Lettipark - Judith Hermann - E-Book
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Lettipark E-Book

Judith Hermann

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Beschreibung

Seit ihrem großen Debüt-Erfolg ›Sommerhaus, später‹ ist Judith Hermann berühmt für ihren unverwechselbaren Ton, die Eleganz und Schönheit ihrer Sprache. In ihren neuen Erzählungen setzt sie so konzentriert wie leicht die Worte, zwischen denen sich das unfassbare Drama der Existenz zeigt. Was geschieht, wenn wir jemandem begegnen? Wie nah können wir den Menschen sein, die wir lieben? Durch einen Blick, eine Berührung entsteht eine plötzliche Nähe, oder Menschen entfernen sich voneinander. Kinder, Exzentriker, ein Vater, der aus der Psychiatrie verschwindet – Menschen kreuzen unseren Lebensweg, begleiten uns, machen uns glücklich und bleiben unfassbar. Ein Fotograf betrachtet seinen Adoptivsohn, interessiert und distanziert, wie eines seiner Bildmotive, und seine Frau sieht diesen Blick. Vielleicht wird darüber alles zerbrechen. Ein alter Mann denkt an eine lange Reise nach Nantucket, die viele Jahre zurückliegt, zu Freunden, in ein Haus, das erst in Umrissen existierte. Walter hatte für ihn dieses Haus mit Worten in die Luft gezeichnet. Er glaubt sich an eine Umarmung zu erinnern, zum Abschied. Judith Hermanns Figuren sind manchmal ganz schutzlos. Umso intensiver sind ihre Begegnungen mit anderen, geliebten, fremden Menschen. Diese Momente geschehen beiläufig, unaufgeregt und entfalten unter der Oberfläche eine existentielle Wucht. In ihren Erzählungen spürt Judith Hermann diesen alles entscheidenden Momenten nach, unserer Einsamkeit und Wut und Sehnsucht.

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Seitenzahl: 168

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Judith Hermann

Lettipark

Erzählungen

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Inhalt

WidmungKohlenFetischSolarisGedichteLettiparkZeugenPapierfliegerInselnPappelpollenManche ErinnerungenGehirnBriefTräumeOstenRückkehrKreuzungenMutter

Für Christiane

Kohlen

Am Morgen waren die Kohlen gekommen. Wir waren früh aufgestanden und hatten das letzte Holz in den Ofen gelegt, wir hatten mit den Händen in den Jackentaschen frierend vorm Haus auf der Straße im Morgennebel gestanden und unseren weißen Atemwolken zugesehen. Die Kohlen kamen pünktlich, wir hatten den Kipper durch die schmale Gasse zwischen der Scheune und dem Traktorschuppen gewinkt, so weit wie möglich ran an den Stall, in dem schon seit Jahren kein Tier mehr gewesen ist. Die Briketts waren aufs Wintergras geprasselt, ein großer Haufen, gute Kohlen, kaum Bruch dabei, und der silbrige Kohlenstaub war in die Luft gestiegen.

 

Wir hatten den Vormittag damit verbracht, die Kohlen von der Wiese in den Stall zu schippen. Sieben Tonnen Kohle, wir hatten Schaufeln und Forken, und wir bildeten anfangs eine Kette, aber dann schien das sinnlos zu sein, und jeder arbeitete für sich alleine weiter. Der Nebel löste sich auf, und die Sonne kam raus, in den kahlen Ästen der Sträucher ließen sich vorsichtige Vögel sehen. Gegen Mittag machten wir eine Pause. Wir kochten Kaffee und setzten uns auf die Schwelle der Stalltür, die von den Schritten der Leute, die vor Jahrzehnten nach ihren Tieren gesehen hatten, ganz abgetreten war. Wir tranken den Kaffee und sprachen darüber, wie lange dieser Vorrat an Kohlen reichen würde. Sieben Tonnen – sieben Winter? Wir sagten, kommt auf den Winter an, und wir erinnerten uns an den letzten, der unwirklich kalt und lange gewesen war, ein Eiswinter mit Schnee bis in den Mai hinein. Wir verglichen den jetzigen mit den vergangenen Wintern, und wir sprachen über mögliche Anzeichen, die Borke der Bäume war in diesem Jahr besonders dick, und es hatte mehr Nüsse gegeben als in den Jahren zuvor, wir sagten, vielleicht würde dieser Winter noch kälter werden als der letzte. Aber mit diesem Vorrat an Kohlen konnte uns nichts passieren. Mit sieben Tonnen Kohlen im Stall waren wir in Sicherheit.

