Sommerhaus, später - Judith Hermann - E-Book
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Sommerhaus, später E-Book

Judith Hermann

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Beschreibung

2023 feiern wir 25 Jahre »Sommerhaus, später«  Dieses Buch hat Generationen von Leser*innen geprägt Im September 1998 erschien in der Collection S. Fischer ein Buch, das die literarische Landschaft verändert hat: »Sommerhaus, später«. Erzählungen wie »Rote Korallen« und »Hunter-Thompson-Musik« haben eine ganze Generation von Leser*innen geprägt und über Jahre begleitet. Marcel Reich-Ranicki erkannte, dass wir eine neue hervorragende Autorin bekommen haben, und sagte ihr großen Erfolg voraus; Hellmuth Karasek sprach von dem »Sound einer neuen Generation«. Das »Fräuleinwunder« war geboren. Von solchen Zuschreibungen hat sich das Buch emanzipiert, es ist zu einer Ikone geworden. Die Geschichten aus »Sommerhaus, später« sind Schullektüre und wurden verfilmt. Die Erzählungen haben Leser*innen in der ganzen Welt begeistert. Die Dichte und Intensität der Stimmungen treffen auch heute noch unser Lebensgefühl.  

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Seitenzahl: 203

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Judith Hermann

Sommerhaus, später

Erzählungen

 

 

Über dieses Buch

 

 

Judith Hermanns legendäres Debüt ›Sommerhaus, später‹. Der außergewöhnliche schwebende Ton ihrer Erzählungen begeisterte Kritiker und Leser.

 

Zwei Frauen, die auf einer Insel ein Spiel spielen, das »sich so ein Leben vorstellen« heißt. Ein Premierenfest, das ein unerwartetes, frühmorgendliches Ende in der Wohnung des Regisseurs findet. Ein Mann, der in seinem Sommerhaus an der Oder Besuch erhält und an eine Vergangenheit erinnert wird, die er nicht mehr kennen will. Judith Hermanns Figuren inszenieren sich ihr Leben, sie lassen sich nur passiv oder als Zuschauer, nur spielerisch in »Lebensläufe« ziehen. Es ist Judith Hermanns Gespür für die Zwischentöne und die subtilen Unaufrichtigkeiten der Gegenwart, das ihre Geschichten so eindrucksvoll macht. Ihre Erzählungen leben vom genau abgewogenen Rhythmus der Sätze und von der Intensität und Dichte der Stimmungen, die sie zu erzeugen vermag.

 

»Wir haben eine neue Autorin bekommen, eine hervorragende Autorin. Ihr Erfolg wird groß sein.«

Marcel Reich-Ranicki

 

»Der Sound einer neuen Generation.«

Hellmuth Karasek

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt ›Sommerhaus, später‹ (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband ›Nichts als Gespenster‹. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien ›Alice‹, fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, ›Aller Liebe Anfang‹. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Kleist-Preis, dem Friedrich-Hölderlin-Preis und dem Erich-Fried-Preis. 2016 erschienen die Erzählungen ›Lettipark‹.

Inhalt

Widmung

Motto

Rote Korallen

Hurrikan (Something farewell)

Sonja

Ende von Etwas

Bali-Frau

Hunter-Tompson-Musik

Sommerhaus, später

Camera Obscura

Diesseits der Oder

Die Autorin dankt

Für F. M. und M. M.

The doctor says, I’ll be alright but I’m feelin blue

Tom Waits

Rote Korallen

Mein erster und einziger Besuch bei einem Therapeuten kostete mich das rote Korallenarmband und meinen Geliebten.

Das rote Korallenarmband kam aus Rußland. Es kam, genauer gesagt, aus Petersburg, es war über hundert Jahre alt, meine Urgroßmutter hatte es ums linke Handgelenk getragen, meinen Urgroßvater hatte es ums Leben gebracht. Ist das die Geschichte, die ich erzählen will? Ich bin nicht sicher. Nicht wirklich sicher:

 

