Nichts als Gespenster - Judith Hermann - E-Book

Nichts als Gespenster E-Book

Judith Hermann

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Beschreibung

Judith Hermanns Debüt ›Sommerhaus, später‹ wurde zu einem der größten literarischen Erfolge der letzten Jahrzehnte. ›Nichts als Gespenster‹ ist ihr zweiter Erzählungsband. Von Jonina und Magnus, von Owen und Sikka, von Ruth und Raoul erzählen Judith Hermanns Geschichten, von Norwegen und Nevada, Prag, Karlsbad und Island. Sie erzählen vom Lieben und Reisen und davon, wie sich Liebe und Reisen auf wundersame Weise ähnlich sind. Mit großer literarischer Meisterschaft entfaltet Judith Hermann den ihr eigenen unwiderstehlichen Sog und mächtigen Zauber. Einige dieser Geschichten wurden für das Kino verfilmt. Judith Hermann ist eine der meist gelesenen Autorinnen der Gegenwartsliteratur.

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Seitenzahl: 385

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Judith Hermann

Nichts als Gespenster

Erzählungen

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMottoRuth (Freundinnen)KaltblauAcqua altaZuhälterNichts als GespensterWohin des WegsDie Liebe zu Ari OskarssonDanksagung

für Franz

Wouldn’t it be nice

if we could live here

make this the kind of place

where we belong

 

The Beach Boys

Ruth (Freundinnen)

Ruth sagte »Versprich mir, daß du niemals etwas mit ihm anfangen wirst«. Ich erinnere mich, wie sie aussah dabei. Sie saß auf dem Stuhl am Fenster, die nackten Beine hochgezogen, sie hatte geduscht und sich die Haare gewaschen, sie trug nur ihre Unterwäsche, ein Handtuch um den Kopf geschlungen, ihr Gesicht sehr offen, groß, sie sah mich interessiert an, eher belustigt, nicht ängstlich. Sie sagte »Versprich mir das, ja?«, und ich sah an ihr vorbei aus dem Fenster, auf das Parkhaus auf der anderen Straßenseite, es regnete und wurde schon dunkel, die Parkhausreklame leuchtete blau und schön, ich sagte »Also hör mal, warum sollte ich dir das versprechen, natürlich fange ich nichts mit ihm an«. Ruth sagte »Ich weiß. Versprich es mir trotzdem«, und ich sagte »Ich verspreche es dir«, und dann sah ich sie wieder an, sie hätte es nicht sagen sollen.

 

Ich kenne Ruth schon mein Leben lang.

 

Sie kannte Raoul seit zwei oder drei Wochen. Er war für ein Gastspiel an das Schauspielhaus gekommen, an dem sie für zwei Jahre engagiert war, er würde nicht lange bleiben, vielleicht hatte sie es deshalb so eilig. Sie rief mich in Berlin an, wir hatten zusammen gewohnt, bis sie wegen des Engagements umziehen mußte, wir konnten nicht gut damit umgehen, voneinander getrennt zu sein, sie rief mich eigentlich jeden Abend an. Ich vermißte sie. Ich saß in der Küche, die jetzt leer war bis auf einen Tisch und einen Stuhl, ich starrte auf die Wand, während ich mit ihr telefonierte, an der Wand hing ein kleiner Zettel, den sie dort irgendwann aufgehängt hatte, »tonight, tonight it’s gonna be the night, the night«. Ich dachte ständig darüber nach, ihn abzureißen, aber dann tat ich es nie. Sie rief mich an, wie immer, und sagte sofort und ohne zu zögern »Ich habe mich verliebt«, und dann erzählte sie von Raoul, und ihre Stimme klang so glücklich, daß ich aufstehen und mit dem Telefon in der Hand durch die Wohnung laufen mußte, sie machte mich unruhig, in gewisser Weise nervös. Ich hatte mich nie für ihre Männer interessiert und sie sich nie für meine. Sie sagte »Er ist so groß«. Sie sagte all das, was man immer sagt, und auch ein bißchen was Neues, ihre Verliebtheit schien sich nicht unbedingt von anderen, früheren Verliebtheiten zu unterscheiden. Sie waren eine Woche lang umeinander herumgeschlichen und hatten sich Blicke zugeworfen und die Nähe des anderen gesucht, sie hatten sich nachts, nach einem Fest, betrunken in der Einkaufspassage der Kleinstadt zum ersten Mal geküßt, sie küßten sich hinter den Kulissen in den Pausen zwischen zwei Szenen und in der Kantine, wenn die Kollegen gegangen waren und die Kantinenköchin die Stühle hochstellte – er habe so weiche Hände, sagte sie, sein Schädel sei kahlrasiert, manchmal trage er eine Brille, das sehe dann seltsam aus, ein kleines, verbogenes Metallgestell, unpassend für sein Gesicht. Sie sagte »Er ist eigentlich eher dein Typ, wirklich, genau dein Typ, du würdest umfallen, wenn du ihn sehen könntest«, ich sagte »Was soll das denn sein, mein Typ?«, und Ruth zögerte, kicherte dann, sagte »Weiß nicht, körperlich eben? Bißchen asozial vielleicht?« Er würde schöne Sachen sagen – »Die Farbe deiner Augen ist wie Gras, wenn der Wind hineinfährt und die Halme ins Weiße kehrt« –, sie zitierte ihn andächtig, er sei auch eitel (sie lachte darüber), in gewisser Weise wie ein Kind, er spielte den Caliban im Sturm, das Publikum würde toben, Abend für Abend. Er käme aus München, sein Vater sei schon lange tot, er habe Philosophie studiert, eigentlich, im Sommer fahre er nach Irland, schlafe im Auto, versuche zu schreiben an den Klippen mit Blick auf das Meer. Raoul. Ruth sagte Raul.

 

Als ich Ruth besuchte – nicht wegen dieser neuen Liebe, ich hätte sie ohnehin besucht –, holte sie mich vom Bahnhof ab, und ich sah sie, bevor sie mich sah. Sie lief den Bahnsteig entlang, versuchte mich zu entdecken, sie trug ein langes, blaues Kleid, die Haare hochgesteckt, ihr Gesicht leuchtete, und ihre ganze Körperspannung, ihr Gang, die Haltung ihres Kopfes und ihr suchender Blick drückten eine Erwartung aus, die in keiner Weise, die niemals mir gelten konnte. Sie fand mich auch nicht, und irgendwann stellte ich mich ihr einfach in den Weg. Sie erschrak, und dann fiel sie mir um den Hals, küßte mich und sagte »Liebe, Liebe« – das neue Parfum, das sie trug, roch nach Sandelholz und Zitronen. Ich löste ihre Hände von mir und hielt sie fest, ich sah in ihr Gesicht, ihr Lachen war mir sehr vertraut.

