget nicht so exakt ermitteln, dass es für die verfassungsgerichtliche Kontrolle ein zahlengenaues Maß bieten könne. Jedoch dürfe der Gesetzgeber seine Wertungsspielräume nicht nach politischem Belieben ausfüllen: Das Restbudget würde aber nach 2030 kaum für ein Jahr ausreichen.
Aus diesen Grundüberlegungen leiteten die Richter folgendes ab: Wird das nationale CO2-Restbudget in den kommenden nahen Jahren unter Verzicht notwendiger Einschränkungen der Freiheitsrechte von Bürgern und der Industrie im vom KSG eingeräumten Rahmen verbraucht, würde in den Jahren danach auf dem Pfad zur CO2-Neutralität eine radikale Reduktionslast verbleiben. Bei einem Verzicht auf einen schnellen Klimaschutz würden die Folgen für die Menschen in einigen Jahren derart dramatisch und existenziell, dass kaum mehr Handlungsspielräume blieben. Vielmehr wären dann für die Transformation in eine klimaneutrale Wirtschaft und Gesellschaft sehr tiefe Einschnitte in die Lebensführung notwendig, um die allerschlimmsten Folgen der Klimaveränderung abzuwenden: Ähnlich wie in Corona-Zeiten könnte die Klimakrise dann einen permanenten Ausnahmezustand erfordern, der von Zwang statt von Freiheit gekennzeichnet wäre. Somit umfasse die aus Art. 2 Abs. 2 GG bestehende Schutzpflicht des Staates auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit der Menschen künftiger Generationen vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen. Die Schonung künftiger Freiheitsrechte verlange, den Übergang zur Klimaneutralität rechtzeitig einzuleiten. Das sei im KSG nicht erfolgt und verletze daher Grundrechte der Kläger.
Im Ergebnis forderte das BVerfG den Gesetzgeber auf, bis Ende 2022 im KSG eine Konkretisierung der Maßnahmen für die Zeit nach 2030 vorzunehmen. Die Überarbeitung des KSG müsse mit transparenten Maßgaben für die weitere Ausgestaltung verbleibender Emissionsmöglichkeiten und Reduktionserfordernisse nach 2030 versehen werden, differenziert nach Jahresemissionsmengen und Reduktionsmaßgaben.
Das BVerfG monierte weiterhin Fehler im Gesetzgebungsverfahren: Anders als bislang im Klimaschutzgesetz vorgesehen, muss der Gesetzgeber die erforderlichen Regelungen zur Größe der für bestimmte Zeiträume zugelassenen Emissionsmengen selbst treffen. Verordnungen der Bundesregierung mit einer schlichten Parlamentsbeteiligung durch Zustimmung des Bundestags seien nicht ausreichend.
Was kann schon jetzt aus dieser Entscheidung des BVerfG abgeleitet werden?
Die Maßnahmen zur CO2-Reduktion für die Zeit bis 2030 müssen ergänzt werden. Ohne diesen Schritt bleibt eine Erhöhung des verbleibenden Restbudgets in den Jahren 2030 bis 2050 unmöglich. Die Politik wird dadurch kurzfristig viel stärker als bislang in Zielkonflikte zwischen der Wahrung von Freiheitsrechten der Bürger, dem Schutz der Ökologie und den Interessen der Wirtschaft geraten. Die Herausforderung besteht darin, den Transferweg zusammen mit der Wirtschaft zu vereinbaren und zu gestalten.
Auf Seiten der Bundesregierung, die im Verfahren bekundete, bislang nicht mit nationalen CO2-Budgets gerechnet zu haben, ist nun Rechendisziplin gefordert: Die CO2-Budgets der kommenden knapp drei Jahrzehnte müssen realitätsgerecht kalkuliert werden; es gilt auch für die ferneren Jahre sektorenbezogen plausible Verbrauchsentwicklungen zu projizieren. Vorsorglich haben die Richter die Generationenschraube schon mal recht fest angezogen: Bei wissenschaftlicher Ungewissheit über umweltrelevante Ursachenzusammenhänge lege Art. 20a GG dem Gesetzgeber eine besondere Sorgfaltspflicht auf! – Immerhin kann nichts dagegensprechen, technische Fortschritte und Maßnahmen zu berücksichtigen, die die aktuelle Generation der kommenden Generation zur Nutzung überlässt und ihr zu einem CO2-reduzierten Lebensstil verhilft: errichtete Windräder und Solaranlagen, eine Digitalisierung der (Land-)Wirtschaft, der Umstieg auf Elektrofahrzeuge, der Ausbau von Fernwärme oder der Bau von energieeffizienten Häusern.
Man darf erwarten, dass die Kläger das modifizierte Gesetz mit seiner neuen Budgetkalkulation sehr genau auf Plausibilität überprüfen werden. Bei fehlender Ausgewogenheit über die Generationen hinweg werden sie wohl nicht scheuen, erneut den Rechtsweg zu beschreiten. Dann wird es nicht mehr um das Ob des Ausgleichs zwischen Freiheits- und Umweltschutzrechten gehen, sondern um das ganz konkrete Wie – die Ausgewogenheit in den verbleibenden knapp drei Jahrzehnten.
Was bedeutet die Entscheidung für den Bürger und unsere Unternehmen?