Meine Urgroßmutter war schön. Sie kam mit meinem Urgroßvater nach Rußland, weil mein Urgroßvater dort Öfen baute für das russische Volk. Mein Urgroßvater nahm eine große Wohnung für meine Urgroßmutter auf der Petersburger Insel Wassilij Ostrow. Die Insel Wassilij Ostrow wird umspült von der kleinen und von der großen Newa, und wenn meine Urgroßmutter sich in der Wohnung auf dem Malyj-Prospekt auf ihre Zehenspitzen gestellt und aus dem Fenster geschaut hätte, so hätte sie den Fluß sehen können und die große Kronstädter Bucht. Meine Urgroßmutter aber wollte den Fluß nicht sehen und nicht die Kronstädter Bucht und nicht die hohen, schönen Häuser des Malyj-Prospekts. Meine Urgroßmutter wollte nicht aus dem Fenster hinaussehen in eine Fremde. Sie zog die schweren, roten samtenen Vorhänge zu und schloß die Türen, die Teppiche verschluckten jeden Laut, und meine Urgroßmutter saß auf den Sofas, den Sesseln, den Himmelbetten herum und wiegte sich vor und zurück und hatte Heimweh nach Deutschland. Das Licht in der großen Wohnung auf dem Malyj-Prospekt war ein Dämmerlicht, es war ein Licht wie auf dem Grunde des Meeres, und meine Urgroßmutter mag gedacht haben, daß die Fremde, daß Petersburg, daß ganz Rußland nichts sei als ein tiefer, dämmeriger Traum, aus dem sie bald erwachen werde.

 

Mein Urgroßvater aber reiste durchs Land und baute Öfen für das russische Volk. Er baute Schachtöfen und Röstöfen und Flammöfen und Fortschaufelungsöfen und Livermooreöfen. Er blieb sehr lange fort. Er schrieb Briefe an meine Urgroßmutter, und wenn diese Briefe kamen, zog meine Urgroßmutter die schweren, roten samtenen Vorhänge an den Fenstern ein wenig zurück und las in einem schmalen Spalt von Tageslicht:

Ich will dir erklären, daß der Hasenclever-Ofen, den wir hier bauen, aus Muffeln besteht, die durch vertikale Kanäle miteinander verbunden sind und durch die Flamme einer Rostfeuerung erhitzt werden – du erinnerst dich an den Gefäßofen, den ich in der Blomeschen Wildnis in Holstein baute und der dir doch damals ganz besonders gefallen hat – nun, auch bei dem Hasenclever-Ofen wird das Erz durch die Öffnungen in die oberste Muffel gebracht und …

Meine Urgroßmutter machte das Lesen dieser Briefe sehr müde. Sie konnte sich nicht mehr an den Gefäßofen in der Blomeschen Wildnis erinnern, aber sie konnte sich an die Blomesche Wildnis erinnern, an die Weiden und an das flache Land, an die Heuballen auf den Feldern und den Geschmack von süßem, kaltem Apfelmost im Sommer. Sie ließ das Zimmer zurücktauchen ins Dämmerlicht und legte sich müde auf eines der Sofas, sie sagte: »Blomesche Wildnis, Blomesche Wildnis«, es klang wie ein Kinderlied, es klang wie ein Schlaflied, es klang schön.

 

Auf der Petersburger Insel Wassilij Ostrow lebten in diesen Jahren neben den ausländischen Kaufmännern und ihren Familien auch viele russische Künstler und Gelehrte. Es blieb nicht aus, daß diese von der Deutschen hörten, der Schönen, Blassen mit dem hellen Haar, die dort oben im Malyj-Prospekt wohnen sollte, fast immer allein und in Zimmern, so dunkel, weich und kühl wie das Meer. Die Künstler und die Gelehrten wurden vorstellig. Meine Urgroßmutter winkte sie mit müder, schmaler Hand herein, sie sprach wenig, sie verstand kaum etwas, sie schaute unter schweren Lidern langsam und verträumt. Die Künstler und die Gelehrten nahmen Platz auf den tiefen, weichen Sofas und Sesseln, sie sanken ein in die schweren und dunklen Stoffe, die Hausmädchen brachten schwarzen, zimtigen Tee und Konfitüre aus Heidelbeeren und Brombeeren. Meine Urgroßmutter wärmte sich die kalten Hände am Samowar und war viel zu müde, um die Künstler und die Gelehrten wieder hinauszubitten. Und so blieben sie. Und sie betrachteten meine Urgroßmutter, und meine Urgroßmutter verschmolz mit dem Dämmerlicht zu etwas Traurigem, Schönem, Fremdem. Und da Traurigkeit und Schönheit und Fremdheit die Grundzüge der russischen Seele sind, verliebten sich die Künstler und die Gelehrten in meine Urgroßmutter, und meine Urgroßmutter ließ sich von ihnen lieben.