 

Ruth hatte eine winzige Wohnung in der Innenstadt gemietet, eine Art amerikanisches Apartment, ein Zimmer, eine Kochnische, ein Bad. Vor den großen Fenstern hingen keine Vorhänge, einzig im Badezimmer konnte man sich vor den Blicken der Autofahrer, die ihr Auto im gegenüberliegenden Parkhaus abstellten und dann minutenlang, wie geistesabwesend, herüberstarrten, verbergen. Das Zimmer war klein, ein Bett darin, eine Kleiderstange, ein Tisch, zwei Stühle, eine Stereoanlage. Auf dem Fenstersims das Foto mit dem Blick aus dem Fenster unserer Wohnung in Berlin, das ich ihr zum Abschied geschenkt hatte, auf dem Tisch ein silberner Aschenbecher aus Marokko, ein Paßfoto von mir im Rahmen des Spiegels über dem Waschbecken im Bad. Es muß einen Moment gegeben haben, in dem ich in der Wohnung alleine war – Ruth im Theater, beim Einkaufen, mit Raoul –, und ich erinnere mich, daß ich auf dem Stuhl am Fenster saß, auf Ruths Stuhl, eine Zigarette rauchte und mich den Blicken der Menschen im Parkhaus aussetzte, die Leuchtreklame flackerte, das Zimmer war fremd, das Treppenhaus hinter der Wohnungstür dunkel und still.

 

Ruth sieht anders aus als ich. Alles an ihr ist mein Gegenteil, was an ihr rund ist und weich und groß, ist an mir hager und knochig und klein, meine Haare sind kurz und dunkel, ihre sehr lang und hell, lockig und knistrig, ihr Gesicht ist so schön, ganz einfach, und es stimmt alles, ihre Augen, ihre Nase, ihr Mund in einem ebenen Gleichmaß. Als ich sie das erste Mal sah, trug sie eine riesige Sonnenbrille, und noch bevor sie sie abnahm, wußte ich, wie ihre Augen sein würden, grün.

 

Ich wollte drei Tage lang bleiben, dann nach Paris fahren, dann zurück nach Berlin. Ich reiste in dieser Zeit oft in fremde Städte, blieb eine orientierungslose, zähe Woche lang und fuhr wieder ab. Noch auf dem Bahnsteig sagte Ruth »Bleib länger, ja?« Die Stadt war klein und überschaubar, die Fußgängerzone gleich hinter dem Bahnhof, das Theater am Marktplatz, die Spitze der Kirche immer über den Dächern zu sehen. Ruth trug meinen Koffer, beobachtete mich, war besorgt, daß ich zynisch werden könnte, abfällig, hochmütig gegenüber der Fußgängerzone, dem Tchibo, dem Kaufhaus, dem Marktplatzhotel, dem Ort, an dem sie jetzt lebte für zwei Jahre. Ich mußte lachen, ich war weit davon entfernt, zynisch zu werden, ich beneidete sie um diese zwei Jahre in der Kleinstadt, ohne daß ich ihr wirklich hätte erklären können, weshalb. Wir setzten uns in ein italienisches Eiscafé, bestellten Erdbeereis mit Schlagsahne und Kaffee und Wasser, ich zündete mir eine Zigarette an und hielt mein Gesicht in die Spätsommersonne. Ich dachte »In einer Kleinstadt könnte ich sorgloser sein«. Der Kellner servierte Kännchen, Eisbecher, Gläser, sah Ruth andächtig an, sie merkte es nicht, mich ignorierte er. Ruth war unruhig, aß ihr Eis nicht auf, bestellte noch einen Kaffee, sah immer wieder die Fußgängerzone hinauf und hinunter, ein hastiger, eiliger, suchender Blick über die Menschen, zurück in mein Gesicht, wieder fort. Dann lächelte sie und sagte »Es ist schlimm, schlimm, schlimm«, sie sah überhaupt nicht unglücklich aus dabei. Sie sagte »Du mußt mir sagen, was du von ihm hältst, ja? Du mußt ganz ehrlich sein«, und ich sagte »Ruth«, und sie sagte ernsthaft »Das ist mir wichtig«. Es war schwieriger geworden mit Raoul in der vergangenen Woche, es hatte den ersten Streit gegeben, ein sinnloses Mißverständnis, schon wieder vorüber, und dennoch, es schien irgendeine Exfrau zu geben in München, mit der er in Ruths Gegenwart lange Telefonate geführt hatte, er entzog sich von Zeit zu Zeit, hielt Verabredungen nicht ein oder kam zu spät, war schweigsam manchmal, mürrisch und dann wieder euphorisch, ungeduldig, berauscht von Ruths Schönheit. Sie sei nicht sicher, sagte sie, was er von ihr wolle, sie sagte »Vielleicht will er mich auch nur flachlegen«. Bis zu dem Zeitpunkt, zu dem ich sie besuchte, hatte er sie zumindest noch nicht flachgelegt. Aber es gab Gerüchte, irgend jemand hatte gesagt, er habe einen Ruf und nicht den besten, Ruth war eigentlich von so etwas nicht zu verunsichern, und dann doch, sie sagte »Ich will keine Trophäe sein, verstehst du« und sah mich dabei so kindlich und offen an, daß ich mich fast schämte, für mich, für Raoul, für den ganzen Rest der Welt. Ich sagte »Ruth, das ist albern, du bist keine Trophäe, niemand wird dich verraten und niemand wird dich erjagen, ich weiß das«, ich meinte es ehrlich, und Ruth sah für einen kurzen Moment getröstet und sicher aus. Sie nahm meine Hand und sagte »Und du? Und wie geht es dir?«, ich wich aus, wie immer, und sie ließ mich ausweichen, wie immer, und dann saßen wir so, vertraut, schläfrig im Nachmittagslicht. Gegen sieben mußte Ruth ins Theater, ich begleitete sie.

 

Ruth, schlafend. Als wir die erste Wohnung miteinander geteilt hatten – vor wie vielen Jahren, vor fünf, vor zehn? –, schliefen wir in einem Bett. Wir gingen oft gleichzeitig schlafen, lagen einander zugewandt, Gesicht an Gesicht, Ruths Augen in der Nacht dunkel und glänzend, sie flüsterte halbe Sätze, summte leise, dann schlief ich ein. Mit einem Mann hätte ich niemals so einschlafen können, ob Ruth das konnte, weiß ich nicht. Ihr Schlaf war fest und tief, von einer reglosen Schwere, sie lag immer auf dem Rücken, ihre langen Haare um ihren Kopf herum ausgebreitet, ihr Gesicht entspannt und wie ein Bildnis. Sie atmete ruhig und langsam, immer war ich vor ihr wach und lag dann da, den Kopf auf die Hand gestützt, und betrachtete sie. Ich erinnere mich, daß ich ihr einmal in einem seltenen Streit damit gedroht hatte, ihr im Schlaf die Haare abzuschneiden, ich will nicht glauben, daß ich so etwas jemals gesagt haben könnte, aber ich weiß, es ist wahr. Ruth besaß einen alptraumhaft riesigen Wecker aus Blech, der einzige Wecker, von dessen ohrenbetäubendem Alarm sie tatsächlich wach wurde. Der Wecker stand auf ihrer Seite des Bettes, und obgleich ich immer vor ihr wach war, weckte ich sie nicht, sondern ließ sie durch das wahnsinnige Klingeln aufwachen; sie tauchte sichtbar gequält aus dem Schlaf empor, öffnete die Augen, schlug auf den Wecker und tastete sofort nach ihren Zigaretten, die sie am Abend immer neben das Bett legte. Sie zündete sich eine an, sank in die Kissen zurück, rauchte, seufzte, sagte irgendwann »Guten Morgen«. Später hat sie sich das Rauchen am Morgen abgewöhnt, in anderen Wohnungen und anderen Betten. Vielleicht auch, weil wir dann nicht mehr zusammen aufwachten.