Ob uns das gefällt oder nicht: Die Freiheit eines kohlenstoffintensiven Lebensstils – Mobilität, Reisen, Heizen, Essen oder viele Hobbys – driftet künftig wohl aus einer bislang fast ausschließlichen Selbstverantwortung des einzelnen Bürgers stärker in einen staatlich regulierten Raum. Die individuelle Lebensgestaltung ist nicht mehr allein eine Frage der Ausübung individueller Freiheit; sie unterliegt plötzlich dem Druck einer CO2-neutraleren Lebensführung: Der persönliche CO2-Fußabdruck bleibt gefühlt nicht mehr nur ein eigenes Datum, sondern wird Ausdruck gelebter Solidarität. Aus „Flugscham“ könnte „CO2-Scham“ erwachsen. Auch auf diesem Wege werden Auswirkungen des Urteils schnell die Unternehmen erreichen: Denn der höchstrichterlich eingeforderte Transformationsweg in ein klimaneutrales Leben wird den Blick der Verbraucher auf die Produktwelten schärfen. Die Zahl der Konsumenten, die nach nachhaltigen Angeboten suchen und diese in Produktwelten einfordern werden, wird sehr spürbar zunehmen! Fehlende Nachhaltigkeit im Sortiment wird zum Wettbewerbsnachteil, Beiträge und Erfindungsreichtum bei der CO2-Reduktion zum Wettbewerbsvorteil. Für die Freiheit des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes nach Art. 14 GG gilt daher das Gleiche wie für das Freiheitsrecht des einzelnen Bürgers: Die Verpflichtung zur Rücksichtnahme auf die Umwelt und eine Minderung der CO2-Last der eigenen Geschäftstätigkeit wird die Prozesse in den Unternehmen noch viel intensiver erfassen; sie müssen nicht nur digital, sondern auch CO2-neutral werden.
Wesentlicher Erfolgsfaktor wird die Kommunikation im Transformationsprozess und ein positives Mindset für Klimaschutzmaßnahmen sein. Wirtschaft und Bürger müssen für die Dekarbonisierung gewonnen werden – keine einfache Aufgabe, denn die Menschen werden Veränderungen erfahren, die mit dem Gefühl des Verlusts individueller Freiheiten und sinkendender Lebensqualität einhergehen: Viele Lebensgewohnheiten bedingen aktuell noch den Verbrauch fossiler Ressourcen. Der Lösungsweg wird deswegen auch eine Antwort darauf geben müssen, wie die Lasten innerhalb der jetzt konsumierenden Generation fair verteilt werden können.
In unmittelbarer Reaktion auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beschloss die Bundesregierung bereits am 12.05.2021 eine Anpassung der Ziele im KSG: Deutschland soll schon bis zum Jahr 2045 Klimaneutralität erreichen. Gleichzeitig wurde die Erarbeitung eines Sofortprogramms von Maßnahmen mit einem zusätzlichen Fördervolumen von acht Milliarden Euro angekündigt. Die Verschärfung der Ziele erhöht den Druck auf der Maßnahmenebene; man darf auf den Lösungsweg gespannt sein!
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dürfte die Republik verändern! Wir werden auch in diesem Buch deswegen noch mehrfach auf sie zurückkommen.
Die unterschätzte Gefährdung von Ökosystemleistungen
In unserer Region wird die Erderwärmung mit einer steigenden Zahl an Sonnentagen nicht als besonders beeinträchtigend empfunden. Entwickelt sich der Rhein zum Rinnsal, so dass sich der Treibstofftransport über den Wasserweg erschwert und dessen Preise an den Tankstellen steigen, kommt schon mal Unbehagen auf. Viele Menschen vermissen an Weihnachten auch Schnee und beobachten auf längeren Autofahrten verdurstende Nadelwälder. Erst Bilder von Naturkatastrophen nehmen der Klimaerwärmung ihre Unsichtbarkeit und werden zur hässlichen „Fratze des Klimawandels“,19 mit Verwüstungen nach Überschwemmungen, Wirbelstürmen und Waldbränden. Rund 90 Prozent aller Naturkatastrophen sind wasserbedingt:20
• Im Zeitraum zwischen 1995 und 2015 waren 2,3 Milliarden Menschen von Überschwemmungen betroffen, 157.000 Menschen starben. Der Sachschaden belief sich auf 662 Milliarden US-Dollar.
• 1,1 Milliarden Menschen litten unter Dürren, 22.000 verloren ihr Leben. Der Sachschaden betrug 100 Milliarden US-Dollar.
Viele Leser werden noch die vergleichenden Bilder im Buch von Al Gore mit dem Titel „Eine unbequeme Wahrheit“ aus dem Jahr 2006 vor Augen haben: Gletscher- und Polkappenentwicklungen, Tropenstürme und Wüstenneubildungen mit bedrohlich wirkenden Graphiken. Die Wahrheit ist heute noch unbequemer als damals! Nach vielen weiteren erklärenden und warnenden Publikationen soll hier nur eine Facette der Klimaveränderung nochmal aufgegriffen werden: Der Verlust an Biodiversität. Denn wir Menschen sind auf eine Vielzahl sogenannter Ökosystemdienstleistungen angewiesen, definiert als „Nutzenstiftungen“ oder „Vorteile“, also etwa21
• das Bestäuben von Obstblüten durch Insekten,
• die Bereitstellung von nutzbarem Bewässerungs- und Trinkwasser durch natürliche Filtration von Niederschlag,
• die Reproduktion von Fischpopulationen als Nahrungsmittel oder
• eine gute Luftqualität bzw. ansprechende Umwelt für Freizeit und Erholung.