 

Mein Urgroßvater blieb sehr lange fort. Meine Urgroßmutter ließ sich also lange lieben, sie tat das vorsichtig und umsichtig, sie beging kaum einen Fehler. Sie wärmte ihre kalten Hände am Samowar und ihre fröstelnde Seele an den glühenden Herzen ihrer Liebhaber, sie lernte aus der fremden, weichen Sprache die Worte heraushören: »Du zarteste aller Birken.« Sie las die Briefe über die Schmelzöfen, die Devillschen Öfen, die Röhrenöfen im schmalen Spalt des Tageslichts und verbrannte sie allesamt im Kamin. Sie ließ sich lieben, sie sang am Abend vor dem Einschlafen das Lied von der Blomeschen Wildnis vor sich hin, und wenn ihre Liebhaber sie fragend ansahen, dann lächelte sie und schwieg.

 

Mein Urgroßvater versprach, bald zurückzukommen, bald mit ihr zurückzukehren nach Deutschland. Aber er kam nicht.

Der erste und der zweite und der dritte Petersburger Winter verging, und noch immer war mein Urgroßvater in der russischen Weite mit dem Bauen der Öfen beschäftigt, und noch immer wartete meine Urgroßmutter darauf, daß sie heimkehren konnte, nach Deutschland. Sie schrieb ihm in die Taiga. Er schrieb zurück, er käme bald, er müßte dann nur noch einmal fort, nur noch ein letztes Mal – aber dann, aber dann, er verspräche, könnten sie reisen.

 

Am Abend seiner Ankunft saß meine Urgroßmutter vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer und kämmte sich ihr helles Haar. In einem Kästchen vor dem Spiegel lagen die Geschenke ihrer Liebhaber, die Brosche von Grigorij, der Ring von Nikita, die Perlen und Samtbänder von Alexej, die Locken von Jemeljan, die Medaillons, die Amulette und Silberreife von Michail und Ilja. In dem Kästchen lag auch das rote Korallenarmband von Nikolaij Sergejewitsch. Seine sechshundertfünfundsiebzig kleinen Korallen waren auf einem Seidenfaden aufgereiht, und sie leuchteten rot wie die Wut. Meine Urgroßmutter legte die Haarbürste in ihren Schoß. Sie schloß sehr lange die Augen. Sie machte die Augen wieder auf, nahm das rote Korallenarmband aus dem Kästchen heraus und band es sich um ihr linkes Handgelenk. Ihre Haut war sehr weiß.

 

An diesem Abend aß sie mit meinem Urgroßvater zum ersten Mal seit drei Jahren. Mein Urgroßvater redete russisch und lächelte meine Urgroßmutter an. Meine Urgroßmutter faltete die Hände im Schoß und lächelte zurück. Mein Urgroßvater redete über die Steppe, über die Wildnis, über die hellen, russischen Nächte, er redete über die Öfen und nannte ihre deutschen Namen, und dann nickte meine Urgroßmutter, als hätte sie verstanden. Mein Urgroßvater sagte auf russisch, er müsse noch einmal nach Wladiwostok fahren, er aß die Pelmeni mit den Händen, während er das sagte, er wischte sich mit den Händen das Fett vom Mund, er sagte, Wladiwostok sei die letzte Station, dann wäre es Zeit, zurückzugehen, nach Deutschland. Oder wolle sie noch bleiben?

Meine Urgroßmutter verstand ihn nicht. Aber sie verstand das Wort Wladiwostok. Und sie legte ihre Hände auf den Tisch, und das Korallenarmband leuchtete rot wie die Wut an ihrem linken, weißen Handgelenk.

 

Mein Urgroßvater starrte auf das Korallenarmband. Er legte den Rest seiner Pelmeni auf den Teller zurück, wischte sich die Hände an der Leinenserviette ab und winkte das Hausmädchen aus dem Zimmer. Er sagte auf deutsch: »Was ist das.«

Meine Urgroßmutter sagte: »Ein Armband.«

Mein Urgroßvater sagte: »Und woher hast du das, wenn ich fragen darf?«

Meine Urgroßmutter sagte sehr leise und weich: »Ich wünschte überhaupt, du hättest je gefragt. Es ist ein Geschenk von Nikolaij Sergejewitsch.«

 