 

Ruth spielte die Eliante in Molières Menschenfeind. Ich hatte sie während ihres Schauspielstudiums an der Hochschule in vielen Inszenierungen gesehen, als Wikingerkönig in Ibsens Nordische Heerfahrt, ihre kleine Gestalt in Bärenfelle gehüllt und die Haare zu einer Wolke um den Kopf drapiert, sie wurde auf einem Lanzenmeer auf die Bühne getragen und brüllte sich zwei Stunden lang die Seele aus dem Leib; als Lady Macbeth hing sie an seidenen Fäden kopfüber vor einer weißen Wand und vollführte mit den Händen fischähnlich gleitende Bewegungen; am fremdesten war sie mir als Mariedl in Schwabs Präsidentinnen, kaum wiederzuerkennen in einem grauen Putzkittel, zusammengekauert unter einem Tisch. Ruth war eine gute Schauspielerin, eine komische, präsente, sehr körperliche, immer aber war sie für mich Ruth, erkannte ich sie wieder, ihr Gesicht, ihre Stimme, ihre Haltung. Vielleicht suchte ich sie auch immer wiederzuerkennen – Ruth, die sich am Morgen anzog, langsam, sorgfältig, Kleidungsstück für Kleidungstück, dann in den Spiegel sah mit einem besonderen, nur für den Spiegel bestimmten Ausdruck und immer von der Seite. Ruth, wie sie ihren Kaffee trank, die Schale mit beiden Händen hielt und nicht absetzte, bis sie sie ausgetrunken hatte, wie sie rauchte, sich die Wimpern tuschte, beim Telefonieren in den Hörer lächelte mit schräg geneigtem Kopf. Für eine Porträtstudie hatte sie mich spielen wollen, sie lief mir drei Tage lang mit wissenschaftlichem Gesichtsausdruck hinterher und imitierte meine Bewegungen, bis ich erstarrt in der Zimmerecke stehenblieb und sie anschrie, sie solle damit aufhören; später spielte sie ihre Mutter mit einer Exaktheit und Genauigkeit, die mich schaudern ließ. Die Menschenfeind-Inszenierung des Theaters war einfach und werktreu, weit entfernt von dem Chaos und der Improvisation der studentischen Inszenierungen, ich war erst gelangweilt, dann fand ich es schön, vielleicht sah ich Ruth auch hier zum allerersten Mal wie aus der Ferne, unbelastet von prätentiösen Aufhängungen an Stahlgerüsten. Sie trug eine Art weißen Kindermatrosenanzug, ihre Haare zu einem Zopf geflochten, sie sah sehr klar aus, besonnen und vernünftig, nur ihre Stimme war für die Eliante vielleicht ein wenig zu zittrig, brüchig, wie unterdrückt und eigentlich ganz anders – »Nein so ist Liebe nicht, sie möchte stets erhöhen und ihren Gegenstand in schönstem Lichte sehen, kein tadelnswerter Zug wird ihren Blick verletzen, sie will begeistert sein, bewundern, rühmen, schätzen, den Fehler wird sie gern als Vorzug anerkennen und obendrein auch noch sehr schmeichelhaft benennen« –, ich war enttäuscht und erleichtert zugleich, sie nicht in der Rolle der Célimène, der unvernünftig, verletzlich Liebenden zu sehen. Das Publikum klatschte ausdauernd nach jedem Akt, ich hatte in einer Kleinstadt nichts anderes erwartet. Ruth verbeugte sich strahlend und tief. Sie hatte die neue Angewohnheit, sofort von der Bühne zu rennen wie ein Kind, in anderen Inszenierungen war sie zögernd und wie unwillig abgegangen. Ich blieb sitzen, bis der letzte Zuschauer den Saal verlassen hatte. Die Bühnenarbeiter begannen, die Kulissen abzubauen, und das Licht wurde ausgeschaltet, auf die Bühne rieselte der Staub. Es hatte Zeiten gegeben, in denen ich Ruth beneidete um ihr Talent, ihren Beruf, den Applaus, die Möglichkeit des Ruhmes, dieser Neid war irgendwann verblaßt vor dem Bewußtsein, für das Theater absolut ungeeignet, geradezu unmöglich zu sein. Ich saß vornübergebeugt in der leeren Reihe und versuchte Ruth zu verstehen, zu verstehen, was sie da tat, wie sie arbeitete, was sie empfand. Ich konnte nicht das Geringste begreifen, und dann stand ich auf und ging in die Theaterkantine, Raouls Vorstellung in der Probebühne war gegen elf zu Ende, Ruth hatte mich gebeten, mit ihr zusammen auf ihn zu warten.

 

Als sie von Berlin in die Kleinstadt ging und aus unserer gemeinsamen Wohnung auszog, war ich nicht in der Lage, auch nur eine einzige Kiste in den Umzugswagen zu tragen. Ihre gesamte Familie war zum Umzug angereist, ihre Mutter, ihre zwei Schwestern und ihr Bruder und dessen Frau. Wir hatten alle gemeinsam gefrühstückt, es war Januar, und durch die Fenster fiel erbarmungslos ein grelles Wintersonnenlicht, ich hatte versucht, das Frühstück so lange wie möglich hinauszuzögern, und irgendwann war es dann doch vorbei, und alle standen auf und begannen damit, Ruths Sachen zusammenzupacken. Ich blieb sitzen. Ich blieb wie versteinert an diesem Tisch mit den Resten des Frühstücks sitzen, ich klammerte mich an die Stuhllehne, ich konnte mich nicht bewegen, es wäre mir noch nicht einmal möglich gewesen, von diesem Stuhl aufzustehen. Ruths Familie räumte um mich herum, sie schoben Kommoden, Stühle, Kartons durch das Zimmer, trugen Ruths Koffer und Kisten und ihr Bett, ihre Bücherregale, ihren Küchenschrank, ihren Schreibtisch, ihre gesamte Habe die drei Treppen hinunter, sie ließen mich sehr wohl spüren, wie unmöglich und unhöflich sie mich fanden, ich konnte es nicht ändern. Ich saß bewegungslos, stumm, die Wohnungstür stand weit offen, und kalte Luft drang herein, von Zeit zu Zeit blieb Ruth kurz bei mir stehen und legte mir ihre schmutzige Hand an die Wange, dann ging sie wieder weg. Als alles verpackt war, räumte ihre Schwester das Frühstücksgeschirr in den letzten, leeren Umzugskarton und schaffte auch den Tisch hinaus, auf dem Boden blieben Eierschalen, ein Marmeladenglas, eine Kaffeetasse zurück. Ich stand auf. Die Familie verschwand im Treppenhaus, Ruths Bruder unten im Lastwagen drückte auf die Hupe. Ruth zog sich den Mantel an, wir standen im leeren Flur voreinander, dann umarmten wir uns. Sie sagte »Bis bald«. Oder vielleicht war auch ich es, die das sagte. Dann ging sie, ich schloß die Wohnungstür hinter ihr und blieb solange stehen, bis ich sicher war, daß sie fort waren. Ich habe lange nicht gewußt, was ich mit Ruths Zimmer anfangen sollte. Einen Monat lang stand es leer, zwei Monate, drei, irgendwann begann ich damit, mir darin alte Super-8-Filme anzusehen, ich saß auf einem Stuhl, und der Projektor summte, und auf der weißen Wand lief ein Kind, das ich einmal gewesen sein sollte, über eine Sanddüne. Im Mai oder Juni stellte ich mein Bett in Ruths Zimmer, an dieselbe Stelle, an der auch ihres gestanden hatte.