 

Wir hatten den Kaffee ausgetrunken und den Kaffeesatz ins Gras geschüttet. Wir saßen noch einen Moment auf der Schwelle, die Arbeit war fast getan, es lagen nicht mehr viele Kohlen draußen, nur noch ein Halbkreis, wie ein Wall um uns herum. Durch das Tor zur Straße, das wir hinter dem Kipper noch nicht geschlossen hatten, kam Vincent mit dem Rad auf den Hof gefahren. Vincent war vier Jahre alt, soweit wir wussten, wurde er bald fünf. Er kam mit Schwung um die Ecke, und er sah uns sofort, und er rollte mit dem Rad durch die Gasse zwischen der Scheune und dem Traktorschuppen auf uns zu und stoppte vor dem Wall aus Kohlen. Er hatte eine grüne Jacke an und einen ordentlich geknoteten Schal, er trug eine Mütze, und er hatte keine Rotznase. Er blieb auf dem Rad sitzen und stützte sich mit verschränkten Armen auf den Lenker, als wäre er nicht vier, sondern fünfzehn Jahre alt.

Er sah uns an und sagte, was macht ihr. Selbstverständlich. Er sagte das sehr selbstverständlich, und wir sagten, wir warten schon auf dich, wir schippen Kohlen, du kannst uns helfen.

 

Im letzten Winter war Vincents Mutter gestorben. Vincents Vater hatte sich von ihr getrennt, und sie hatte darüber zuerst die Nerven verloren, dann war sie krank geworden. Oder es war umgekehrt, sie war zuerst krank geworden und hatte dann die Nerven verloren, das war aber einerlei, weil es durch ihren Tod auf dasselbe hinausgelaufen war. Sie hatte eine Grippe verschleppt, und dann war ihr Herz angegriffen gewesen, und sie hatte davon einen Schlaganfall bekommen, dann noch einen und einen dritten, und schließlich hatten sie aufgehört, ihre Schlaganfälle zu zählen. Sie hatte drei Monate im Krankenhaus gelegen, am Ende war sie blind, konnte nicht mehr sprechen und nur noch den linken Fuß bewegen; die Ärzte hatten ihre Gehirnströme gemessen und waren der Meinung gewesen, sie wäre auf eine geheimnisvolle Weise immer noch da, und sie nannten diesen Zustand das Insichselbereingeschlossensein. Vincents Mutter hatte sich in sich selber eingeschlossen, als Vincent vier Jahre alt gewesen war.

 

Wir saßen in der winterlichen Mittagssonne mit den leeren Kaffeetassen vor dem Wall aus Kohlen. Uns war warm von der Arbeit, wir waren wach. Wir redeten mit Vincent, wir fragten ihn, ob ihn auf dem Weg zu uns nicht der Biber aufgehalten hätte, der Biber würde jedes Kind, das zu schnell auf dem Rad unterwegs sei, anhalten und dazu auffordern, langsamer zu fahren. Aber Vincent ließ sich nichts weismachen. Er sagte, ihr redet Quatsch, und er wurde so ärgerlich, dass wir aufhörten, auf diese Weise mit ihm zu sprechen. Wir sahen ihn an, wie er so auf seinem Rad saß und ein bisschen vor und zurück rollte und uns vorschlug, seine kleine Schubkarre zu holen und dabei zu helfen, die letzten Kohlen in den Stall zu schaffen, er sah aus wie einer, dem eine unsichtbare Hälfte fehlte, er sah aber auch aus wie einer, der eine halbe Glorie um sich herum hatte.

 

Wir dachten an seine Mutter, die eine anziehende Frau gewesen war, groß und zerbrechlich, mit einer unnachahmlichen Weise, beim Gehen die langen Beine zu setzen, ungelenk, wie ein Fohlen. Sie hatte immer einen wehmütigen Eindruck gemacht, aber wir hatten sie auch toben gehört, und da war sie alles andere als hilflos gewesen. In den ersten Wochen ihrer Erkrankung hatten wir sie auf der Station, auf der sie lag, besucht, da war sie schon blind gewesen und hatte immer wieder gesagt, es ist so schade, dass ich eure schönen Gesichter nicht sehen kann.