Mein Urgroßvater rief das Hausmädchen wieder herein und schickte es nach seinem Freund Isaak Baruw. Isaak Baruw kam, er war bucklig und krumm, er sah verschlafen und verwirrt aus, es war schon spät in der Nacht, und er strich sich immer wieder verlegen durch das ungekämmte Haar. Mein Urgroßvater und Isaak Baruw liefen erregt und diskutierend durchs Zimmer, Isaak Baruw sprach vergebens beruhigende Worte, Worte, die meine Urgroßmutter an ihre Liebhaber erinnerten. Meine Urgroßmutter sank erschöpft in einen der weichen Sessel und legte die kalten Hände an den Samowar. Mein Urgroßvater und Isaak Baruw sprachen russisch, meine Urgroßmutter verstand nicht viel mehr als die Worte Sekundant und Petrowskij-Park. Das Hausmädchen wurde mit einem Brief hinaus in die Dunkelheit geschickt. Als der Morgen graute, verließen mein Urgroßvater und Isaak Baruw das Haus. Meine Urgroßmutter auf dem weichen Sessel war eingeschlafen, ihre schmale Hand mit dem roten Korallenarmband am Handgelenk hing matt von der Lehne herunter; im Zimmer war es so dunkel und still wie auf dem Grund des Meeres.

 

Isaak Baruw kam gegen Mittag zurück und teilte meiner Urgroßmutter unter vielerlei Kratzfüßen und Beileidsbezeugungen mit, daß mein Urgroßvater um acht Uhr in der Frühe verstorben sei. Nikolaij Sergejewitsch hatte ihn auf der Anhöhe des Petrowskij-Parks mitten ins Herz geschossen.

 

Meine Urgroßmutter wartete sieben Monate lang. Dann brachte sie am 20. Januar des Jahres 1905, in den ersten Tagen der Revolution, meine Großmutter zur Welt, packte ihre Koffer und kehrte nach Deutschland zurück. Ihr Zug nach Berlin sollte der letzte sein, der Petersburg verließ, bevor die Eisenbahner in den Streik traten und der Verkehr Rußlands mit dem Ausland eingestellt wurde. Als sich die Türen schlossen und die Lokomotive ihren weißen Rauch in die Winterluft blies, erschien am fernen Ende des Perrons die bucklige, krumme Gestalt Isaak Baruws. Meine Urgroßmutter sah ihn kommen, sie befahl dem Schaffner zu warten, und so erklomm Isaak Baruw in letzter Sekunde den deutschen Zug. Er begleitete meine Urgroßmutter auf der langen Reise nach Berlin, er trug ihre Koffer und Hutschachteln und Handtaschen, und er versäumte nicht, ihr seine lebenslange Dankbarkeit immer und immer wieder zu versichern. Meine Urgroßmutter lächelte ihn beruhigend an und schwieg; sie trug das rote Korallenarmband an ihrem linken Handgelenk, und meine winzige Großmutter im Weidenkorb ähnelte schon damals dem Nikolaij Sergejewitsch mehr als meinem Urgroßvater.

 

Mein erster und einziger Besuch bei einem Therapeuten kostete mich das rote Korallenarmband und meinen Geliebten.

Mein Geliebter war zehn Jahre älter als ich, und er war wie ein Fisch. Er hatte fischgraue Augen und eine fischgraue Haut, er war wie ein toter Fisch, er lag den ganzen Tag auf seinem Bett, kalt und stumm, es ging ihm sehr schlecht, er lag auf dem Bett herum und sagte, wenn überhaupt, nur diesen einen Satz: »Ich interessiere mich nicht für mich selbst.« Ist das die Geschichte, die ich erzählen will?

Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht wirklich:

 

Mein Geliebter war der Urenkel von Isaak Baruw, und in seinen dünnen Adern floß russisch-deutsches Blut. Isaak Baruw war meiner Urgroßmutter sein Leben lang treu geblieben, aber geheiratet hatte er ihr pommersches Zimmermädchen. Er zeugte mit ihr sieben Kinder, und diese sieben Kinder schenkten ihm sieben Enkelkinder, und eines dieser Enkelkinder schenkte ihm seinen einzigen Urenkel – meinen Geliebten. Die Eltern meines Geliebten ertranken im Sommersturm auf einem See, und meine Urgroßmutter wies mich an, auf ihre Beerdigung zu gehen – die letzten Zeugen der Petersburger Vergangenheit würden da in die brandenburgische Erde gesenkt und mit ihnen die Geschichten, über die sie selbst nicht mehr sprechen wollte. Und also ging ich auf die Beerdigung von Isaak Baruws Enkel und seiner Frau, und an deren Grab stand mein Geliebter und weinte drei graue Tränen. Ich nahm seine kalte Hand in meine, und als er nach Hause ging, ging ich mit ihm; ich dachte, ich könne ihn trösten mit den Petersburger Geschichten, ich dachte, er könne sie mir erzählen, noch einmal neu.