 

Die Theaterkantine war klein, stickig und verqualmt, Resopaltische, Holzbänke, Kugellampen, verspiegelte Wände, die den Raum nicht größer machten, sondern ihn auf eine labyrinthische, chaotische Art eher verkleinerten. An den hinteren Tischen saßen die Techniker, an den vorderen Schauspieler, hinter dem Tresen zapfte eine dicke, todmüde aussehende Köchin das Bier. Ruth war nicht zu sehen. Ich setzte mich an den einzig freien Tisch, bestellte einen Kaffee, ein Glas Wein, unentschlossen, wach werden zu wollen oder betrunken. Ich hätte gerne gewußt, wo mein Koffer war. Ruth hatte ihn mit in ihre Garderobe genommen oder beim Pförtner abgegeben, ich wollte plötzlich meine Sachen wiederhaben, mein Buch, meinen Kalender, es verunsicherte mich, als Fremde, als jemand, der mit dem Theater absolut nichts zu tun hatte, alleine an diesem Tisch zu sitzen. Ich sah zu den Schauspielern hinüber, da saß niemand, der so groß gewesen wäre, mit kahlrasiertem Schädel und einem kindlichen und dennoch männlichen Gesicht, und dann ging die Kantinentür auf, und er kam herein. Ich erkannte ihn sofort. Es war ein zweifaches Erkennen, und es war so deutlich, daß ich mich in einem ersten Impuls tatsächlich duckte. Ich schob die Schultern nach vorne und zog den Kopf ein, ich rückte schnell mit dem Stuhl aus dem Lichtkegel der Lampen heraus, und er lief an mir vorbei, ohne mich zu bemerken, und setzte sich zu den Schauspielern, die ihn erfreut begrüßten. Er zog sich im Sitzen die Jacke aus, eine wildlederne Jacke mit braunem Pelzkragen, er berührte jemanden am Arm, lachte, redete, ich konnte seine Stimme deutlich hören zwischen all den anderen Stimmen. Ich versuchte wegzuhören, ich hätte ihn lieber zuerst mit Ruth zusammen gesehen, Raoul als Ruths Raoul. Du mußt mir sagen, was du von ihm hältst. Ich tastete in meinen Manteltaschen nach Zigaretten, die Zigaretten waren nicht da, sie waren in meiner Tasche, in Ruths Garderobe, ich verspürte einen kurzen Anfall von Wut darüber; ich hätte mich gerne überprüft, einen Gedanken überprüft, eine Zigarette hätte mir dabei helfen können. Ich konnte seine Stimme immer noch hören, und ich konnte sein Gesicht im Spiegel sehen, ein waches, klares Gesicht, er trug seine Brille nicht, er sah konzentriert aus, die dunklen Augen zusammengezogen, Reste von weißer Theaterschminke an den Schläfen. Sein Profil dagegen war eher unschön, stumpf, saturiert und gewöhnlich, ein vorgeschobenes Kinn, eine niedrige Stirn. Er war tatsächlich sehr groß, sein Körper schwer und massig, grobe Hände, mit denen er gestikulierte, sich den kahlgeschorenen Kopf rieb. Ich konnte Ruths Stimme hören – ich weiß nicht, körperlich vielleicht, bißchen asozial –, ich hatte verstanden, was sie eigentlich sagen wollte, aber so war er nicht. Ich starrte ihn an, ich glaubte alles über ihn zu wissen und noch gar nichts. Ich rückte vorsichtig mit dem Stuhl wieder an den Tisch zurück. Ich atmete flach und leise, ich war ratlos plötzlich. Die Tür ging auf, und Ruth kam herein.