Die Bedeutung der Biodiversität wird erst durch Auswirkungen ihres Verlusts richtig deutlich: Zoonosen sind von Tieren auf Menschen überspringende Krankheitserreger. Sie sind Folge der Zerstörung von Lebensräumen für Wildtiere. Das Covid-19-Virus und die gerade durchlebte Pandemie zählen dazu! Denn tatsächlich ruft die Natur viele positive Effekte hervor, sie bildet aber auch den Ursprung der meisten Infektionskrankheiten.22 Anders als bei CO2-Emissionen lassen sich Defizite bei der Biodiversität auch nicht an anderen Orten kompensieren. Es handelt sich um ein regionales Problem, wenngleich vielfach überregional verursacht. Mit der Beeinträchtigung der Biodiversität ziehen wir Menschen uns also bildlich betrachtet mit einiger Wucht selbst den Teppich unter den Füßen weg. So hat der Verlust der Biodiversität sowohl an Land als auch in den Meeren bereits ein bedrohliches Maß erreicht:
• Israelische Forscher haben im Jahr 2020 den Eingriff der Menschen in die Biodiversität seit der ersten landwirtschaftlichen Revolution errechnet: Danach haben wir die pflanzliche Biomasse von rund zwei Teratonnen (2.000.000.000.000 Tonnen) auf gegenwärtig rund eine Teratonne halbiert. Im Gegenzug seien etwa die gleiche Menge nichtbiologischer Dinge wie Gebäude, Straßen, Maschinen und Produkte entstanden.23 Ein Prozess, der keinesfalls abgeschlossen ist: Bis 2060 wird sich der weltweite Gebäudebestand verdoppeln, die Umwandlung von Flächen für neue Infrastruktur und verschiedenste wirtschaftliche Nutzungen nimmt immer noch in großem Ausmaß zu. Auch zur Versorgung der wachsenden Weltbevölkerung und für zunehmenden Konsum wurden natürliche Lebensräume verändert. Die Landwirtschaft expandierte in den Jahren 1980 bis 2000 um 100 Millionen Hektar und nutzt heute mehr als ein Drittel der weltweiten Landfläche zur Erzeugung pflanzlicher oder tierischer Produkte. Die globale Waldfläche beträgt nur noch 68 Prozent des geschätzten vorindustriellen Niveaus.
• Das Wasser in den Meeren spielt für das Klima eine entscheidende Rolle, umgekehrt wirkt sich das Klima auf die Meere und die darin lebende Tier- und Pflanzenwelt aus: Die Erwärmung führt zur Ausdehnung des Wassers, bedingt durch Meeresströmungen in ungleicher Verteilung. Doch fast durchweg geht der Sauerstoffgehalt im Wasser zurück. In den letzten 150 Jahren haben sich dadurch die von Korallen besiedelten Flächen nahezu halbiert.24 Die Ozeanversauerung macht es den Korallen zunehmend schwer, ihre Kalkskelette auszubilden; sie verhungern schlichtweg.25 So wurden zwei Drittel des seit 200 Millionen Jahren existierenden Great Barrier Reef vor der Ostküste Australiens in den Jahren 2015 bis 2017 – den drei global bislang wärmsten Jahren seit Beginn der Aufzeichnungen – schwer geschädigt.26 Im östlichen Mittelmeer vor der Küste Israels erwärmte sich das Wasser zwischen 1980 und 2013 um etwa drei Grad, im Sommer bis auf 32 Grad Celsius. Forscher stellten einen kausalen Rückgang der Artenzahl von Weichtieren bis zu 95 Prozent fest27 und sehen den Beginn eines Kontrollverlustes, einen sogenannten Klima-Kipppunkt des Erdsystems, dessen Überschreiten zu unumkehrbaren, verhängnisvollen Veränderungen führt. Insoweit muss uns ein Satz des Schriftstellers Martin Kessel warnen: „Man glaubt für gewöhnlich, es gäbe keine Steigerungsform von tot. Diese gibt es aber doch: ausgestorben.“28 – Auch unsere jahrzehntelange Überfischung hat die Fischbestände teils bedrohlich reduziert. Den verbliebenen Tieren erschweren wir ein Überleben, in dem wir über 80 Prozent des globalen Abwassers unbehandelt in die Umwelt geben, ergänzt um Unmengen von Plastikmüll. Düngemittel haben in Küstenökosystemen zu über 400 Sauerstoffmangel-Zonen mit einer Gesamtfläche von mehr als 245.000 km2 geführt.
Im Jahr 2010 beschlossen die Vertragsstaaten der UN auf ihrer 10. Vertragsstaatenkonferenz einen umfangreichen „strategischen Plan“ zum Erhalt der biologischen Vielfalt mit einer Laufzeit von 2011 bis 2020. Dieser Plan bestand im Wesentlichen aus 20 konkreten Kernzielen – den „Aichi-Targets“. Bereits auf der 13. Vertragsstaatenkonferenz 2016 in Cancún wurde klar, dass alle Länder auf dem Weg der Zielerreichung große Rückstände aufwiesen. Auf der 14. Vertragsstaatenkonferenz 2018 in Scharm El-Scheich wurde deswegen bereits über ein mögliches Nachfolgeabkommen mit stärkerer Verbindlichkeit in der Zielerreichung diskutiert. Corona-bedingt musste die entscheidende 15. Vertragsstaatenkonferenz auf 2021 verschoben werden.29 Insoweit bleibt allen Teilnehmern ausreichend Gelegenheit, den 2019 nach dreijähriger Zusammenarbeit von 145 Wissenschaftlern aus 50 Ländern entstandenen Bericht des Weltbiodiversitätsrats zu verinnerlichen. Er soll auch dazu beitragen, die Umsetzung der SDG zu bewerten, und gelangt mit Blick auf die Biodiversität zu dem Ergebnis, dass rund eine Million Arten vom Aussterben bedroht sind; viele bereits in den kommenden Jahren.30
Der „Living Planet Report“ der Umweltstiftung WWF und der Zoologischen Gesellschaft London bestätigt die Gefahr der weltweit schwindenden Biodiversität: Alle zwei Jahre erstellt, analysiert der Bericht die Entwicklung der Tierwelt, jeweils rund 21.000 Bestände von etwa 4.400 Wirbeltierarten – nur ein kleiner Ausschnitt der von Biologen weltweit geschätzten 10 bis 20 Millionen Tier- und Pflanzenarten. Allen bisherigen Bemühungen der Staaten beim Klimaschutz zum Trotz brachte der Bericht 2020 keine Entwarnung:31
• Mehr als zwei Drittel der untersuchten Tierwelt sind in den vergangenen 50 Jahren vom Menschen vernichtet worden. Die Populationen von Tieren, Vögeln und Fischen sind seit 1970 um fast 70 Prozent geschrumpft.