 

Aber mein Geliebter sprach nicht. Und er wollte nichts hören, und er wußte auch gar nichts von dem Wintermorgen im Jahr 1905, an dem meine Urgroßmutter den Zug angehalten hatte, damit sein Urgroßvater fliehen konnte, in letzter Sekunde. Mein Geliebter lag also auf seinem Bett herum und sagte, wenn überhaupt, nur diesen einen Satz: »Ich interessiere mich nicht für mich selbst.« Sein Zimmer war kalt und staubig, es ging auf den Friedhof hinaus, auf dem Friedhof läuteten immerzu die Totenglöckchen. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte und aus dem Fenster schaute, konnte ich die frisch ausgehobenen Gräber sehen, die Nelkensträuße und die Trauernden. Ich saß oft in einer Ecke des Zimmers auf dem Boden, ich hatte die Knie an den Körper gezogen und pustete sachte die Staubflocken durch den Raum; ich fand es erstaunlich, sich nicht für sich selbst zu interessieren. Ich interessierte mich ausschließlich für mich selbst. Ich betrachtete meinen Geliebten, mein Geliebter betrachtete seinen Körper, als wäre er schon tot, manchmal liebten wir uns feindselig, und ich biß ihn in seinen salzigen Mund. Ich hatte das Gefühl, als sei ich dünn und mager, obgleich ich das nicht war, ich konnte so tun, als sei ich nicht ich selbst. Das Licht fiel grün durch die Bäume vor dem Fenster, es war ein wässeriges Licht, ein Licht wie es an Seen ist, und die Staubflocken trieben durch das Zimmer wie die Algen und der Tang.

Mein Geliebter war traurig. Ich fragte ihn teilnahmsvoll, ob ich ihm nicht eine kleine, russische Geschichte erzählen sollte, und mein Geliebter antwortete rätselhaft, die Geschichten seien vorbei, er wolle sie nicht hören, und überhaupt solle ich meine eigene Geschichte nicht mit anderen Geschichten verwechseln. Ich fragte: »Hast du denn eine eigene Geschichte?«, und mein Geliebter sagte nein, er habe keine. Aber er ging zweimal in der Woche zu einem Arzt, einem Therapeuten. Er verbot mir, ihn zu begleiten, er weigerte sich, mir etwas über den Therapeuten zu erzählen, er sagte: »Ich spreche über mich. Das ist alles«, und als ich ihn fragte, ob er darüber sprechen würde, daß er sich nicht für sich selbst interessiere, sah er mich voll Verachtung an und schwieg.

 

Mein Geliebter schwieg also oder sagte diesen Satz, ich schwieg auch und begann über den Therapeuten nachzudenken, mein Gesicht war immer ebenso staubig wie meine nackten Fußsohlen. Ich stellte mir vor, im Zimmer des Therapeuten zu sitzen und über mich zu sprechen. Ich hatte keine Vorstellung davon, worüber ich sprechen sollte. Ich hatte, seitdem ich bei meinem Geliebten war, schon lange nicht mehr wirklich gesprochen, ich sprach kaum mit ihm, und er sprach so gut wie nie mit mir, immer nur sagte er diesen einen Satz, und es gab Augenblicke, in denen ich dachte, die Sprache bestehe einzig und allein aus diesen sieben Worten: Ich interessiere mich nicht für mich selbst.

Ich begann, sehr viel über den Therapeuten nachzudenken. Ich dachte nur an dieses Sprechen in seinem unbekannten Zimmer, und das war angenehm. Ich war zwanzig Jahre alt, ich hatte nichts zu tun, ich trug das rote Korallenarmband an meinem linken Handgelenk. Ich kannte die Geschichte meiner Urgroßmutter, ich konnte im Geist durch die dunkle, dämmerige Wohnung am Malyj-Prospekt gehen, ich hatte den Nikolai Sergejewitsch in den Augen meiner Großmutter gesehen. Die Vergangenheit war so dicht mit mir verwoben, daß sie mir manchmal wie mein eigenes Leben erschien. Die Geschichte meiner Urgroßmutter war meine Geschichte. Aber wo war meine Geschichte ohne meine Urgroßmutter? Ich wußte es nicht.