Es ist so schade, dass ich eure schönen Gesichter nicht sehen kann.

Wir hatten nicht gewusst, dass unsere Gesichter für Vincents Mutter schön gewesen waren, und wir waren mit dem Eindruck nach Hause gegangen, dass man manche Dinge erst sagen kann, wenn sie unwiderruflich vorbei sind.

 

Vincent stieg von seinem Rad und ließ es los. Er nahm ein Stück Kohle in die Hand, drehte es prüfend hin und her, kam über den Wall geklettert, stieg zwischen uns hindurch und ließ es auf den Haufen in der Stallecke fallen. Er kam zurück und stützte sich beiläufig an uns ab. Als seine Mutter gestorben war, hatte er seinen Vater gefragt, wie lange der Tod dauern würde, sein Vater hatte uns das erzählt.

Vincent sagte, ich glaub, ich lass das mit der Schubkarre. Ich kann euch auch ohne meine Schubkarre helfen.

Und also standen wir von der Schwelle auf und vertraten uns die Beine, wir hielten uns das Kreuz und streckten uns in der Wintersonne, und dann machten wir weiter. Wir schafften den Rest der Kohlen in den Stall, wir bildeten doch wieder eine Kette, und Vincent half uns. Seine Mutter hatte uns gezeigt, dass man an der Liebe sterben kann. Sie war der lebendige Beweis dafür gewesen, dass man an einem gebrochenen Herzen sterben kann, sie hatte sich aus Liebe in sich selber eingeschlossen. Es war eigenartig zu denken, dass das Vincents ganzes Leben bestimmen würde, und wir nahmen die Kohlen aus seinen kleinen schmutzigen Händen entgegen wie Hostien.

Fetisch

Als Ella vom Fluss zurückkommt, brennt hinter dem Circuswagen ein Feuer, aber Carl ist nicht zu sehen. Möglicherweise ist Carl schon wieder abgereist. Das Feuer ist sehr ordentlich, sorgfältig gegeneinandergestellte, gleichgroße Holzscheite, es qualmt nicht, brennt sauber und wird noch eine ganze Weile brennen. An den Rand der Feuerstelle, ein Kreis aus Feldsteinen, die von der Asche weiß geworden sind, hat Carl frisches Holz gestapelt, die Schnittstellen sind hell, das Holz ist leicht. Daneben liegt Reisig. Auf dem Klappstuhl an der Feuerstelle eine Decke.

 

Der Circuswagen ist alt, rot und blau gestrichen, die Farbe blättert ab. An der schmalen Seite führt eine Treppe zur Tür hoch, zwei Fensterchen gehen auf die Wiese raus. Um die Räder wuchern Disteln und verblühter Löwenzahn. Ella steigt die Treppe hoch und öffnet die Tür, möglicherweise hat Carl sich hingelegt; sie weiß, dass er sich nicht hingelegt hat. Das Bett ist gemacht und leer. Im Wagen ist es warm, Carl hat auch den Ofen geheizt. Die Einrichtung ist einfach, ein Klapptisch, zwei Stühle, von denen einer draußen am Feuer steht. Der Ofen in der Ecke, die Wäscheleine von einer Seite zur anderen und auf dem Bord über dem Bett ein einziges Buch, ein zerlesenes, zerknicktes »Totenschiff« von Traven. Ellas Koffer neben der Tür. Carls Rucksack ist nicht da, aber das hat nichts zu bedeuten, er nimmt den Rucksack immer mit, er lässt ihn nie aus den Augen.