• Lateinamerika steht insgesamt „herausragend schlecht“ da.
• In Europa liegt das Minus der untersuchten Tierarten bei 25 Prozent. Die stärksten Eingriffe in die Landschaft seien bei uns allerdings vor 1970 und damit vor Beginn des Untersuchungszeitraums geschehen, was den vergleichsweise guten Wert erklärt.
Eine Studie der Unternehmensberatung Boston Consulting und des Bundes Naturschutz aus dem Jahr 2020 kommt zu dem Schluss, dass vor allem fünf große Wirtschaftssektoren für den globalen Artenverlust verantwortlich sind: Land- und Forstwirtschaft, Rohstoffabbau, industrielle Produktion sowie die Ausweitung von Infrastruktur.32 – Bleibt die Frage, ob der Verlust an Biodiversität umkehrbar ist. Die ermutigende Antwort lautet: Ja, der Verlust terrestrischer Biodiversität lässt sich stoppen, vorausgesetzt, wir weisen mehr Schutzgebiete aus und verändern unsere Landnutzung und das damit verbundene Ernährungssystem.33 Dazu später mehr.
Der CO2-Fußabdruck schafft Transparenz und Ansporn
Da CO2-Emissionen den Klimawandel am stärksten antreiben, ist die Berechnung der Emissionsentwicklung für gezielte Interventionen mit dem Ziel einer Reduktion besonders wichtig. So wissen wir heute, dass seit 1970 unser ökologischer Fußabdruck die Regenerationsfähigkeit der Erde übersteigt und wir Menschen innerhalb der vergangenen 70 Jahre mehr Energie verbraucht haben, als in den 12.000 Jahren zuvor.34 Wie aber werden die Emissionen für Personen, Unternehmen und ganze Staaten ermittelt?
Der ökologische Fußabdruck berechnet die biologisch produktive Fläche auf der Erde, die notwendig ist, um den Lebensstil und -standard eines Menschen dauerhaft zu ermöglichen. Dabei zeigt sich, wer wieviel globale Biokapazität in Anspruch nimmt. Der ökologische Fußabdruck steht also für den menschlichen Druck auf die Erde. Ausgangserkenntnis bei CO2-Berechnungen ist, dass alle menschlichen Aktivitäten, die Emissionen verursachen, Bestandteil unseres Inventars sind – vom Kraftwerksbetrieb über Transport und Verkehr bis zur Landwirtschaft sowie letztlich bis zu jedem produzierten Konsumprodukt und zur Abfallwirtschaft. Grundlage für die Berechnung jeglicher Aktivität sind statistisch erfasste Größen, etwa über die eingesetzten Brenn- und Kraftstoffe oder die Tierbestände. Aus der Multiplikation mit Emissionsfaktoren errechnet sich der CO2-Ausstoß.35 So wissen wir beispielsweise sehr genau, wieviel Kraftstoff pro Jahr in Deutschland verkauft wird. Auf dieser Grundlage lassen sich mit Zulassungszahlen, Motorgrößen, Treibstoffarten und vielen anderen Parametern die Emissionen des Straßenverkehrs nach Verkehrsträgern (LKW, PKW) ermitteln. 39 Prozent des weltweiten CO2-Fußabdrucks gehen auf Bau und Unterhalt von Gebäuden zurück; die zum Heizen, Kühlen und Beleuchten von Gebäuden genutzte Energie ist für 28 Prozent dieser Emissionen verantwortlich.36
In der Summe von Aktivitäten lassen sich so CO2-Fußabdrücke (englisch Carbon Footprint) für jeden Menschen, jede Organisation und jeden Staat errechnen. Die CO2-Bilanz – auch als Treibhausgasbilanz bezeichnet – gibt also an, welche Menge an CO2-Emissionen in einem abgegrenzten Zeitraum direkt und indirekt durch Aktivitäten verursacht wird. Bereits seit Jahrzehnten werden so Emissionsstatistiken erstellt. Über Länder und Kontinente ist die Verteilung und die Entwicklung daher sehr transparent.
Im Ländervergleich fällt im Verlauf der letzten 30 Jahre der enorme Anstieg der CO2-Emissionen in China und Indien ins Auge – zwei Nationen, deren Wirtschaftskraft sich in den letzten Jahrzehnten sehr stark erhöht hat. Aus großer Armut kommend, wurde in diesen Ländern bei der wirtschaftlichen Entwicklung lange wenig auf die Umweltauswirkungen geachtet.