 

Die Tage waren still und wie unter dem Wasser. Ich saß im Zimmer meines Geliebten, und der Staub webte sich um meine Fußgelenke herum, ich saß, die Knie an den Körper gezogen, den Kopf auf den Knien, ich malte mit dem Zeigefinger Zeichen auf den grauen Fußboden, ich war gedankenverloren in ich weiß nicht was, so gingen Jahre, schien es, ich trieb so fort. Konnte ich darüber sprechen? Von Zeit zu Zeit kam meine Urgroßmutter und klopfte mit knochiger Hand an die Wohnungstür, sie rief, ich solle herauskommen und mit ihr nach Hause gehen, ihre Stimme kam durch den Staub, der die Tür umsponnen hatte, wie aus weiter Ferne. Ich bewegte mich nicht und antwortete ihr nicht, auch mein Geliebter lag auf seinem Bett und starrte mit toten Augen an die Decke, ohne sich zu rühren. Meine Urgroßmutter rief und lockte mich mit den Kosenamen meiner Kindheit – Liebherzelein, Nußbäumelein, Herzäugelein –, sie tickte mit ihrer knochigen Hand beharrlich und zäh an die Tür, und erst als ich triumphierend rief: »Du hast mich zu ihm geschickt, jetzt mußt du warten, bis es zu Ende ist!«, da ging sie wieder.

 

Ich hörte ihren Schritt auf den Treppen immer leiser werden, die Staubflocken an der Tür, die durch ihr Klopfen in Bewegung geraten waren, beruhigten sich und falteten sich zu einem dichten Flaum zusammen. Ich sah meinen Geliebten an und sagte: »Möchtest du nicht doch die Geschichte vom roten Korallenarmband hören?«

Mein Geliebter wandte sich auf dem Bett liegend mit zerquältem Gesicht zu mir herum. Er streckte die fischgrauen Hände von sich und spreizte langsam die Finger, seine fischgrauen Augen traten ein wenig aus ihren Höhlen hervor. Die Stille des Zimmers zitterte wie die Oberfläche eines Sees, in den man einen Stein geworfen hat. Ich zeigte meinem Geliebten meinen Arm und die roten Korallen an meinem Handgelenk, mein Geliebter sagte: »Diese kommen aus der Familie der Rindenkorallen. Sie bilden ein Stämmchen, das bis zu einem Meter hoch werden kann, und sie haben ein rotes Skelett aus Kalk. Kalk.«

Mein Geliebter stieß beim Sprechen mit der Zunge an, er sprach schwerfällig und lallend, als sei er betrunken. Er sagte: »Sie wachsen an den Küsten von Sardinien und Sizilien. In Tripolis, Tunis und Algerien. Dort, wo das Meer so blau ist wie ein Türkis, sehr tief, man kann schwimmen und tauchen, und das Wasser ist warm …« Er drehte sich wieder von mir weg und seufzte tief, er trat mit den Füßen zweimal gegen die Wand, dann lag er still.

 

Ich sagte: »Ich will die Geschichten erzählen, hörst du! Die Petersburger Geschichten, die alten Geschichten, ich will sie erzählen, um aus ihnen hinaus, und fortgehen zu können.«

Mein Geliebter sagte: »Ich will sie nicht hören.«

Ich sagte: »Dann werde ich sie deinem Therapeuten erzählen«, und mein Geliebter richtete sich auf, er atmete so heftig ein, daß einige Staubflocken in einem kleinen Strom in seinem aufgerissenen Mund verschwanden, er sagte: »Du wirst meinem Therapeuten überhaupt nichts erzählen, geh zu irgendwem, aber nicht zu meinem Therapeuten«, er hustete und schlug sich auf die nackte, graue Brust, ich mußte lachen, denn nie zuvor hatte mein Geliebter so viel hintereinander gesprochen. Er sagte: »Du wirst nicht mit jemandem über mich sprechen, mit dem auch ich über mich spreche, das ist nicht möglich«, und ich sagte: »Ich will nicht über dich sprechen, ich will die Geschichte erzählen, und meine Geschichte ist auch deine Geschichte.« Wirklich, wir kämpften miteinander. Mein Geliebter drohte, mich zu verlassen, er hielt mich fest und zog an meinen Haaren, er biß mich in die Hand und kratzte, ein Wind ging durchs Zimmer, die Fenster sprangen auf, die Totenglöckchen auf dem Friedhof läuteten wie rasend, und die Staubflocken trieben hinaus wie Seifenblasen. Ich stieß meinen Geliebten von mir und riß die Tür auf, ich fühlte mich wirklich so dünn und mager; als ich ging, konnte ich die Staubflocken sachte zu Boden sinken hören, stand mein Geliebter stumm an seinem Bett, mit seinen fischgrauen Augen und seiner fischgrauen Haut.