Ella lehnt eine Weile an der geöffneten Tür und sieht in den Wagen hinein. Im Ofen zieht der Wind. Im Netz über dem Klapptisch wartet eine Spinne. Es riecht nach ihnen beiden. Sie macht die Tür wieder zu, steigt die Treppe runter und setzt sich auf den Klappstuhl ans Feuer. Weit weg, im Haus hinter der ungemähten Wiese, brennt schon Licht, die anderen Circuswagen, in einer Reihe, mit Abstand zueinander aufgestellt, sind dunkel. Als Carl und Ella am Mittag angekommen waren, war eine klapperdürre, bis zum Hals tätowierte Gestalt in einem Sari von der Treppe des Circuswagens neben ihrem hochgeschreckt und ins Wageninnere geflohen, als hätten sie sie bei einer elementaren Beschäftigung gestört; die Tür ist verschlossen, über der Tür dreht sich etwas im Wind, das mit Federn und Ästen geschmückt ist und von weitem aussieht wie der Totenschädel eines Tieres – ein Frettchen? Eine Ratte, ein Wiesel. Das Feuer zischt. Ella kann vom Fluss her die Vögel hören, das harte Schlagen ihrer Flügel. Graugänse, sie hatte sie auf ihrem Weg zum Fluss runter an den Uferwiesen aufgescheucht, und sie waren in Schwärmen hochgestiegen und zeternd und rufend über dem Wasser gekreist. Auf der anderen Flussseite war das Land wild und unbewohnt. In der Ferne ein Turm. Keine Menschenseele. Der Fluss war schnell, in seiner Mitte voller Wirbel und Strudel. Es war schon zu kalt gewesen, um ins Wasser zu gehen. Sie war eine Weile flussabwärts gelaufen, dann zurückgekehrt.

 

Also bleibt sie einfach am Feuer sitzen. Sie wird auf gar keinen Fall ins Haus rübergehen, zu den anderen rübergehen, sie kennt die anderen überhaupt nicht, diese Leute sind Leute, die Carl kennt. Er hatte Ella den anderen vorgestellt, eher knapp, er hatte es ihr selbst überlassen, sich dazuzusetzen oder wieder zurück zum Wagen zu gehen. Die klapperdürre Gestalt, von nahem besehen ein Mädchen, und ihre Tätowierungen stellten einen Schwarm von Kugelfischen mit gesträubten Stacheln dar, war unerwartet umgänglich gewesen, der extrem große Mann, dem Haus, Wagen, Wiese gehörten, auch. Leute mit einer intensiven Art, einen anzusehen. Leute mit Augen wie heiße Kohlestückchen. Barfüßige, braungebrannte Kinder, Frauen mit Amuletten um den Hals und ein blinder Greis mit einem selbstgeschnitzten Zepter. Auf dem langen Tisch standen mit Steinen gefüllte Wasserkaraffen – Amethyst und Rosenquarz, das tätowierte Mädchen hatte Ellas Frage nach den Steinen beantwortet, an ihr vorbeigesehen und die Worte kühl und bedeutsam ausgesprochen. Regenmacher in der Zimmerecke, ein Schrein für Buddha über dem Herd. Zwischen den Birken vor dem Haus waren verblasste tibetanische Gebetsfahnen gespannt. Es gab überhaupt nichts dagegen einzuwenden. Aber Ella war trotzdem zurück zum Wagen gegangen, und jetzt wird sie am Wagen sitzen bleiben, sie hat das Gefühl, dass Carl das so wollen würde, und sie hat außerdem das Gefühl, dass er irgendwo in ihrer Nähe ist und sie beobachtet. Vom Haus aus beobachtet oder von einem der anderen Wagen oder von einem Versteck zwischen den Bäumen, den unordentlich gestapelten Holzmieten aus. Wenn sie alles richtig macht, wird er wiederkommen.

 

Als das Feuer fast runtergebrannt ist, legt sie von dem frisch geschlagenen Holz nach. Wie Carl gelegt hat – die Scheite aufrecht, schräg gegeneinandergestellt. Das erste Mal in ihrem Leben, dass sie ein Feuer am Brennen hält. Es geht besser, als sie gedacht hat, das Holz ist trocken und brennt leicht. Und trotzdem ist es schwierig, weil sie das Feuer nicht zu groß werden lassen will, sie befürchtet, wenn es zu groß wird, könnte sich jemand zu ihr gesellen, dieses Mädchen oder irgendjemand aus den anderen Wagen oder, im allerschlimmsten Fall, der Mann, dem Haus, Wagen und Wiese gehören; die Vorstellung, er könnte rüberkommen, gelassen und selbstsicher, in Filzstiefeln und mit einem Schafsfell über den Schultern, erfüllt Ella mit Unruhe. Es wäre unmöglich, mit ihm zusammen zu sein, wenn Carl wieder auftauchen würde. Sie weiß nicht, wann Carl zurückkommen wird, eigentlich weiß sie gar nicht, ob er überhaupt zurückkommen wird, aber wenn er zurückkommen und sie mit diesem Mann am Feuer sitzend finden würde – dem Feuer, das er für sie angezündet hat –, wäre das katastrophal. Also hält sie das Feuer klein. Groß genug, dass es sie wärmt, und klein genug, dass es niemanden auf sie aufmerksam machen wird. Niemanden außer Carl. Es gelingt halbwegs.