Sie kam herein und sie sah Raoul sofort. Ihr Blick ging zielgenau zu ihm hin, und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck an, der mir neu war, dann sah sie über die anderen hinweg durch den Raum, bis sie mich schließlich entdeckte. Sie gab mir mit der rechten Hand ein nicht zu entzifferndes Zeichen, blieb am Tresen stehen und bestellte sich ein Bier, sie hielt den Rücken gerade wie jemand, der sich beobachtet glaubt, aber Raoul hatte sie noch gar nicht bemerkt. Dann kam sie zu meinem Tisch, setzte sich neben mich, trank durstig, stellte ihr Glas wieder ab und sagte »Wie war’s?« und dann »Hast du ihn schon gesehen?« Ich sagte deutlich »Hättest du vielleicht eine Zigarette?«, und sie zog irritiert die Augenbrauen hoch, lächelte dann, holte Zigaretten aus ihrer Tasche. Sie trug jetzt wieder ihr blaues Kleid, ihre Haare noch immer in der Eliante-Frisur, sie sah schön aus, müde, sie sagte »Es ist so gut, daß du da bist«, und dann noch einmal »Hast du ihn gesehen?« Sie deutete mit einem Kopfnicken die Richtung an, ich sagte »Nein«, sie sagte »Er ist schon da, er sitzt da«, ich sagte »Wo?«, sie flüsterte »Am dritten Tisch links, in der Mitte«. Ich zündete meine Zigarette an, wiederholte in Gedanken den Wechsel unserer Worte – hast du ihn gesehen, nein, hast du ihn gesehen, wo –, dann wandte ich den Kopf und sah zu Raoul herüber, und in diesem Moment drehte er sich zu uns um. Er sah Ruth an und lächelte, und Ruth lächelte zurück, während sie unter dem Tisch ihr Bein an meines drückte, ich rauchte, ich sagte »Das Stück hat mir gut gefallen«, ich sagte es noch einmal, Raoul stand auf. Er schien sich bei den anderen kurz entschuldigen zu wollen, wurde festgehalten, entzog sich, kam zu unserem Tisch herüber, langsam, gelassen, er präsentierte dabei sehr deutlich seinen Körper, seine ganze Person. Ich sah weg und dann sah ich wieder hin, irgend etwas war mir peinlich. Raoul setzte sich, er hätte sich neben Ruth setzen können, aber er nahm den Stuhl uns gegenüber. Ruth stellte uns vor, und wir gaben uns über den Tisch hinweg die Hand, ich zog meine schnell zurück. Ruths Bein unter dem Tisch wich nicht von meinem. Er sagte »Ruth hat mir viel von dir erzählt«, er lächelte dabei, sein Blick verriet nichts, obwohl er meinem lange nicht auswich. Die Köchin rief seinen Namen durch den Raum, »Raauuul«, wie ein Heulen, er stand wieder auf und ging zum Tresen, Ruth sagte »Lieber Himmel«, und dann »Wie ist er, sag’s schnell«, und ich mußte lachen und sagte »Ruth. Ich kenne ihn seit noch nicht mal sechzig Sekunden«. Er kam zurück mit einem Teller Suppe, setzte sich wieder, fing an zu essen, sagte nichts. Ruth sah ihm dabei zu, als hätte sie noch nie jemanden essen gesehen, also sah auch ich ihm zu, es blieb mir nichts anderes übrig. Er aß tatsächlich absonderlich, vielleicht hatte er eine bestimmte Rolle dabei im Kopf, ein spezielles Eßverhalten, ein Franziskanermönch am Holztisch im Speisesaal der Abtei, ein Südtiroler Bauer mit dem Blechteller auf dem Schoß oder etwas ähnlich Albernes, er aß vornübergebeugt, in andächtigem Stumpfsinn, er schlürfte und führte den Löffel mit der Regelmäßigkeit einer Maschine zum Mund und wieder zurück zum Teller, er schluckte laut, und bis er fertiggegessen hatte, sagte niemand von uns ein Wort. Er schob den leeren Teller von sich, einen kurzen Moment erwartete ich, daß er laut aufstoßen würde, aber die Vorstellung war beendet, er schien ein Meister der Verknappung zu sein. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, lehnte sich zurück, lächelte uns an und sagte »Na wie geht’s?« Der Ton, in dem Ruth »Danke, gut« sagte, war mir neu, es lag eine Steifheit und Unsicherheit darin, die ich an ihr nicht kannte, sie wirkte nervös und schwierig, und um ihren Mund lag ein angespannter Zug. »Wie war die Vorstellung?« fragte Raoul, er machte es ihr eigentlich leicht, er fragte freundlich, tatsächlich interessiert, ihr zugewandt, und Ruth antwortete ironisch »Wie immer, ein rauschender Erfolg«. Sie zog ein verächtliches Gesicht dabei, als wolle sie ausdrücken, daß das Kleinstadtpublikum ein anspruchsloses sei, eine Haltung, von der ich weiß, daß sie ihr fremd ist. »Ich habe mich nicht unbedingt verausgaben müssen.« Sie rückte dabei endlich mit ihrem Bein von meinem weg und sah gespielt abwesend in der Kantine herum. Raoul lächelte noch immer freundlich, er machte nicht den Eindruck, als würde er diese Form des Kapriziösen von ihr erwarten oder als fände er sie angemessen. Ruth aber schien davon auszugehen, oder vielleicht konnte sie auch nicht mehr zurück, sie schien ihm irgend etwas beweisen zu wollen. Raoul beachtete mich einfach nicht, es war nicht unhöflich, eher angenehm, er war Ruth sehr zugewandt, er vermittelte mir nur das leise Gefühl, daß diese Haltung mir etwas über ihn sagen sollte. Er fragte sie nach den allereinfachsten Dingen, und sie fand nicht eine normale Antwort, sondern steigerte sich statt dessen in eine derart verspannte Spitzfindigkeit hinein, daß ich irgendwann aufstand und mich entschuldigte, weil es mir unerträglich wurde. Ich ging auf die Toilette, stand eine Weile vor dem Spiegel und betrachtete ratlos mein Gesicht. Ich fragte mich, wie Raoul mich sah. Dann ging ich wieder hinaus, lief den Flur vor den Garderoben hinauf und hinunter, die Vorstellung des dem Theater zugehörigen Balletts war zu Ende, alle eilten in die Kantine, dicke Trompeter, angetrunkene Violonisten, magere, aufgekratzte Tänzer. Ich drückte mich an der Wand entlang, genoß einen Augenblick ihre spürbare Euphorie nach dem Auftritt und war sofort wieder ernüchtert. Das Neonlicht war grell, und die Musiker sahen müde und heruntergekommen aus, »Scheiß Mozart«, sagte eine Tänzerin zu einem Cellisten, der seinen Instrumentenkasten wie einen alten Koffer hinter sich herschleifte. Als ich in die Kantine zurückkam, schienen Raoul und Ruth sich beruhigt zu haben, oder zumindest hatte Ruth sich beruhigt, sie sah entspannter aus, und ihre Wangen waren gerötet. Sie hatte sich weit über den Tisch zu Raoul hinübergebeugt und redete auf ihn ein, als ich mich wieder hinsetzte, brach sie ab und lehnte sich mit leichter Verlegenheit zurück. Beide sahen mich an, und ich wußte nicht, was ich sagen sollte, mir war albern zumute, ich starrte stur auf die Tischplatte. Ich versuchte Ruth zu verstehen zu geben, daß ich nicht zuständig war, nicht kommunikativ, nicht hilfsbereit, zumindest jetzt nicht, aber Ruth lächelte geistesabwesend und selig an mir vorbei, legte mit einer unmöglichen Geste ihre Hand auf meine und sagte »Wollt ihr noch was trinken?« Ich sagte matt »Einen Wein bitte«, dann zog ich meine Hand weg. Raoul sagte »Danke, nichts«. Ruth stand auf, um den Wein zu bestellen, und als sie an ihm vorüberging, drehte er sich nach ihr um und griff ihr plötzlich mit einer Geste, die an Obszönität nicht zu überbieten war, von hinten zwischen die Beine. Sie blieb stehen, ihr Gesichtsausdruck veränderte sich überhaupt nicht, sie stand so in seinem Griff und sah irgendwo hin, er sah sie an, niemand beachtete uns, obgleich beide wie ein Standbild im Scheinwerferlicht wirkten. Sie standen lange so, viel zu lange, dann ließ er sie los. Ruth schwankte leicht, hielt sich wieder gerade, ging weiter zum Tresen. Raoul wandte sich zu mir um und sagte »So was wie dich habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen«.

 

Wenn Ruth traurig ist, weint sie. Ich erinnere mich an einen Streit mit ihrer Mutter, nach dem sie zusammengekauert vor dem Telefon saß und nicht ansprechbar war, an eine Szene mit einem Freund auf der Straße, nachts, sie stritten fürchterlich, und er schlug sie, und ich erinnere mich an ihr betroffenes, erstauntes Gesicht, ihre Hand an ihrer Wange, nicht theatralisch, sehr echt. Wenn Ruth traurig war aus Gründen, die sie nicht benennen konnte oder nicht benennen wollte, saß sie im Stuhl vor ihrem Schreibtisch, die Hände auf den Lehnen, die Füße auf der Stuhlkante hochgestellt, ihr ganzer Körper entspannt und hingegeben. Sie weinte lautlos, ich stand an der Tür, an den Türrahmen gelehnt und sagte »Ruth, kann ich irgend etwas tun?«, und sie schüttelte nur den Kopf und sagte nichts. Wie oft habe ich sie so gesehen – zwei- oder drei- oder viermal. Ich stieß mich vom Türrahmen ab und ging durch die Wohnung, in mein Zimmer, durch den Flur, in die Küche und wieder zurück, ich war wie gelähmt, wenn Ruth so traurig war. Ich wusch drei Teller ab und rauchte eine Zigarette am Küchenfenster und las eine Seite in irgendeinem Buch, und dann ging ich wieder zurück in ihr Zimmer, und sie saß noch immer so. Irgendwann, viel später, kam sie zu mir und umarmte mich kurz und sagte »Ist schon wieder gut«. Ihre hilflose, wütende, verletzte Art zu weinen, wenn wir uns stritten, war eine andere. Ich selber habe nie vor Ruth geweint.