Ausgewählte Länder – CO2-Emittenten (Angaben in Millionen Tonnen CO2)
Quelle: 37
In Diskussionen über den CO2-Ausstoß werde ich immer wieder mit dem Argument konfrontiert, Anstrengungen unsererseits in Deutschland seien vergebene Liebesmühe angesichts der weit überwiegenden Emissionen in China. Diese Argumentation wird gerne noch mit der Anzahl der in China gerade in Bau befindlichen Kohlekraftwerke untermauert. Zweifellos ist die Expansion Chinas bei fossilen Brennstoffen besorgniserregend. So hat sich seit der Jahrtausendwende die Raffineriekapazität dort annähernd verdreifacht. Großprojekte im Nordosten Chinas bauen die Rohölkapazitäten auch bis 2025 weiter aus. Eine Pro-Kopf-Betrachtung der Emissionen zeigt aber, dass es keine Rechtfertigung gibt, die eigenen Anstrengungen für CO2-Reduktionen in Deutschland zurückzufahren: Denn der Pro-Kopf-Ausstoß lag bei uns im Jahr 2017 immer noch 25 Prozent höher als der Pro-Kopf-Ausstoß in China. Aktuell sind wir bei einem Anteil an der Weltbevölkerung von etwa 1,1 Prozent für jährlich knapp 2 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich!
Pro-Kopf-Ausstoß – CO2-Emissionen im Ländervergleich (Angaben in Tonnen/Stand 2017)
Quelle: 38
Leider nehmen die CO2-Emissionen trotz Vereinbarungen zur Eindämmung weltweit weiter zu; innerhalb der EU28 sind sie in den letzten zwei Jahrzehnten immerhin zurückgegangen. Detaillierte länderbezogene Daten bietet das Joint Research Centre, der wissenschaftliche Dienst der Europäischen Kommission.39
Der CO2-Fußabdruck eines Unternehmens
Einen großen Anteil an der Entstehung von CO2-Emissionen haben wirtschaftliche Aktivitäten:
• Ausgangsgüter- und Produkttransporte mit LKW, Bahn, Schiff und Flugzeug,
• arbeitstäglicher Pendelverkehr von Mitarbeitern zwischen Wohnort und Arbeitsstätte,
• Geschäftsreisen von Mitarbeitern mit Auto, Zug oder Flugzeug.
• Im Zeitalter der Digitalisierung spielen aber auch Internetanwendungen eine immer stärkere Rolle für CO2-Emissionen. So produziert eine Google-Anfrage etwa 0,2 Gramm CO2. In Deutschland erfolgt dies täglich fast 3,5 Milliarden Mal. Pro Tag werden bei uns rund eine Milliarde E-Mails versendet, was rund 1.000 Tonnen CO2 verursacht. Das zunehmende Speichervolumen von Mails, Fotos und Videos in einer Cloud verbraucht immer mehr Energie. Weltweit produzieren IT-Geräte und IT-Anwendungen 800 Millionen Tonnen CO2 im Jahr, etwa ebenso viel wie die Gesamt-Treibhausgas-Emissionen Deutschlands im Jahr.40
Mit der Berechnung des CO2-Fußabdrucks eines Unternehmens (englisch: Corporate Carbon Footprint, CCF) wird Klarheit darüber geschaffen, durch welche Aktivitäten im Unternehmen wie viel CO2 erzeugt wird. So können emissionsreiche Geschäftsbereiche und Einsparpotenziale identifiziert werden. Die Erfassungsbreite ist natürlich groß, denn annähernd jedes menschliche Verhalten ist unmittelbar oder mittelbar mit dem Ausstoß von CO2 verbunden. Die Berechnungen für den CCF sind deswegen digital unterstützt: CO2-Rechner für Unternehmen erfassen, bilanzieren und dokumentieren alle von Unternehmen verursachten Emissionen entsprechend dem Greenhouse-Gas-Protocol (Scope 1 bis 3):
CO2-Fußabdruck von Unternehmen
• Im Scope 1 werden alle „direkten Emissionen“ erfasst, die aus Emissionsquellen innerhalb der unternehmenseigenen Systemgrenzen entstehen. Dazu zählen der Betrieb von Produktionsanlagen, Gebäuden und Flottenfahrzeugen, aber auch Dienstreisen und Übernachtungen, Papierverbrauch oder ein Kantinenbetrieb.
• Im Scope 2 finden sich CO2-Emissionen, die bei der Erzeugung von Energie entstehen, die das Unternehmen nicht selbst erzeugt. Dies sind vornehmlich Strom und (Fern-)Wärme, die von Enegieversorgern bezogen werden.
• Im Scope 3 werden CO2-Emissionen erfasst, die sich in dem Kerngeschäft vor- oder nachgelagerten Aktivitäten ergeben. In vorgelagerten Prozessen (3.1) fallen bspw. die Förderung von Rohstoffen für die Produktion an, der Transport von Zulieferteilen zur eigenen Produktionsstätte sowie der Pendelverkehr der Beschäftigten. In nachgelagerten Prozessen (3.2) gilt es, den Transportweg der Produkte zum Handel bzw. Kunden, die Nutzungsphase im Produktzyklus und auch die Entsorgung bzw. ein Recycling zu berücksichtigen.
Der größte Anteil der Emissionen findet sich bei den Unternehmen zumeist im Scope 3 und nicht bei den Emissionen aus den unternehmensinternen Aktivitäten. Das Arbeiten mit den Zahlen der CO2-Bilanz bedeutet zwar Mehrarbeit, muss aber nicht nur Last sein. Denn letztlich geht es ja darum, mit einer Minderung der CO2-Belastung möglichst Jahr für Jahr eine Erfolgsgeschichte zu schreiben.