 

Es ist erstaunlich, wie dunkel es irgendwann wird. Es wird Nacht, und die Dunkelheit ist vollständig. Der Mond ist ölig, das Licht im Haus am Ende der Wiese ein scharf umrissenes Quadrat. Im Gras um den Wagen herum rascheln Tiere, und der Wind geht in die Bäume und lässt die Äste knacken. Ella meint, eine Tür im Haus klappen, Autos abfahren zu hören. Sie schlägt die Decke auf und wickelt sie um sich herum. Sie hört den Jungen nicht kommen, aber plötzlich ist er da. Er steht an der Feuerstelle, Ella gegenüber, und sein Gesicht sieht, von unten beleuchtet, im allerersten Moment räuberisch aus. Dann erkennt sie ihn, sie ist ihm am Nachmittag schon begegnet, er gehört zu jemandem aus den anderen Circuswagen, ein Reisender, so fremd hier wie sie selber. Er ist vielleicht sieben Jahre alt, sie kann das Alter von Kindern schwer schätzen, aber sie denkt, dass er um diese Zeit in einem Bett liegen, schlafen sollte.

Wie spät ist es denn?

Sie sagt das anstelle eines Grußes, und er zieht die Schultern hoch.

Sie sagt, willst du dich zu mir setzen, und er nickt, und sie geht und holt den zweiten Stuhl aus dem Circuswagen; offenbar hat ihr Feuer die richtige Größe für einen kleinen Jungen gehabt. Sie stellt den Stuhl neben ihren, und er setzt sich. Seine Beine baumeln knapp über dem Boden. Er sieht sofort und ernsthaft ins Feuer, als könnte es ausgehen, bevor er es richtig wahrgenommen hat, oder als befürchte er, Ella könnte ihn wegschicken, wenn er nicht richtig ins Feuer schauen würde. Es ist deutlich zu merken, dass er, im Gegensatz zu ihr, schon an vielen Feuern gesessen hat. Er ist kein Problem für Ella. Ein Junge – ein kleiner Junge mit struppigen Haaren, in Hochwasserhosen und einem Kapuzenpullover, schmutzigen Turnschuhen ohne Schnürsenkel –, so ein kleiner Junge ist kein Problem für Ella, falls Carl zurückkommen sollte.

 

Dann löst er den Blick vom Feuer und sieht in den Himmel hoch. Er sieht den Circuswagen, er sieht Ella aus den Augenwinkeln an. Sie reden ein wenig miteinander. Der Junge fragt Ella, wie viele Sterne es gebe, seine Stimme klingt rau und kratzig, und er fragt in einem Ton, als wüsste er die richtige Antwort sowieso.

Also, wie viele Sterne haben wir noch mal.

Ella sagt, oh, keine Ahnung. Ich hab keine Ahnung. Unendlich viele?

Der Junge sagt bestätigend, da, über uns, sind schon mal tausend. Ungefähr tausend. Dann gibt’s ja noch die Milchstraße.

Und schwarze Löcher, sagt Ella.

Ja, schwarze Löcher, sagt der Junge. Riesige, fette schwarze Löcher. Weiß kein Mensch, wie’s dahinter weitergeht. Was da drinstecken soll.

Ella zögert, dann sagt sie, aber das Universum schläft ein. Wusstest du das? Es schläft ein, die Sterne werden ausgehen. Ganz viele sind schon ausgegangen.

Den Jungen scheint diese Aussicht wenig zu überraschen. Er nickt und schweigt eine Weile, dann hebt er einen Stock auf und stochert damit in der Glut. Er legt fachmännisch etwas Holz nach. Ella findet ihn ungewöhnlich ernsthaft, erwachsen schweigsam, aber sein Gesicht ist rund und noch sehr kindlich, er ist hübsch. Unmöglich, ihn nach seinen Eltern zu fragen. Nach einer Schule, nach Geschwistern, Freunden, irgendwelchen Dingen, die er gerne macht oder nicht gerne macht. Sie wartet ab, sie hat plötzlich das Gefühl, sie sollte an und für sich alles abwarten. Wenn Carl dabei wäre, könnte sie nichts abwarten, sie könnte den Jungen gar nicht beachten, sie wäre viel zu sehr mit Carl beschäftigt.