 

Ich blieb vier Tage bei Ruth, einen Tag länger, als ich geplant hatte. Ruth hatte kaum Proben, aber jeden Abend Vorstellung, ich hatte erwartet, daß sie ihre freie Zeit eher mit Raoul verbringen wollte, und ich hätte das verstanden, aber Raoul hatte wenig Zeit, und sie sahen sich in diesen Tagen alleine nur an einem einzigen Nachmittag. Wir frühstückten lange, gingen in die Stadt, an den Fluß, am Ufer entlang bis zum Stadtrand und wieder zurück, wir waren so vertraut miteinander wie immer. Ruth redete ständig über Raoul, sie redete wie zu sich selbst, und ich hörte ihr zu, ohne viel zu antworten, sie fragte mich auch nicht wirklich nach irgend etwas. Sie sagte, Raoul hätte sich zurückgezogen, sie käme nicht mehr an ihn heran, es gäbe irgendeine sexuelle Anziehung, alles andere sei rätselhaft. In drei Wochen wäre sein Gastspiel zu Ende, dann würde er nach Würzburg gehen, für ein neues Gastspiel, dann nach München, aber eigentlich würden sie über die Zukunft nicht sprechen. »Vielleicht«, sagte Ruth, »ist es schon wieder vorbei. Was auch immer es war. Aber ich bin traurig darüber, verstehst du.« Ich vermied es, sie anzusehen. In ihrer Wohnung schloß ich, wenn ich im Badezimmer war, die Tür hinter mir und betrachtete mein Gesicht im Spiegel, mein Paßfoto im Spiegelrahmen und wieder mein Gesicht. Wir saßen an den Abenden zusammen mit den Schauspielern und Raoul an den Resopaltischen der Kantine, ich trank ziemlich viel, jedesmal, wenn Ruth vom Tisch aufstand und kurz verschwand, sah Raoul mich an und sagte sehr deutlich »Ich vermisse dich«, niemand konnte es hören außer mir. Er berührte mich nicht. Als Ruth am ersten Abend die Getränke holte, hatte er gelacht, nachdem er gesagt hatte, so etwas wie mich in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen zu haben, ein glückliches Lachen, das ich erwidert hatte ohne nachzudenken. Er hatte gesagt »Weißt du, wer du bist?«, und ich hatte zuerst gezögert und dann doch geantwortet – »Ja«. Er sagte »Bist du die, für die ich dich halte?«, und ich sagte »Ich weiß nicht«, und er sagte »Doch. Du weißt«, und dann kam Ruth an den Tisch zurück, und die Worte waren gefallen in eine genau abgemessene Zeit, es waren genug Worte gewesen. Wenn wir einschliefen, abends, drehte ich mich von Ruth weg mit dem Gesicht zur Wand. Mein Schlaf war leicht. »Was wirst du machen, wenn du wieder in Berlin bist?« fragte Ruth einmal, und ich sagte »Ich bin nicht sicher«, wie hätte ich ihr erklären können, daß mein ganzes Leben plötzlich wieder offen war, leer, ein weiter, unbekannter Raum. Ich stand am Fenster ihrer Wohnung und sah auf die blaue Leuchtreklame des Parkhauses, das verspiegelte Hochhaus dahinter, am Himmel stand schon der Mond, Ruth sagte meinen Namen, und ich drehte mich um. Wir kauften Kleider, Schuhe, Mäntel. Ich sagte »Ich würde gerne bleiben, aber morgen muß ich fahren«. Am letzten Abend hatte Ruth öffentliche Probe, vereinzelt saßen Zuschauer, Schauspieler, Musiker auf den Rängen herum, ich saß auf der Treppe, Raoul setzte sich ganz kurz neben mich, und ich rückte von ihm weg. Von der Bühne her blickte Ruth zu uns herüber. Wir sahen sie beide an, Raoul sagte »Du fährst?«, ich sagte »Morgen«. Er sagte »Und wir sehen uns wieder?«, ich sagte »Ja, wir sehen uns wieder«, ohne den Blick von Ruth abzuwenden. Er blieb noch einige Minuten so sitzen, dann stand er auf und ging weg. In der Kantine später saßen wir nicht an einem Tisch. »Worüber habt ihr geredet?« sagte Ruth, »Über das Stück«, antwortete ich, sie sah mitgenommen aus, blaß und angespannt. An dem Nachmittag, den sie mit Raoul verbracht hatte, hatte er in seinem Hotelzimmer auf dem Bett gelegen und ferngesehen, Ruth hatte auf der Bettkante gesessen und darauf gewartet, daß er den Fernseher ausmachen würde, er hatte den Fernseher nicht ausgemacht. Ruth sagte »Ich weiß nicht, was er will«. Wir liefen in der Nacht durch die dunkle, leere Fußgängerzone, unsere Schritte hallten, Ruth hatte ihren Arm unter meinen geschoben, wir waren betrunken und torkelten ein wenig, ich mußte lachen, Ruths Haare zärtlich an meiner Wange. Am nächsten Morgen brachte sie mich zum Bahnhof, es war kalt geworden, windig, wir umarmten uns auf dem Bahnsteig, der Zug stand mit offenen Türen. »Was um Himmels willen«, sagte Ruth, »willst du eigentlich in Paris?« Ich stieg ein und lehnte mich aus dem offenen Fenster, Ruth trug eine kleine, schwarze Kappe, unter der ihre Haare verschwunden waren, ihr Gesicht sah streng aus. Sie steckte die Hände in die Manteltaschen und trat von einem Bein auf das andere, sie sagte »Du hast mir noch nicht gesagt, was du von ihm hältst«. Ihre Stimme klang nicht anders als sonst. Der Schaffner pfiff, die Türen schlugen zu. Ich holte Luft, und dann sagte ich »Ich glaube, daß er nicht der Richtige für dich ist«, Ruth sagte »So«, ich war nicht sicher, ob sie mich wirklich verstanden hatte, der Zug fuhr an. Ruth blieb stehen, ich sah so lange aus dem Fenster, wie ich sie noch erkennen konnte, ihre schmale Gestalt im hellen Mantel, der dunkle Fleck ihrer Kappe, sie winkte nicht, dann war sie verschwunden.