 

Der Therapeut, wegen dem ich das rote Korallenarmband und meinen Geliebten verlor, saß in einem großen Zimmer hinter seinem Schreibtisch. Das Zimmer war wirklich sehr groß, es war fast leer, bis auf diesen Schreibtisch, den Therapeuten dahinter und einen kleinen Stuhl davor. Auf dem Boden des Zimmers lag ein weicher, meerblauer, tiefblauer Teppich. Der Therapeut sah mich ernst und gerade an, als ich sein Zimmer betrat. Ich lief auf ihn zu, ich hatte das Gefühl, ich müsse sehr lange auf ihn zu laufen, bis ich endlich diesen Stuhl vor seinem Schreibtisch erreicht hatte. Ich dachte daran, daß auf diesem Stuhl sonst immer mein Geliebter gesessen und über sich – über was? – gesprochen hatte, ich spürte eine winzige Traurigkeit. Ich setzte mich. Der Therapeut nickte mir zu, ich nickte auch und starrte ihn an, ich wartete auf den Anfang, auf den Beginn der Unterhaltung, auf seine erste Frage. Der Therapeut starrte zurück, bis ich meinen Blick senkte, aber er sagte nichts. Er schwieg. Sein Schweigen erinnerte mich an etwas. Es war sehr still. Irgendwo tickte eine Uhr, die ich nicht sehen konnte, ums hohe Haus webte der Wind, ich schaute auf den meerblauen, tiefblauen Teppich zwischen meinen Füßen und zog nervös und unsicher an dem Seidenfaden des roten Korallenarmbandes. Der Therapeut seufzte. Ich hob den Kopf, er tippte mit der nadelspitzen Mine seines Bleistiftes auf die glänzende Schreibtischplatte, ich lächelte verlegen, er sagte: »Worum geht es Ihnen denn.«

 

Ich atmete ein, ich hob die Hände und ließ sie wieder sinken, ich wollte sagen, ich interessiere mich nicht für mich selbst, ich dachte, das ist eine Lüge, ich interessiere mich ausschließlich für mich selbst, und ist es das? daß da nämlich gar nichts ist? nur die Müdigkeit und die leeren, stillen Tage, ein Leben wie das der Fische unter Wasser und ein Lachen ohne Grund? ich wollte sagen, ich habe zu viele Geschichten in mir, die machen mir das Leben schwer, ich dachte, da hätte ich ja auch bei meinem Geliebten bleiben können, ich atmete ein, und der Therapeut riß Mund und Augen auf, und ich zog am Seidenfaden des roten Korallenarmbandes und der Seidenfaden riß und die sechshundertfünfundsiebzig wutroten kleinen Korallen platzten in einer funkelnden Pracht von meinem dünnen und mageren Handgelenk.

 

Ich starrte mein Handgelenk an, fassungslos, das Handgelenk war weiß und nackt. Ich starrte den Therapeuten an, der Therapeut hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, der Bleistift lag jetzt parallel zur Schreibtischkante vor ihm, er hatte die Hände im Schoß gefaltet. Ich schlug die Hände vor mein Gesicht. Ich rutschte vom Stuhl hinunter auf den meerblauen, tiefblauen Teppich, die sechshundertfünfundsiebzig Korallen lagen über das ganze Zimmer versprengt. Sie leuchteten so wutrot wie nie, ich kroch auf dem Boden umher und sammelte sie auf, sie lagen unter dem Schreibtisch, unter der Fußspitze des Therapeuten, er zog den Fuß ein winzigbißchen zurück, als ich ihn berührte, unter dem Schreibtisch war es dunkel, aber die roten Korallen leuchteten.