Der Junge macht eine Weile nachdenklich das Geräusch der knackenden Scheite nach. Piff paff. Piffpaff. Er legt den Kopf schief, zieht die Schultern hoch und hustet. Dann sagt er, willst du ein Bild haben.

Was für ein Bild?

Na, so ein Bild eben, ich hab’s mal aus der Zeitung ausgeschnitten und will’s verschenken, aber niemand will es haben.

Ella sagt, was ist denn darauf zu sehen.

Der Junge sagt, ich weiß es nicht.

Er sagt, soll ich’s dir einfach zeigen, und als Ella nickt, steht er auf und läuft davon. Sie ist sich fast sicher, dass er nicht wiederkommen wird. Dass er einem anderen Erwachsenen über den Weg laufen und ins Bett geschickt werden, dass er über anderen Einfällen Ella, ihr Feuer, das Bild vergessen wird. Aber er kommt wieder, und sie fragt ihn nicht, wo er gewesen ist, wo das Bild gelegen hat – in einem Buch, unter einer Matratze, mitten auf dem Tisch in der Küche des Hauses, an dem alle anderen sitzen, und sie fragt ihn auch nicht, ob er Carl begegnet sei.

 

Der Junge kommt außer Atem wieder, als wäre er gerannt. Als hätte er seinerseits gedacht, Ella könnte sich mitsamt dem Feuer, dem Circuswagen, den zwei Klappstühlen in Luft aufgelöst haben. Er setzt sich wieder auf seinen Stuhl neben sie und wartet, bis sein Atem sich beruhigt hat. Dann zieht er aus der Hosentasche ein Stück Papier. Mehrfach geknickt, und er faltet es auseinander und reicht es Ella wortlos.

Sie beugt sich vor und sieht es sich an. Eine Fotomontage – Freuds Couch, vervielfacht und hintereinandergestellt, ein Bild aus einem Traum. Keine Bildunterschrift. Das Papier fühlt sich klebrig an.

Ella sagt, wie lange trägst du das denn schon mit dir herum, und der Junge sagt ausweichend, ach, ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, schon ein paar Wochen. Schon eine ganze Weile. Du willst es jedenfalls auch nicht haben.

Nein, sagt Ella fest. Entschuldige. Ich will es jedenfalls auch nicht haben.

Es tut ihr leid, aber sie will es wirklich nicht haben. Sie denkt, er sollte es verbrennen. Und schließlich sagt der Junge das von sich aus – ich muss es verbrennen. Oder.

Ella sagt, das ist eine gute Idee. Das solltest du tun.

Sie gibt ihm das Foto zurück, und er knüllt es zu einer Kugel zusammen und legt die Kugel in die Glut, schiebt sie mit dem Stock in die Mitte des Feuers. Abgeklärt. Die Kugel flammt auf und schmilzt weg. Der Junge seufzt. Ella sieht ihn von der Seite an. War das sein erstes Opfer? Zum ersten Mal. Er wendet seinen runden Kopf langsam zu ihr hin, und sein Blick sucht ihren Blick mit einer erstaunlichen und eindringlichen Autorität.

Er sagt, du bist dran.

 

Der Morgen danach ist kühl. Windig und sonnig. Carl ist nicht zurückgekommen, und Ella wacht von der Kälte auf. Sie ist schlafen gegangen, ohne Kohlen nachzulegen, der Ofen ist aus. Sie stößt die Tür auf und lässt Licht in den Wagen. Sie zieht sich einen Pullover über das Nachthemd und setzt sich auf die Stufen der Treppe, ihr fällt ein, dass sie dasitzt wie die klapperdürre Gestalt am Tag zuvor, sie denkt, das kann schnell gehen. Der Wagen des Mädchens steht so still, als wäre er leer und das Mädchen fort. Das Feuer in der Feuerstelle ist erloschen, Ella und der Junge haben alles Holz verbrannt. Sie wird für den Fall, dass Carl auch heute nicht zurückkommt, für den Fall, dass sie trotzdem bleibt, neues Holz holen müssen, sie wird den Mann, dem dieses Universum hier gehört, danach fragen müssen. Unangenehm, aber nicht unmöglich. Was erwartet Carl? Die Antwort darauf ist wichtig, aber sie hat das Gefühl, die Antwort kann warten.