 

Ich bin niemals mit Ruth zusammen verreist. In irgendeinem Winter fielen die Temperaturen weit unter null, und wir fuhren mit der S-Bahn hinaus in den Grunewald und liefen über den zugefrorenen See, wir hatten beide nicht die richtigen Schuhe dafür an, das war der weiteste Ausflug. Jeden Sommer haben wir im Park gelegen und darüber geredet, nach Griechenland zu fahren, Italien, Sizilien, ans Meer, wir sind nie gefahren. Sie fuhr mit B. nach Portugal und mit J. nach Polen und mit F. nach Italien, ich flog nach New York und London und reiste durch Marokko und Spanien, wir vermißten einander nicht in diesen Zeiten, vielleicht hatten wir auch unterschiedliche Erwartungen und waren für das gemeinsame Reisen nicht gedacht. Ich mietete ein Zimmer in einem kleinen Hotel im Norden von Paris im afrikanischen Viertel, ich lief eine Woche lang von morgens bis abends durch die Stadt, es war kalt, die Seine schlammig und grün, es regnete immerzu, und ich fror, was um Himmels willen wollte ich eigentlich in Paris? Vor dem Louvre stauten sich die Menschenschlangen, und ich verzichtete und ging statt dessen in ein kleines Museum in der Rue de Cluny, in dem die Talismane der Pilgerfahrer aus dem 12. Jahrhundert ausgestellt waren, winzige, schwärzliche Kettenanhänger, ein Rad, eine Madonna, eine gefrorene Träne. Ich stand lange vor den warm beleuchteten Schaukästen und war beruhigt, ohne daß ich hätte sagen können, wodurch. In der Metro roch es nach Tabak, nach Metall und regennassen Mänteln, die Gesichter der Menschen verschlossen und schön, Schwarzafrikaner, Chinesen, Inder. Wenn ich nachts in mein Hotel zurückkehrte, standen Männer in den Hauseingängen und flüsterten in einer fremden Sprache hinter mir her. Ich duschte um Mitternacht im Gemeinschaftsbad auf dem Flur, wenn ich sicher war, nicht mehr gestört zu werden, ich stand auf den glitschigen Fliesen und ließ heißes Wasser über mich laufen, bis meine Haut rot und aufgeweicht war. Ich dachte seinen Namen und versuchte, etwas zu verstehen – ihn, mich selbst, Ruth, das Schwierige der Situation. Ich hätte noch nicht einmal sagen können, was eigentlich schwierig war. Ich vermisse dich. Ich vermißte ihn, ich dachte unentwegt an ihn, an jemanden, den ich nicht kannte, aber den ich mir vorstellen wollte, immer und immer wieder, ich konnte noch nicht einmal mehr sein Gesicht in der Erinnerung zusammenfügen, es gab nur Splitter, seine Augen, sein Mund, eine Bewegung mit der linken Hand, seine Stimme, vielleicht am ehesten die. Ich versuchte, eine Karte an Ruth zu schreiben, und kam über die ersten Worte – »Liebe Ruth« – nicht hinaus. Der Regen fiel und fiel auf die silbrigen Dächer. In der Nacht lag ich auf dem Hotelzimmerbett, rauchte eine Zigarette in der Dunkelheit, lauschte auf die fremden, tröstlichen Geräusche der Straße und versuchte, Ruth zu antworten, mit ihr zu sprechen, was um Himmels willen willst du eigentlich in Paris? Ich sagte laut »Ruth, vielleicht ist es so, daß du immer dich selbst suchst und dich wirklich wieder und wieder selbst sehen kannst, und daß ich im Gegensatz zu dir mich verlieren will, von mir selber entfernen, und am ehesten kann ich das, wenn ich reise, und manchmal auch, wenn ich geliebt werde«. Niemals hätte ich so zu Ruth gesprochen, und ich dachte, ich müßte erschrecken darüber, aber ich erschrak nicht. Meine Stimme in der Dunkelheit klang fremd. Ich frühstückte am Morgen in der Moschee am Naturkundemuseum, Minztee und klebriges Gebäck, niemand saß dort außer mir, und durch die offenen Fenster regnete es herein, flogen Spatzen, stießen sich von der Saaldecke ab. Ich hatte kein Gefühl für die Zeit. Auf der Place de la Madeleine sprach mich ein Schwarzafrikaner an, er wollte Geld für Briefmarken, um seine Dissertation an die Universität schicken zu können, die Universität akzeptiere nur postal eingehende Dissertationen, er hätte all sein Geld an seine Familie nach Südafrika geschickt. Ich gab ihm zehn Francs, er sagte »Zu wenig«, ich gab ihm zwanzig, dann dreißig, er hielt noch immer seine Hand auf und sah mich an, als müsse ich eigentlich für etwas ganz anderes bezahlen. Ich gab ihm alles Geld, das in meinen Hosentaschen war, viel zu viel, es war lächerlich. Er reichte mir einen Zettel und einen Stift und forderte mich auf, ihm meine Adresse zu geben, er würde mir das Geld zurückschicken, sobald er Arbeit gefunden hätte. Ich schrieb eine Phantasieanschrift auf, die ich sofort vergaß, und er steckte den Zettel wieder ein und sagte lautlos »Wie ist dein Name?« Dann ging er weg, ich sah ihm hinterher, sein Gesichtsausdruck war würdevoll und verächtlich, ich wußte plötzlich, daß ich abreisen mußte, daß ich nicht mehr geschützt war. Auf der Gare du Nord strömten die Menschen, Zigeunerfrauen hockten auf Gepäckwagen, schlafende Kinder auf dem Schoß und über die Schulter gelegt, auf der Anzeigetafel fielen die Buchstaben durcheinander, blitzten Städte auf und Fernen und verschwanden wieder, ich hatte Sehnsucht oder Fieber, es war nichts mehr zu unterscheiden. Ich dachte »Fahr weiter, fahr weiter, fahr weg, so weit wie möglich«, die asiatische Fahrkartenverkäuferin im Glaskasten starrte mich an. »Berlin«, sagte ich, »eine Fahrkarte nach Berlin bitte«, und das Gefühl in meinem Magen war jetzt eindeutig Angst. Ich warf mein letztes Geld in ein Münztelefon und wählte Ruths Nummer, ich wollte sagen »Ruth, ich fahre jetzt nach Hause, und dann wird sich etwas entscheiden«, ich hoffte, daß sie sagen würde »Ich weiß«, und vielleicht noch »Verschwinde«, aber sie nahm nicht ab. Der Anrufbeantworter sprang an, und ich hielt den Hörer in die Bahnhofshalle hinein, in die Stimmen, Lautsprecheransagen und Geräusche der fahrenden Züge, dann legte ich auf.

 

Seltsamerweise war es Ruth, die den Satz sagte »Ich wäre gerne du«. Nicht umgekehrt. Nicht ich.