Eine Selbsteinschätzung des eigenen CO2-Fußabdrucks kann im Übrigen auch jeder Bürger online, beispielsweise mit einem CO2-Schnellcheck des Bundesumweltamtes, vornehmen (https://uba. CO2-rechner.de/de_DE/).
Mehr Reduktionsdynamik durch CO2-Emissionshandel
2005 wurde in der Europäischen Union der sogenannte CO2-Emissionshandel eingeführt, der Kraftwerke, Fabriken sowie andere ortsfeste Anlagen umfasst. Er schafft für Unternehmen Anreize, weniger fossile Brennstoffe zu verbrennen, um dadurch Klimagas-Emissionen zu verringern. Das Instrument arbeitet auf zwei Ebenen nach dem Prinzip: „Cap and Trade“ (begrenzen und handeln). Über das Cap wird definiert, wie viele Emissionen alle einbezogenen Kraftwerke und Industrieanlagen in der EU zusammen emittieren dürfen. Das Cap wird am Gesamtabbauziel der Emissionen innerhalb der EU jährlich neu festgelegt; zuletzt betrug die Minderung der Zertifikate jeweils 2,2 Prozent.41 Die Zielgrößenordnung wird auch für jedes Unternehmen jedes Jahr neu festgelegt. Ein Unternehmen muss daher jährlich entsprechende Emissionsberechtigungen erwerben und zur Vermeidung von Strafzahlungen bei der zuständigen Stelle abgeben; dann werden sie gelöscht. Kann nun ein Unternehmen etwa wegen neuer technischer Anlagen seinen Emissionsausstoß verringern, so darf es im Trade nicht verbrauchte Emissionsberechtigungen an einer Emissionsbörse verkaufen (in Deutschland zum Beispiel an der Leipziger Börse eex). Ein Unternehmen, das wegen erhöhter Produktion mehr Emissionen ausstößt als es an Berechtigungen zugeteilt bekommen hatte, muss entsprechende Berechtigungen an der Börse ersteigern. So entwickelt sich auf Grund des Handels zwischen den Unternehmen ein Marktpreis sowie ein Anreiz, in umweltfreundliche Technik zu investieren. Da die Höchstgrenze, also das Cap, jedes Jahr weiter sinkt, steigt der Marktpreis. Das macht es für Unternehmen attraktiv, in CO2-mindernde Maßnahmen zu investieren.42
Nachdem die EU-Kommission im Green Deal (2020) für 2030 ein höheres CO2-Reduktionsziel von mindestens 55 Prozent (auf Grundlage von 1990) vereinbarte, deckten sich Anleger in Erwartung einer steigenden Nachfrage mit Emissionszertifikaten ein. Ende 2020 erreichten die von der EU ausgegebenen Papiere erstmals über 30 Euro je Tonne ausgestoßenes CO2; im Mai 2021 stieg der Preis sogar über 50 Euro!
Europäische Emissionsberechtigung (EUA) pro Tonne
Angabe CO2-Preis pro Tonne in EUR
Quelle: 43
Das EU-Emissionshandelssystem ist der weltweit größte CO2-Markt und umfasst 40 Prozent der Treibhausgase in der EU. Im US-Bundesstaat Kalifornien umfasst ein Emissionshandel die Sektoren Energie, Verkehr, Haushalte und Industrie und deckt damit sogar 80 Prozent aller CO2-Emissionen ab.44 Eine weltweit ähnliche Bepreisung von CO2-Zertifikaten – gleicher Preis für gleichartige Verschmutzung – wäre wichtig, um eine Verzerrung des Wettbewerbs von Volkswirtschaften zu vermeiden.
Carbon, Capture and Storage – Irrweg oder Ausweg?
Bislang konzentrieren sich die Bemühungen darauf, den CO2-Ausstoß durch die Reduzierung des Verbrauchs fossiler Brennstoffe, Änderung von Produktionsprozessen oder Vermeidung von Transportwegen zu vermindern. Neben der Reduzierung von Emissionen gibt es verschiedene Ansätze, Treibhausgase aus der Luft zu filtern, um ihr Entweichen in die Atmosphäre zu verhindern. „Carbon removal“ nennt sich die Branche, die daran arbeitet.
CO2-Abscheidung und -Speicherung (CO2-Sequestrierung) oder carbon dioxide capture and storage (CCS) wird das Verfahren zur Reduzierung von CO2-Emissionen genannt. Experten streiten darüber, ob die erforderliche dauerhafte Einlagerung von CO2 in unterirdische Lagerstätten angesichts der Gefahr unkontrollierter Ausgasung sinnvoll und förderungswürdig ist. Der UN-Klimarat IPCC sieht im Entzug von CO2 aus der Luft einen möglichen Lösungsweg. Auch die EU-Kommission bezieht diesen Weg in ihrer Studie zur „Klimaneutralität“ mit ein.45
Technisch scheint der Durchbruch für CCS gelungen. Das kanadische Unternehmen Carbon Engineering optimiert mit Forschern der Universität Harvard einen Prozess zur Kohlendioxid-Rückgewinnung: Direct Air Capture (DAC) ist eine Technologie, mit der CO2 aus der Luft abgetrennt und in gereinigter Form zur Verwendung oder Speicherung bereitgestellt wird. Die DAC-Technologie von Carbon Engineering erledigt diese Aufgabe in einem geschlossenen Kreislauf, für den Wasser und Energie gebraucht wird. Der Output ist ein Strom von reinem, komprimiertem CO2, aus dem beispielsweise Kraftstoffe erzeugt werden. Die Technik wurde in einer Pilotanlage im kanadischen Squamish erfolgreich getestet. Die ursprünglich veranschlagten Kosten von 600 Euro pro Tonne CO2 sollen sich in einer industriellen Anwendung auf etwa 94 Euro reduzieren lassen. Carbon Engineering konnte Mitte 2020 in einer neuen Finanzierungsrunde 68 Millionen US-Dollar für den Bau einer industriellen Anlage gewinnen.46 B. Gates fördert die Negativemissionen-Technologie. Um eine weltweite CO2-Neutralität zu erzielen, ermittelte Gates 5,1 Billionen US-Dollar an Kosten pro Jahr – gleichbedeutend mit sechs Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Beruhigend ist, dass wir eine technische Lösung realisieren könnten, um die Erderwärmung aufzuhalten. Man möchte sich die Lösung allerdings nicht wünschen, denn Gates räumt ein, dass dafür weltweit 50.000 solcher Anlagen errichtet werden müssten.47 Bei CCS handelt es sich um eine Symptombehandlung, die ihrerseits eines dauernden Energieeinsatzes bedürfte.
Kurzfristig praktikabler und für die Reduktion von Industrie-Emisssionen sehr geeignet erscheinen Punktabscheidungen: An Produktionsanlagen mit besonders hohen CO2-Emissionen wird CO2 gefiltert und das Entweichen in die Atmosphäre verhindert. 26 solcher Anlagen gibt es weltweit bereits. Im norwegischen Brevik wird von HeidelbergCement ein solches CCS-Projekt erstmals in einem Zementwerk im industriellen Maßstab umgesetzt. 50 Prozent der CO2-Emissionen des Werkes sollen so ab 2024 gefiltert werden. Die Finanzierung des Projekts wird im Rahmen des norwegischen Klima-Investitionsprojekts „Longship“ stark von der norwegischen Regierung unterstützt.48 – Siemens Energy und der norwegische Spezialist Aker Carbon Capture wollen die CCS-Technik für die Anwendung in Gaskraftwerken entwickeln. Doch es sei nochmals daran erinnert: Das abgeschiedene CO2 muss dauerhaft und sicher gelagert werden.
Neben CCS gibt es ökosystembasierte Lösungen zum Absorbieren von CO2:
• Das Wachstum von Bäumen durch Aufforstung von Wäldern bindet CO2.49 Bereits heute speichern Europas Wälder rund 100 Millionen Tonnen CO2 jährlich, was etwa zehn Prozent der europäischen Emissionen aus fossilen Energieträgern entspricht. Wird die Aufforstung mit geschützten Landschaften verbunden, unterstützt dieser Weg zugleich die Biodiversität. Problem ist aber die sogenannte „Vulnerabilität“: Kommt es etwa zu großflächigen Waldbränden, wird das CO2 schlagartig wieder freigesetzt. Auch starke Stürme und Schädlingsbefall können den Erfolg mindern.
• Ein Anbau von schnell wachsenden Pflanzen zur Gewinnung von Bio-Energie. Während ihres Wachstums ziehen die Pflanzen CO2 aus der Luft und wandeln es in Fett und Stärke um. Werden die Pflanzen zu Kraftstoffen wie Ethanol oder Biodiesel verarbeitet, kann das CO2 aufgefangen werden, muss dann aber auch in unterirdische Lagerstätten gepresst werden. BECCS heißt dieses Verfahren und steht für „Bioenergy with Carbon Capture and Sequestration“.50
• Erhalt oder Renaturierung von Sumpfbereichen.
Vielleicht ist die beste Idee zur Sequestrierung von CO2 noch nicht geboren. E. Musk, CEO von Tesla, will genau das wissen und kündigte einen Wettbewerb mit einem Preisgeld von 100 Millionen Dollar an. Teilnehmer sollen einen Plan entwickeln, wie jährlich 1.000 Tonnen CO2 unter Berücksichtigung von Kosten und Skalierbarkeit mindestens 100 Jahre gebunden werden können.51 So packt ein herausragender Unternehmer unserer Zeit Probleme an; in diesem Fall aber nicht ganz ohne Beispiel: Beim Erfinderpreis 2021 des Europäischen Patentamts sind C. Gürtler und W. Leitner, zwei deutsche Forscher, mit ihrer Entwicklung einer Technologie nominiert, die CO2 als Baustein für hochwertige Kunststoffe nutzt.52
Öko-Ratings – Carbon Disclosure Project
Die drei ältesten und größten Rating-Agenturen Fitch, Moody´s und Standard & Poors wurden Anfang des 19. Jahrhunderts in den USA als Familienbetriebe gegründet und sind privatwirtschaftliche Unternehmen, heute zu großen Teilen im Besitz von Vermögensverwaltern: Blackrock hält hohe Anteile an S&P, Fitch gehört zu 100 Prozent der US-Mediengruppe Hearst Communications. – Rating-Agenturen werden bspw. von Banken, Versicherungen und Unternehmen damit beauftragt, für sich und ihre Wertpapiere Ratings zu erstellen. Selbst Länder, Städte und öffentliche Unternehmen sind heute auf Bewertungen ihrer finanziellen Solidität angewiesen. Für die bewerteten Institutionen und für Investoren haben Ratings hohe Relevanz: Schwache Einstufungen führen bei Kapitalanleihen am Markt zu höheren Zinsen. In Deutschland finden sich zwar auch Rating-Agenturen (bspw. Creditreform), weltweit dominieren die drei großen amerikanischen Agenturen allerdings mit zusammen 93 Prozent den Weltmarkt. Sie bezeichnen ihre Bonitäts-Einschätzungen als „Meinungen“, um – vor amerikanischen Gerichten erfolgreich – jegliche Schadenersatzprozesse bei Fehleinschätzungen zu umgehen.