 

Ich kam am späten Abend in Berlin an. Die Wohnung war stickig und still, mir völlig fremd – wessen Bett, wessen Stuhl, wessen Bücher, Papiere, Teetassen, Schuhe im Flur. Auf dem Anrufbeantworter dreimal Ruths Stimme, beim ersten Anruf zärtlich und sehnsüchtig, »Du fehlst mir«, sagte sie, im Hintergrund schien jemand im Zimmer herumzulaufen. Beim zweiten Anruf war sie kurz angebunden – »Bist du da? Hallo? Bist du schon zurück?« –, dann hatte sie aufgelegt. Beim dritten Mal schien sie geweint zu haben, ihre Stimme klang zittrig, sie sagte, ich solle sie einfach anrufen, wenn ich wieder da wäre, wann immer, auch mitten in der Nacht. Ich packte meinen Koffer aus, hängte die Sachen, die ich mit Ruth zusammen gekauft und noch kein einziges Mal getragen hatte, in den Schrank, öffnete alle Fenster und ging ins Bett. Ich schlief kurz und tief, der nächste Morgen war windig und grau, ich ging einkaufen, zurück in die Wohnung, las eine Zeitung, wusch Wäsche, sah meine Post durch, bei allem was ich tat, konnte ich mich von außen sehen, distanziert, aus weiter Ferne, leicht. Am Abend klingelte das Telefon, ich ließ es viermal klingeln, obwohl es neben mir stand, dann erst nahm ich den Hörer ab. »Du bist ja da«, sagte Ruth. Ihre Stimme war so nah, als stünde sie neben mir. Ich sagte »Ich bin gerade erst wiedergekommen«, sie sagte »Du mußt dich nicht entschuldigen«, ich sagte »Nein. Wofür denn auch?«, dann mußte ich lachen, Ruth lachte nicht. Sie brach in Tränen aus, und ich ließ sie weinen, ich saß so da und sah aus dem Fenster, Nachthimmel über dem Park, kein Mond, keine Sterne, ich stellte mir Ruth vor in ihrem Zimmer im blauen Licht der Parkhausleuchtreklame, der silberne Aschenbecher auf dem Tisch, das Foto auf dem Fensterbrett, Ruths Haare offen, ihr verweintes Gesicht. Ich sagte »Ruth, ach Ruth«, sie weinte ziemlich lange. Irgendwann hörte sie auf, putzte sich die Nase, wir schwiegen, dann sagte sie »Wie war’s in Paris?« Ich sagte »Schön«. Sie sagte »Es ist vorbei, weißt du. Das mit Raoul meine ich. Das ist vorbei«, und ich sagte »Warum denn?«, und sie sagte »Warum denn. Gute Frage«. Ich dachte daran, daß Ruth niemals alleine gewesen war, eine Affäre oder Beziehung oder Freundschaft war in die nächste übergegangen, und am Ende einer Liebe stand immer schon eine neue, eine größere, bessere, mir schien, daß sie jetzt zum ersten Mal alleine sein würde. Ich sagte »Ist es schlimmer als sonst?«, und Ruth lachte jetzt doch, leise, und sagte »Nein. Es ist wie immer. Aber trotzdem ist es beschissen, oder?« Sie hätten sich gestritten, er hätte sich eingeengt gefühlt, fast bedroht, sie sei ihm zu schnell gewesen, zu nah, er sei nicht so verliebt wie sie, im Grunde sei er überhaupt gar nicht verliebt. Sie hätte ihn nachts betrunken und verzweifelt im Hotel angerufen, sie hätte gewußt, daß er da war, und er sei unglaublich lange nicht ans Telefon gegangen und dann doch, er hätte nur »Du bist doch nicht ganz bei Trost« gesagt und einfach wieder aufgelegt. Jetzt würde er ihr aus dem Weg gehen, in drei Tagen sei er ganz weg, sie wüßte nicht, was schlimmer sei, ihn zu sehen und nicht mit ihm sein zu können oder ihn überhaupt nie mehr zu sehen. Sie sagte »Das Fürchterliche ist irgendwie nur, daß ich denke, er hat mich nicht erkannt, verstehst du? Er hat mich weggeschickt, ohne daß ich ihm hätte zeigen können, wie ich eigentlich bin, er hat mich nicht an sich herangelassen, er hat mir keine Chance gegeben, das ist schrecklich, verstehst du?« Ich sagte »Ja. Ich verstehe«, und ich verstand sie wirklich, ich dachte nur, daß er sie sehr wohl erkannt hatte, und vielleicht wußte sie das auch. Ruth schwieg. Dann seufzte sie und sagte »Es war ja auch eigentlich gar nichts. Wir haben uns ein bißchen geküßt, wir haben uns zwei, drei Geschichten erzählt, wir sind einmal Hand in Hand durch die Stadt gelaufen. Mehr war nicht. Aber ich habe mich trotzdem verliebt, und er hat mich nicht gewollt, und das macht mich so wütend. Du hast gesagt, er sei nicht der Richtige für mich«. Ich antwortete nicht, und Ruth wiederholte »Hast du doch gesagt, oder?« Ich mußte lachen, und sie sagte ernsthaft »Warum denn eigentlich nicht?« Ich hätte sagen können – weil er der Richtige für mich ist, Ruth hätte unter anderen Umständen vielleicht darüber gelacht. Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Ich sagte dämlich »Vielleicht ist er eine Nummer zu groß für dich«, und Ruth fragte berechtigt verständnislos »Was soll das denn heißen?« Ich stand auf und lief mit dem Telefon in der Hand durch die Wohnung, Ruths Zimmer am Ende des Flurs dunkel und weit, noch immer erwartete ich, wenn ich es betrat, ihr Bett zu sehen, ihren Schreibtisch, den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, wenn sie traurig war. Der Stuhl stand jetzt am Fenster ihres Apartments in einer anderen Stadt. Ich sagte »Ruth, ich weiß auch nicht, ich kenne ihn doch überhaupt nicht, er sieht schön aus, und mehr kann ich nicht sagen, und ich hatte das Gefühl, ihr versteht euch eigentlich nicht«. »Ja. Kann sein«, sagte Ruth einfach. Ich lehnte mich im Flur an die Wand und ging in die Knie, ich war auf einmal vollständig hoffnungslos, Raoul weit weg, sein Gesicht, von dem ich jetzt wieder wußte, wie es aussah. Ich wollte etwas von Ruth wissen, etwas, das mich auf ihn hätte vorbereiten können, ich wußte nicht, wie ich es formulieren sollte, was es eigentlich war, ich sagte »Habt ihr denn miteinander geschlafen?« und fühlte gleichzeitig, wie mir das Blut ins Gesicht schoß. »Nein«, sagte Ruth, sie schien meine Frage nicht komisch zu finden. »Nein, haben wir nicht. Er wollte irgendwie nicht, oder vielleicht wollte er auch nur das, es war seltsam. Wir haben jedenfalls nicht miteinander geschlafen, und ich kann dir gar nicht sagen, wie heilfroh ich darüber bin.« Ich schwieg, und sie schwieg auch, oder vielleicht lauschte sie auf mein Schweigen, dann sagte sie »War das die richtige Antwort?«, und ich lachte verlegen. Sie fragte mich noch einmal nach Paris, ich erzählte ein wenig, der Schwarzafrikaner auf der Place de la Madeleine, das Hotelzimmer, die afrikanischen Märkte in den Seitenstraßen des Viertels, ich dachte, daß ich sie eigentlich hätte trösten sollen, aber ich wußte nicht wie, sie schien auch nicht getröstet werden zu wollen. Sie sagte »Ich rufe dich morgen wieder an, ja?«, ich sagte »Ruth. Gib auf dich acht«, sie sagte »Du auch auf dich«, dann legten wir auf. Ich trank ein Glas Wein in der Küche, der Kühlschrank summte, ich dachte, daß er sich jetzt melden würde, bald. Ich war mir sicher. Dann ging ich schlafen, sehr spät in der Nacht wachte ich noch einmal auf, weil das Telefon klingelte, es klingelte drei- oder viermal, dann war es wieder still. Ich lag auf dem Rücken und hielt den Atem an.