Ohne Einfluss auf die Ratings der Agenturen blieben lange ökologische Parameter. Noch relativ jung sind Öko-Ratings, die diese Lücke besetzen und Organisationen allein mit ökologischen Kriterien bewerten.53 Dabei geht es um Informationen über die nachhaltige Gesamtverantwortung von Unternehmen, wie zum Beispiel die ökologische Belastung von Produkten oder Dienstleistungen über den gesamten Lebenszyklus. Dabei werden alle Bereiche der betrieblichen Wertschöpfungskette, wie Beschaffung, Produktion, Absatz, Logistik, Controlling, Personal, Organisation und Finanzierung einbezogen. Ziel des Öko-Ratings ist es, die ökologische Performance von Unternehmen durch eine hochaggregierte Bewertung auszudrücken. Im Bereich der Öko-Rating-Agenturen konnten sich in Deutschland einige größere Agenturen etablieren: oekom research AG, Sustainalytics GmbH oder imug Beratungsgesellschaft für sozial-ökologische Innovation mbH. In der Schweiz sind es Inrate AG oder SAM Group Holding AG. Auftraggeber sind Asset-Manager und institutionelle Investoren, also etwa Fondsgesellschaften, die einen Nachhaltigkeitsfonds aufgelegt haben und verwalten. – Auch die großen amerikanischen Agenturen drängen inzwischen auf den Markt für Öko-Ratings und werben mit nachhaltigen Unternehmensbewertungen. Sie setzen auch auf Übernahmen, um spezialisierten Agenturen Marktanteile abzuringen.54
Weltweit stark engagiert ist im Bereich Öko-Rating die internationale Rating-Agentur CDP (Carbon Disclosure Project). Das CDP ist eine im Jahr 2000 in London gegründete Non-Profit-Organisation mit der weltweit größten Sammlung von unternehmensbezogenen Informationen zum Klimawandel. Die Daten werden CDP von den Unternehmen selbst zur Verfügung gestellt. CDP verfolgt zwei Ziele:
1. Die größten börsennotierten Unternehmen der Welt und auch Kommunen sollen ihre Umweltdaten offenlegen und veröffentlichen, insbesondere die klimaschädlichen Treibhausgas-Emissionen und den Wasserverbrauch.
2. Organisationen sollen dazu gebracht werden, ihre Emissionen zu reduzieren.
Die Grundidee umschreibt CDP mit dem Satz: „You can´t manage what you don´t measure.“ In diesem Sinne wirbt CDP: „Wenn Sie dem CDP Bericht erstatten, können Sie sich einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, indem Sie regulatorische und politische Veränderungen vorwegnehmen, wachsende Risiken identifizieren und angehen und neue Handlungsmöglichkeiten finden, die von ihren Investoren und Kunden auf der ganzen Welt gefordert werden.“55 CDP erstellt auf Grundlage der von Unternehmen aus der ganzen Welt zur Verfügung gestellten unternehmenseigenen Daten ein Scoring von A bis F. Bewertet werden von CDP Risiken und Chancen in Bezug auf Klimawandel, Wassersicherheit und Entwaldung. Stand 01. April 2020 wies CDP mehr als 8.400 Unternehmen, mehr als 800 Städte sowie mehr als 120 Staaten und Regionen in seinem Ranking auf. Weltweit haben 2020 etwa zwei Prozent der Unternehmen ein A-Rating.56 Interessant ist ein Blick auf die Ratings deutscher Unternehmen. Je acht Unternehmen erreichten 2020 ein A oder A-Rating, darunter die Deutsche Bahn, HeidelbergCement und die großen deutschen Automobilhersteller BMW, Daimler und Volkswagen.
CDP – Ranking deutscher Unternehmen
Angabe der Unternehmen mit Rating A, A- sowie Anzahl pro Rating B bis F, Stand April 2020
Quelle: 57
Aus den CDP-Daten 2019 wurde ermittelt, dass im Berichtszeitraum 882 europäische börsennotierte Unternehmen neu 124 Milliarden Euro in die Verringerung ihrer CO2-Emissionen investiert oder entsprechende Investitionen angekündigt haben. 59 Milliarden Euro davon flossen in CO2-arme Technologien, 65 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung. 69 deutsche Unternehmen meldeten CDP mit 44,4 Milliarden Euro europaweit den höchsten Anteil (36 Prozent) am Investitionsvolumen. Platz zwei und drei innerhalb der EU-Staaten nahmen die Unternehmen aus Spanien (37,9 Milliarden Euro) und Italien (24,3 Milliarden Euro) ein. Konzerne aus Großbritannien kamen 2019 hinter Frankreich (6,0 Milliarden Euro) und Dänemark (4,5 Milliarden Euro) mit Investitionen von 4,0 Milliarden Euro auf Rang sechs. Das ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass in einigen Ländern mehr Firmen aus dem Dienstleistungssektor mit geringeren Emissionen ansässig sind. – Das Ausgabenniveau insgesamt beeindruckt, liegt aber zu niedrig, um das EU-Klimaziel zur Emissionsfreiheit bis 2050 zu erreichen. Die Investitionsausgaben für kohlenstoffarme Technologien müssten dafür mehr als verdoppelt werden – von 59 auf 122 Milliarden Euro pro Jahr.58